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Achtes Kapitel

Das Zigeunermädel in der Schule. – »Bist du die, die meine Schwester so lieb hat?« – Von Wachs, Ton und allerlei Figürchen. – Warum Zinna keinen Besuch in der Blindenanstalt macht und das Büchlein der kleinen Komtesse ungelesen bleibt. – Eine Geburtstagsfeier, und warum der kleine Prinz »Ihr dummen Gänse!« sagt. – »Babi, fühl einmal, wie mein Herz klopft!« – Winifreds Sorge für andere.

 

Ja, der Heinerle war nicht mehr da, das Plätzlein auf dem Teppich, wo er neben Zinna schlief, war leer, und keine Kinderstimme sagte den Tag über: »Zinna, ich hab' Hunger – Zinna, führ' mich – Zinna, hilf mir – Zinna, ich hab' dich lieb!« Und manche heiße Träne weinte diese des Nachts im Wagen. Aber sie unterdrückte ihr heftiges Schluchzen um der Mutter willen, denn daß diese geradeso Heimweh nach ihrem Buben hatte, das wußte sie. Auch der Dade, den des Heinerles drolliges Reden oft aufgeheitert hatte, war jetzt mürrischer denn je.

Der Winter verging, die Frauen verblieben längere Zeit in kleineren Ortschaften, die Männer trieben sich musizierend oder Schmiedearbeit verrichtend herum. Ein Glück für Zinna war, daß da und dort eine Schule sich befand, und was ihr sonst unleidlich und eine Qual war, das Stillsitzen, das nahm sie jetzt dahin, weil ihr reger Geist anfing, sich für vieles zu interessieren, was dort gelernt wurde. Einmal kam es vor, daß ein alter Schullehrer, dem das Zigeunermädchen mit seinen klugen Augen und seinen frischen Antworten auffiel, zu den andern sagte: »Nehmt euch die Schwarze zum Beispiel, die hat keinen regelrechten Unterricht wie ihr und weiß doch vieles am besten.« Diese Worte erweckten in Zinna ein großes Glücksgefühl. Mit Lob konnte man bei ihr alles ausrichten, und sie strengte sich von da an aufs äußerste an, es den andern gleich zu tun.

Und nun war's wieder Frühling geworden, – Frühling auf der Heide! Nun ging's wieder hinaus, man sammelte sich wieder um die Lagerfeuer im Freien, es wurde genächtigt im duftenden Grün oder am Waldesrand, der Mond schaute wieder durch die Zweige der Bäume, und die Sonne wärmte und färbte die ohnehin schon dunkeln Gesichter noch schwärzer.

Zinna hätte kein Zigeunerkind sein müssen, wenn ihr nicht wohl bei diesem Leben gewesen wäre. Wenn der Tetia seine Geige hervorholte und schwermütige Weisen erklingen ließ, wenn Schellata zu ihrer Harfe die alten Zigeunerlieder sang, und wenn die Frauen und Mädchen von ihren Streifzügen, auf denen sie den ihnen Begegnenden wahrsagten, zurückkehrten und lustige Geschichten erzählten, da vergingen Zinna auch ihre traurigen Gedanken. Nach und nach hatte sie es auch über sich gebracht, wieder Freude an andern Kindern zu bekommen. Alle fühlten sich ja zu ihr hingezogen, so wie sie wußte niemand zu scherzen und zu spielen, und mit der Zeit konnte sie es sogar auch wieder vertragen, wenn sich andere kleine, braune Arme als die ihres Heinerle um ihren Hals schlangen, – waren's doch Kinderarme, und die brauchte sie nun einmal.

Ja, wenn es dem Heinerle dort in der fernen Stadt nicht gut ginge! Aber immer erhielt die Daja von Zeit zu Zeit einen Bericht von dort auf dem Umweg über das Schloß, daß das »Zigeunerle«, wie man ihn in der Anstalt nannte, gesund und der Liebling von allen sei. Dies Wort, oder wenn Schwester Martha gar beschrieb wie lieb der kleine Kerl sei, entfachte freilich hie und da eine wilde Eifersucht in Zinnas Herzen. Was sie einzig und allein darüber hinwegbrachte und einigermaßen beruhigte, war das Erzählen davon, wie geschickt ihr kleiner Bruder sei, und was er dort schon alles gelernt habe. Dazu trug hauptsächlich ein Brief der kleinen Komtesse bei, den sie vor einiger Zeit erhalten hatte. Sie schrieb:

»Liebe Zinna!

Heute muß ich Dir etwas sehr Schönes berichten. Onkel und Tante haben mich vorige Woche mit in die Stadt genommen zum Arzt, weil ich gegenwärtig nicht so ganz wohl bin. Und denke Dir, Tante ist mit mir ins Blindenasyl gefahren, und wir haben das Heinerle dort besucht. Dein Heinerle! Gekannt hat er uns natürlich nicht, aber als die Tante ihren und meinen Namen nannte, da suchte er meine Hand zu fassen und sagte so herzig: ›Bist du die, die meine Zinna so lieb hat?‹ Und dann ließ er mich gar nicht mehr los, sondern zog mich mit sich in eine Ecke des Spielsaals, wo er aus einem Schrank – jedes der Kinder hat seinen eigenen – so geschickt und sicher, als ob er sehen könnte, allerlei Gegenstände hervorholte und auf einen Tisch stellte. ›Du, das hab' ich alles selber gemacht, das sage meiner Zinna!‹ Und wirklich, die Schwester bestätigte das: der kleine, noch nicht ganz sechsjährige Bub versteht ganz wunderbar aus Ton allerlei Tierchen, Früchte und sogar kleine Kinderfiguren zu formen. ›Er hat ein großes Talent‹, sagte der Inspektor, der dazugekommen war, und er und die Tante sprachen nun darüber, daß der Heiner, wenn er noch etwas älter sei, Schnitzunterricht bekommen solle, und dann könne er einmal wie einer, der gut sieht, sein Brot verdienen. Ist das nicht wundervoll, wenn auch leider seine Augen eben nicht mehr gut werden? Und nun noch einmal etwas Schönes. Du weißt ja, Zinna, daß man Dir auf das hin, was du damals getan hast, verboten hat, je wieder einmal einen Besuch in der Anstalt zu machen. Aber nun hat die Tante ein gutes Wort für Dich eingelegt, und ich soll Dir nun ausrichten, daß man, wenn Ihr im Herbst wieder in die Nähe der Stadt kommt, gegen einen Besuch von Dir nichts mehr einzuwenden habe. Nun aber, liebe Zinna, sei nicht mehr traurig! Jetzt hast Du etwas, worauf Du Dich den ganzen Sommer über freuen kannst. Tante sagt, es sei nötig, daß Du hingehst, wenn's Dich auch vielleicht Überwindung kostet, weil das Heinerle Euch am Ende sonst doch vergessen könnte, und gelt, das möchtest Du doch nicht haben?

Deine Dich liebende Winifred.«

Tage lang trug Zinna diesen Brief mit sich herum. Allen erzählte sie, wie klug und geschickt das Heinerle sei, was sie übrigens von jeher gewußt habe. Eine große Beruhigung war ihr und der Daja auch, daß man nie in seine Augen »gestochen«, das heißt, daß man keine Operation vorgenommen hatte, denn diese hätte ja auch nichts mehr genützt. Ihre größte Freude aber war das Wort der Fürstin: der Heiner dürfe sie und alle nicht vergessen. Also wollte man ihn nicht für immer von ihnen losreißen, und die Frau mit der weißen Haube durfte ihn nicht ganz für sich behalten. An einen Besuch dort aber mochte Zinna, so heiß sie sich auch nach ihrem Buben sehnte, nicht denken, ihr Stolz wehrte sich dagegen, und dies schrieb sie auch in ihrer Antwort an die kleine Komtesse. Wo sie aber dann ihr Goldkind, ihren Herzensschatz, überhaupt wieder einmal sehen sollte, das lag in den Sternen. Und wenn Zinna in dieses Denken hineingeriet, dann kam wieder die alte Hoffnungslosigkeit über sie. Ein paarmal, in irgendeiner Kirche, die am Wege stand, hatte sie sich in solcher Stimmung an den Gott der kleinen Komtesse wenden wollen, aber wie konnte er, der so weit entfernt war und den sie nicht sah, sie hören? Das Büchlein, das ihr hierüber hätte Auskunft geben können, lag noch immer wohlverwahrt in dem seidenen Tüchlein eingewickelt unten in ihrem Bündel.

Herbst: Kinderfest auf Alten-Leien! Ein solches wurde alljährlich gehalten, und sämtliche Kinder vom Dorf wurden zum Geburtstagsfest des kleinen Erbprinzen eingeladen. Große Tafeln waren gedeckt unten in dem alten Rittersaal mit den bunten Glasscheiben, wo die Rüstungen der Vorfahren derer von Alten-Leien hingen. Buben und Mägdlein kamen in ihren schönsten Sonntagsanzügen. Ein jedes trug in der Hand ein Sträußlein von Spätherbstblumen – Dahlien und Astern – und sie beglückwünschten den kleinen Prinzen, der sie etwas verlegen an der Türe erwartete, die Sträußlein in Empfang nahm und sie dann dem Diener übergab, der alle hübsch und kunstgerecht zu einem Berg auf einem Nebentische aufhäufte. Winifred, die auch dabeistand, behielt etliche in der Hand. Sie wählte dazu die Sträußlein von den ärmsten Kindern, die teilweise gar kein Gärtlein hatten und nur Wiesenblümchen brachten.

Wolf-Dieter dachte an so etwas Feines nicht. Er war nun ein groß gewachsener, schlanker Junge von sieben Jahren, ritt und ging mit einer kleinen Flinte schon mit auf die Jagd, auch konnte er schon ganz hübsch schreiben und lesen. Auf den Tischen standen große Kannen mit Schokolade, vielerlei Kuchen waren aufgestellt, und als die Kinder saßen, schenkten die Erzieherin und die Babi ein, während die Fürstin und Winifred und da und dort auch einmal die Großmama die Kinder reich mit Gebäck und Kuchen versahen. An diesem Tage waren die Diener ihres Amtes entsetzt, es sollte so recht gemütlich zugehen.

Anfangs sprachen die Kinder meist nichts, und auch auf etwaige Fragen gab es nur spärliche, verlegene Antworten. Auch Wolf-Dieter wußte nicht viel zu reden, um so besser aber gelang es Winifred, den Bann zu brechen.

Zuerst fragte sie: »Wer von euch mag noch Schokolade?« Gewöhnlich kam keine Antwort darauf. Wenn sie aber scherzend fragte: »Nicht wahr, ihr mögt Schokolade gar nicht, und keins will mehr was trinken?« dann kam sofort die Gegenrede von ein paar Kleinen: »Doch, ja, ich möcht' noch!« oder »Ich hab' noch nicht genug!« und dann folgten die andern alle wie auf einen Schlag, hielten ihre leeren Tassen in die Höhe, und unter viermal eingeschenkt tat's dann keines. Ein kleines Büblein aber, das noch nichts von Schokolade wußte, sagte bei der fünften Tasse, die es sich erbeten hatte: »So einen duten Taffee hab ich noch nie betrunken!«

Ganze Berge von Kuchen wurden vertilgt, niemand konnte mehr essen. Als aber die kleine Komtesse dann fragte: »Wer von euch hat kleine Geschwister zu Hause? Wir möchten ihnen auch etwas schicken«, da erhob sich ein Stimmengewirr und Metzgers Gottlob sagte: »Wir haben mich, vier Mädel und noch zwei Kinder!« – Des Lehrers kleines Mariechen mit seinem feinen Stimmlein rief: »Unser Martin kann zwar noch keinen Kuchen essen, – der Storch hat ihn erst vorgestern gebracht – aber ich geb' ihn dann meinem Mutterle!« Ein Gärtnerskind schrie in hellem Eifer: »O mir, bitte, recht viel, mein großer Bruder wartet schon darauf, daß ich ihm was heimbringe, – der kann mächtig essen!« Und der Bub eines Braumeisters, der keine Geschwister hatte und doch auch etwas gelten wollte, sagte: »Kinder haben wir keine, aber zwei Hunde und sechs Säue.« Mit Lachen wurden nun alle diese Antworten entgegengenommen, und jedes bekam für irgendeins in der Familie sein Paketchen. Nur für die Säue des Braumeisters Fritz fiel nichts ab, hingegen gab ihm das Komteßchen zwei Brezeln für seine Hunde.

Es wurden nun Spiele gemacht, wobei sich wieder alle um das Komteßchen drängten, denn den Erbprinzen fürchteten die Kinder ein bißchen, er hatte etwas Stolzes an sich, und es fiel ihm nichts ein, das er hätte sagen können. Nachher aber, als die Schokolade abgeräumt und die Kinder aufgestanden waren, kam die Reihe an ihn, sich zu zeigen. Draußen, auf dem Platz unter den uralten Linden, wurde das Pony vorgeführt, das Wolf-Dieter heute von seinem Vater bekommen hatte, und die Dorfkinder staunten, wie gewandt der kleine Prinz schon aufstieg, die Zügel und die Peitsche in die Hand nahm und um den plätschernden Brunnen in der Mitte des Hofes herumritt. Der Fürst, der nun auch erschienen war, und die Bediensteten hatten ihre helle Freude daran. Als aber der kleine Prinz zuerst Trab und dann Galopp ritt, was selbst den Damen etwas unbehaglich war, da drängte sich die Kinderschar ängstlich in eine Ecke, und die Fürstin, die dies sah, gab einem Diener den Wink, er solle das Pony nun am Zügel fassen, es sei überhaupt genug.

»Warum?« fragte Wolf-Dieter ärgerlich und kurz, worauf die Fürstin leise zu ihm sagte: »Die kleinen Mädchen fürchten sich ein wenig, wenn du so wild reitest, da mußt du Rücksicht nehmen!«

»Die dummen Gänse!« war die ärgerliche Erwiderung des Prinzen, und er sagte dies so laut, daß die Kinder es wohl hören konnten.

Des Metzgers Gottlob aber, der ganz vorne dran stand und sich für seine Schwestern beleidigt fühlte, rief ungeniert: »Du, wart' nur, so sagt man nicht!«

Das aber ärgerte den kleinen Prinzen furchtbar, er fühlte sich in seiner Ehre gekränkt. Er sprang von dem Pferd, das ein Diener hielt, herab, trat an den Buben heran, gab ihm einen tüchtigen Puff, so daß dieser stolperte und hinfiel, und entgegnete mit einem ganz roten Kopf: »Du bist ein Flegel und ich bin ein Prinz!«

Gottlob hatte sich gleich wieder erhoben, und das Wort »Ich bin ein Prinz!« hatte ihm wohl zum Bewußtsein gebracht, daß er sich recht ungebührlich benommen habe. War doch jedem der Kinder vorher noch zu Hause tüchtig eingeprägt worden, sich oben bei den Herrschaften äußerst sittsam zu benehmen. In seiner Verlegenheit wußte sich der kleine Kerl nun nicht anders zu helfen, als daß er in bitterliches Weinen ausbrach.

Da war's Winifred nun wieder, die sofort vermittelte. »Sag ihm doch, daß dir's leid tut«, raunte sie dem Prinzen zu, der aber gar keine Lust hierzu zeigte. »Tu's doch, sonst ist ja dem Kleinen das ganze Fest verdorben!« bat ihn Winifred wiederholt leise. Als aber nichts erfolgte, da nahm sie Gottlob am Arm und sagte: »Wein' doch nicht, der Prinz hat's gewiß nicht bös gemeint! Ihr pufft euch doch auch oft untereinander, nicht wahr? Und du bist ein braves Büble, daß du dich so für die Mädels einsetzest.«

Nun war die Sache wieder abgetan, die Kinder vergaßen auch den Zwischenfall über Springspielen, Blindekuh und Sackhüpfen, wobei wieder kleine Preise ausgeteilt wurden. Daheim aber, als sie eifrigst erzählten, wie's gewesen war, da sagte doch hie und da eines: »Das Komteßchen ist arg brav, der Prinz ist aber eben, eben ... ein Prinz.« Sie wußten sich in diesem Fall nicht anders auszudrücken, sie wollten wohl damit sagen: »halt anders als andere.«

Es war kühl gewesen, und als die letzten kleinen Gäste das Schloß verlassen hatten, verlangte die Fürstin, daß sich das Komteßchen gleich legte. Es fror seit einiger Zeit so leicht und wurde so bald müde. Die Babi hatte ihr Bettchen gut durchwärmt, und Winifred fühlte sich nach dem Nachtessen ganz behaglich, so daß auf ihr Bitten alle noch zu ihr herüberkamen und sich eine halbe Stunde zu ihr setzten. Das ganze Fest wurde durchgesprochen, und jeder zeigte sich über den Verlauf befriedigt.

Nur Wolf-Dieter machte gar kein vergnügtes Gesicht. Er drückte sich um das Bett der kleinen Base herum, und als die Erwachsenen »Gute Nacht« gesagt hatten, da packte er sie schnell am Kopfe und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich hab' ihm nicht weh tun wollen, dem Esel, warum ist er auch gleich umgefallen!«

Das Komteßchen gab dem Pflegebruder schnell einen Kuß und sagte: »Das dachte ich mir, Wolf-Dieter, das dachte ich mir! Aber weißt du, du solltest nicht immer so den Prinzen hervorkehren, das ist nicht fein, und vor dem lieben Gott sind wir alle doch nur Kinder!«

Wolf-Dieter wollte gerade trotzig wieder antworten: »Und ich bin eben doch ein Prinz!«, aber als er in der kleinen Base liebes, fast etwas ängstliches Gesicht blickte, da schluckte er's hinunter, denn er wußte, daß er ihr immer wehe tat, wenn er etwas derartiges sagte.

Das Komteßchen war heute nicht so rasch eingeschlafen. Es mußte an so vielerlei denken, was heute geschehen war, und ihre Babi wurde ordentlich unwillig, als ihr Pflegling immer wieder anfing zu erzählen und zu sprechen.

»Ich weiß, ich weiß, Komteßchen, das Fest war hübsch und die Kinder vergnügt, und die Blumensträußchen winden wir morgen zu einem schönen Kranz und hängen ihn im Eßzimmer über des Prinzen Bild. Aber jetzt legen wir uns brav auf die Seite und schlafen!« Damit schüttelte die Babi noch einmal die Kissen, und das Komteßchen kam nun endlich zur Ruhe.

Die treue Pflegerin aber saß noch lange mit Hanna in deren Stube nebenan zusammen, und sie sprachen auch über das beendigte Fest. Aber noch mehr redeten sie über Winifred.

»Was das Kind nur hat mit diesem ewigen Müdesein seit einiger Zeit?« sagte Hanna. »Und ich weiß nicht, ob ich mir's einbilde, aber ihre Bäcklein werden so schmal, – ob das wohl vom Wachsen kommt?«

Babi, die damit beschäftigt war, eines der weißen Kleider ihres Komteßchens zu verlängern, denn es war richtig, sie ging gewaltig in die Höhe, gab zuerst keine Antwort. Dann aber legte sie mit einem tiefen Seufzer ihre Arbeit ein wenig auf die Seite und sagte: »Das Schmälerwerden ängstigt mich nicht, das kommt ja wohl immer in diesem Alter vor. Was mich aber beunruhigt, das ist, daß ich schon öfters beobachtet habe, wie mein Komteßchen gar nicht mehr so rasch wie früher die Treppen heraufkommt – – immer zwei Stufen auf einmal –, und daß es jetzt dazwischenhinein öfters stehen bleibt und Atem schöpft. Und neulich erschrak ich wirklich, als es sagte: »Babi, fühl' einmal, wie dumm mein Herz klopft!«

Hanna meinte hierauf, Herzklopfen habe sie in dem Alter auch manchmal gehabt, vielleicht sei es ein bißchen Bleichsucht.

Babi schwieg hierauf. Das, was ihr Herz im tiefsten Innern bewegte, das konnte und mochte sie nicht aussprechen, daß ihr Komteßchen sie in letzter Zeit oft in erschreckender Weise an die auch so engelsgut gewesene Mutter erinnerte.

In der nächsten Zeit sprach dies aber jemand anderes geradezu aus, und zwar ein berühmter Professor von der Universität, den die Herrschaften berufen hatten, weil auch sie sich wegen des Komteßchens Zustand zu sorgen anfingen. Nach gründlicher Untersuchung, die Winifred für höchst unnötig erklärte, denn sie sei doch nicht krank, hatte er die Herrschaften gefragt, ob vielleicht eines der Eltern der jungen Dame ein schwaches Herz gehabt habe. Als sie dann sagten, daß die Mutter der Komtesse an einem Herzleiden in den Tropen gestorben sei, da wurde sein Angesicht ernst. »Das höre ich nicht gerne!«

Gleich darauf suchte er aber den Eindruck zu verwischen: »Die Herrschaften dürfen sich durchaus noch nicht beunruhigen, das Herz der jungen Gräfin ist freilich nicht ganz in Ordnung. Eine Erklärung hierzu ist mir, daß die kleine Dame im Süden geboren wurde. Sie ist aber noch so jung und wächst hier unter solch prächtigen Verhältnissen heran, daß wir hoffen dürfen, über augenblickliche Unregelmäßigkeiten hinwegzukommen!«

Der Arzt verordnete hierauf, das Komteßchen solle viel liegen, oft und kräftig essen und alles vermeiden, was das junge Herz erregen könnte.

Winifred war unglücklich, daß man überhaupt so viel Wesens mit ihr machte, und wieder versicherte sie, sie fühle sich doch gar nicht krank. Und wirklich besserte sich der Müdigkeitszustand auch in den nächsten Wochen. Und als es auf Weihnachten zuging und Winifred so eifrig wie je ihre Vorbereitungen für die Armen des Dorfes traf und sogar ohne Ermüdung kleine Schlittenfahrten mit dem Bruder machte, da atmeten alle auf, und der Fürst, dessen Liebling Winifred war, sagte ordentlich erleichtert: »Das Ganze war eine kleine, dumme Wachsgeschichte, und wir haben uns einmal recht unnötig geängstigt!«

Wolf-Dieter freute sich furchtbar auf Weihnachten. Im Verein mit seinem Hauslehrer hatten die beiden allerhand kleine Geschenke – Wind- und Wassermühlen, Ziehbrunnen usw. – gebastelt, und der größte Wunsch des Prinzen war, einen Motor zu bekommen, der alles das in Bewegung setzte. Diese Machwerke sollten der großen, schönen Burg, die noch aus des Fürsten Jugendzeit stammte und dem Schlosse Altern-Leien nachgebildet war, einverleibt werden.

»Glauben Sie, Herr Binder, daß ich wirklich das erhalte, wodurch alles lebendig wird? Und Soldaten und Kanonen recht viele dazu?« fragte er den Tag über wohl zehnmal.

Und wenn der Hauslehrer dann halb ernst, halb lächelnd sagte: »Das kommt ganz allein auf Ihren Fleiß an, lieber Prinz«, da begann dieser jede Stunde mit redlichem Eifer, der aber gegen das Ende der Stunde meistens wieder erlosch, denn es gab eben gar zu viel anderes Interessanteres, woran man denken mußte, als an das dumme Lernen.

Das, was Winifred für die Armen vorbereitete, zog ihn nicht sehr an, und er konnte nicht recht begreifen, wie es Kinder geben könne, die sich wirklich über diese dummen hölzernen kleinen Pferde, Wickelpuppen und Wollsachen freuen würden. Hingegen beschäftigte ihn sehr, was sein Lieblingsdiener Weber, der Jäger, der Kutscher und all die andern aus der Dienerschaftsstube wohl erhalten würden, und manchen diesbezüglichen Wunsch hinterbrachte er gutmütig bei Gelegenheit dem Vater.

Ein paar Tage vor dem heiligen Abend durfte Winifred mit Babi ins Dorf hinabgehen und Körbe voll Eßwaren und Kleidungsstücke zu Alten und Kranken bringen. Die Großmama hatte sorglich gemeint, ob man das wohl heuer nicht besser unterließe, das heißt, Babi allein schickte, Winifreds warmes Herz empfinde all das Leid anderer gar so tief. Aber das Kind war so unglücklich, als man ihm das angedeutet hatte, daß die Erregung durch eine Verweigerung größer gewesen wäre, und so machte man's eben wie alle Jahre.

Als aber die kleine Komtesse mit ihrer Babi zurückkam, bereute man es fast. Ihre Wangen glühten beim Erzählen, welch furchtbare Schmerzen die Frau Wiedemann wieder in ihren Gliedern habe, wie der Fuß vom alten Jakob eben immer noch nicht heile, wie die Frau Klenk so bitterlich geweint habe, daß sie nun schon die sechste Woche liegen müsse und ihre Kinder nicht versorgen könne. »Sie verwildern mir ganz«, habe sie so traurig gesagt. Winifred bat flehentlich, die Tante möge doch erlauben, daß eines der Hausmädchen jeden Tag für ein paar Stunden hinuntergehe, um nach der Frau und den Kindern zu sehen.

Die Fürstin tat's gern, und als am andern Tag eins von den Klenkschen zufällig aufs Schloß kam, da sagte ihm die Fürstin zu Winifreds größter Freude, die Älteste der Mädchen könne jeden Tag herauf in die Schloßküche kommen und das Essen holen.


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