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Elftes Kapitel

Komteßchens Wunsch, Fräulein Bergers Bedenken und ein unerwarteter Besuch. – Sie hat ihn wieder. – Vom blinden Büblein, und was es alles kann. – »Habt ihr viele Sachen!« – Wie eine Fürstin sich über Wäscheklammern freut und ein kleiner Zigeuner aufs Geschichtenlesen. – Mutlos sein!

 

Es war Anfang Mai geworden, und die Abreise Winifreds nach der Hauptstadt in das Sanatorium des berühmten Arztes nahte heran. Die Fürstin und Babi gingen mit. Der Fürst unternahm inzwischen eine kleine Reise, und Wolf-Dieter wurde für diese Zeit der Obhut der Großmama und des Herrn Binder überlassen. Was sollte nun aber mit Zinna geschehen? Babi und Hanna gingen mit ihren Herrinnen fort, und sie waren's doch, an denen das Mädchen einen Halt gehabt hatte. Die übrige Dienerschaft verhielt sich noch immer ablehnend, und auch die Jungfer der Gräfin Großmutter hatte wenig übrig für das Zigeunermädchen. Sie war auch schon alt, tat nichts mehr, als ihre Herrin bedienen, und blieb meistens auf ihrer Stube, ohne sich viel um das, was im Hause vorging, zu bekümmern. Was war da zu machen? Man konnte doch nicht das Werk halb vollendet wieder aufgeben und Zinna dahin zurückschicken, wohin zu gehen ihr fast nicht möglich war!

Winifred machte die Sache viel Sorgen, und sie hatte deshalb mit der Großmama in den letzten Tagen eine längere, eingehende Unterredung gehabt. Sich eng an sie anschmiegend, sagte sie: »Großmama, willst du mir einen großen Wunsch erfüllen, von dem ich wohl weiß, daß er dir Mühe machen wird?« Und als diese versicherte, sie werde für ihr Herzenskind tun, was sie könne, da sagte Winifred: »Willst du meine Zinna über die Zeit, wo ich fort sein werde, zu dir in deinen Schloßflügel hinübernehmen und ihr ein bißchen deinen Schutz angedeihen lassen? Könntest du nicht vielleicht dein Stubenmädchen, die Nannette, anderswo beschäftigen und die Zinna ihre Arbeit tun lassen? Babi und Hanna waren in der letzten Zeit recht zufrieden mit ihr; sie zerbreche viel weniger, sehe jetzt auch den Staub auf den Möbeln und könne recht nett kleine Risse stopfen und Ösen annähen. Wenn dein Fräulein Berger sich aufraffen und sich Zinnas ein wenig annehmen wollte, dann ginge es doch so gut, und von dir, Großmama, weiß ich ja, daß du immer lieb und freundlich mit dem armen Ding sein wirst.«

Die alte Dame war ein bißchen erschrocken über Winifreds Wunsch, sie fürchtete hauptsächlich die Einsprache ihrer alten Dienerin. Als sich diese aber nach einer Rücksprache immerhin nicht ablehnend verhielt, sondern sagte: »Wenn die Frau Gräfin sich mit der Sache befassen wollen, so soll man sich nicht über mich zu beklagen haben, wenn mir auch – ich gestehe es offen – diese Rasse Menschen geradezu widerlich ist«, da erhielt Winifred das Versprechen, daß Zinna zu der gegebenen Zeit in den andern Schloßflügel übersiedeln dürfe.

Aber es war noch eine andere Bitte, die Winifred im Herzen bewegte, die der Fürstin galt, und die diese sofort, als ihr Sorgenkind davon sprach, mit Freuden bewilligte. Winifred hatte nun schon so manchmal mit Zinna über den kleinen Heiner gesprochen, und jedesmal schnitt es ihr ins Herz, wenn sie des Mädchens tiefe Falte zwischen den Augen und ihren traurigen Ausdruck beim Erwähnen ihres kleinen Bruders sah.

»Aber warum kannst du dich denn nicht überwinden, ihn einmal dort zu besuchen? Du weißt doch, daß du es darfst.« Da hatte Zinna jedesmal den Kopf geschüttelt und gesagt: »Was hab' ich davon in den paar kurzen Stunden? Mein Buberl kennt mich ja doch nicht mehr, und das Ende ist, daß sie ihn wegen seiner Zigeunerschwester auslachen, und das will ich ihm nicht antun!«

Das also war der Hauptgrund, der auch die Fürstin tief rührte, als sie davon erfuhr, und so ging sie sofort auf Winifreds Gedanken ein, ob man nicht den Heiner, der ja auch das Patenkind des Hauses war, für ein oder zwei Tage nach Schloß Alten-Leien kommen lassen könne. Es gäbe gewiß eine Schwester oder Wärterin, die ihn begleiten könne. Auf diese Weise würden die Geschwister wieder einmal beieinander sein können und sich nicht ganz fremd werden.

Winifred war glückselig, als sie Zinna diese Aussicht mitteilen durfte, und zwar gleich mit der Bestimmung eines gewissen Tages in allernächster Zeit. Das Mädchen wurde ganz bleich über so etwas Unerhörtes, und zuerst entfuhr ihr die Frage: »Aber nicht wahr, die mit der weißen Haube kommt nicht mit?«

Als aber die Komtesse erwiderte: »Ja, doch, Zinna, die mit der weißen Haube, die gute, liebe Schwester Martha, die seither so treu für dein Heinerle sorgte, und der wir sehr dankbar dafür sein müssen!« da überwand sie sich und sagte: »Es ist eben für mich so schwer, daran zu denken, daß nicht ich wie früher die Daja für unser Kind habe sorgen können!«

Der Tag des Besuches kam, und gleich nach dem Frühstück fuhr ein Wagen nach der Bahn, der die beiden abholen sollte. Zinna war in fürchterlicher Aufregung, und man mußte es ihr am heutigen Tage zugute halten, daß vom Frühstücksgeschirr eine Tasse und von Komteßchens Nachttisch eine kleine Lampe herunterflog und in Scherben zerbrach.

Unbändig vor Glück war's ihr im Innern zumute, und neben der Freude, ihr Goldkind einmal wiederzusehen, quoll es auch übermächtig in ihrem Herzen: eins von den Ihrigen endlich einmal wieder, eins vom Stamme und von der eigenen Art!

Als nach einer Stunde der Wagen den Schloßberg herauffuhr, da konnte sie sich nicht mehr halten, sondern eilte ihm mit fliegender Hast entgegen.

Winifred, die von ihrem Erker aus hinuntersah, fühlte mit, als die Pferde auf Zinnas Rufen hielten, als sie den Schlag aufriß und ihr Heinerle leidenschaftlich in die Arme schloß. Aber war das denn das Heinerle noch, dieser große, schlank gewachsene, siebenjährige Bub, der seinen dunkeln Kopf mit dem weißen Strohhütlein zuerst etwas ängstlich zurückbog, aber dann doch gleich die Hand der Schwester faßte und sich im Triumph von ihr den Berg vollends hinaufbringen ließ?

Zinna hatte natürlich, wenn auch zaghaft, Schwester Martha begrüßt und diese, hinter den beiden hergehend, freute sich im stillen über das nette, anständige und sittsame Aussehen des jungen Zigeunermädchens. Welch anderer Anblick als einst die unordentliche Wildkatze mit ihren wirren Haaren und ihren blitzenden Augen!

Die Ankömmlinge wurden zuerst zu der kleinen Komtesse geführt, wo ein Imbiß ihrer wartete. Der Heiner wollte sich am Anfang zieren und war etwas ängstlich an dem fremden Tisch. Als aber Schwester Martha ihm stillschweigend die Hand auf Messer und Gabel legte und ihn den Rand seines Tellers leise erfassen ließ, da war er seiner Sache schon ganz sicher, und sittsamer als manches sehende Kind zerschnitt er seinen Schinken und aß sein Ei.

Das Büblein war schon ganz gesprächig geworden, als die Fürstin eintrat, um die beiden zu begrüßen und sie dann zu der Großmama mit hinüber zu nehmen.

»Also so sieht mein kleines Patchen aus und so groß ist es schon geworden!« Die Patin freute sich herzlich über das gesunde Aussehen ihres kleinen Schützlings, über seinen Augen, den schönen, herrlichen, dunkeln, lag freilich ein Schleier, der wohl auch niemals würde gelüftet werden können. Doch dieses Schicksal schien dem Kleinen wenig Kummer zu machen. Und nun kam eine Überraschung nach der andern. Wie schnell hatten die tastenden Hände des kleinen Blinden die Räume und Möbel, die darin standen, erfaßt! Nach einmaligem Führen kannte sich der Kleine sofort aus und war nur immer wieder aufs neue überrascht, wie ganz anders es hier sei als daheim, womit er seine Anstalt meinte. Daheim waren die Möbel alle so glatt und lange nicht so weich und mit so viel Zieraten versehen wie hier. Die Zimmer und Säle waren auch viel leerer; aber bewundernd und mit äußerst zarten Strichen glitten die wißbegierigen, stets reinlich gehaltenen Händchen besonders über die schönen Stoffe.

»Habt ihr viele Sachen!« sagte er immer wieder, und er blieb bei der Anrede »ihr«, wiewohl Schwester Martha ihn verschiedene Male zurechtwies und sagte, man müsse »Sie« sagen. Die Damen lachten, und Zinna, die dabei war, wurde rot. Ihr, der viel Älteren, war es heute noch nicht beizubringen, »Durchlaucht« zu sagen statt »Herrin«, und wenn sie erregt war, so schlüpfte ihr auch immer wieder das allen Menschen gegenüber bei den Zigeunern gebräuchliche Du heraus.

Wolf-Dieter hatte sich zuerst im Hintergrund gehalten, obgleich ihn dieser kleine Zigeuner im Grunde sehr interessierte. Auch sein Mitgefühl war rege geworden, als die Großmama ihm vorher auseinandergesetzt hatte, wie schrecklich es sei, blind zu sein. Als sich aber der Heiner so frei bewegte und ungezwungen über jedes freundliche Wort und über jeden Spaß, den man mit ihm machte, so fröhlich lachte, da sagte er zur Großmama: »Der ist aber vergnügt, da braucht man nicht so traurig um ihn zu sein!«

Dieses Vergnügtsein ihres Buberls, das ja aber doch nicht mehr das ihre war, beobachtete Zinna auch mit gemischten Gefühlen. Gottlob, daß es so war! Aber wenn sie das Kind früher fröhlich gemacht hatte, so galt sein Lachen ihr, und jetzt war's halt so wehmütig.

Winifred mit ihrem feinen Gefühl für andere erriet Zinnas Gedanken, und als Schwester Martha auf Geheiß der Damen eine Schachtel holte, worin sich Proben von des Kleinen Geschicklichkeit befanden, da faßte die kleine Komtesse Zinna an der Hand und sagte: »Nicht wahr, du freust dich, Zinna? Nicht wahr, es ist doch wunderschön, daß dein Goldkind so vergnügt ist und so viel lernen kann?«

Und Zinna freute sich wirklich und war mit den andern erstaunt, was diese braunen Kinderhände Hübsches zustande gebracht hatten. Eifrig und mit Stolz stellte der Heiner auf Wunsch der Fürstin auf einem dazu bereitgestellten Tische seine Machwerke aus. Da waren sämtliche Insassen der Arche Noah teils aus Lehm, teils aus Wachs geknetet, und wenn man auch manchmal nicht so ganz genau wußte, ob es ein Hund oder ein Tiger sei, im großen ganzen waren doch die Figuren erkennbar.

Wolf-Dieter vergaß ganz seine Zurückhaltung über dem Wunderbaren, das sich ihm hier darbot, und er fragte: »Wenn du aber doch die Tiere und die Menschen nicht siehst, woher weißt du denn dann, wie du sie machen sollst?«

Da sagte der Heiner: »Wir haben ja die Modelle im großen Saal, die dürfen wir doch anfassen, und dann weiß ich doch ganz genau, wie sie aussehen.«

Schwester Martha erklärte den Blindenunterricht noch näher, und Heiner durfte nun auch seine Schreibproben zeigen und den Damen etwas aus einem Hefte mit gestochenen Buchstaben vorlesen.

»Nur noch ein Jahr, und dann darf ich kleine Geschichten lesen, und darauf freue ich mich so furchtbar«, sagte der Kleine, und Zinna fühlte sich nun fast beschämt von dem Bruder, der sich aufs Lesen freute. Auch Flechtarbeiten und Holzschnitzereien befanden sich in der Schachtel, und nun durfte Heiner, worauf er sich schon lange gefreut hatte, den Damen kleine Geschenke überreichen. Die Großmama bekam ein hübsches, rundes Körbchen aus Weiden, um ihren Knäuel beim Stricken hineinzutun, Winifred ein kleines geflochtenes Untersätzchen, worauf sie des Nachts ihr Glas stellen konnte. Viel Spaß erregte es aber, als der kleine Mann der Fürstin ein Säcklein voll Wäscheklammern überreichte und äußerst wichtig dabei sagte: »Die sollst du gebrauchen, wenn du deine Wäsche aufhängst.«

Schwester Martha entschuldigte sich wegen dieses prosaischen Geschenkes, aber der Bub habe es für das Schönste und Nützlichste gehalten, und so habe sie ihn eben gewähren lassen. In etwas beleidigtem Ton sagte Wolf-Dieter leise zu Winifred: »Krieg' ich nichts?«

Das feine Ohr Heinerles hatte aber diese Worte vernommen, und er sagte: »Vielleicht nimmst du dir einige von meinen Tieren. Wähle dir nur aus, ich mache dann schon wieder neue!«

Die Tiere waren wirklich hübsch und paßten in der Größe gerade zu Wolf-Dieters kleinen Welt, und er nahm sich einen Hirsch, einen Hasen und einen Hund. Als die Kinder nachher mit der Schwester und mit Zinna in Wolf-Dieters Spielzimmer gingen und dieser dem Heinerle zuerst seine große Burg zeigte, das heißt, die Schwester führte und hob ihn rings herum, ließ ihn fühlen und fassen, und der kleine Prinz erklärte, da rief Heiner eifrigst: »Wenn ich nur meine Schachtel mit Wachs da hätte, dann würde ich dir gleich ein paar Schwäne auf deinen Teich machen und ein Schilderhaus für deine Schildwache!« – Wolf-Dieter erwiderte hierauf gleichfalls eifrig: »Eine Schachtel mit Wachstäfelein habe ich schon lange, aber ich habe nie gewußt, was damit anzufangen sei. Soll ich sie holen?«

Gleich darauf waren die beiden Knaben an Wolf-Dietrichs Arbeitstisch voll Fleiß damit beschäftigt, zu kneten und zu formen, und Wolf-Dietrich hatte diesmal gänzlich vergessen, daß es ein kleiner Zigeuner und kein kleiner weißer Standesgenosse war, der neben ihm saß.

Nach dem Mittagessen – es war für die Gäste im Vorzimmer der kleinen Komtesse gedeckt worden – bekam Zinna ihren Buben für etliche Stunden ganz allein für sich, so hatte es die Fürstin angeordnet. Schwester Martha war inzwischen mit der Komtesse im Garten, wo diese sich vielerlei von ihr erzählen ließ, von blinden und sehenden, von gesunden und kranken Kindern, und besonders die letzteren interessierten sie am meisten. »Sind sie immer geduldig? Klagen sie nie, wenn es ihnen unbehaglich ist?«

Als aber die Schwester antwortete: »O doch, auch die besten unter ihnen haben ihre schweren Stunden, wo sie mutlos werden«, da sagte Winifred traurig: »Auch ich bin oft mutlos!« Aber dann ging sie sofort auf etwas anderes über. Schwester Martha aber sah mit Wehmut in das liebe, schmale Gesichtchen und faltete leise die Hände.

Oben in Zinnas Zimmer saßen auf einer Bank eng aneinandergedrückt die Geschwister, und je mehr Zinna den Bruder fragte: »Weißt du noch? Weißt du noch?« desto zutraulicher wurde dieser. Ja, er wußte noch vieles: von der Daja und der Bosche, von den Hunden und dem Wagen; auch des Dade erinnerte er sich, nur wurde sein Gesicht hierbei ernst, und er sagte: »Der hat mich oft geschlagen!« – Dann fiel ihm von selbst allerlei ein, und er redete drauf los: »Geigen tun auch viele bei uns, aber so, wie der Tetia es gekonnt, kann's keiner!« Auch nach seinen Spielgenossen, dem Peter und dem Wenzel, fragte er, aber als Zinna mit ihm in der Zigeunersprache reden wollte, machte er ein erstauntes Gesicht und sagte: »Das versteh' ich nicht mehr, ich kann nur Deutsch.«

»Nur Deutsch!« Das war wohl gut so für ihren Buben, aber zum Stamme gehörte er eben dann doch nicht mehr, für den war er verloren. Und wieder bemächtigte sich Zinnas eine tiefe Traurigkeit. Als aber Heinerle sagte: »Was hast? Hast Leib- oder Zahnweh?« da mußte Zinna lächeln, und als sie nachher mit den Kindern unten spielte und schaukelte, worüber der Heiner laut aufjauchzte vor Lust, und Schwester Martha sich ihr so lieb näherte und gar nicht mehr an das Vergangene zu denken schien, da wurde ihr wieder leichter zumute. Beim Abschied am nächsten Tage konnte sie ihr ohne Neid die Hand schütteln und aufrichtig sagen: »Ich danke auch für alles, was man an meinem Heiner tut!«


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