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Erstes Kapitel

Warum die Dorfleute aufhören zu arbeiten und die Glocken läuten. – Eine Wiege im Schloß und ein kleines, schwarzes Etwas am Lagerfeuer. – Von kläffenden Hunden, einem vornehmen Besuche, und warum der Fürst in seiner Arbeit gestört wird. – Hanna sagt: »Die lehrt's euch!« – Babi schneidert Hemdlein.

 

Draußen lag die Heide im Herbstnebel. An ihrem Rande sammelten die Dorfleute auf den feuchtdampfenden Äckern das Letzte, was noch nicht eingeheimst war an Rüben, Welschkorn und Kraut. Ein scharfer Wind wehte dann und wann aus Osten, und die Leute hauchten sich in die kalten Hände und sahen nach dem Stand der Sonne, ob es noch nicht bald Feierabendzeit sei.

Da plötzlich, zu ganz ungewohnter Stunde, schlug die Glocke vom nahen Dorfkirchlein an, fest, scharf, ein-, zwei-, dreimal. Die Leute richteten sich jäh auf und horchten. Es war dies ein Zeichen, wenn irgend etwas Absonderliches geschehen war. Nun folgte Schlag auf Schlag, und niemand arbeitete mehr weiter. Als aber nach einundzwanzig Schlägen und einer kurzen Pause die zweite Glocke einsetzte und nun über das ganze Tal und die Heide hin ein feierliches Klingen sich ergoß, da wußten die Leute, daß droben im Schloß der langersehnte Erbe geboren war. Viele Jahre hatte man vergeblich gehofft, und nun war der da, dem einst das Fürstentum Alten-Leien gehören sollte. Nun wußte man doch auch wieder, wer künftig Herr im Ländchen war, und daß in kommenden Zeiten keiner mit fremdem Namen hier hausen würde.

Als der letzte Glockenton verklungen war, blieb niemand mehr an der Arbeit. Schleunigst wurde in Tüchern und Körben das Gewonnene zusammengerafft, etliches ließ man sogar draußen, nur um rascher heimzukommen, und jung und alt strebte so schnell wie möglich dem Dorfe zu, um Näheres über die frohe Nachricht zu erfahren.

»Ein Prinz – ein Erbprinz!« Dieses Wort pflanzte sich von Munde zu Munde fort. Wo einer dem andern begegnete, strahlten die Gesichter. Und als gar die Wirtin vom Krug, deren Schwester auf dem Schlosse diente, den Heimkehrenden zurief: »Ein Bub ist's, und was für ein prächtiger! Sechs und ein halbes Pfund wiegt er!« da war der Jubel groß.

Kaum hatten sich die Heimkehrenden ihrer Gerätschaften und Körbe entledigt, als alles, was laufen konnte, unwillkürlich zum Schlosse hinaufeilte, dem alten Herrensitze, der schon im Mittelalter das Stammschloß derer von Alten-Leien gewesen war und hoch über dem Dorfe thronte.

In den Schloßhof drängte sich alles herein, obgleich der Jäger und der alte Kammerdiener wehrten und sagten: »Was fällt euch denn ein, jetzt gerade einen solchen Lärm zu machen?« Aber die Dorfleute ließen sich's nicht nehmen, da zu sein, wohin sie nach ihrer Ansicht mit Recht gehörten, sie mußten ihrer Freude Ausdruck verleihen. Wenn irgend jemand von den Schloßbediensteten sich sehen ließ, wurde er mit Fragen überschüttet, und als gar Hanna, die Jungfer, sich am Schloßeingang sehen ließ, da faßten einige der Weiber sie an Arm und Rockzipfel, und man war erst wieder zufrieden, als sie wirklich selber berichtete, daß alles gut stehe, daß Seine Durchlaucht vor Glück und Freude fast geschluchzt habe, und daß Ihre Durchlaucht jetzt alleweil nur so ganz still vor sich hinweine, natürlich vor Seligkeit, wie sie erklärend hinzusetzte.

Die Leute mußten sich das erst einmal zurechtlegen, denn wenn bei ihnen ein Kindlein auf die Welt kam, so schluchzte und weinte man für gewöhnlich nicht, höchstens wenn schon zu viele da waren. Aber als gerade die Frau Lehrer sagen wollte: »Ich versteh's«, da ging oben im Schloß ein Fenster auf, und Seine Durchlaucht der Fürst erschien an ihm. Als er die vielen Leute sah, da rief er in ausbrechendem Glück hinunter: »Einen Sohn haben wir, und was für einen! Ich weiß, ihr freut euch alle mit uns. Aber jetzt geht heim! Heute abend im Krug wird Freibier ausgeschenkt werden, da sollt ihr auf das Wohl und die Gesundheit eures künftigen Fürsten trinken!«

Jubelnd und hoch rufend kehrten die Leute wieder zurück, und am Abend herrschte lauter Fröhlichkeit und Festfreude im ganzen Dorfe. Oben im Schlosse wurde indessen das neugeborene Fürstenkind, eingehüllt in feinstes, spitzenbesetztes Kindszeug, zum erstenmal in die alte, kostbar geschnitzte Wiege gelegt, in der schon Jahrhunderte vorher seine Vorfahren gelegen hatten. Ein pausbackiger Engel hielt die Falten eines schweren, silberdurchwirkten Vorhanges, und am Fußende breitete ein zweites Engelein seine buntbemalten Flügel über den vornehmen kleinen Erdenbürger.

Ein kleines Mädchen von etwa sechs Jahren, das Pflegekind des Fürstenpaares, die Tochter früh verstorbener Verwandten, stand mit großen Augen und gefalteten Händen neben dem Engelein, und eine alte Dame, die Großmutter des Hauses, die Gräfin von Herbartstein, trat hinzu. Leise und zärtlich legte sie die Hand auf die goldig glänzenden Locken der Kleinen, und ihr einen warmen Kuß auf die Stirn drückend, sagte sie: »Nun hast du ein Brüderlein, das du dir schon so lange gewünscht hast, und ich weiß, du wirst dem Kleinen eine treue Schwester sein.«

Das Komteßchen nickte nur leise mit dem Kopf, sprechen konnte es im Augenblick nicht. Es war ja etwas gar so Wunderbares, Süßes, was hier lag. Und wenn sie daran dachte, daß dieses herzige Büblein nun für immer da sein und ihr die Zeit vertreiben würde statt der Babypuppen mit den großen, starren Augen und der Pariser Dame, die ja auch in Spitzen und Seide gekleidet war, aber mit der sie rein nichts anzufangen wußte, so schwoll ihr das Herzchen vor Glück und Freude. Und mit einem ganz leisen Jauchzer, denn man durfte das neue Brüderlein ja nicht wecken, schlang sie die Arme um Großmamas Hals und sagte: »Ich will dem lieben Gott sehr, sehr danken heute abend, daß er uns diese große Freude bereitet hat!« – –

 

Die Nacht rückte vor, und der Mond schien über Schloß und Dorf mit seinen nun schlafenden Bewohnern. Er schien über Äcker und Heide und drang mit seinen Strahlen auch in die Tiefe des Waldes, der auf der andern Seite des Schloßberges sich hinstreckte. Aber still und ruhig war es hier nicht. Scheu schauten Reh und Häslein durch die Zweige, was es denn heute nur gebe. Stimmen in fremden Lauten klangen durcheinander, und dazwischen klang's auch hier wie das Schreien eines ganz kleinen Kindes. Ein rotglimmendes Feuer ließ die Gesichter einer Zigeunerbande erkennen. Auf einem Haufen von Reisig und darüber gebreiteten Tüchern lag eine Frau, die etwas in einen Schal Gehülltes an sich drückte, und über sie beugte sich ein wild aussehender Mann.

Ein Fluch in der Zigeunersprache kam aus seinem Munde, und dann sagte er: »Wieder so etwas Elendes, Schwaches wie die Vorhergehenden, und dazuhin ein Bub, der doch kräftig sein sollte! Wirst wieder Mühe haben, es aufzubringen, Mara, und das Geschrei und Gewimmer geht von neuem an.«

Die Frau mit dem schon jetzt wimmernden Kindlein im Arm sah den Sprechenden müde und finster an, und mit matter, grollender Stimme sagte sie: »'s ist doch deines gerade so gut wie meines, und weil's ein Bub ist, bleibt's vielleicht diesmal doch am Leben!«

Geringschätzig erhob sich der Zigeuner, und geringschätzig schüttelte er den Kopf: »Ein Bub wär' mir schon recht, aber einer, der in unsern Stamm paßt, sonst soll ihn lieber der T... holen,« stieß er rauh hervor.

In dem Augenblick aber sprang etwas vom Boden auf, das seitwärts im Moose gekauert hatte, ein schwarzbraunes Mädel von etwa zehn Jahren. Es schüttelte seine jungen Glieder, und mit schriller Stimme rief es: »Dade, so darfst du nicht sagen! Der Kleine wird essen und trinken und wird schon stark werden! Ich werde ihn wiegen und tragen, und die Bosche (Großmutter) weiß Tränklein und hat Mittel, wenn Kinder nicht wachsen und gedeihen wollen.«

»Weiß schon, weiß schon, kenne die Kunst der Alten – pah!« stieß der Mann verächtlich hervor, wandte sich aber dann doch gegen eine Greisin, die scheinbar teilnahmslos vor dem Feuer hockte und beständig etwas vor sich hin. murmelte. »Wenn du wirklich etwas vermagst, Bosche, so tu's, 's ist mir darum zu tun, weil's ein Tschawo (Sohn) ist! Für die Mara und dich kannst du morgen eine Flasche mit Schnaps drunten im Krug füllen lassen. Eigentlich müßten wir jetzt weiter, aber der Tetia hat so etwas vernommen, als ob bei den Fürstenleuten ein Erbprinz geboren worden sei. Ist's so, so gibt's Verdienst bei Musik und Tanz. Und wenn solch hohe Herrschaften beisammen sind, so verschmähen sie auch bei ihren Belustigungen nicht, wenn ihnen wahrgesagt wird. Mach, daß du dann wieder bereit bist und deine Pflicht tun kannst«, wandte er sich wieder zu der jungen Frau. Dann schlüpfte der Zigeuner unter die Plane seines Wagens, in dem sich schon ein paar andere Genossen befanden. Kurz darauf ertönte kräftiges Schnarchen bis zu der Mutter des Kindleins hinüber, die vergeblich zu schlummern versuchte.

 

Ein Herbstmorgen war es. Die Sonne drang durch den Nebel und schickte ihre Strahlen in das Innere des Waldes, wo Zinna, das junge Zigeunermädchen, eben bemüht war, eine Schütte goldgelben Laubes zusammenzuraffen und sie der Mutter unter den Kopf zu schieben, nachdem sie vorher eine blaue Schürze darüber gebreitet hatte.

»Liegst du besser so, Daja?« fragte sie mit ihrer tiefklingenden Stimme und einer fremden Aussprache des Deutschen. »Liegst du gut so, oder willst du in den Wagen hinein?« Die Frau schüttelte den Kopf und sagte nur kurz: »Außen bleiben, die Sonne tut ihm und mir wohl!«

Das mit »ihm« angeredete Geschöpfchen in ihren Armen rührte sich, und sie schlug das Tuch ein wenig zurück. Ein winziges, pechschwarzes Köpflein kam zum Vorschein, und um des Vaters Prophezeiungen wahr zu machen, fing das kleine Geschöpf wieder an, klagende Töne wie die einer jungen Katze von sich zu geben.

Gramvoll schaute die Frau ihr Kindlein an: »'s wird wohl so sein, daß auch dieses unter die Erde muß; eins ruft das andere, 's ist nun einmal so!«

Da rief das junge Mädchen, das, auf dem Boden kniend, sich auch sorglich das kleine Würmlein betrachtet hatte: »Daja, aber ich lebe doch und bin doch auch dein Kind, und die Bosche kocht etwas, das soll Blut und Knochen geben, und sie weiß einen Spruch, vor dem die bösen Geister fliehen.«

»Warum hat sie den denn nicht auf die andern schon angewendet?« Freilich, das waren ja bloß Mädchen gewesen, aber nun stand die Sache doch vielleicht anders, und die beiden blickten erwartungsvoll hinüber nach dem eben neu entfachten Feuer, über dem die Alte mit dem eisgrauen Haar in einem Topf etwas kochte und dazu wirre, unverständliche Reden führte. Ein scharfer Geruch, der einen zum Husten reizte, drang herüber. Und als die Alte aufstand, mit einem blechernen Löffel ein kleines Trinkgeschirr füllte und, mit schlürfenden Schritten herüberkommend, das heiße Getränk blies, damit es mundgerecht für das Kindlein würde, da faßte die Frau auf dem Lager etwas wie ein Grauen. »Pale-Bosche, du wirst doch nicht? Pale-Bosche, du weißt, es ist ein Bub, und Joseph wird ihn einmal brauchen können, wenn Dewel (Gott) ihn uns erhält.«

»Wozu mir das sagen? Ist nicht der Dade (Vater) mein Sohn? Soll doch sein Sohn unser Stolz werden«, sagte sie aufgeregt. Und indem sie aus ihrer Rocktasche ein kleines Löffelein hervorholte und durch den Mund zog und dann wieder an ihrem Rock abputzte, schickte sie sich an, dem Kleinen von dem Getränk einzuflößen.

In demselben Augenblick aber raschelte es im Gebüsch, ein großer Jagdhund, gefolgt von einem kleinen Foxterrier, brach durch die Zweige und wurde von ein paar Kötern der Zigeuner mit wildem Gekläff empfangen. Eine Frauenstimme rief gebieterisch: »Spazzo, hierher!« und eine Kinderstimme dazwischen: »Foxel, zu mir!« Und als dieser nicht sofort folgen wollte, schrie das kleine Mädchen angstvoll den beiden Frauen zu: »Ach bitte, bitte, veranlassen Sie, daß die Hunde meinem Foxel nichts tun!« Ein Diener aber, der der Kleinen und der alten Dame auf dem Fuße gefolgt war, hatte schon mit energischem Pfeifen und Rufen die beiden Hunde an seine Seite gebracht, auch waren zum Glück die Zigeunerköter unter ihrem Wagen festgebunden.

»Ach, nicht wahr, Weber, Sie halten die Tiere fest, daß ihnen gewiß nichts geschieht!« sagte das Komteßchen noch immer etwas angsterfüllt, wurde aber bald durch all das Wunderbare abgelenkt, das hier mitten im Walde zu sehen war. Großmutter und sie hatten zusammen einen Morgenspaziergang gemacht – für gewöhnlich begegnete man im Walde höchstens einem Arbeiter oder dem Jäger – und nun waren auf einmal hier auf dem Platze, wo im Frühjahr die Maiglöckchen und im Sommer die blauen Glockenblumen blühten, lauter braune Menschen, von denen noch weitere, Männer und Weiber, auf den Hundelärm hin aus den grün angestrichenen Wagen und den bunten Karren hervorkamen.

Das Ganze wäre fast zum Fürchten gewesen, wenn nicht Winifred schon früher im Dorfe und auch auf dem Schloß einzelne solcher Leute gesehen und gewußt hätte, daß das Zigeuner waren: arme Leute, wie Großmama sagte, die keine Häuser und keine Heimat hatten.

Jetzt erblickte Winifred in den Armen der Frau das schwarzbraune Kindlein, das gerade aussah wie eine Negerpuppe, und das an seinen braunen Fingerchen schnullte, genau so wie heute früh der kleine Bruder.

»Großmama, sieh nur, sieh, was das ist! Darf ich hingehen und es ansehen?« Sie ließ alle ihre gesammelten bunten Herbstblumen aus den Händen fallen, um bequem niederkauern und sich auch dieses Baby genau betrachten zu können. »Großmama, komm doch und schau, wie so ganz anders dieses ist als das unsrige!«

Die alte Dame war herangetreten und hatte sich freundlich an Frau Mara gewendet. »Wie alt ist Ihr Kindchen?« fragte sie teilnehmend. Als sie aber vernahm, daß der kleine Zigeuner fast zur selben Stunde wie der Erbe oben im Schloß geboren worden war, wurde ihr Interesse sehr rege. Als sie dann auf das ärmliche, feuchte Lager blickte, auf dem die Zigeunerin ruhte, und das kleine, faltenreiche, dürre Geschöpfchen mit ihrem rosigen, prächtigen Enkel verglich, da wallte ihr Herz über vor Mitleid, und es stand sofort bei ihr fest, daß da eingegriffen und geholfen werden müsse.

»Warum sind Sie nicht lieber in Ihrem Wagen, da es doch hier recht frisch und ungemütlich ist?« fragte sie die Frau teilnehmend.

Als aber Mara erwiderte: »Weil da drin zu viele sind und ich lieber allein bin«, da kam der Gräfin ein helfender Gedanke. Gott hatte ihr und ihren Kindern ein solch reiches Gnadengeschenk gegeben, da war hier eine Gelegenheit, ein gutes Werk dafür zu vollbringen. Die Gräfin hatte schon öfters mit Zigeunern zu tun gehabt. Unheimlich war ja dieses Volk immer, und auch jetzt kamen von allen Seiten finster blickende Männer, darunter auch Joseph, der Mann der Mara, und Frauen und Kinder aller Art herbei. Gar zu lange mochte sie sich da unter diesem fremden Volk nicht aufhalten, um so weniger, als die Bosche ihr wahrsagen wollte und junge, halberwachsene Burschen sich an sie drängten, die Hand ausstreckten und um »klani Zehnerl« und »Guldenzetterl« bettelten. Der Diener, der die nur schwer zu beruhigenden Hunde mühsam an der Leine halten konnte, blieb fest hinter seiner Herrin stehen, und diese sagte nun zu den beiden freundlich, aber kurz: »Ich habe jetzt nichts bei mir, ich werde euch aber etwas schicken, verlaßt euch darauf!« Den Joseph, der mit dem Hute in der Hand und unter tiefen Verbeugungen bettelnd sagte: »Seid gut heute zu armen Zigeuner, der nix hat, wo doch ein Herrensohn geboren und viel Freude auf Schloß ist«, wies sie mit einem kurzen »Ja, später!« zurück. Nachdem sie noch einen Blick voll Erbarmen auf die Mutter mit ihrem Kindlein geworfen hatte, nahm sie das Komteßchen fest an der Hand und ging, gefolgt von dem Diener und dem rasenden Gebell der Zigeunerhunde, mit raschen Schritten der Waldlichtung zu und den Schloßberg hinauf.

Oben angekommen fragte sie den Kammerdiener des Fürsten, ob Seine Durchlaucht zu Hause sei. Als sie in des Schwiegersohns Zimmer eingetreten war, wo sie diesen an seinem Schreibtisch sitzend fand, vor sich einen Berg von Glückwunschschreiben und Telegrammen, nahm sie sich rasch einen Stuhl und setzte sich daneben.

»Nicolo, ich muß dir etwas sagen und dich um etwas bitten. Aber gelt, ich störe dich?« fragte sie lebhaft. »Will dir nachher treulich helfen, diesen Berg abzutragen«, fügte sie beschwichtigend hinzu. »Nur vorher, jetzt gleich, mußt du mich geschwind hören!« Und mit fliegenden Worten berichtete die Gräfin, was sie im Walde erlebt, wie tief bewegt sie das Schicksal dieser armen Mutter und Kinder habe, und wie sie so gern in diesem Falle helfen möchte.

»Ich sage dir, Nicolo, dieser Gegensatz zwischen Olgas und des Kleinen hellem, schönem Zimmer und diesem elenden Wagen und der schwachen, blassen Frau mit dem armen kleinen Würmchen!« Mit beredten Worten schilderte sie, wie sie alles getroffen hatte. Der Schluß ihrer Rede war aber die Bitte, ihr Schwiegersohn möchte ihr erlauben, die Waldhütte, in der im Winter die Holzhauer und Jäger bei gar zu kaltem Wetter einen Unterschlupf hatten, der Frau für kurze Zeit anweisen zu dürfen.

»Ein Bett ist bald hinuntergeschafft, ein kleiner Herd zum Kochen befindet sich ja dort, und für Wäsche und Kleidung werde ich schon sorgen. Mir ist das Herz so voll, daß ich mich am liebsten als Patin dieses Kindleins antragen möchte.«

Fürst Nicolo, den die Großmama wirklich in seiner Arbeit etwas gestört, hatte aber doch höflich und schließlich mit Interesse zugehört. Auch sein Herz war ja so voll Dank und Glück, daß er gerade jetzt gerne etwas Außerordentliches tat. Aber daß es gerade für dieses ihm so unsympathische, zudringliche Wandervolk sein sollte, das wollte ihm nicht recht hinunter. Als aber die Gräfin noch einmal dringend bat und Winifred, die dazugekommen war und hörte, um was sich's handelte, ihm stürmisch und jubelnd um den Hals fiel: »Onkel, ach Onkel, ja, bitte, bitte, laß uns das tun!« da war er weich geworden und gab dem durch ein Klingelzeichen herbeigerufenen Jäger den Befehl, sofort die Waldhütte für diesen Zweck in einen bewohnbaren Zustand zu setzen.

»Gern laß ich mich nicht mit diesem Gesindel ein, das mit Kratzfüßen, schönen Worten und den brillantesten Verheißungen für die Zukunft einem die Uhr aus der Tasche nimmt und den Braten aus der Küche holt. Aber weil ihr's so wünscht, und weil ich gerade jetzt keine Bitte abschlagen will, so handle nach deinem Herzen, Mama. Nur die eine Bedingung mache ich dabei, daß außer dem Kind und der Mutter und vielleicht noch jemand zur Pflege niemand dabehalten wird. Von der übrigen Bande verlange ich, daß sie nach den Gesetzen weiterzieht!«

Die Gräfin stimmte dem gerne bei, und nach einem »Vergelt's Gott!« war sie mit Winifred in ihre Gemächer geeilt, wo sie sofort mit ihrer Jungfer und der herbeigerufenen Weißzeugverwalterin eine eingehende Beratung hatte. Wollene Teppiche und Bettstücke wurden aus der Vorratskammer herbeigeholt, etliche einfachere Hemdlein, Windeln und Deckchen entnahm man rücksichtslos der Kindswäsche des kleinen Prinzen, und die Jungfer bekam die Weisung, noch heute zusammen mit einem der Stubenmädchen weitere Kindswäsche zu schneiden und anzufertigen. Auch ein Taufkleidchen sollte vorbereitet werden und ein anständiger Rock und eine Jacke für die Mutter wie auch für die Schwester des Kindes, denn daß dieses junge Mädchen, das Winifred ganz besonders interessiert hatte, dableiben sollte, war deren besonderer Wunsch.

»Hast du nicht gesehen, Großmama, wie sie der Mutter das herabgerutschte Laubkissen so nett wieder unter den Kopf schob, und wie sie dem kleinen Kinde rasch mit ihrem Schürzenzipfel das Mäulchen säuberte, als wir's betrachteten? Ach, Großmama, wie wundervoll ist doch diese ganze Geschichte, und wie freue ich mich, sie der Tante erzählen zu können!«

Die kleine Komtesse strahlte, und ihr sonst etwas blasses Gesichtchen hatte sich vor Eifer ganz rosig gefärbt. Am Nachmittag durfte sie zu der Tante hinein und ihr die Hand küssen. Man mußte leise sprechen, weil das Brüderchen hereingebracht worden war und nun nach einer Mahlzeit, die ihm herrlich geschmeckt hatte, schlafen sollte. Die Fürstin sah sehr glücklich aus, und immer wieder blickte sie mit gefalteten Händen auf den Sohn, und dann wieder streichelte sie die sich ganz dicht an sie anschmiegende Winifred und sagte: »Du wirst dem Kleinen ein sehr gutes Vorbild und eine liebe, treue Freundin werden, nicht wahr?« Als aber die Tante sie dann lieb und mütterlich fragte, was sie denn gestern und heute getan hätte, da vermochte das Komteßchen mit dem schönen Erlebnis nicht mehr zurückzuhalten und erzählte flüsternd, mit kurzen Worten, was sich zugetragen, und was für schöne Pläne die liebe Großmama habe. Diese fügte noch einige weitere erklärende Worte hinzu, und die Fürstin freute sich von ganzem Herzen über das Erlebnis und stimmte allen Anordnungen bei. Nur das eine erbat sie sich von Großmama, daß sie ihr die Patenschaft von diesem Büblein, das so wunderbar gerade jetzt unter ihre Obhut gestellt wurde, überlassen sollte. Gerührt fügte sie hinzu: »Ich will mich dann auch später aus Dank gegen Gott der Erziehung dieses kleinen Wildlings annehmen, vielleicht gelingt es uns, etwas Tüchtiges, Brauchbares aus ihm zu machen!«

»Diese Hoffnung schlagt euch nur gleich aus dem Sinn«, sagte lachend der Fürst, der eingetreten war und gerade noch diesen letzten Satz gehört hatte. »Ein Zigeuner bleibt ein Zigeuner, da könnt ihr machen, was ihr wollt! Aber ich gönne euch den ganzen Spaß und werde euch gewiß bei euren Bemühungen nichts in den Weg legen. Nur, wie gesagt, die andern müssen fort, und wenn ihr meinen Rat hören wollt, so behaltet das Weib auch nicht gar zu lange. Ihr kriegt sie sonst einfach nicht mehr los!«

Mit diesen Worten trat der Fürst zu seinem behaglich schlafenden Sohne, und indem er sich neben den seidengefütterten Babykorb, in dem der Kleine lag, setzte, ergingen sich Großmama, Vater und Mutter in den verschiedensten Vermutungen, wem der Erbe wohl gleich sehe, und scherzend, bewundernd und glückerfüllt ward er immer wieder von den dreien betrachtet.

Währenddessen war Winifred hinüber in den andern Flügel des Schlosses, wo die Gesindestube war, geeilt. Sie kam gerade dazu, als der Fall von dem Zigeunerlein von allen Seiten erörtert wurde. Winifred suchte ihre Kinderfrau, die Babi, die schon Mutters Dienerin im fernen Indien gewesen war. Mutter war eine Engländerin gewesen, und mit ihrem Gatten, einem hohen englischen Offizier, hatte sie mehrere Jahre in den Tropen gelebt und war dem dortigen Klima erlegen. Winifred war dort geboren, und ihr Vater hatte sie als kleines, zartes Kind mit einem Diener und der Babi zu den Verwandten nach Deutschland geschickt, wo das Kind seine bleibende Heimat finden sollte, denn auch der Vater war nicht mehr zurückgekehrt. Er hatte sein Leben gelassen in einem Kampf gegen die Eingeborenen. Babi hatte alle guten Eigenschaften einer gewissenhaften, sorgenden Kinderfrau, und wie sie einst an der Mutter des Kindes in treuer Liebe gehangen hatte, so war ihr Winifred jetzt wie ihr eigenes Kind.

Die kleine Komtesse fand die Gesuchte nicht unter den andern, aber sie hörte allerlei Reden von der Dienerschaft über das, was Großmama angeordnet hatte. Eigentlich sollte Winifred sich nicht in dieser Stube aufhalten, aber es war doch sehr interessant, diese Reden mit anzuhören. Die Weißzeugverwalterin brummte, daß sie von den schönen gestickten Hemdlein etliche habe hergeben müssen, da hätten's doch auch farbige, baumwollene getan. Die Haushälterin konnte es gar nicht verstehen, daß man für »so was« ein ganzes Bett opfern solle, das man doch nachher zu nichts mehr gebrauchen könne, denn so gewiß wie eines werde das Füße kriegen und davonwuseln. Der Jäger sagte: »Ich tu, was die Herrschaft mir befiehlt, aber nachher werde ich die ganze Hütte mit allem, was darin ist, ausräuchern lassen müssen, wenn überhaupt noch etwas nach dem Abzug dieser Gauner drin ist!«

Nur Hanna, die Jungfer der Fürstin, die schon an dem großen Tisch mit Schere und Leinwand hantierte und Hemden und Windeln schnitt, meinte: »Mich freut's, auch einmal für so ein armes, zerlumptes Kindlein etwas machen zu dürfen. Und wenn ich auch, wie ihr mir's vielleicht nicht zutraut, die Hemdlein gegen mein Gefühl nicht festoniere, so sollen sie doch gut und fest genäht sein, daß so ein armes Weib auch einmal sieht, was Ordnung ist!«

Winifred nickte Hanna zu und sagte mit ihrem lieben Stimmlein: »Doch, doch, Hanna, ein bissel festonieren oder Spitzlein dransetzen – das ist viel hübscher, und ich hab's auch so!« Zu den andern gewendet aber sagte die kleine Komtesse – und eine solche war sie in diesem Augenblick im vollsten Sinne des Wortes: »Ihr seid gar nicht lieb, daß ihr so hart von den armen Leuten sprecht. Wenn meine Großmama wünscht, daß für sie gesorgt wird, so tut sie's, weil sie Mitleid mit ihnen hat, und weil sie's für recht findet. Wo ist Babi? Ich möchte gern ein Kissen von meinem Bett hergeben für das kleine Mädchen!« Mit diesen bestimmt und stolz ausgesprochenen Worten war die kleine Komtesse, nachdem sie die Gesuchte nicht entdeckt hatte, wieder verschwunden. »Die lehrt's euch«, sagte Hanna lachend und schnitt mit ihrer Schere tief in die Leinwand. Der Jäger aber meinte: »Was kennt so ein Fürstenkind von dem Leben!« und darauf gingen alle wieder an ihre Arbeit.


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