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Viertes Kapitel

Warum Zinna nicht aufs Schloß will und dann doch geht. – Mara schämt sich, daß sie nicht schreiben kann. – Komteßchens Geschenke und Babis Fund. – »Zu wem beten sie denn?«

 

Aber so rasch ging es immer noch nicht. Der Winter war inzwischen mit Kälte und Schnee eingetreten, und Mara hatte einen schrecklichen Husten bekommen. Da wäre es doch wieder unbarmherzig gewesen, sie gerade jetzt hinauszutreiben. Das weiche Federbett war ihr nun auch lieb und zur Gewohnheit geworden. Für Zinna war's auch gut, daß sie einmal länger an einem Ort blieb und da in die Schule mußte, wenn ihr das Stillsitzen auch bitter schwer fiel. Unter den Dorfkindern aber, so interessant sie diesen im ganzen auch war, blieb »die schwarze Zinna«, wie man sie nannte, doch eine Fremde.

Sie stand gewöhnlich bei den Spielen und in den Schulpausen allein und abseits. Stolz behauptete sie, wenn je einmal eines sie zum »Kämmerchenvermieten« oder zu den Kreisspielen aufforderte, sie möge nicht, so etwas mache ihr keinen Spaß. Aber mit brennenden Augen sah sie doch zu, wie die andern sich vergnügten. Und wenn die Mutter sich von Woche zu Woche behaglicher in der warmen Waldhütte einnistete, so war's Zinna, die beständig bettelte und sagte: »Daja, wir wollen doch endlich einmal wieder fort! Daja, wir gehören doch nicht daher, und ich möchte doch wieder zu der Wadomer, zu dem Tetia und all den andern!«

Auch die Bosche meinte, als sie das letztemal dagewesen war, die Baro-Rai (Herrenleute) seien wohl sehr gut, aber einen eigentlichen Nutzen habe man von der Patenschaft und der langen Herumsitzerei doch nicht gehabt, und was nütze einem dieser Sparkassenzettel, wenn man kein Gold in die Hand bekomme. Deshalb sei sie nun auch fürs Weiterziehen.

Eines Tages erschien auch Joseph schon in früher Morgenstunde. Seit der Kleine gedieh, war er ein zärtlicher Vater und Gatte geworden, schon lange hatte die Mutter keine Püffe und Hiebe mehr bekommen. Er berichtete in fliegender Hast, daß der Hauptmann fordere, man solle sich rüsten. Diesmal gehe es aber in die weite Ferne, – wohin, wisse man noch nicht, aber es sei wohl gut so, denn die ganze Gegend hier herum sei abgegrast, und auch mit dem Pferdehandel gehe es in letzter Zeit sehr flau. Mara müsse sich bereit machen und sich am andern Tag abends um sieben Uhr mit dem Heiner und Zinna an dem bekannten Sammlungsorte draußen beim Kreuz an der Heide einfinden. Was den Husten anbelange, so vergehe der in der freien Luft besser als hier hinterm warmen Ofen.

Nun war das Fortgehen entschieden, denn was der Dade befahl, das war heiliges Gebot. Mara sagte deshalb, Zinna solle sich gleich nach der Schule noch aufmachen und aufs Schloß gehen, um den Herrschaften zu sagen, daß sie reisen werde.

Aber Zinna sagte trotzig: »Daja, geh du selber, ich mag nicht! Mein Rock ist nicht geflickt, und meine Schuhe haben keine Nestel mehr. Auf so was sehen sie da droben!«

Nun machte sich Mara mit dem fest in Tücher eingewickelten Heinerle trotz einem eisigen Wind selber auf den Weg, – das Mädel mochte wohl seine Gründe haben, warum sie das Schloß mied. Sie hatte dieser Tage unter Zinnas Sachen eine kleine goldene Kette hervorschauen sehen, über deren Herkunft diese beharrlich schwieg. Mochte sie tun, was sie wollte, – schlau und listig war sie ja – und wenn der andere zuviel besitzt, so hat der arme Zigeuner das Recht, es ihm abzunehmen. Aber unangenehm wäre es Mara doch gewesen, wenn Zinna gerade auf dem Schloß, wo man ihnen so wohl wollte, etwas hätte mitlaufen lassen.

Die fürstlichen Damen saßen oben mit Winifred, die sich mühte, Strümpfchen für den kleinen Heiner auf Weihnachten zu stricken, arbeitend beisammen am Kaminfeuer, als Weber die Zigeunerin vom Waldhaus meldete.

»Dieser Unsinn, daß die Frau bei solchem Wetter hier heraufkommt, und der Kleine wird sich gewiß von neuem erkälten!« sagte die Fürstin unwillig.

Aber das Erstaunen und Unbehagen wurde noch größer, als Mara nach vielen Bücklingen und Armkreuzungen über der Brust erklärte, warum sie gekommen sei, und wie sie nun Abschied nehmen wolle. Mit großer Zungenfertigkeit erklärte sie, daß, wenn der Hauptmann rufe, sämtliche Zigeuner zu folgen hätten, und daß sie nun eben dem Kralo (Fürst) und seiner Romni (Gemahlin) und der Rajah-Mame allen Segen, den es auf Erden gebe, wünsche für alles, was sie an der armen Zigeuner-Tschuwli (Frau) und ihrem Tschawo (Sohn) getan haben. Der große Geist hinter den Wolken werde dem kleinen Prinzen dafür Gesundheit, Glück und langes Leben geben.

»Wo ist Zinna?« fragte Winifred. Sie hatte all den Reden entnommen, daß ihre Schützlinge nun endgültig fortgingen, und es tat ihr sehr leid, wenn sie Zinna nicht mehr sehen sollte. Darum fragte sie wieder: »Wo ist denn Zinna all die Zeit her gewesen? Ich hab' ihr doch durch den Jäger ein paarmal sagen lassen, sie möchte zu mir heraufkommen. Ich hätte ihr noch ganz andere Sachen zeigen können als die Puppen, die sie nun eben einmal nicht mag. Sagen Sie ihr doch, daß, seit das Brüderchen da ist, mir meine Puppen auch langweiliger geworden seien!«

Die Zigeunerin hob hervor, wieviel Zinna mit der Schule zu tun habe, und wie schön ordentlich, gerade so wie die Damen es gewünscht hätten, sie immer geflickt, gekocht und abgewaschen hätte; auch für den Kleinen sei sie besorgt wie eine Mutter. – Das mit der Ordnung bezweifelten die Damen stark, denn fast nie, wenn sie unten im Waldhaus einen Besuch gemacht hatten, war nur ein bißchen aufgeräumt. Hingegen freuten sie sich jedesmal darüber, wie besorgt und geschickt Zinna sich des kleinen Bruders annahm, und wie ihr Gesicht strahlte, als sie beim letzten Besuch den Damen berichten konnte, daß die Äuglein nun hell und klar seien. Davon überzeugten sich die Damen jetzt auch noch einmal, denn das kleine Zigeunerlein schaute mit großen, schwarzen Guckaugen aus seinen Umhüllungen heraus. Und als die Zigeunerin sich unter vielen Handküssen und Beteuerungen von ewigem Danke zum Fortgehen anschickte, da legte ihr die Fürstin ans Herz, doch ja gewiß immer recht gut für ihr kleines Patenkind zu sorgen, und bat dann und wann um einen Bericht über des Kleinen Ergehen. Mara war zu stolz, um zu gestehen, daß sie nicht schreiben konnte. Der kleinen Komtesse aber, die mit traurigen Augen diesem Abschiednehmen zusah, versprach sie auf deren Bitten, Zinna noch einmal heraufzuschicken. Mara dachte, wenn je das Kettchen von da oben stamme, so müsse man es noch nicht vermißt haben, und so konnte man dem kleinen goldlockigen Engel, wie Zinna das Komteßchen stets nannte, seinen Wunsch schon noch erfüllen.

Spät am Abend kam sie noch. Es wäre ihr selber schrecklich gewesen fortzureisen, ohne das süße junge Fürstenkind noch einmal gesehen zu haben. Etwas in deren blauen Augen hatte sie die ganze Zeit nicht vergessen können. Noch niemand sonst hatte zu ihr »liebe Zinna« gesagt, und selbst im Dorfe hatte ihr niemand je die Hand gereicht. Das mit der Kette hatte sie wirklich all die Zeit her bedrückt. Warum war sie auch so diebisch gewesen! Aber so war es eben immer: Wenn sie etwas Goldglänzendes sah, mußte sie es haben.

Babi, die Zinna am wenigsten leiden mochte, führte sie ins Spielzimmer der kleinen Komtesse, wo diese eben an einem Tischchen saß und ihre Abendmahlzeit verzehrte. Die Eltern und Großmama waren heute im Schlitten auf ein benachbartes Gut gefahren. Winifred hatte schon befürchtet, daß Zinna nicht mehr kommen werde. Um so größer war daher ihre Freude, als sie eintrat. Ohne lange Babi zu fragen, rief sie: »O wie nett, daß du noch kommst! Willst du dich nicht zu mir hersetzen und auch eine Tasse Tee trinken?«

Erschreckt sah die kleine Komtesse, daß ihre Babi diese Einladung nicht billigte, denn sie machte ein so bitterböses Gesicht, wie sie's noch selten an ihr gesehen hatte. Aber da es nun einmal gesagt war, holte sie eine Tasse herbei und schob Zinna einen Stuhl hin. Als sie ihr Tee einschenkte, konnte sie aber nicht umhin zu sagen: »Hier ist kalte Milch dazu, damit du ihn schneller trinken kannst«, und sie legte ihr selbst zwei Stückchen Zucker in die Tasse, denn das wäre doch nicht angegangen, daß das Mädel mit ihren braunen Zigeunerfingern in die silberne Dose gegriffen hätte.

Zinna trank den Tee, und trotz der kalten Milch darin wurde es ihr warm ums Herz, obgleich diese unfreundliche Babi im Zimmer blieb und sich mit einer Näharbeit in eine Ecke setzte. So etwas hatte sie noch nie erlebt, und als Winifred ihr Kuchen und Butterbrötchen auf den Teller legte und dabei allerhand aus ihrem Leben wissen wollte, da wurde es Zinna nicht schwer zu antworten. Sie erzählte von den Reisen im grünen Wagen, wo an schönen Tagen die Kinder alle aussteigen und barfuß nebenher laufen. Sie erzählte von der Heide, auf der meilenweit der gelbe Ginster und die lila Erikablümchen blühen, und auf der die Elster schreit und der Dade und die andern Hasen fingen, die abends am Feuer gebraten werden. Wie die Pale-Bosche, die alte Mame, so vieles wisse, von dem andere nichts verstünden, und wie uralt sie sei, gewiß schon über hundert Jahre alt; und daß die Doja schon immer so viel huste und sich so gekränkt habe, weil all die kleinen Schwesterlein nicht leben wollten. Aber nun sei der Heiner da, der werde gewiß einmal groß und stark werden. Und bei diesen Worten leuchteten Zinnas Augen in einem dunklen Feuer.

Wie gut verstand die kleine Komtesse das Zigeunermädchen in ihrer Liebe zu dem Brüderchen! »Meine Tante hat gesagt, deine Mutter werde ihr immer von Zeit zu Zeit schreiben, wie es euch geht«, sagte die Kleine. »Und wenn ihr wieder in die Gegend kommt, sagt Tante, so werdet ihr uns immer besuchen.«

Zinna aber schüttelte den Kopf, und fast verächtlich klang es, als sie sagte: »Mutter kann das ja nicht versprechen, denn sie kann ja gar nicht schreiben, und der Dade sagt, wir werden sehr weit fortziehen und lange nicht mehr in diese Gegend kommen!«

Ganz traurig sah die kleine Komtesse nun aus und rief erregt: »Aber dann, Zinna, mußt du wenigstens hie und da ein Brieflein schreiben! Wir müssen doch wissen, wie es euch geht! Ich weiß, daß du in der Schule gut gelernt hast, da kannst du's ja tun«, fügte sie treuherzig hinzu.

Zinna war stolz über dieses Lob und versprach zu schreiben, nur habe sie leider weder Feder noch Papier, auch gebe es selten einen Tisch. Da lief die kleine Komtesse zu ihrer Babi und unterhandelte lebhaft mit ihr. Erst als diese nickte und sagte: »Wenn Sie's halt so sehr freut, Komteßchen, so tun Sie's eben«, da eilte die Kleine zu ihrem hübschen Schreibtisch, der noch von ihrer Mutter stammte, und entnahm ihm ein kleines Kästchen. Mit dem eilte sie glückselig zu Zinna zurück. »Da!« sagte sie und öffnete es. »Da sieh, hier ist Papier und Feder und Bleistift und alles, was man zum Schreiben braucht, beisammen. Ich hab's zu meinem Geburtstag bekommen, aber jetzt schenk' ich dir's, und du sollst es zum Andenken an mich mit dir nehmen und mich dabei nicht vergessen!«

Was war's nur, das Zinnas Inneres bei diesen Worten so seltsam bewegte? Das Kästchen war doch nur von einfachem Holz und nichts daran, das irgendwie glitzerte oder flimmerte. Aber das Geschenk freute sie furchtbar, und eifrigst versicherte sie, ganz gewiß recht bald zu schreiben, wenn es die kleine Herrin wünsche.

Nun kam Babi herzu und sagte in nicht unfreundlichem Ton, die kleine Komtesse müsse nun zu Bette gehen, und für Zinna werde es wohl auch Zeit sein, sich zu verabschieden.

Das Komteßchen steckte Zinna noch alles vorhandene Zuckerwerk und Gebäck in die Tasche, und dann rief sie sie noch einmal zurück und holte ein ganz kleines Büchelchen herbei. »Zinna, das schenke ich dir auch noch, ich habe noch ein ähnliches von der Großmama bekommen. Man muß alle Morgen so einen ganz kurzen Spruch drin lesen und dabei an den lieben Gott denken, dann, sagt Großmama, bleibe man ein frommes und braves Kind!«

Zinna nahm das Büchlein zu dem Kästchen und küßte die schmale weiße Hand und den Kleiderzipfel des Komteßchens, wobei Babi ihr die Türe öffnete und sagte: »Ja, bleib du nur brav, Zinna, dann wird man immer eine Freude an dir haben.«

Das Zigeunermädchen verschwand im Dunkeln, und die kleine Komtesse wurde in ihrem Schlafzimmer zu Bett gebracht. Was war's aber nur, was die Babi beim Wiederbetreten des anderen Zimmers am Boden glitzern sah? Eine kleine, feine, goldene Kette, die ihr so bekannt vorkam, und die sie, als sie sie näher betrachtete, als den Schmuck der Pariser Puppe erkannte. Etwas von »Unachtsamkeit ihres kleinen Komteßchens« vor sich hinmurmelnd, ging sie zur Puppenecke und hängte der seit einiger Zeit recht vernachlässigten vornehmen Dame die Kette wieder um den Hals.

Am andern Morgen beim Frühstück, unten im Eßzimmer, erzählte die Kleine ganz erfüllt von alledem, was sie von Zinna wußte, auch das von dem Kästchen und dem Büchlein.

»Das letztere wird sie wohl nicht viel benützen«, sagte der Fürst etwas spöttisch, »Zigeuner sind ja doch religionslos und wissen nichts von Gott und guten Lehren.«

Ganz entsetzt schaute Winifred in die Höhe und fragte: »Ja, zu wem beten sie dann?«

Als aber der Onkel ernst sagte: »Zu niemand, deshalb sind sie auch so verlogen und verstohlen und haben keinen Halt im Leben und im Sterben«, da füllten sich Winifreds Augen plötzlich mit Tränen, und indem sie in bitterliches Weinen ausbrach, sagte sie: »Aber die Zinna ist doch so lieb, die stiehlt und betrügt doch gewiß nicht, und es tut mir so schrecklich leid, daß sie von hier fortgeht!«

Tante und Großmama hatten nur zu tun, die Kleine zu beruhigen, denn sie war eben sehr erregbar, und erst als Großmama sagte: »Wenn Zinna selber nicht zum lieben Gott betet, so kannst du es ja für sie tun«, da wurde sie ruhiger und fast vergnügt, und von da an fügte die kleine Komtesse alle Abende ihrem Gebetlein noch die Worte bei: »Und, lieber Gott, beschütze auch die Zinna und gib, daß sie in dem Büchlein liest!«


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