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Zweiter Teil

Neuntes Kapitel

Eine Reisegesellschaft

Auf der Straße, welche sich aus Holland über Emmerich und Wesel den Rhein hinaufzieht – nebenbei gesagt im Jahre 1807 – einer sehr öden, unchaussierten, meist durch sandige Gegenden führenden Straße, bewegte sich an dem Tage, welcher der auf der Rheider Burg vorgefallenen Katastrophe folgte, der holländisch-bergische Postwagen. Von vier keuchenden abgetriebenen Pferden gezogen wackelte der schwerfällige Kasten langsam vorwärts; das eintönige Knirschen der Räder in dem Sande und das ebenso eintönige Geklapper der Wage, woran die Stränge befestigt waren, schienen das Ungetüm in den Schlummer gelullt zu haben, denn es nickte in einem fort nach vorn, wie der Kopf eines Einschlafenden, hob sich wieder in seinen Lederriemen auf und nickte abermals nach vorn. Der phlegmatische Bursche in orangefarbener Jacke, der auf dem Sattelgaule hing, schien in voller Uebereinstimmung mit den Neigungen der seiner Obhut anvertrauten Arche; auch er nickte einmal über das andere, und was seine Rosse anging, so schienen diese seine schlaftrunkene Mimik als eine stumme Zufriedenheitserklärung mit ihrer Gangart zu deuten und infolge davon sich noch mehr zu bestreben, durch recht langsames Weiterkriechen ein so gutes Einvernehmen zu erhalten.

Es wäre sein Wunder gewesen, wenn auch diejenigen Individuen, welche sich in diesem Fuhrwerk durch eine völlig reizlose und unbelebte Gegend geschleppt sahen, dem guten Beispiel gefolgt wären und ebenfalls die Stunden der Qual verschlafen hätten, mit welchen ein solcher Marterkasten in der guten alten Zeit jeden fürwitzigen Menschen abstrafte, der sich verführen ließ, über den Bereich seiner vier Pfähle hinauszustreben und auf die Entdeckung auszugehen, daß die Welt weiter, größer und mitunter auch wohl noch vernünftiger eingerichtet sei, als es daheim unter der Herrschaft seines Bürgermeisters und der übrigen angestammten Obrigkeit der Fall.

Die Insassen unserer »Diligence« schliefen aber keineswegs, sondern sie waren in einer ziemlich lebhaften Unterhaltung begriffen. Es waren ihrer drei, ein Herr, eine Dame und ein Knabe von etwa acht bis neun Jahren.

Der Herr war ein noch junger Mann, obwohl sein Aeußeres und sein Benehmen eigentlich nicht von frischer Jugendlichkeit zeugte, sondern das Gepräge ernster, vielleicht vorzeitiger Gereiftheit trug. Eine große kräftige Gestalt, ein düsterer Blick der dunkeln Augen, ein schwarzer Backenbart und ein Teint, den die Sonne heißerer Zonen so dunkel gebräunt zu haben schien: das alles trug dazu bei, ihm jenen Ausdruck zu geben. Seine Kleidung hatte in ihrem Schnitt und in ihren Stoffen ebenfalls etwas Ausländisches; sie verriet englische Arbeit und zeigte eine gewisse Eleganz, die andeutete, daß unser Reisender den höhern Ständen angehörte. Darauf deutete denn auch sein ganzes Wesen, obwohl der Fremde nicht eben das sein mochte, was man einen Mann von Welt nennt. Er war äußerst zurückhaltend und schweigsam und fast immer waren seine Züge von einem tiefen Ernste überschattet, und eine dunkle Falte, wie von Kummer oder Leidenschaft gefurcht, zeigte sich zwischen seinen schwarzen dichten Brauen.

Eine völlig andere Erscheinung war die Dame neben ihm. Sie war ein kleines graziöses Geschöpf mit höchst feinen lebendigen Zügen, etwa dreißig Jahre alt oder noch darunter, wenn man die Lebhaftigkeit ihrer Bewegungen, die Heiterkeit ihres Wesens in Anschlag brachte und dabei Rücksicht darauf nahm, daß die bleiche, etwas ins Gelbliche spielende Farbe ihres Antlitzes weniger ein Beweis verblühter Schönheit, als des Umstandes sein müßte, daß sie ein Kind des Südens. Dafür sprach auch ihr rabenschwarzes Haar, das sich in dicken Flechten um ihre Schläfe legte und oben auf dem Scheitel zu einem hohen Neste aufgesteckt war – sowie ihr mandelförmig geschlitztes, schwarzes, außerordentlich feuriges, und beredtes Auge.

Der Knabe, welcher der jungen Frau gegenübersaß, war ein hübsches aber ebenfalls etwas blaß aussehendes Kind, das nach der Sitte jener Zeit in eine vollständige Husarenuniform mit Galons, mit Sporen, mit Säbel und Schlepptasche gekleidet war. Er nannte die lebhafte kleine Dame: Maman.

Der Fremde sprach ganz geläufig deutsch, trotz seines etwas fremdartigen Aussehens; die Dame wußte sich ebenfalls in dieser Sprache auszudrücken, obwohl ein sehr stark hervortretender Akzent und mancher Gallizismus die geborene Französin verriet.

Männer von dem Wesen und dem gehaltenen Ernst unsers Postwagenpassagiers haben, vorausgesetzt, daß sie im übrigen eine gewisse Gutmütigkeit und nur ein geringes Maß von Galanterie den Damen gegenüber verraten, die besondere Eigenschaft – wir wollen es aus Höflichkeit den Vorteil nennen – daß weibliche Wesen, mit welchen sie in Berührung kommen, ihnen sehr rasch ihr Herz ausschütten und sie vertrauensvoll in all ihre kleinen und großen Angelegenheiten einweihen.

Diese Erfahrung bestätigte sich auch hier. Unsere Reisegesellschaft war erst am Abend vorher in Arnheim durch den Zufall zusammengeführt, sie hatte, weit entfernt, einen Scheffel Salz miteinander verzehrt zu haben, nichts weiter gemeinsam verzehrt als ein aus einem zähen Huhne und Reisbrei bestehendes Diner auf der letzten Poststation – wobei der Fremde seiner Reisegefährtin allerdings mit einer gewissen Aufmerksamkeit die besten Bissen vorgelegt hatte – und schon war jener ausführlichst unterrichtet von Namen, Herkunft, Schicksalen, Absichten und Reiseziel seiner Nachbarin.

Madame war in Marseille daheim. Ihr Vater war dort Reeder gewesen, aber vor einem Vierteljahr gestorben ohne seinen zahlreichen Kindern viel zu hinterlassen. Er hatte Baubeyessard geheißen. Madame hieß aber nicht mehr Baubeyessard, Madame war verheiratet, an einen Marineoffizier, den sie hatte kennen lernen, während sein Schiff auf der Reede von Marseille vor Anker gelegen. Er war ein junger Mann aus sehr vornehmem Hause. Er hieß Antoine Graf von Epaville. Sein Oheim war der regierende Herzog von Anglure, der in Deutschland ein kleines Fürstentum zur Entschädigung für ein Ländchen erhalten, welches er früher in den Niederlanden besessen und das an Frankreich gefallen. Der Graf von Epaville war aber mit dem Oheim-Herzog überworfen. Weshalb, darüber schwieg Madame. Der Reisende neben ihr fragte auch nicht danach. Genug, die herzogliche Verwandtschaft schien nicht viel einzubringen, sonst hätte Madame sich auch wohl nicht eines solchen Fortschaffungsmittels wie dieser langsamen Postkutsche bedient. Der Graf von Epaville, ihr Gemahl, war jedoch Besitzer der Güter, welche der Familie noch in den Niederlanden gehörten; nur waren diese Güter sehr verschuldet, sie waren sequestriert und brachten, so schien es nach Madames Aeußerungen, ungefähr dasselbe ein wie die Verwandtschaft mit dem in Deutschland entschädigten regierenden Herzog. Der Graf von Epaville hatte deshalb wieder Dienste genommen. Er hatte sich bei dem Großherzog von Berg in große Gunst gesetzt, in dessen unmittelbarer Umgebung er als Adjutant angestellt war. Während er sich in Belgien zur Ordnung seiner Angelegenheiten aufgehalten, hatte er seine Frau in das väterliche Haus nach Marseille zurückgeschickt. Sie hatte ihn in drei langen Jahren nicht gesehen. Er schien überhaupt nicht gerade zu der Art sehnsüchtiger und gemütreicher Gatten zu gehören, welche das Ideal liebender Frauenherzen sind. Madame schien mit seinen Lebensgewohnheiten und dem Maß von Anhänglichkeit und Hingebung, welche Graf Antoine ihr bewies, nicht überall einverstanden. Der Graf Antoine schien ein sehr lebenslustiger und mehr durch gesellige als durch häusliche Tugenden ausgezeichneter Offizier. Madame sprach von ihm nicht ganz in dem Tone einer Gattin, welche alle Gefühle ihres Herzens befriedigt, alle Regungen ihrer Seele verstanden sieht. Es lag etwas von Schwermut in den Aeußerungen, welche Madame über den Charakter ihres Gemahls fallen ließ. Der Gemahl – das ging aus ihren Mitteilungen hervor – spielte. Er machte Schulden. Er war ein wenig Coureur des filles. Das schimmerte freilich nur so durch, Madame war weit entfernt, es geradezu auszusprechen, nein, als liebende Gattin war sie bemüht, ihn zu verteidigen.

»Was soll man viel klagen,« sagte sie, »er ist einmal nicht anders erzogen, er ist ein vornehmer Herr!«

Und doch, wie es scheint, ein Lump! dachte der Reisende dabei, natürlich ohne durch das Aussprechen einer so unumwundenen Ansicht die Gefühle seiner Reisegefährtin zu verletzen. Er sagte nur, mit einem etwas ironischen Tone, den Madame jedoch nicht bemerkte: »Sie hätten ihn eben nicht so lange verlassen sollen, Madame! Eine treue Gattin ist der Schutzengel eines solchen Mannes, den eine angeborene Lebhaftigkeit über seine Schranken hinauszuführen pflegt.«

»Ach, mein Gott, was könnt' ich tun?« versetzte Madame. »Freilich, es gibt Frauen, die ihren Männern überallhin folgen, auf das Verdeck eines Schiffes oder auf den Rücken eines Pferdes, wie wahre Amazonen. Der Himmel hat mir nicht die Natur dazu gegeben. Ich bin eine schwache, furchtsame Frau. Ich ängstige mich vor allem. Eine Maus kann mir Krämpfe verursachen. Und was mich am meisten erschreckt, das sind ganz kleine junge Tiere, kleine Hunde oder gar Katzen – o mein Gott, wenn ich nur daran denke, wird mir unwohl. Ich begreife nicht, wie es Menschen gibt, welche diese kleinen Scheusale berühren, mit ihnen sogar spielen können! Erschreckt es Sie nicht, wenn Sie einen kleinen, noch ganz kleinen Hund um Ihre Füße krabbeln fühlen?«

»Nein, Madame,« antwortete der Fremde trocken.

Und dann fuhr Madame zu erzählen fort, wie sie nie gewagt habe, ein Pferd zu besteigen, weil man ja doch so leicht herunterfallen könne; wie sie aber vor einer Gefahr, welche aus Verwicklungen des Schicksals oder moralischen Konflikten oder andern Lagen, worein der Mensch geraten könne, drohe, durchaus keine Angst kenne, und auch bei einem Gewitter nicht im mindesten erschrecke, und ähnliche Phänomene ihrer moralischen Konstitution mehr, welche sie als höchst merkwürdige psychologische Rätsel ihrem Reisegefährten zu erklären aufgab; und ihr Reisegefährte war gutmütig genug, ihr diesen Gefallen zu tun, indem er einige Worte zur Charakteristik des physischen, von den Nerven bedingten, und des moralischen Muts fallen ließ; Worte, die Madame sehr vergnügt und geschmeichelt aufnahm.

Madame plauderte in dieser Weise weiter und teilte dem Fremden noch mit, daß sie, nach dem Tode ihres Vaters in Marseille, den Entschluß habe fassen müssen, ihren Mann aufzusuchen, um von nun an bei ihm zu leben; denn da ihr Vater durchaus kein Vermögen hinterlassen, so sei ihr nichts übriggeblieben, als auf das alte unverjährbare Recht zurückzugehen, welches Frauen auf die Taschen ihrer Männer anweist. Sie hatte sich deshalb auf den Weg gemacht über Paris und Brüssel; und mit einem Umwege, den sie nicht gescheut, um sich einmal persönlich nach dem Stande der Angelegenheiten auf den sequestrierten Gütern ihres Mannes zu erkundigen, war sie über Rotterdam auf diese Route gekommen.

Ihr Reisegefährte nahm trotz seines Ernstes das alles, wie gesagt, sehr gutmütig und mit anscheinender Teilnahme auf; er war ihr behilflich, wenn sie aus oder ein stieg, wenn sie ihren Reisesack, der unter der Sitzbank lag und den sie mit ihren hilflosen kleinen Händen nicht bewältigen konnte, hervorgeholt wünschte, oder wo sonst eine Gelegenheit sich bot, ihr gefällig zu sein; auch ließ er es sich mit derselben harmlosen Gutmütigkeit gefallen, daß Madame mit ihm sehr graziös kokettierte; obwohl das Lächeln, welches von ihren Anmutentwicklungen auf seine Lippen gelockt wurde, den vorherrschenden ernsten, ja düstern Ausdruck seiner Züge nicht verscheuchen konnte. Auch war er anfangs weit entfernt, ihre Offenheiten durch gleiche Aufrichtigkeit zu erwidern. Er nannte weder seinen Namen, noch gab er an, woher er komme, und ebensowenig sprach er sich über das Ziel seiner Reise aus. Nur soviel ließ sich aus seinen gelegentlichen Aeußerungen erkennen, daß er weite Reisen in fernen Ländern gemacht; daß er den Norden wie den Süden Amerikas gesehen; daß er vertraut war mit den Sitten und den Sprachen der großen Völker jenseit des Atlantischen Ozeans, als ob er viele Jahre dort zugebracht.

Die lebhafte kleine Gräfin fragte endlich geradezu nach seiner Heimat und seinen Lebensverhältnissen; Madame lispelte das so anmutig freundlich mit ihren kirschroten Lippen und mit so sprechend teilnehmenden Blicken, daß sie gewiß sein durfte, er nehme ihre Neugier nicht übel auf.

Er tat es in Wirklichkeit nicht.

»Ich wollte, ich konnte Ihnen eine Antwort geben auf Ihre Frage nach meiner Heimat,« antwortete der Fremde, »Leider habe ich keine Heimat mehr. Ich bin ein Reisender gewesen alle diese Jahre her. Ich bin in die Welt gegangen, um das Glück zu suchen; wenn man jung ist, hat man solche Ideen, – Glück – als ob man es suchen, sich einfangen oder von den Bäumen schütteln könne! Ich habe nichts gefangen, nichts von den Bäumen geschüttelt, nichts gefunden; ich kehre zurück, gerade so arm, wie ich gegangen bin!«

»Sie kehren zurück,« fiel Madame ein, »der Ort, wohin Sie zurückkehren, ist dann doch Ihre Heimat!«

Wenn Sie wollen, ja. Aber ich finde niemand dort, der mir verwandt wäre, keine Scholle Landes, die mir gehörte, kein Dach, dessen Schutz mich erwartete.«

»So nehmen Sie Dienste, mein Mann, der Adjutant des Großherzogs, wird gewiß alles aufbieten, Ihnen dabei behilflich zu sein; ich werde Sie ihm vorstellen ...«

»Ich danke Ihnen für Ihre Güte,« antwortete der Fremde lächelnd. Nach einer Pause sagte er: »Vielleicht werde ich in der Tat Ihre Güte in Anspruch nehmen. Ich habe eine Angelegenheit zu betreiben, bei welcher mir eine Fürsprache bei dem Großherzog von großer Fördernis sein könnte.«

»O zweifeln Sie nicht,« rief Madame mit großem Eifer aus. »Wenn Sie mich schon jetzt in Ihre Angelegenheit einweihen wollten –«

»Ich weiß nicht, ob Ihnen dieselbe ganz verständlich ist. Es liegt im Großherzogtum ein Gut, welches meinem Vater gehörte. Der letztere war leider durch unglückliche Umstände so in Schulden geraten, daß es nach seinem Tode den Gläubigern anheimfiel. Mir blieb nichts davon übrig und deshalb verließ ich, wie ich schon sagte, die Heimat. Das Gut, von dem ich Ihnen rede, war aber ein Lehnsgut. Es durfte nicht veräußert, nur die Einkünfte konnten den Gläubigern überlassen werden. Seitdem das Land unter französischer Herrschaft steht, ist jedoch das Lehnswesen aufgehoben. Infolge davon wird das Gut meines Vaters bereits veräußert sein und dann darf ich hoffen, daß der Verkauf einen Ueberschuß über den Schadenbetrag ergeben hat, welchen ich ausgeantwortet zu erhalten hoffe, Oder es ist noch nicht veräußert. In diesem Falle werde ich meine Rechte geltend machen dahin, daß man mir den Besitz einräume; ich werde dann durch die jetzt gesetzlich erlaubte Veräußerung einesteils die Schulden abtragen und mir einen kleinen Rest meines alten angestammten Erbes retten können.«

»O, ich verstehe das recht gut,« erwiderte Madame auf diese Auseinandersetzung, »Sie sind deshalb also aus der Fremde zurückgekommen?«

»Deshalb – weil ich in den Zeitungen von den großen Veränderungen las, welche in meinem Vaterlande durch die neue Herrschaft vorgekommen sind. Da ich in der Neuen Welt ein neues Glück nicht gefunden habe, bin ich zurückgekehrt, um in der Alten zusammenzuklauben, was noch von Ueberresten und verkommenen Brocken eines alten Glücks übriggelassen sein mag.«

Madame legte nun dem Fremden dringend ans Herz, sie recht bald zu besuchen, wenn sie am Ziele ihrer Reise, in der großherzoglich bergischen Hauptstadt angekommen seien, damit sie ihn dann ihrem Manne vorstelle, der ... das konnte sie fest zusagen ... sich aufs lebhafteste für ihn verwenden werde.

Ihr Reisegefährte versprach dies zu tun, wenn auch in der ruhigen und kalt höflichen Weise, die sein ganzes Benehmen charakterisierte, und bewies, daß er Hoffnungen und Aussichten, welche ihm das Leben eröffnete, durchaus nicht mit sanguinischem Eifer aufzunehmen pflegte, sondern viel eher mit der bedächtigen Vorsicht eines Mannes, welcher an Täuschungen gewöhnt ist und einsehen gelernt hat, was menschliche Berechnungen und Voraussetzungen wert sind. Doch war er von nun an um vieles offener gegen seine Wagennachbarin und sprach sich über Menschen und Welt in einer Art aus, die Madame höchst originell und unterhaltend fand – einem ernstern Geiste hätten sie vielleicht einen andern Eindruck gemacht und Anlaß gegeben, über den Einfluß nachzudenken, den widrige Lebensschicksale auf unser Denken, unser Fühlen und unsern Glauben haben.

Die kleine Gräfin aus Marseille hörte aufmerksam, wenn auch zuweilen mit einem leisen Gähnen, das sie unter freundlichem Lächeln zu verstecken suchte, derartigen Aeußerungen zu, und so kam es, daß man in dem besten gegenseitigen Einvernehmen sich endlich seinem Ziele näherte. Bei der Langsamkeit der Fortbewegungsanstalt, welcher man sich überlassen, wurde es jedoch späte, tiefe Nacht, bevor man wirklich die Hauptstadt des bergischen Landes erreichte. Die Frau Gräfin konnte nicht mehr daran denken, jetzt noch ihren Gatten aufzusuchen; es blieb ihr nichts übrig, da sie nicht einmal seine Wohnung wußte, als sich in den nächsten anständigen Gasthof zu begeben. Der Fremde schloß sich ihr dabei an, und während die Postbedienten versprachen, daß sie das Gepäck dahin abliefern würden, nahm der letztere den kleinen schlaftrunkenen Husaren, der die reisende Gräfin eskortierte, auf den Arm und trug ihn durch die schweigenden dunkeln Gassen bis zu den »Drei Reichskronen«, wo schon alles in tiefer Ruhe lag und nur durch langes und zäh-beharrliches Anklopfen ein unglücklicher Kellner aus den Federn zu bringen war.


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