Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel

Ein Verhör

Sibylle empfing den Polizeibeamten in dem kleinen Zimmer, welches wir kennen; während sie sich in den leichten Rohrsessel setzte, der vor ihrem Schreibpult stand, bat sie den Beamten, auf dem kleinen Diwan Platz zu nehmen – an der Wand ihr gegenüber, unter den Bildern aus Klopstocks Messias. Monsieur Ermanns placierte sich just unter der bekannten Abbildung des zürnenden Höllengotts, der, auf Flammenwolken stehend, voller Grimm Blitze zu schleudern scheint. Der kleine Mann darunter nahm sich im Vergleich mit dieser poetischen Gestalt sehr schmächtig und äußerst zahm aus. Der Anspruch auf Männlichkeit, der dies farblose Gesicht in Gestalt eines Backenbartes umrahmte, war vom grau machenden Alter allbereits stark überpudert; seine Mienen drückten weder Strenge noch etwas anderes aus, wenn nicht eine gewisse Apathie und Teilnahmlosigkeit an jedem Ding, das andere weniger ruhige Menschen auf ihrer irdischen Lebenslaufbahn in Aufregung zu versetzen vermag.

Und doch hatte das Wesen dieses Mannes etwas Bedrückendes, Aengstigendes für das junge Mädchen; sie fand in seinen Blicken etwas, das seiner übrigen Haltung und seiner Art zu sein und sich zu geben schnurstracks widersprach. Es lag in seinen Augen etwas Scharfes, Hartes, Falsches – etwas, das Sibyllens Mißtrauen erregte. Vielleicht aber war dieser Eindruck mehr zu erklären durch Sibyllens natürliche Beängstigung, womit sie das Begehren einer Unterredung von seiten des Beamten erfüllt hatte, als durch die Wirklichkeit und Richtigkeit ihrer Beobachtung.

»Welch allerliebstes Boudoir haben Sie sich hier angelegt, Mademoiselle,« begann der Polizeibeamte die Unterhaltung, nachdem er sich gesetzt hatte: »sehr hübsch und freundlich in der Tat – die Aussicht von den Fenstern ist hier noch hübscher als aus dem Wohnzimmer des Herrn Ritterhausen – ich kann mir denken,« setzte er mit einem Lächeln hinzu, das für Sibyllen etwas Hämisches hatte, »ich kann mir denken, daß Herr Ritterhausen sich lieber dem Teufel verschreibt, als diese schöne Besitzung verläßt.«

»Mein Vater hat Gott sei Dank nicht nötig, sich dem Teufel zu verschreiben um deswillen,« antwortete Sibylle halb überrascht und erschrocken, halb beleidigt durch diese Aeußerung.

»Sie meinen, er braucht den Teufel nicht, er hilft sich selber,« fuhr mit demselben bedeutsamen und hämischen Lächeln Monsieur Ermanns fort.

»Ich meine, Sie reden in seltsamen Ausdrücken, mein Herr, die ich nicht verstehe. Sie wurden mich verbinden, wenn Sie mir sagen wollten, womit ich Ihnen dienen kann!«

»Sie zu verbinden bin ich eben gekommen, Mademoiselle,« antwortete der Polizeibeamte. »In der Tat, in der reinsten und wohlwollendsten Absicht. Ich bitte Sie, bei unserer fernem Unterredung dies nicht außer acht lassen zu wollen. Wir werden dann am raschesten zum Ziele kommen. Betrachten Sie jedes meiner Worte als das eines aufrichtigen Freundes; sehen Sie in mir nicht zuerst den Beamten, sondern vor allem den weichen teilnehmenden Menschen, dem das, was er als Beamter tun muß, oft das Herz bluten macht. In der Tat, Demoiselle Ritterhausen, ich bin von Natur eine gute harmlose Seele. Wenn Sie mich kennten, würden Sie sagen: den hat Gott in seinem Zorn zum Polizeimenschen gemacht. Aber wenn man nun eben nichts Rechtes gelernt hat! Was kann man da machen? Es muß doch gelebt sein. Ich habe Frau und Kinder. Aus dem Militärdienst, worin ich früher stand, mußte ich ausscheiden – ich hatte meine Gesundheit darin ruiniert – meine ganze Konstitution ist dabei zerrüttet worden. – Sie sehen es mir nicht an, aber ich bin oft recht elend. Als Entschädigung für eine geopferte Gesundheit und ein geopfertes Leben hat man mir diesen jämmerlichen Polizeidienst gegeben, den ich so oft verwünsche. – Doch was langweile ich Sie mit meinen Klagen, ich wollte ja weiter nichts, als Ihnen zeigen, daß Sie mir vertrauen könnten, daß ich gekommen bin, mich mit Ihnen ganz ohne Rückhalt freundschaftlich über eine Angelegenheit auszusprechen, welche Sie so nahe berührt, und worin Sie durchaus des Beirats eines Freundes bedürfen, um nicht von der Schwere Ihres Kummers zu Boden gedrückt zu werden.«

Sibylle sah den Polizeibeamten während dieser ganzen Rede mit großen Augen an.

»Ich muß Ihnen bekennen,« sagte sie, weit mehr erschrocken, als durch seine Freundschafts- und Teilnahmeversicherungen beruhigt, »daß ich nicht begreife, worauf Sie eigentlich zielen, mein Herr!«

»So erlauben Sie mir zuerst einige Fragen, Mademoiselle. Wissen Sie um ein Schreiben, welches der ermordete Graf von Epaville an Ihren Vater erlassen hat?«

»Ja – ich habe es gelesen.«

»Nach einem Entwurf, welchen wir in dem Wohnzimmer des Unglücklichen auf der Burg oben gefunden haben, droht er darin Ihrem Vater mit der Verfolgung seiner Rechte auf diese Hammerbesitzung. Er hat entdeckt, daß der Hammer Eigentum der Burg ist, und er deutet an, daß, wenn Ihr Vater denselben wie sein Eigentum bis jetzt behandelt habe, dies auch nur durch Nachlässigkeit der frühern Behörden möglich geworden sei, deren Pflichtverletzung Ihr Vater vielleicht durch Bestechung erlangt habe.«

»Diese beleidigende Voraussetzung ist in dem Schreiben des Grafen, wie es uns zugekommen, nicht enthalten; mein Vater würde sich dergleichen auch nicht haben gefallen lassen,« erwiderte Sibylle stolz.

»Nun, der Entwurf lautet doch ungefähr so,« fuhr der Polizeibeamte fort. »Und Sie haben den Brief bekommen, sagen Sie, Ihr Vater ist erschrocken, als er diese Fehdeerklärung seines neuen Nachbars erhalten hat; und Sie, Mademoiselle, sind in hochherziger Entschlossenheit zum Grafen von Epaville gegangen und haben versucht ihn von weitern Schritten in dieser Angelegenheit abzuhalten oder einen Vergleich mit demselben zu schließen.«

»Woher wissen, woraus schließen Sie das?« fiel ihm Sibylle entrüstet ins Wort.

»Der Hausmeister auf der Rheider Burg hat in seiner eidlichen Vernehmung so ausgesagt; er hat vom Fenster seiner Kammer aus gestern eine lange Unterredung zwischen Ihnen und dem Grafen bemerkt, die in dem Garten des alten Gebäudes stattfand.«

»Das ist richtig, ich bin dort oben dem Grafen zufällig begegnet, aber sicherlich nicht, um diese Zusammenkunft zu finden, hinaufgegangen. Der Graf hat mir bei seiner ersten Erscheinung hier nicht den Eindruck eines Mannes gemacht, mit dem ich gesucht hätte, in weitere Berührung zu kommen.«

»Sie hatten also nicht die Absicht, den Grafen in der Angelegenheit Ihres Hammers umzustimmen, ihn zu einer andern Ansicht der Sache oder etwa zu einem Vergleich zu bereden.«

»Nicht im entferntesten!«

»Seltsam!« sagte der Polizeibeamte, »Es wäre doch so natürlich gewesen. Sie mußten wissen, daß Ihre Angelegenheit einen sehr mißlichen Charakter für Sie hatte. Soweit ich die Sache bis jetzt kenne und zu beurteilen vermag, Mademoiselle, gehört der Hammer in der Tat als Pertinenzstück zur Rheider Burg, das heißt, er gehörte dem Grafen. Und dieser brauchte Geld, viel Geld, denn er war ein wenig Lebemann, der arme Graf. Er kündigte Ihnen an, daß er gesonnen sei, sein Recht gegen Sie auszubeuten. Sie, die Sie gewohnt sind, Ihren kranken Vater in dessen Geschäften zu vertreten, begeben sich zu der Burg hinauf, Sie haben eine längere Unterredung mit Epaville – und dennoch versichern Sie mich, daß Sie nicht von der Angelegenheit, die Ihnen doch sehr dringend am Herzen liegen mußte, mit ihm reden wollten ...«

»Zweifeln Sie an meinen Worten?«

»Nicht im geringsten, Mademoiselle Ritterhausen, ich erstaune nur. Aber ich lasse auf Ihr bloßes Wort hin sogleich meine ganze Ueberzeugung fallen.«

»Und diese Überzeugung war?«

»Daß der Graf Ihre Vergleichsvorschläge zurückgewiesen, daß er Ihnen seinen festen Willen erklärt hat, sein Recht zu verfolgen.«

»O nein, mein Herr – es war durchaus umgekehrt,« versetzte Sibylle mit einem bittern und verächtlichen Lächeln, »der Graf war voll zuvorkommender Anträge zu jedem möglichen Vergleich; er machte aus seiner Freundschaft eine sehr wohlfeile Ware ...«

Der Polizeibeamte warf einen seiner scharfen Blicke auf Sibylle.

»Sie haben also doch von Ihrer Angelegenheit mit ihm geredet,« sagte er. »Soeben verneinten Sie es,«

»Ich verneinte, daß ich ihn aufgesucht; nicht daß, als der Zufall mich ihm in den Weg geführt, er nicht sofort von der Sache begonnen und der Unterredung eine Wendung gegeben, die mich veranlassen mußte, sie so bald abzubrechen, wie es immer möglich war.«

»Aha, ich verstehe alles,« erwiderte Monsieur Ermanns mit boshaftem Lächeln, »Nun haben wir denn doch ganz dasselbe, was ich vorhin als Tatsache feststellen wollte: Sie haben eine Kriegserklärung von dem Grafen erhalten und als Sie darauf eine zufällige Unterredung mit demselben hatten, begriffen Sie, daß ein Friedensschluß mit ihm nur auf Bedingungen hin zustande kommen könne, welche Sie unter keinen Umständen, nie und nimmer, eingehen würden!«

»Darf ich Sie bitten, mein Herr, mir zu sagen, wozu Sie mich über diese Angelegenheit verhören, denn die freundschaftliche Unterredung, um welche Sie mich baten, hat gar sehr den Charakter eines Verhörs angenommen.«

»Hat sie das in der Tat, Mademoiselle? Nun, es mag sein. Aber ich würde untröstlich darüber sein, wenn etwas in meinem Tone und in meinen Fragen läge, das Sie persönlich verletzen könnte. Niemals in meinem Leben möchte ich weniger als Beamter und mehr als ein teilnehmender, wirklich ergebener Freund erscheinen!«

»Dann würde ich es als einen Freundesdienst betrachten, wenn Sie mir ohne weitere Einleitung sagen wollten, wozu –«

»Ohne Einleitung bringe ich das nun eben nicht übers Herz, Mademoiselle Ritterhausen, und deshalb bitte ich Sie, spannen Sie mein herzliches Mitleiden mit Ihrer Lage nicht dermaßen auf die Folter ...«

»Herzliches Mitleiden ... ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, mein Herr, aber ich muß Ihnen gestehen, daß ich es überaus überflüssig finde,« fiel Sibylle erbleichend ein.

»Mademoiselle, ich will die Tatsachen vor Ihnen reden lassen – Sie sollen dann selber die Schlüsse ziehen. Nachher erst werden wir auf diesen Punkt zurückkommen. Sehen Sie, was sich ereignet hat, ist dieses: Im Jahre 1799 gewinnt der Baron Huckarde einen Prozeß wider den Hammerbesitzer Ritterhausen, dahin, daß der Rheider Hammer, welchen der letztere längst als sein Eigentum betrachtete, den er geschaffen, verbessert, vergrößert hat, der ihn reich oder doch wohlhabend machte, der seine kleine Welt, sein ein und sein alles ist, auf dem er geboren und auf welchem er zu sterben gehofft hat, daß dieser Hammer nicht ihm, sondern dem Baron Huckarde gehöre.

»Der Baron hat beschlossen, ihn von dem Hammer zu entfernen.

»Um dem zuvorzukommen, kauft Ritterhausen Förderungen, welche dritte Personen an Huckarde haben, Schuldverschreibungen des Barons an sich. Er eröffnet dem gestrengen Herrn dies. Er droht ihm: brauchst du dein Recht, so gebrauche ich das meine. Treibst du mich von dem Hammer fort, so treibe ich unerbittlich meine Forderungen ein, lasse deine Burg, oder wenn das nicht möglich, da sie Lehngut, alle deine fahrende Habe mit Beschlag belegen und versteigern.«

»Wie wissen Sie das, mein Herr?« fragte Sibylle in hohem Grade verwundert.

»Von dem Herrn Ritterhausen selbst. Er war vorhin in einer vertraulichen Unterredung so freundlich, es mir mitzuteilen.«

»Mein Vater selbst sagte Ihnen ...?«

»Gehen wir weiter,« versetzte Monsieur Ermanns; »also der Hammerbesitzer bedroht den Burgherrn; der Burgherr aber entgegnet, daß er diese Bedrohung nicht beachten werde, daß er sein Wort gegeben, seine Ehre verpfändet, den Herrn Ritterhausen von seinem Grund und Boden auszutreiben, und daß er ihn deshalb austreiben werde.

»Herr Ritterhausen sieht ein, daß er mit dem alten vorurteilsvollen Manne nicht werde zu einer Verständigung kommen können. Er muß sich sagen, daß der Tag naht, wo er zur Schadenfreude seiner Neider und Feinde den Hammer werde räumen und in die Welt hinausziehen müssen. Sie trennen sich im Zorn, die beiden Männer. Der alte Huckarde geht spät abends noch aus, zu einer Stunde, in welcher auch Ritterhausen ganz gegen seine Gewohnheit außer seiner Wohnung ist – am andern Morgen findet man plötzlich den alten eigensinnigen Baron mit einer Wunde am Hinterkopf tot in der Wupper!

»Erste Tatsache. Gehen wir über zur zweiten.«

»Der Hammerbesitzer Ritterhausen bleibt nun unangefochten auf seinem Hofe. Jahre vergehen. Wir schreiben 1807. Die Rheider Burg wird Eigentum eines neuen Herrn, eines Mannes, dessen Privatverhältnisse ihn zwingen, die Zitronen, welche man ihm schenkt, nicht unausgepreßt zu lassen. Dieser Herr erklärt denn auch sofort dem Hammerbesitzer: du sitzest auf meinem Eigentum; ich fordere es zurück von dir, du sollst mein Pächter werden, mein Heuerling, oder sofort den Herd, an dem du dich unrechtmäßigerweise breit gemacht hast, verlassen.«

»Der Hammerbesitzer sendet seine Tochter zu dem neuen, so schlimm auftretenden Herrn, um mit ihm zu verhandeln. Aber diese Botschaft bleibt fruchtlos. Sie hat nur ein noch mehr erbitterndes Ergebnis, denn der neue Burgherr führt der Tochter des Hammerbesitzers gegenüber eine Sprache, welche ihre jungfräulichen Gefühle verletzt und ihren Zorn erregt. Herr Ritterhausen also muß sich einmal wieder sagen: es gibt hier keine Rettung für dich, du wirst deinen alten Besitz mit dem Rucken ansehen müssen. Da, in der nächsten Nacht, findet man den neuen Burgherrn mit einer tiefen Wunde in der Brust tot auf seinem Bette.

»Habe ich die Tatsachen einfach, wie sie sind, richtig und wahrheitsgetreu vorgetragen?«

»In Ihrer eigenen Färbung! Aber, um Jesus und aller Heiligen willen, was folgern Sie daraus,« rief Sibylle, die bis dahin mit immer größer werdenden Augen, immer bleicher werdenden Zügen der Rede des Polizeibeamten zugehört hatte.

»Was ich daraus folgere? Brauche ich das zu sagen? Folgern Sie selber: die Moral der Geschichte scheint mir nicht schwer zu finden!«

»Sie werden doch nicht andeuten wollen,« rief Sibylle, plötzlich über und über dunkelerrötend und mit vor Zorn bebender Lippe, »Sie werden doch nicht die Verwegenheit haben, anzudeuten, daß mein Vater mit diesen Mordtaten oder was es sein mag, irgendeine Verbindung habe!«

»Beruhigen Sie sich, Demoiselle Ritterhausen; nehmen wir die Dinge wie sie sind; ich habe Sie meiner Ergebenheit und Dienstbeflissenheit hinreichend versichert; ich will nichts andeuten, nichts behaupten, ich will nur mit Ihnen überlegen, auf welche Weise ...«

»Mein Herr,« fuhr Sibylle entrüstet dazwischen, indem sie aufstand, »ich danke Ihnen für eine Freundschaft und Ergebenheit, welche sich darin zeigt, daß Sie mir Unverschämtheiten sagen. Haben Sie die Güte, mich zu verlassen, oder ich ...«

»Sacht, sacht, meine teure Demoiselle,« fiel hier Monsieur Ermanns ein, »stoßen Sie meine wohlwollende Teilnahme nicht von sich, denn Sie würden dann sehr unglücklich werden. Ich bin in der Tat nicht so unverschämt und verwegen, wie Sie sagen. Wenn ich aus der Lage der Dinge den Schluß gezogen habe, daß Herr Ritterhausen der intellektuelle Urheber, wie die Juristen sich ausdrücken, dieses Mordes an dem Grafen von Epaville ist, so habe ich noch eine ganz bestimmte Tatsache, welche die Folgerungen meiner Vernunft unterstützt.«

»Ich glaube, ich habe schon mehr, als es sich für eine Tochter ziemt, von Ihren Folgerungen angehört, und deshalb ...«

»Nur noch einen Augenblick,« fiel der Polizeibeamte, immer in seinem ruhigen, freundlichen, halb demütigen, halb ironischen Tone bleibend, fort. »Sagen Sie mir, was hat der Deserteur zu bedeuten, welchen man seit den letzten Tagen in der Rheider Burg versteckt gehalten hat und nach dessen Befinden Sie vor kurzer Zeit sich so teilnehmend erkundigt haben – Sie, Mademoiselle Ritterhausen!«

»O, mein Gott!« rief Sibylle aufs neue totenbleich werdend aus und fiel halb ohnmächtig auf ihren Stuhl zurück.

Monsieur Ermanns schien der furchtbaren Erschütterung des jungen Mädchens, ihrem ohnmachtähnlichen Zustande durchaus keine Bedeutung beizulegen. Er fuhr zu reden fort, nur daß jetzt seine Stimme einen strengen Ernst annahm und seine Blicke stechend über seine Brille fortschossen.

»Ich muß hiernach annehmen,« sagte er, »daß Sie in das, was geschehen ist, vollständig eingeweiht sind. Der Deserteur, der Ihre Teilnahme in Anspruch genommen hat, ist das Werkzeug gewesen, dessen Ihr Vater sich bedient hat, und Sie, Demoiselle Ritterhausen, kennen dieses Werkzeug und sind in Sorge darum, ob der Mörder sich früh genug vom Schauplatz seines Verbrechens gerettet hat, ob er nicht in die Hände der Gerechtigkeit gefallen ist! Sie gestehen mir das ein, Mademoiselle?«

Sibylle bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen, durch deren Finger sich jetzt die hellen Tränen drängten.

»Nicht wahr, Sie gestehen das ein?«

Sibylle antwortete nicht. Aber für sich sagte sie: »O diese Strafe ist fürchterlich – aber sie ist gerecht, gerecht!«

»Die Strafen der Verbrechen sind immer gerecht,« fiel der Polizeibeamte, dessen scharfes Ohr ihre geflüsterten Worte vernommen hatte, ein; »und doch treffen sie den einen weit härter als den andern, je nach seinem Charakter, seiner Erziehung, der Stellung, welche er im Leben einnimmt. Für den Ehrgeizigen, den Gebildeten, einst angesehenen Mann, den die Leidenschaft zum Verbrechen verführt, ist die öffentliche Bestrafung, zum Beispiel die Ausstellung, etwas, worin für ihn eine Hölle liegt, während der in Ruchlosigkeit aufgewachsene, verkommene Mensch sich gar wenig daraus macht. Dennoch ereilt diese Strafe beide für dasselbe Verbrechen. Freilich ist der eine strafbarer als es der andere ist: ob aber in dem Maße, wie ihn die Strafe grausamer trifft – wer kann das bestimmen! Wir sind alle Sklaven unserer Leidenschaften und moralische Blindheit läßt uns in Verbrechen fallen, wie physische Blindheit in Abgründe. Der Mensch ist eben wie er von der Natur gebildet worden, und wenn er seinem Nachbar das Haus anzündet, wer weiß, wo da der erste Funke zu dem verderblichen Feuer eigentlich steckte und aufglomm – ob nicht vielleicht in einem ungesunden Blut, das in seinen Adern stockte und mit andern Säften in feindliche Reibung geriet und gor, und ihn in einen Zustand versetzte, worin er der bedauernswürdige Sklave eines Triebes und Dranges wurde, der ihn zu dem führte, was wir dann Verbrechen nennen und das wir dann unnachsichtlich bestrafen. Das letztere ist freilich auch nicht zu umgehen. Was soll man da machen! Aber aus dieser meiner Ansicht von den Dingen sehen Sie, Mademoiselle, daß ich nicht der Mann bin, über solche Tatsachen, wie sie hier in Frage sind, in eine unerbittliche moralische Entrüstung zu geraten. Die aufrichtige Teilnahme, von der ich Ihnen vorhin sprach, bleibt Ihnen dennoch in ungeschmälertem Maße, und ich will jetzt dazu übergehen, sie Ihnen durch die Tat zu beweisen. Sagen Sie mir, kennen Sie unser französisches öffentliches Gerichtsverfahren, unsere Assisenhöfe, Demoiselle Ritterhausen?«

Sibylle antwortete nicht. Wie versunken in einen tiefsten Gram, der sie für alles, was außer ihr vorging, unempfindlich machte, saß sie auf ihrem Stuhle da, das Gesicht noch immer in ihren Händen bergend.

»Ich bitte um Antwort, Mademoiselle,« sagte der Polizeibeamte scharf, »kennen Sie unsere Geschworenengerichte?«

Sibylle blickte auf und wandte ihm ihre totenbleichen, mit Tränen benetzten Züge zu.

»Glauben Sie denn wirklich, können Sie wirklich glauben,« antwortete sie mit stammelnder Lippe, »daß mein Vater...«

»Was kann Ihnen daran so viel liegen, Mademoiselle, ob ich glaube oder nicht glaube? Es hat für Sie gar keinen praktischen Wert, was ich persönlich glaube,« versetzte Monsieur Ermanns mit bitterm Lächeln; »lassen wir es also getrost aus dem Spiele und hören Sie mich jetzt ruhig an. Sehen Sie, das Geschworenengericht ist eine Einrichtung, die das Merkwürdige hat, daß sie – wenigstens wenn es sich um gebildete Leute handelt – für den Unschuldigen, der vor dasselbe gezogen wird, eine gerade so harte Strafe enthält wie für den Schuldigen. Man führt nämlich den Angeklagten in einen großen Saal. Ihm gegenüber setzt man zwölf ehrsame Bürger, Gevatter Schneider und Handschuhmacher hin, und dann läßt man herein, wer immer von Krethi und Plethi kommen will, sich die Geschichte anzugaffen. Dann gibt man sich einer ganz rückhaltlosen, durch keine Rücksicht eingeschränkten Erörterung seines Charakters, seiner Vergangenheit, seiner Verhältnisse hin – das alles vor der Menge des zusammengeströmten Volks, vor dem Pöbel, dem dieser öffentliche obrigkeitliche Skandal ein wahres Fest ist. Der öffentliche Ankläger häuft alle Schändlichkeit, die sich nur erfinden läßt, auf des unglücklichen Angeschuldigten Haupt. Er macht ihn schwarz wie die Hölle. Der Verteidiger eifert dagegen an; hat jener im Namen der beleidigten Tugend und Moral ihn zu einem wahren Dämon gestempelt, so macht ihn dieser im Interesse der Humanität zu einem Heiligen. Er legt den Heiligenschein aller häuslichen und öffentlichen Tugenden um ihn. Mit dem Flammenschwert der Beredsamkeit streiten beide um seine arme Seele, wie Teufel und Engel am Tage des Jüngsten Gerichts. Das alles in Gegenwart des Angeklagten; in seiner Gegenwart wird Zeuge nach Zeuge vorgeführt und durch einen Eid gezwungen, ihm ins Gesicht zu werfen, was er von ihm gesehen, gehört, jemals gedacht hat.

»Diese moralische Folter, diese wahre Höllenpein für den Angeklagten, weit schlimmer als fünf Jahre Gefängnis oder Festungshaft, findet statt, damit die zwölf Geschworenen befähigt werden, am Ende, nach Maßgabe ihres Mutterwitzes, das Verdikt zu fällen, das heißt, auf die Frage nach der Schuld des Angeklagten ja oder nein zu sagen.

»Denken Sie sich nun Ihren Vater in dieser Lage; stellen Sie sich lebhaft vor, was er in einer solchen Situation empfinden würde; denken Sie an sich selbst als Angeklagte auf der Bank der Verbrecher und dann antworten Sie mir: werden Sie nicht alles darum geben, diesem Schicksale zu entgehen, das Sie bedroht, das unabwendbar ist – das, ganz abgesehen von Schuld oder Nichtschuld, nach der Lage der Dinge, durch die zwingende Macht der Tatsachen, über Sie beide heraufgeführt werden wird? Denn das wird es, darüber machen Sie sich keine Täuschungen – es sei denn, wir kämen jetzt hier zu einer Verständigung, infolge deren ich Ihnen das Versprechen geben kann, daß Sie mit diesem entsetzlichen Schicksal, mit dem ganzen Jammer einer solchen Ausstellung, die schlimmer ist, als auf einem Sklavenmarkt verkauft zu werden, verschont bleiben sollen.«

Sibylle hob ihr tränenfeuchtes Gesicht auf und sah mit einem flehenden, fragenden Blick den Polizeibeamten an.

»Sehen Sie,« fuhr dieser fort, »die Geschworenen haben, wie ich Ihnen sagte, nur die Aufgabe, über das Ja oder Nein der Schuld zu entscheiden. Gesetzt also, ein zur Untersuchung Gezogener erklärte selbst seine Schuld; er gäbe ohne Rückhalt befriedigenden Aufschluß über die Tat und alle ihre Nebenumstände; er verschmähte es in irgendeiner Beziehung der Wahrheit untreu zu werden und stände mit offener Stirn und männlich ehrenhaftem Freimut für das, was er getan, ein – dann würde immer noch das Gericht ihn richten, aber es würde der Geschworenen Ausspruch dabei nicht bedürfen. Das Ja der Jury wird überflüssig, sobald der Angeklagte dies Ja selber spricht. Werden Sie mir also nicht folgen, wenn ich Ihnen den dringenden Rat gebe: legen Sie mir sofort ein offenes Geständnis ab und bewegen Sie dann auch Ihren Vater dazu, den ganzen Anteil, den er an diesen Mordtaten genommen hat, mir einzugestehen!«

Sibylle erhob sich jetzt groß und entschlossen, als ob all ihr Selbstbewußtsein ihr zurückkehre. Sie trocknete ihre Tränen ab und wies dem Beamten ein Antlitz, auf welchem jeder Zug das Gepräge stolzer Fassung trug.

»Ich danke Ihnen, mein Herr,« sagte sie, »für das, was Sie Ihre Freundschaft und Teilnahme für uns nennen. Ich will annehmen, daß sie aufrichtig gemeint sind. Obwohl eine wahre Teilnahme weniger vorschnell gewesen wäre, auf einen bloßen Schein hin, den eine unglückliche Verbindung von zufälligen Umständen erzeugt hat, an unsere Schuld zu glauben, meinen Vater für einen Mörder zu halten! Aber ich will Ihnen das verzeihen. Ihr Beruf mag Sie daran gewöhnen, die Menschen für schlecht zu halten. Das aber, mein Herr, erkläre ich Ihnen – solange Sie von dieser Voraussetzung ausgehen, werde ich Ihnen keine Antwort mehr geben. Verlassen Sie mich jetzt. Mag dann kommen was da will. Gott wird uns beschützen. Ich bitte, lassen Sie mich allein!«

»Weisen Sie im Ernste dem Freunde die Tür, Mademoiselle?« versetzte der Beamte ironisch. »Nun wohl, er weiß, was er einer jungen Dame schuldig ist und geht; aber der Polizeibeamte bedauert unendlich, daß er nicht so galant sein darf, er muß bleiben, bis er noch einige Aufklärung erhalten hat.«

»Welche Aufklärung verlangen Sie?«

»Wer ist der bewußte Deserteur?«

»Ich weiß weiter nichts von ihm.«

»Er nannte sich einen Deserteur?«

»Ja.«

»Was taten Sie, um sich zu überzeugen, daß er das in der Tat war und nicht etwa ein flüchtiger gemeiner Verbrecher?«

»Ich glaubte ihm.«

»Sehr vorsichtig!« versetzte der Beamte mit spöttischem Lächeln. »Wie nannte er sich?«

»Ich weiß nichts von ihm, gar nichts,« antwortete Sibylle. »Der Mensch ist mir in der Nähe der Rheider Burg bei einem Spaziergange begegnet – es sind seitdem vielleicht vierzehn Tage verflossen. Er hat mir seine Not geklagt.«

»Seine Not ... welche Not hat er Ihnen geklagt?«

»Nun, seine Angst wieder eingefangen zu werden.«

»Wohl – fahren Sie fort.«

»Und ich habe Mitleid mit ihm gefühlt. Ich habe ihm ein Versteck in der Rheider Burg gezeigt, das ich seit den Tagen, wo ich als Kind fast täglich in der Familie des Herrn von Huckarde verkehrte, kannte. In diesem Versteck konnte er sicher sein, nicht gefunden zu werden.«

»Haben Sie ihm Lebensmittel dahin geschafft?«

»Nein, ich habe ihm überlassen, für sich selbst zu sorgen. Und ich stehe nicht an, Ihnen zu sagen, daß ich ihn für den Verbrecher halten muß. Er hat mir erzählt, er sei desertiert aus Furcht vor einem Herrn im Gefolge des Großherzogs, der aus frühern Lebensverhältnissen her sein Feind sei. Muß ich nicht schließen, daß dieser Herr aus dem Gefolge der Graf Epaville gewesen, den sein Unglück in die Burg geführt hat, während der Deserteur darin versteckt war?«

»So, das hat er Ihnen erzählt?« antwortete Ermanns gedehnt und offenbar ungläubig und fuhr dann fort: »Kennt der Hausmeister das Versteck?«

»Nein! niemand außer mir.«

»Und der Deserteur, scheint es, ist noch dort? Sie haben, als Sie sich heute nach ihm erkundigten, die Antwort erhalten, er sei am vorgestrigen Tage wenigstens noch dagewesen?«

»Diese Antwort habe ich erhalten.«

Monsieur Ermanns schwieg eine Weile, während der er Sibyllens Züge fixierte.

»Und Sie gestehen wirklich nicht ein,« sagte er dann plötzlich, »daß dieser Deserteur das von Ihrem Vater gedungene Werkzeug des Verbrechens war?«

Sibyllens Antlitz zeigte ein zorniges Erröten.

»Ich muß Sie bitten, mich mit solchen Fragen zu verschonen. Sie werden keine Antwort darauf erhalten.«

»Nun, wie es Ihnen beliebt. Aber eine Bemerkung werde ich Ihnen machen dürfen: Hätte der Deserteur aus eigenem Antriebe gehandelt, als er den Mord beging, so könnte es niemand einfallen, zu denken, derselbe habe sich nicht augenblicklich aus dem Staube gemacht. Sie aber fürchteten, er könne noch dort sein. Weshalb sollte er noch dort sein, wenn nicht, weil er noch etwas erwartet, noch ein Interesse ihn fesselt? Wäre das, was er erwartet, bevor er flieht, vielleicht die Zahlung des Blutgeldes?«

Sibylle antwortete nicht, sondern wandte Ermanns entrüstet den Rücken.

»Sie antworten nicht, Demoiselle – um eins muß ich Sie jedoch ersuchen, bevor ich Sie von meiner Gegenwart befreien kann.«

»Und daß ist?«

»Ich muß bitten, daß Sie mir das Versteck in der Rheider Burg näher angeben.«

Sibylle zauderte einen Augenblick, bevor sie antwortete, so groß war ihr Widerwille, mit dem Polizeibeamten noch eine Silbe zu wechseln. Aber mußte sie nicht um ihrer selbst willen alles aufwenden, daß der Fremde, der so wahrscheinlich der Verbrecher war, in die Hände der Justiz falle? Sie war deshalb bald entschlossen, doch nicht schnell genug, um nicht durch ihr Zögern mit einer Antwort dem Beamten neuen Verdacht zu geben.

»Sie scheuen den Verrat?« fragte er ironisch lächelnd.

»Ich darf nichts scheuen,« antwortete sie, »was zur Entdeckung des Verbrechens führen kann, die hoffentlich nicht ausbleiben und Ihnen beweisen wird, wie ruchlos und unverantwortlich Ihr Verdacht ist!«

»Das Versteck also?«

»Der Eingang zu ihm liegt im ersten Stock des alten Gebäudes, im letzten Zimmer zur rechten Hand, wenn man von der Haupttreppe her diesen Stock betritt.«

»Also in dem Zimmer, worin der Graf von Epaville ermordet gefunden wurde!« fiel Monsieur Ermanns ein.

»Ich weiß nicht, in welchem Raum dies entsetzliche Ereignis vorfiel,« antwortete Sibylle, »das Versteck aber ist in dem bezeichneten Zimmer. Sie werden die Wände desselben mit Lambris bekleidet finden. Wenn Sie nun an der Seite des Zimmers, die an den Turm stößt, welcher außen sich an das Gebäude anschließt, wenn Sie an dieser Seite das mittelste Getäfel der Lambris mit einer gewissen Kraftanstrengung linkshin zu schieben versuchen, so werden Sie finden, daß es dem Drucke weicht und eine viereckige Oeffnung freiläßt, durch welche man schlüpfen kann. Hinter dieser Oeffnung aber liegt ein kleiner Raum, der ganz in der dicken Mauer des Turms angebracht ist und sein Licht durch ein kleines vergittertes Fenster erhält, welches in das Innere des Turms geht. Es ist dort an einer Stelle angebracht, wo es niemand, der sich in dem Innern des Turms befindet, auffallen kann.«

»Ich bin vollständig von Ihrer Antwort befriedigt,« sagte der Polizeibeamte, sich erhebend, »Ich werde mich jetzt entfernen – aber, Mademoiselle, ich muß Sie bitten, Ihr Zimmer fürs erste nicht verlassen zu wollen. Darf ich in dieser Beziehung auf Ihre Folgsamkeit rechnen?«

»Ich weiß nicht,« versetzte Sibylle verwundert und erschrocken, »ob ich mir im Hause meines Vaters solche Vorschriften geben zu lassen brauche?«

»Setzen Sie meine Befugnis dazu oder meine Macht, derartige Anordnungen nötigenfalls gewaltsam durchzuführen, in Zweifel? Im letztern Falle würde ich Ihnen die polizeilichen Vorsichtsmaßregeln, welche in Beziehung auf dieses Haus im stillen getroffen sind, näher angeben müssen.«

»Also ich bin eine Gefangene?!« rief Sibylle entsetzt aus.

»Sie haben vorläufig nur einen kleinen harmlosen Stubenarrest,« lächelte Monsieur Ermanns, »aber trösten Sie sich, er dauert vielleicht nur so lange, bis ich eine Unterredung mit Ihrem Vater gehabt habe, um welche ich denselben jetzt bitten werde!«

Und damit entfernte sich Monsieur Ermanns aus Sibyllens Zimmer, nachdem er ihr eine leichte Verbeugung gemacht hatte, und ließ das unglückliche junge Mädchen allein mit ihrer Angst, ihren folternden Gedanken, ihrer Verzweiflung.

Und in der Tat, die Gedanken, welche auf sie einstürmten, hatten etwas, das die Verzweiflung rechtfertigen konnte. Mochte sie vor sich in die nächste Zukunft oder zurück in die Vergangenheit blicken – es war beides gleich dunkel und qualvoll. Vor sich sah sie das entsetzliche Schauspiel eines über sie und ihren Vater verhängten Gerichts, welches der Beamte ihr ausgemalt hatte. Und aus der Vergangenheit erhoben sich bittere Vorwürfe über den schuldvollen Leichtsinn, womit sie ihrem Mitleid für einen ruchlosen Blutmenschen nachgegeben, so daß sie jetzt fast Mitschuldige an einer Greueltat geworden; und dann beängstigende Gedanken über ihres Vaters Handlungsweise, über das, was er mit dem unglücklichen Baron verhandelt, der so bald darauf ... in Sibyllens Augen stand das fest ... seinem Leben ein freiwilliges Ende gemacht hatte; über den Anteil, den ihr Vater durch sein Auftreten gegen den unglücklichen alten Huckarde an dieser entsetzlichen Katastrophe haben könne.

Und dabei dachte sie an des so traurig untergegangenen Mannes verschollenen Sohn, dem nichts übriggeblieben, als in die ferne Fremde zu wandern, ohne Hilfsmittel, ohne Freunde, ohne den Gedanken an Gott und seine Vorsehung, die ihn stützen und trösten konnte auf seiner Wanderung durch ein ödes, gemütloses, von Arbeitsqual erfülltes Leben! Und indem sie so die Gestalt Richards vor sich heraufbeschwor, sehnte sich ihre ganze Seele ihm nach, in die Weite, Ferne, wo er weilte, vielleicht traurig und hoffnungslos und entmutigt, und doch nicht so bodenlos elend, nicht so verzweifelnd wie sie! Ja, könnten die Lüfte sie tragen, die Schwingen ihrer ängstlich flatternden Seele sie zu ihm führen, ihm würde sie Trost bringen und Hilfe – er sie neben sich die Freiheit, die Rettung von all ihrer Qual und ihrem Elend finden lassen! Sie würde ihm neuen Mut und Zuversicht auf die Lenkung des menschlichen Schicksals durch den Himmel einstoßen und das schlummernde Gemüt, das er gewaltsam in sich zu ersticken gestrebt hatte, wachrufen und ihm sagen ...

Aber, unterbrach Sibylle den Gang und die Richtung dieser Gedanken, und es war, als ob zugleich ein tröstender Lichtstrahl in ihre Seele fiel – was sie Richard sagen wollte, konnte sie das jetzt nicht mit ganz gleichem Rechte sich selber sagen und vorhalten? Konnte sie sich nicht auch sagen, daß eine väterlich waltende Hand über ihr sei, welche dem Menschen nicht mehr auferlegt, als er zu tragen vermag, und welche auch sie aus der Tiefe ihres Elends, aus diesem Wirrnis führen werbe, zu Ruhe und Frieden, zu Gerechtigkeit und Klarheit? Konnte sie sich nicht sagen, daß in der reinen Unschuld ihrer Seele die Bürgschaft eines endlichen Sieges über alles, was die Menschen und die Welt ihr zufügen konnten, liegen müsse, liegen werde? Wie oft hatte sie einst Richard gegenüber solche Gedanken verteidigt! Er aber war unbekehrt von ihr in die Ferne gegangen. Sie hatte den Entschluß gefaßt, durch treues Ausharren in frommem Gottvertrauen das Ziel zu erreichen, welches er in hochmütigem Vertrauen auf die eigene Kraft erreichen wollte; und wenn sie es erreicht hatte, sollte er bekehrt werden, sollte er sich überwunden erklären durch die Tat, da ihn Worte nicht bekehrten. Strafte sie jetzt nicht sich selber Lügen durch die Mutlosigkeit und Verzweiflung; ward sie nicht an sich selber untreu?

Während Sibylle auf diese Weise sich wieder zu Fassung und Mut emporrang, war Monsieur Ermanns beschäftigt, seine Inquisitorkünste dem Hammerbesitzer gegenüber zu entwickeln; etwas weniger selbstvertrauend und selbstzufrieden, wie er es Sibyllen gegenüber gewesen war, denn er mußte sich ja gestehen, daß er bei dieser mit seinem schlauen Plane ein völliges Geständnis durch eine Art gemütlicher Ueberrumpelung zu erhalten, gescheitert war.


 << zurück weiter >>