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Zweites Kapitel

Die Rheider Burg

Zehn Minuten später schritt Sibylle Ritterhausen über einen schmalen hölzernen Steg, der über den Fluß führte, dem andern Ufer der Wupper zu. Ein schöner großer Hund, eine dunkelgelbe Dogge mit schwarzem Kreuz über den Schultern und schwarzen Füßen, trabte vor ihr her. Als sie am jenseitigen Ufer angekommen war, folgte sie eine Strecke, weit talabwärts dem Flusse; dann schlug sie einen Fußsteig ein, der zur Linken die Bergseite hinanklomm, durch das Gehölz, das die steile Wand bedeckte. Zuweilen, wenn das Gehölz sich lichtete, an Stellen, wo der Fels nackt zutage trat und auf denen nur das Farnkraut, die Erika oder die Heidelbeere fortkam, oder wo das Holz verkrüppelt sich dicht am Grunde hielt, blieb sie stehen und benutzte den freien Ausblick, der sich ihr bot, um ihr Auge sinnend über den Fluß, das Hammergehöfte und das Tal dahinter schweifen zu lassen, das in all den schönen Farben des Herbstes prangte. Die Dogge legte sich dann eine Weile ruhig zu ihren Füßen hin; und nach einer Pause erhob sie sich wieder und lief, ohne daß ihre Herrin ihr ein Zeichen gegeben, weiter, als ob sie genau die Zeit kenne, wie lange Sibylle zu solchen Rasten und Ausschauen an diesen Punkten zu verweilen pflege. In der Tat folgte Sibylle jedesmal ihrem treuen Begleiter auf dem Fuße.

Sie war auf diese Weise beinahe bis an den Rand der Höhe gekommen, welche sie erreichen wollte, als die Dogge stehen blieb, ihre Rückenhaare sträubte und dann in langen Sätzen knurrend voraussprang. Gleich darauf hörte Sibylle oben den Hund anschlagen und eilte nun, ihn durch ihren Zuruf beschwichtigend, rascher voran.

Sie kam an ein altes, gitterloses Tor, dessen zwei Steinpfeiler, von dem Gebüsch dicht umschattet und in ewiger Feuchtigkeit gehalten, ihrem völligen Ruin nicht mehr fern schienen. Der Kalk, mit dem sie beworfen gewesen, war zum größten Teile abgefallen; Moos, Flechten und Steinbrech wucherten in den entblößten Fugen. Ueber den Pfeilern von einem zum andern schwang sich ein künstlich geschmiedeter eiserner Bogen mit allerlei Arabesken, die ein ovalrundes, in der Mitte prangendes Wappen umgaben. Die Gitter, wie gesagt, waren fort; aber wer sich das alte Eisenwerk zunutze gemacht, hatte dadurch die »Rheider Burg« ihren etwa anrückenden Feinden nicht bedenklicher bloßgestellt, als sie ohnehin schon war; denn die Mauer, die sich hier oben, am Rande des Plateaus, auf welchem der alte Edelhof stand, nach rechts hinzog, war stellenweise ausgebrochen oder eingefallen und also sehr leicht zu übersteigen! an den Torpfeiler zur Linken schloß sich nur eine Wallhecke an, welche sich im dichten Gebüsch verlief.

Auf einem Haufen ausgefallener Bruchsteine zur Seite des Pfeilers rechts saß ein Mann in blauem Kittel, einen weißen Strohhut auf dem Kopfe. Sein blondes, ungekräuseltes Haar war länger gewachsen, als es Sitte unter dem Landvolk der Gegend war; der Mann hatte es hinter die Ohren zurückgestrichen, und während so die Schläfen frei wurden und ein seines blaues Geäder unter der auffallend weißen Haut zeigten, bekam das Gesicht dadurch etwas Absonderliches, das sich in hohem Grade steigerte, wenn man auf des Mannes Augen den Blick wandte. Diese waren vom hellsten blauen Wasser und dennoch glänzend, und, wie sie so in Heller Feuchtigkeit zu schwimmen schienen, demantenartig blitzend. Sonst waren die Züge die eines Bauern, die Nase breit, die Lippen schmal und blau, das Kinn sehr zurückspringend, wie es gewöhnlich bei Menschen gefunden wird, die schwachen Charakters sind, oder deren Mangel an geistiger Energie sie der fortwährenden tyrannischen Herrschaft ihrer sinnlichen Triebe preisgibt.

Neben dem Manne, an den Steinhaufen gelehnt, stand eine von einem schmutzigen Lederfutteral bedeckte Geige.

Als das junge Mädchen ihn erreicht hatte, saß die Dogge fünf Schritte weit von demselben ruhig da. Der Fremde blickte ihr fest ins Auge, und der Hund schien sich zu scheuen vor diesem Blick. Er hatte noch immer das Rückenhaar gesträubt, er stieß auch von Zeit zu Zeit einen knurrenden Ton aus – aber seine Blicke wichen den Blicken des Fremden aus, und als Sibylle herankam, barg er sich hinter seiner Herrin.

»Guten Tag, Berend,« sagte das junge Mädchen, als sie den Mann erreicht hatte, »laßt Ihr Euch einmal wieder in der Gegend sehen?«

Der Mann lüftete seinen Strohhut, ohne sich jedoch zu erheben.

»Ihr seid lange geblieben, Mamsell Ritterhausen,« versetzte er. »Ich wartete auf Euch.«

»Auf mich? Und wie wußtet Ihr, daß ich heute hierher kommen würde, Berend?«

Die wasserblauen Augen des Mannes glänzten heller auf von einem eigentümlichen Lächeln.

»Ich wußte, daß Ihr kommen würdet, nach Eurem Eigen zu schauen!«

»Nach meinem Eigen? Was versteht Ihr darunter, Berend?«

»Darunter versteh' ich die Rheider Burg; es ist kein Winkel und kein Eckchen in dem alten Hause, von dem Ihr nicht mit Euern Gedanken längst Besitz genommen hättet, Mamsell Sibylle. Aus Tür und Tor habt Ihr die drei Späne geschnitten und auf dem Herde habt Ihr Feuer angemacht, alles in Euern Gedanken, heißt das, wie eine rechte neue Herrschaft.«

Sibylle zuckte die Achseln.

»Ihr irrt Euch, Berend,« antwortete sie kaltblütig. »Es ist wahr, daß mein Vater einmal daran gedacht hat, die Rheider Burg anzukaufen. Es war dazumal, als er den Prozeß mit dem seligen Huckarde gehabt hatte und der alte Herr plötzlich ein so schreckliches Ende nahm ...«

»Ich weiß es,« sagte Berend, »er wollte sie kaufen dazumal ...«

»Er dachte daran,« fiel Sibylle ein, »damit solche Streitigkeiten zwischen Hammer und Burg nie wiederkommen könnten. Da aber die Landesherrschaft die Burg an sich nahm, ist diese jetzt in sichern und festen Händen, und was den Prozeß angeht, so ist der auch tot und kann nie wieder aufleben. Wie sollten wir noch daran denken, die Burg zu kaufen!«

»Nun,« versetzte Berend mit eigentümlich listigem Zwinkern der Augen, »daß Euer Vater dazumal sie nicht bekam, das war desto besser für ihn. Wer weiß, was die Leute gesagt hätten!«

»Und was hätten sie sagen sollen, die Leute?«

»Wir wollen die Toten und geschehene Dinge ruhen lassen, Mamsell Sibylle. Was aber kommen soll, das wird kommen. Ihr habt recht, daß Ihr's nicht jedem ersten besten in die Ohren hängt, was Ihr vorhabt. Es gehören schöne Waldungen zum Hause; unten die langen zweischürigen Wiesen sind auch was wert, und die Ackerländereien bringen ihre fünf Taler Pacht der Scheffel.«

Sibylle Ritterhausen zuckte abermals die Achseln

»Ist das alles, was Ihr mir sagen wolltet – habt Ihr deshalb auf mich gewartet, Berend?« sagte sie, sich zum Weitergehen wendend.

»Nein, Mamsell Sibylle,« antwortete der Mann mit einem pfiffigen Augenblinzeln. »Ich weiß es, daß es Euch nicht um die Pacht und nicht um die Wiesen zu tun ist, wenn Ihr Euer Auge gerichtet haltet auf die Rheider Burg wie ein Falke auf ein Wasserhuhn, das noch im dicken Schilfe steckt, aber einmal doch daraus hervorkommen wird – und dann wird der Falke bei der Hand sein! Ja, ja, Ihr sollt sie auch haben, die Burg – denkt daran, daß Spielberend es Euch gesagt hat; aber es ist eine Leiche im Haus, die muß erst hinaus.«

»Eine Leiche? Ist das nun Euer Ernst, Spielberend, oder wollt Ihr mich ängstigen mit Euern Schauergeschichten?«

»Euch ängstigen? Wie sollte ich Euch ängstigen wollen? Seid Ihr so schreckhafter Natur, daß man Euch mit Lügen angst machen könnte? Es ist auch nichts dabei, weshalb Ihr erschrecken solltet. Die Leiche, die hinausgetragen werden muß, ehe die Rheider Burg Euer Eigen wird, geht Sibylle Ritterhausen nichts an.«

»Ist es der alte Claus?« sagte da« Mädchen, das offenbar stutzig geworden war, flüsternd.

Spielberend schüttelte den Kopf, »Die alte Hauseule, der Claus? der ist es nicht. Es sind große Wappen an dem Sarge.«

Sibylle erblaßte und fuhr mit der Hand zum Herzen.

»Habt Ihr die Wappen gesehen, Berend?« fragte sie, wie in höchster Spannung.

»Ich habe sie gesehen; es waren große Wappen mit einer roten Krone darüber.«

»Mit einer roten Krone?« fragte das junge Mädchen, erleichtert aufatmend. »Rote Kronen tragen nur Fürsten.«

»Das weiß ich nicht. Ihr mögt recht haben oder nicht... Ich weiß nur, was ich gesehen habe.«

Sibylle Ritterhausen schaute den Spielmann eine Zeitlang nachdenklich an.

»Ihr seid ein schlimmer Geselle, Spielberend,« sagte sie dann. »Es ist wahr, daß Ihr...«

»Mehr könnt als Brot essen, wollt Ihr sagen, Mamsell,« fiel der Mann ein, Sibylle mit einem schlauen Seitenblick streifend, und dann wieder, wie gewöhnlich, unsteten Blickes ihr Auge vermeidend.

»Aber,« fuhr Sibylle fort, »es ist auch ebenso wahr, daß Ihr lügen könnt wie der Lügenschuster Matthias, Euer guter Freund, und darum weiß man nie, ob man Euch trauen soll oder nicht. Was Ihr jetzt sagt, lautet nun vollends so wie eine von Euern Aufschneidereien. Auf der Rheider Burg lebt niemand als der alte Hausmeister Claus, und wenn sie einst den hinaustragen, die Füße voran, so werden sie keine Wappen mit Fürstenkronen an seinen Sarg heften!«

Spielberend lächelte wieder.

»Wer weiß es! In Düsseldorf ist auch ein Mann, der ist nicht besserer Leute Kind wie der alte Claus Fettzünsler; ein Schenkwirtssohn, hab' ich mir sagen lassen. Und doch, wenn er begraben wird, so soll einer die roten und goldenen Kronen sehen, die sie an seinen Sarg machen werden!«

»Habt Ihr das etwa auch gesehen, Spielberend?«

»Nein, das habe ich nicht gesehen, Mamsell Sibylle – ich weiß nichts davon! Er hat ein gutes Leben dort, im Schlosse unserer alten Herzoge; und wenn Frau Jakobäa von Baden, die da spuken geht, ihm nicht etwa den Hals umdreht – sie muß es ja an sich selber gelernt haben, wie man's macht – dann wird er ans Sterben noch lange nicht denken!«

»Ihr seid eigentlich ein greulicher Mensch, Spielberend,« sagte das junge Mädchen, sich auf einen Baumstamm niedersetzend, der dem Mauerstück, auf welchem der Spielmann saß, gegenüberlag – »man hat kaum eine Viertelstunde mit Euch geredet und Ihr habt jedesmal schon so viel von Sterben, Leichen und Särgen vorgebracht, daß einem ganz schaurig zumute wird!«

Spielberend antwortete nicht. Er griff nach seiner Geige, riß die Hülle herab und spielte mit großer Gewandtheit ein paar Läufe darauf, ein Stück aus einer lustigen Tanzmelodie; mit einem schreienden, kreischenden, tief disharmonischen Tone hörte er plötzlich auf.

»Nun ist's fort!« sagte er dann. »Darum bin ich ein Spielmann geworden. Wer Augen hat wie ich, der muß sich danach einrichten, daß ihm das Leben ein Spaß wird, und daß, wo er geht und steht, um ihn herum fröhliche Kameraden kommen. Ja, es ist ein gutes, freisames Handwerk, ein wandernder Spielmann sein. Man weiß doch, daß man lebt. Hat nicht Kind noch Kegel. Heute hier und morgen dort. Wo man kommt, da ist Kirmes. Und die Lebsucht ist gut im Land der Berge. Gar manche lange Nacht bringt man flott herum. Habe ich die Geige am Hals und den Fiedelbogen in der Hand und um mich her das lustige Hallo – dann sitze ich fest, und ich bin stärker als die sind, die mich heraus haben wollen vor die Tür, an den Kreuzweg, auf die Heide. Mögen sie locken und rufen wie sie wollen, draußen im Mondschein – Sie bekommen mich nicht! Ich weiß es schon, was da vorgeht draußen; was daherkommt den Dorfweg entlang, mit einem schwarzen Kreuz voran und einer Reihe schwarzer Leute hinterher. Sie wollen mich heraus haben, daß ich's sehen soll. Ich meine, ich habe die Nachtmär auf der Brust liegen, von Unruhe und schwerem Atem. Aber ich tu's nicht. Ich tu's partout nicht. Ich bleibe sitzen wie angeleimt auf der Bühn' und streiche die alte Geige, daß die Gläser klirren; daß die Bauernjungen stampfen und die Dirnen kreischen vor Vergnügen; ich streiche, bis ich umfalle vor Müdigkeit in dem Staub und dem Qualm der Talgkerzen und der Hitze, und dann, dann ist's vorüber. Ja, Mamsell Sibyllchen, so ist's! Und darum: Vivat, es lebe die Geige!«

Sibylle sah mit großen Augen den Menschen an, der wie ein verkörpertes dunkles Rätsel vor ihr dasaß. So nahe es lag, seine Reden als aberwitzige Possen zu betrachten, so war sie doch weit entfernt davon, sie so aufzufassen. Dafür stand Spielberends Ruf als der eines Vorgeschichtensehers im ganzen Lande viel zu fest. Spielberend ist eine populäre Gestalt, deren Andenken noch heute beim bergischen Volke lebt. Er ist der große Prophet der bergischen Lande, von dem noch heute die Großmütter ihren Enkeln erzählen. Freilich war er nebenbei ein Spielmann, ein Dorfmusikant, ein Schnurrant. Man wußte, er erzählte mehr, als er verantworten konnte, und er beutete listig den Glauben an seine Geschichten aus. Aber auf der andern Seite stand es felsenfest, daß er in einem hohen Grade von Ausbildung die Gabe des zweiten Gesichts habe. Er sah Todesfälle, Leichenbegängnisse, Feuersbrünste, Truppenmärsche vorher, und hundert Beispiele zählte man auf, wo sich buchstäblich erfüllt hatte, was Berend vorhergesagt. Und so kam es, daß sein übriges Wesen, sein Vagabundentum, seine Lügen ihn dem Volke nur desto merkwürdiger und anziehender machten.

Sibylle fuhr mit der Hand über das Gesicht, als ob sie den unheimlichen Eindruck verwischen wolle, den all dies Gerede auf sie gemacht hatte. Dann sagte sie: »Nun hört auf mit Euern tollen Geschichten, die mich grauen machen, hier in dem einsamen Busch. Was wolltet Ihr eigentlich von mir?«

»Ich wollte Euch um etwas gebeten haben. Ich habe einen Gesellen für Euch, einen derben Burschen, der Arbeit auf Euerm Hammer nehmen will.«

»Und wer ist das?«

»Ein armer Teufel, den die Franzosen zum Soldaten gepreßt haben und der ihnen durchgegangen ist!«

»Ein Deserteur?«

Spielberend nickte.

»Den können wir nicht brauchen!«

»Wenn er in Euerm Hammer mit der langen Stange neben dem Frischfeuer steht, nackt bis auf den Gürtel und schwarz wie der König aus dem Mohrenlande – dann kennt ihn keiner mehr, und Ihr braucht, kommt Frage nach ihm, nur zu sagen, das ist der Xaver Meyer oder der Franz Müller, der schon seit Monden im Hammer arbeitet!«

»Nein,« sagte Sibylle streng und entschieden, »daraus wird nichts.«

»Aber wenn sie ihn fangen, schießen sie ihn tot; und ich glaubte, es wäre Euch ein Vergnügen, wie jedem andern guten Patrioten, ihnen einen Streich zu spielen.«

»Es geht nicht, Bebend,« sagte das junge Mädchen. »Die Hammergesellen wissen, was sie uns wert sind und tragen den Kopf hoch. Die dienen nicht zusammen mit einem hergelaufenen Menschen. Und wenn das nicht wäre, wie kann ich so viel aufs Spiel setzen, um eines fremden Deserteurs willen? Die Gesetze sind furchtbar streng dawider. Schlagt es Euch aus dem Kopfe. Wo ist er?«

»Wollt Ihr mit ihm reden? Er ist in der Nähe, – Johannes!« rief Spielberend zurückgewendet.

Sibylle folgte mit den Blicken der Richtung, nach welcher hin Berend bei diesem Rufe das Gesicht gewendet hatte, und sie sah, wie sich etwa dreißig Schritte weit von ihr, hinter der Hecke, die sich in das Gehölz verlief, ein Kopf, der mit einer blauen rotumsäumten Militärmütze bedeckt war, erhob, und wie dann eine Gestalt über diese Hecke kletterte, die rasch auf sie zugeschritten kam.

Sibylle faßte nach dem Halsband ihrer Dogge, um das aufspringende und laut anschlagende Tier zurückzuhalten. Der Fremde war unterdes herangetreten und legte die Hand an seine Mütze.

Der Mann hatte ein auffallendes Aeußere. Er war mittlerer Größe, hatte eine breite, Kraft und Gewandtheit ankündende Gestalt, und einen ungewöhnlich kleinen schmalen Kopf auf den mächtig ausgebildeten Schultern. Das graue Auge zeigte eine eigentümliche reiherartige Schärfe. Die Mütze mit dem roten Rande war das einzige Militärische an seiner Kleidung. Diese bestand aus einer schwarzen Manchesterjacke, langen Tuchbeinkleidern von derselben Farbe und einer dunkelgrünen Weste von Serge oder einem ähnlichen Wollstoff. Um den niedergeschlagenen Hemdkragen trug er ein schwarzes Seidentuch – die ganze Erscheinung war etwa die eines ehrsamen Handwerkers im Sonntagsstaat.

»Ihr seid den Franzosen fortgelaufen?« fragte Sibylle zu dem Fremden aufschauend, der mit einer für einen Unglücklichen und Hilfesuchenden auffallenden Dreistigkeit seine scharfen Augen auf das junge Mädchen heftete.

»Das bin ich.« sagte er.

»Und weshalb?«

»Es war gerade Zeit für mich!«

»Zeit für Euch? Das soll heißen, Ihr habt Euch mit etwas vergangen und nahmt vor der Strafe Reißaus.«

»Wenn Ihr mir helfen wollt, wie der Spielmann dort meint, daß Ihr tun würdet, will ich Euch die Geschichte schon erzählen,« antwortete der Deserteur, »Sonst könnt Ihr's nicht verlangen.«

»Ob ich Euch helfen will? Nun, vielleicht will ich Euch einen guten Rat geben, wenn Ihr's verdient. Um das zu wissen, muß ich Eure Geschichte kennen. Wie heißt Ihr?«

»Johannes.«

»Und dann?«

»Ich denke, ich komme für die nächsten Tage aus mit dem Namen Johannes. Lassen wir's gut sein damit. Wo ich daheim bin, das tut auch nichts zur Sache. Genug, daß Ihr wißt, ich habe da allerlei kleinen Verdruß gehabt, wo ich daheim bin. Es ist da so ein kleiner Fürst, einer von denen, die Anno 1802 ins Land gekommen sind und sich darein geteilt haben. Der Fürst oder Herzog, oder wie er sich schreiben mag, hatte einen nichtsnutzigen Neffen bei sich, der stellte den Weibsleuten nach und so auch einer, die mich näher anging. Es war nicht just meine Schwester, und auch nicht just mein Schatz, aber daß er ihr nachstellte, war mir nun einmal nicht recht, und als wir in einer schönen Nacht zufällig zusammenkamen – es war an einer Fähre, wo man über ein Wasser setzt – da gerieten wir aneinander und ich nahm ihn beim Kragen und warf ihn hinein. Nun, was hängen soll, das versäuft nicht, und es lief für ihn mit einem kalten Bade ab. Mir aber wurde die Gegend zuwider seitdem und da ich gute Freunde jenseits der Grenze im Holländischen hatte, so ging ich zu denen und ließ mich da anwerben unter die Mannschaften, die nach Batavia gehen. Ich bekam ein schönes Handgeld und in Leeuwarden, wo ich eingestellt wurde, waren die Herren Offiziere so zufrieden mit mir, daß sie mich zum Korporal machten, schon nach ein paar Monaten. Ich mußte drillen helfen, und da ich Geschick dazu hatte, hielten sie mich da, im Depot, um die neuen Angeworbenen, die von Zeit zu Zeit ankamen, einzuüben. Endlich sollte die Reise angehen. Das Schiff lag segelfertig im Texel – da kam auf einmal Konterorder. Der Kaiser Napoleon ging, den Preußen zu verruinieren, und wir Holländer mußten mit, bis hier ins Bergische hinein. Wir kamen nach Düsseldorf in Garnison; anfangs hießen wir noch Batavier und dann wurden wir umgetauft in ›Großherzoglich bergische Grenadiere‹. Nun, mir konnt's recht sein, obwohl ich nicht so gewettet hatte. Für Batavia hatte ich kapituliert, aber nicht fürs Bergische. Da sie mich aber zum Sergeanten machten und auch ein gutes Leben ist bei den Franzosen, so ließ ich mir's gefallen.«

»Ihr waret bereits Sergeant und lieft dennoch fort?« unterbrach ihn Sibylle.

»Als Sergeant –« fuhr der Fremde in demselben gelassenen, beinahe spöttelnden Tone fort. »Und das kam so. Neulich habe ich die Wache am Benrather Tor. Da lieg' ich ganz behaglich auf der Pritsche und spiele Karten mit einem guten Kameraden. Da ruft die Wache vorm Gewehr: Aux armes! und als wir nun herauslaufen, kommt mir mein Monsieur Murat, der Herr Großherzog dahergeritten, von Schloß Benrath herein, den hohen weißen Federbusch auf dem Kopfe, Gold auf allen Nähten und rote Samtstiefeln an den durchlauchtigen Beinen. Nun, den Herrn hat unsereins schon öfter zu sehen bekommen, wir nehmen also ruhig die Gewehre auf, ich kommandiere: Präsentiert, und stelle mich in die Reihe – aber ich meine, ich sehe den leibhaften Satan aus der Erde aufsteigen, als ich unter den Herren, die mit dem Großherzog sind, meinen alten Freund von dazumal erblicke, stolz und hoch zu Roß, in einer Guidenunifoim mit den Oberstenepauletten ...«

»Es war der Mann,« fragte Sibylle, »um den Ihr früher Eure Heimat verließet und Euch nach Batavia zu gehen entschlosset?«

»Derselbe, den ich ins Wasser warf. Und wie ich ihn mit großen Augen anstarre, sieht er mich wieder an, sein Gesicht verzieht sich, er wendet es rasch ab, und dann wendet er es mir wieder zu, als ob er seiner Sache gewiß werden wolle. Dabei zuckt etwas um seinen Mund, just wie's der Teufel macht, wenn er wahrnimmt, daß ihm eine arme Seele ins Garn gegangen ist. Und damit ist der Troß an uns vorüber geritten. Ich lasse die Wache die Gewehre absetzen, und da grad' ein Paar Reitknechte, die dem Herren folgen, herangeritten kommen, trete ich an den einen heran und frage ihn nach dem Obersten in der Guidenuniform. Der ist Flügeladjutant beim Herrn Großherzog, sagt der Reitknecht. Nun wußt' ich genug. Auch was ich zu tun und zu lassen hatte. Als wir am andern Tage abgelöst wurden, ging ich in mein Quartier, schnürte mein Bündel und gab's einem Jungen, mir's zur Stadt hinauszutragen. Und dann, als es dunkler Abend geworden war, da ging ich meinem Bündel nach und nun sind wir alle beide da, das Bündel dort hinter der Wallhecke und ich hier.«

»Das ist also Eure Geschichte,« sagte Sibylle nachdenklich. »Es mag so sein, wie Ihr sagt, aber es mag auch noch mancherlei dabei sein, was Ihr nicht sagt!«

»Und weshalb glaubt Ihr das?«

»Weil Ihr doch sonst wohl abgewartet hättet, ob denn der Oberst gegen Euch noch etwas Böses im Schilde führte und die Stellung, die er beim Großherzog einnimmt, dazu mißbrauchen würde.«

Johannes, der Deserteur zeigte ein bitteres Lächeln um seinen Mund mit den festen verkniffenen Lippen und sagte: »Es wäre darüber vielleicht zu spät geworden, meine werte Demoiselle, über dem Abwarten. Ich kenne meine Leute und kenne den Herrn! Nein, nein, es war besser, daß ich nicht wartete und ging. Und das habe ich getan, und in den Bergen drüben habe ich den Spielmann hier getroffen, der hat mir Hoffnung gegeben, Ihr würdet mir helfen, auf die Seite zu kommen. Zum Weiterreisen habe ich kein Geld und keine Papiere, und es wird heutzutage überall scharf aufgepaßt.«

»Der Spielmann,« antwortete Sibylle, »ist sehr kühn, daß er solche Versprechungen macht.«

»Ich habe Euch immer als eine gute bergische Patriotin gekannt, Sibylle Ritterhausen,« fiel Spielberend ein, »es ist ein Landsmann und den Franzosen dreht Ihr eine Nase damit.«

Sibylle betrachtete noch einmal den Deserteur. Es war etwas in dem Menschen, das mit Mißtrauen erfüllen konnte, seine kecke Physiognomie, sein beinahe frecher Blick. Seine bestimmte scharfe Weise sich auszudrücken, gefiel dagegen Sibyllen wieder. Sie sagte: »In unserm Hause, auf unserm Hammer können wir Euch nicht gebrauchen. Ich will auch weiter nichts mit Euch zu schaffen haben. Aber ich will Euch einen Schlupfwinkel zeigen, in welchem Ihr vor allen Nachforschungen sicher seid und bleiben könnt, bis Ihr glaubt, sicher über die Grenze kommen zu können.«

»Nun, wenn Ihr das wolltet, so ist's auch schon des Dankes wert!«

»Den Dank erwart' ich auch ... den, daß Ihr später niemand vertatet, wer ...«

»Darauf verlaßt Euch ... schweigen kann der Johannes!«

»So holt Euer Bündel und folgt mir!«

Der Mann ging, um zu tun, was das junge Mädchen ihm befohlen; Sibylle stand auf und schritt durch die alten Steinpfeiler voran, dem Edelhofe zu, dessen Mauern vor ihr durch das Gebüsch schimmerten. Der Deserteur mit seinem Bündel in der Hand hatte sie bald eingeholt; auch der Spielmann mit seiner Geige im Sack folgte ihr. Die Dogge lief voran.

So schritt die Gruppe über einen auf dem Plateau des Berges liegenden Rasenplatz, auf welchem friedlich eine an einen Pflock gebundene Ziege weidete. Vor ihnen erhob sich dieselbe Seite der Rheider Burg, welche man vom Hammer aus erblickte, die mit den zwei Ecktürmen und dem Erker. Das Gebäude sah in dieser Nähe nicht mehr so imposant aus wie es sich von unten, vom Tale her darstellte, und der große Verfall, der überall daran genagt und verwüstet hatte, wurde jetzt erst recht sichtbar. Dagegen hatte man von dem Platze vor dem Gebäude eine unvergleichliche Aussicht über die Windungen des Flusses durch das enge Bergtal und über die Höhen zu seinen beiden Seiten, die mit schönem Laubholz bestanden und durch einzelne Ansiedlungen mit Aeckern und Wiesen durchsprenkelt waren.

Sibylle wendete ihre Schritte dem viereckigen Turme zur Linken zu, an dessen Fuß eine schmale, spitzbogige Tür ins Innere führte. Die Tür war von Eichenholz, fest und schwer gezimmert, aber die Zeit hatte alle Farben heruntergewaschen und die Sonne und Dürre hatten zahllose Spalten hineingerissen. Sie führte in ein gewölbtes Souterrain, an welches sich eine ganze Reihe ähnlicher hallenartiger, aber dumpfer und feuchtkühler Räume, schloß, in denen es leer und öde aussah. Starke Gittertüren trennten sie voneinander ab, keine derselben jedoch war verschlossen und hemmte den Schritt Sibyllens, die ihre Begleiter bis in den letzten dieser Räume führte. Hier wurden zwei Treppen sichtbar, eine breite, bequem aus Steinplatten aufgebaute, die links in einen Korridor hinaufleitete, und eine andere schmale, hölzerne Wendelstiege, welche in der äußersten Ecke sich zwischen runden Turmmauern hinaufwand, den kleinern runden Turm füllend, welchen man von außen an der rechten Seite des Gebäudes wahrnahm.

Sibylle blieb hier stehen.

»Spielberend,« sagte sie, »Ihr könnt dort die Treppe hinaufgehen zum alten Claus und ihm sagen, daß ein Gast in die Rheider Burg gekommen wäre, den er verpflegen möge, um der Ehre des Hauses willen.«

»Und gegen richtige Bezahlung,« fiel der Deserteur ein. »Ich verlange nichts umsonst.«

»Das mögt Ihr mit dem Hausmeister abmachen,« versetzte Sibylle. »Also geht, Spielberend, dort links hinauf. Ich steige mit dem Manne unterdes diese Wendeltreppe empor und zeige ihm oben eine Kammer, wo er bleiben kann und sicher ist, nicht gefunden zu werden. Das ist alles, was ich für ihn tun kann. Geht voraus – Ihr, Johannes!«

Der Deserteur folgte ihrem Winke und schritt die Wendelstiege hinan, die unter seinem schweren Tritte heftig erknarrte. Sibylle folgte ihm, ihre Dogge dicht neben sich.

Spielberend blieb eine Weile stehen; dann trat er der Wendelstiege näher und versuchte leise auftretend und ungehört zu folgen. Er war ohne Zweifel neugierig zu erfahren, in welchem Versteck da oben das junge Mädchen den Fremden unterbringen wollte. Aber die alte Holztreppe war ein verräterisches Ding. Trotz aller Behutsamkeit, die Spielberend anwandte, gab sie alle möglichen Töne von sich, sie knirschte, kreischte, ächzte ... Spielberend fand für gut, von dem Versuche abzustehen, und darum ging er zurück und schritt die breite steinerne Stiege hinauf, wohin ihn Sibylle Ritterhausen gewiesen hatte.

Als der Spielmann oben war, stand er in einem mit steinernen Platten belegten Gange; zu seiner Linken führte eine ähnliche Treppe wie die, welche er emporgestiegen, zwischen zwei Mauerwänden in das höhere Stockwerk hinauf; ihm gegenüber zeigte sich die doppelflügelige große Haustür, die auf den vordern Hof hinausführte; rechts und links von derselben ließen große spitzbogige Fenster das Tageslicht ein, während ihnen gegenüber dunkelgebohnte Türen in innere Räume führten. Auf den leeren Wandflächen waren hier und dort mächtige Hirsch- und Elen- oder Damtiergeweihe angebracht. In den Fenstern zeigten sich gebrannte Scheiben mit grellfarbigen, vortrefflich erhaltenen Wappen.

Es war totenstill in dem Korridor und die Wände echoten hohl den einsamen Schritt des Spuksehers nach, als er, nach links gewandt, den Gang hinabschritt, um an der letzten Tür stehen zu bleiben, eine Weile still vor derselben zu horchen und dann leise anzuklopfen.

Ein heiseres »Herein!« antwortete ihm aus dem Innern, und als er eintrat, wurde er sehr lebhaft von zwei guten alten Freunden bewillkommnet, denen er nach kurzer Zeit einen vierten im Bunde vorstellen konnte. Denn sehr bald nachher trat, von Sibylle zurechtgewiesen, auch Johannes über die Schwelle.


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