Albert Schramm
Der innere Kreis
Albert Schramm

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In die klösterliche Stille des Tags klangen die Schläge von Äxten. Bäume wurden gefällt, Wege gebaut und Gräben gezogen. Das alte Haus mit dem langgezogenen Dach wurde ein Lager. Junge Leute kamen, Arbeiter, Studenten, die sich zu freiwilligem Dienst in Kameradschaft bekannten, tapfer und aufrecht, wie jemals die Jugend dem Zeichen und Ziel ihrer Zeit sich verschrieben.

Es ist eine Freude, sie zu betreuen. Hatte sonst mancher, allzuleicht arbeitsmüde, die Flucht in die Krankheit ergriffen und war nach der Heilung nur schwer zu bewegen, wieder den vollen Lohn durch Arbeit zu verdienen, anstatt sich träge mit den erheuchelten Groschen des Krankengelds zu begnügen, so war es hier anders. Sie wollten gesund sein, sie wollten zur Arbeit. Es waren von innen heraus saubere Leute, die der Arbeit gewachsen waren und sie liebten, obgleich der Lohn ganz gering, die Verpflegung oft mäßig und die Unterkunft schlecht war. Sie schliefen zum Teil unter den nackten Ziegeln des undichten Dachs, durch welches die Kälte und der Wind kam, und zogen sich Katarrhe und Rheuma zu. Aber dies alles vermochte den Willen zur Arbeit niemals zu stören, vielmehr mußte man darauf achten, daß sie nicht beginnende Krankheiten verschwiegen, um nicht aus der Kameradschaft des Lagers in das Krankenhaus der Stadt verbracht zu werden.

 

Es war wieder Sommer geworden. Die Sonnwend rückte heran. Die Rosen blühten am Häuschen, die Pfeiler schienen die Last nicht zu tragen, der Rosengang war wieder rot von üppiger Pracht.

Das Fest der Rosen zu feiern wars wieder Zeit.

Doch dieses Jahr wars anders als sonst. Borgun hatte Gäste besonderer Art.

Das Fest war gerichtet. Als wieder, mit sinkender Nacht, die Lichter und bunten Laternen entbrannten, ihr rotes und gelbes Leuchten über Rasen, Tische und Bänke hingossen, als das Tal schon in Ruhe versank, da klangen vom jenseitigen Hang, vom Lager her Rufe. Fackeln entzündeten sich und über geschlossenem, feurigem Zug schwangen die Lieder der Jungen. Durch die Straße im Dorf, vorüber am Kloster, und herauf auf den Berg kam das Singen. Befehle erschollen, und straff und geordnet kamen alle herein, voran der Führer des Lagers. Sie standen herum und schwatzten und lachten. Doch wurden ste still, als aus der Tiefe des Tals das Singen der Mädchen emporstieg. Sie zogen herauf und nun hallte Borgun vom Singen der Lieder, von Worten der Burschen und vom Lachen der Mädchen.

Und wer von den Freunden Borguns auf sich hielt, war heute zu Ehren der Jugend gekommen.

Das Faß mit dem selbstgekelterten Most, das im Dunkel des Schloßkellers ruhte, es war schon geleert in Kübel, in Kannen, in Gläser. Körbe mit Erdbeeren, Schalen mit Zucker harrten der Mischung mit Most, gesottene Würste, Kübel Kartoffeln, runde Laibe von Bauernbrot wurden zerschnitten.

An langen Tischen saßen die Gäste. Worte der Kameradschaft, Klänge der Zukunft und längst fast vergessene Lieder schwangen über die festlich geschmückten Tafeln. Auf deren weißem Linnen lagen die roten Rosen gehäuft. Dann ertönte drinnen der Flügel, wir spielten, es wurde getanzt.

Und die Jungen trugen vor, was sie wußten, vierstimmige Chöre, ein kurzes Landsknechtsstück mit rasch erdachter Verkleidung.

Mitternacht war lange vorüber. Die Gläser waren geleert, der Tanz war getanzt. In zuchtvoller Ordnung stieg der Zug der Gäste hinunter. Aus dem Tal klang das Singen der Burschen und das Lachen der Mädchen herauf. Die Lichter und Lampen verglühten. Der Mond warf blau die Schatten der Pfeiler über Tische und Rasen. Die Nacht wurde stumm. Das Fest war vorbei.

Borgun aber träumte und lauschte noch lange hinaus übers Tal.

 

Ingrid hatte einem Jungen das Leben geschenkt. Nun war sie krank und Peter rief mich zu ihr. Der Wagen gab her, was er konnte, und doch wuchs die Zahl auf der Weguhr viel zu langsam.

Endlich war das Ziel erreicht.

Ich fand Ingrid bleich in den Kissen. Der Hausarzt war dort. Er bat mich, sie zu untersuchen, sie habe Angst vor Embolie, an der eine Schwester gestorben sei nach der ersten Entbindung.

Sie war schwach, aber von Embolie keine Spur. Kein Fieber, keine Stauung, nichts. Sie ließ sich nicht trösten. Als ihr der Freund ihres Hauses, ein gewissenhafter Arzt, schließlich sagte: Aber Ingrid, das sind doch ganz andere Symptome, Stauungen, Schmerzen, der Leib nicht weich wie bei dir, sondern hart wie ein Brett, und dann Fieber und Brechen – da lächelte sie nur.

Bis heute noch nicht, doch ich weiß es, es kommt.

Ingrid, bat Peter, quäl uns nicht so. Hab Vertrauen, Hab Mut, denk an das Kind.

Sie lächelte mild und wollte nicht schwach sein, aber sie kämpfte mit den Tränen.

Die Geburt hat sie mitgenommen, aber es ist nichts, was uns ängstigen könnte, sagten wir Peter. Der Ausdruck der Augen aber hatte mir mißfallen und die Ahnung von Ingrid. Sonst war sie tapfer und groß, sie war keine kleinliche Frau, die verzagte, und ich wußte von solchen Ahnungen. Manchmal, wenn uns ein Kranker ernste Angst gezeigt, für die kein Grund zu finden gewesen, und wir, fast unwillig, zu trösten versuchten, manchmal behielten die Ahnungen recht. Und diese feinnervige Frau mit ihrem Empfinden?

Ich riet, damit alles getan sei, eine Größe des Fachs zu befragen. Der Mann kam und tröstete so wie wir auch. Nichts war gefunden. Alles ging gut.

Erst nach acht Tagen bekam sie den Schmerz, das Brechen, das Fieber. Der Leib wurde hart.

Still trug sie ihr Schicksal, tröstete Peter und küßte ihr Kind.

Er braucht eine Mutter, nimm eine Frau, wenn ich tot bin. Nimm Ellen, sie ist meine Freundin, liebt uns und das Kind – ich würde ihrs danken, und dir, lieber Peter.

Er lehnte sich auf, er wehrte sich hart.

Doch der Kreis war geschlossen, das Leben erfüllt, und Ingrid verschied, tapfer und still, so wie sie gelebt.

Peter rief, ich fuhr hin. In Rosen, unzähligen Rosen lag Ingrid gebettet. Die Starre war wieder gelöst, ein Lächeln, ein Leuchten lag über den Zügen.

Fernher rauschte der Wind in den Wipfeln, die Sonne lag über den blühenden Wiesen. Die Tannen träumten im Mittag.

Verloren, vorbei.

Uta war weit und Ingrid war tot, und Peter allein.

Ich fuhr nach Haus durch die Nacht. Da war Sventha, da schliefen die Kinder.

 

Es war ein Kampf zwischen Leben und Tod. Matt lag das Kind in den Kissen. Die schwere doppelseitige Lungenentzündung war fast behoben gewesen, das Herzchen hatte durchgehalten. Nun war der Rückschlag gekommen. Das Körperchen glühte im Fieber und die Krankheit griff, trotz aller Gegenwehr, auf das Rippenfell über. Die Entzündung war feucht und begann eitrig zu werden. Wickel und Waschung, Wärme und Feuchte, Mittel für Herz und Fieber und Lunge – alles umsonst.

Blond lag das Haar um das Köpfchen der vierjährigen Kleinen.

Wenn sie die Lider aufschlug, glänzte das Blau ihrer Augen. Sorge um Sorge, Tag um Tag, Nacht über Nacht. Wir stachen die Nadel zwischen die Rippen, ließen den Eiter heraus. Aber das Fieber wollte nicht sinken. Seit Tagen aß sie nicht und des Fiebers Durst war nicht mehr zu stillen.

Es war die neunte Nacht. Ich saß, droben im Dorf, am Bettchen der Kleinen. Die Lunge war voll, das Herzchen war schlecht.

Meine Freunde hatte ich gebeten, an die Kleine zu denken, helfend und bittend, mit guten Gedanken. Und nun kam die Entscheidung, die Krisis.

Mir war, als ginge der Kampf ums ganze gemeinsame Leben, und stürbe dies Kind, so versänken wir alle.

Nur vorsichtig, und nur wenig Arznei durfte ich der Kleinen einspritzen, vorsichtig bekam sie mit jedem Schluck Wasser ein Tröpfchen des Mittels. Aber der Puls wurde flackernd und die Atmung erschwerter. Es schien keine Rettung zu geben.

Ich hätte gehen können, zu Hause warteten Freunde, hier hatte ich das meine getan, Arznei war gegeben, die Pflege war Sache der Mutter. Doch ich blieb, ich weiß nicht, warum. Vielleicht dachte ich doch an Kräfte, die man dem kranken Kind zu bringen vermöchte, war man nur da saß man nur bei ihm.

Warum, dachte ich so, sind es fast immer die Nächte, diese furchtbaren Nächte der Not und des Sterbens?

Da sah ich über dem Bettlein ein gerahmtes Kärtchen hängen. Es war der Konfirmationsspruch der Mutter. 1909 war die Jahreszahl. Mechanisch rechne ich nach, wieviel Jahre sind das nun schon – und damals hat sie nicht wissen können, daß sie heute die Kleine verlieren wird.

Ich lese den schönen Druck:

»Ich aber sage Euch, so Ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, so wird er's Euch geben.«

Und der Name des Pfarrers stand in klarer Schrift darunter geschrieben.

Die Lampe brennt trübe. Ich halte mechanisch und müde die Hand des Kindes, fühle gewohnheitsmäßig den flackernden Puls.

Da rufe ich die Mutter, die auf und ab geht wie ein gefangenes Tier. Sie kommt, bleibt stehen. Ich weise auf den Spruch. Sie nickt. Ich sehe sie an.

Ich habe so oft gebetet, die Hände gerungen. Ich weiß, sie muß sterben, sagt sie mit tonloser Stimme.

Nein, sage ich, und ich verwundere mich, daß ich es sage, nein! – Sie wird leben! – Jetzt darf sie noch keiner verlassen. Wie heißt denn der Spruch auf dem Blatt, frage ich sie leise. Mir war, man müßte ihn sagen, sprechen, nicht lesen, mir war, als wäre das Leben und Sterben des Kindes in den Willen der Mutter gegeben. Sie galt es zu halten, und damit das Kind. Sie hat es geboren, sie kann es erhalten mit den heimlichen Kräften des Herzens. Eine Mutter kann viel.

Da faltet die Frau die verschafften Hände, da fällt in die Stille, in das Tropfen der Minuten hinein, in den trüben Schein der Lampe das Beten der Mutter. Im Namen deines Sohnes, Herr hilf, Herr hilf meinem Kind.

Nichts ändert sich. Der Puls bleibt schlecht und der Atem bleibt röchelnd und schwer.

Mir aber ist, es ist alles getan, was wir konnten. Nun müssen die Kräfte der Heimlichkeit wirken – und die Stimmen der Stille, die wir nicht hören, müssen ihm rufen. Da röchelt die Kleine auf, das Körperchen wird starr, ich neige mich darüber – der Vater stürzt von seinem Stuhl in der Ecke, auf dem er die ganze Nacht schweigend, die Hände gefaltet, gesessen, heran und die Mutter flüstert: Herr Jesus – sie stirbt.

Die Kleine dreht sich zur Seite, wimmert im Schlaf vor sich hin – ihr süßes Stimmchen hebt sich auf wie ein gefangenes Vögelchen, das um Freiheit bettelt – klingt in die Starre der Herzen: Mutterle, trinken – Durst!

Ich hebe das Köpfchen an – es ist kühler – die Mutter gibt ihr zu trinken – sie wischt mit dem Zünglein die Lippen, sinkt müde zurück.

Das Schlagen des Herzleins ist besser, der Atem wird tiefer, sie lebt.

 

Der Sommer verging und ein anderer kam, ein neuer, uns froh zu umfangen. Es grünte der Wald und es träumte das Tal und der Bussard flog und die Wolken. Wir lernten das Feld unseres Kreises zu füllen, das Feld unserer Pflicht, unseres Lebens.

Wir lernten, ohne Eile die vorgeschriebene Bahn unseres Schicksals zu gehen, nicht fatalistisch, sondern voll Gläubigkeit auf eine höhere Ordnung, der wir uns anvertrauen dürfen, von der wir aber auch wissen, daß wir mit Hast und Gehetze die Reife der Zeit nicht zu erjagen vermögen. Warten lernten wir wie der Baum wartet, vom Frühjahr bis im hohen Herbst die Früchte reifen. Denn niemals wird einer mit Unrast gewinnen, was keiner mit Ruhe erreicht. Und die Jahre begannen zu reifen. Nun waren wir fünf, und wir hielten zusammen, zusammen im Inneren Kreis. Doch er schloß uns nicht ab, er war uns wie Weite, die wissend verbindet. Wir sahen die Zeit und wir fügten uns ein, einen Stein, in die Mauer des Volkes.

Wir fanden Freunde und pflegten die Kunst, und das Leben begann von innen zu leuchten.

Oft schien es mir schwer, ein Leben zu führen zwischen zwei Welten. Hier die harte Gewohnheit der Pflicht eines helfenden, kämpfenden Arztes, dort der Wille, die Zeit zu besiegen und still den Dingen zu dienen, die über uns sind wie ein Licht und ein Hauch, die wir mit Händen und Sinnen nicht greifen, die aber da sind wie die Wolken am Himmel und das Wasser im Grund.

Eins aber sollte das andere ergänzen, erfüllen das eine die Leere des andern, um so zum Segen zu gestalten, um fertig in Formen zu gießen, was uns an glühender Masse gegeben.

So flossen die Tage dahin, gerecht im Wechsel von Dunkel und Hell. Wir begannen die Stunden der Stille zu lieben und lernten die Last unserer Leiden zu tragen, fröhlich von innen heraus, und die guten und dunkeln Dinge begreifen.

 

Bei einer Rose sah ich es einmal. Die Knospe des Tages zuvor entfaltete im Licht des Morgens die zartgegliederten Blätter der Blüte. Es war eine Dawn von zartestem Rosa. Eine Perle vom Tau der Nacht hing daran. Die Sonne kam herauf, trank den Tau, und die Blüte tat sich auf wie ein Wunder. Drei Tage danach faßte der Westwind den Zweig und warf die Blätter der Rose zu Boden, jagte sie hin übers Gras, trug sie fort in die Weite.

Uns war der Sommer des Lebens erblüht, die Blätter entfaltet. Wann käme der Wind, uns zu jagen?

 


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