Albert Schramm
Der innere Kreis
Albert Schramm

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Durch die Hörsäle, über den Präparierboden ging das Flüstern, leise Befehle, von einem zum andern weitergesprochen. Treffen auf den Häusern, Schweigepflicht. Mann für Mann legten die Studenten auf den Ruf ihrer Führer, die sich untereinander in heimlicher Beratung besprochen hatten, die Bücher, die Instrumente, die Reagenzröhren aus der Hand, stiegen erwartungsvoll auf ihre Häuser. Die Heimat war in Gefahr, vom Aufruhr mit bewaffneter Hand genommen zu werden.

Mann für Mann waren die Studenten bereit, traten wiederum an in Reih und Glied, wählten ihre Führer, denen sie sich weder mit Handschlag noch mit Wort zu verpflichten brauchten, nicht einmal eine Form oder Geste war nötig: Gehorsam war Ehrensache, Disziplin in den Bünden war selbstverständlich.

Dann wurden wir eingekleidet, alle in den grauen Rock des einfachen Manns, gleich, ob einer im Krieg Unteroffizier, Mann oder Offizier gewesen. Abzeichen gab es nicht. Aber einer wie der andere war bereit für die Sache des Vaterlandes.

Als erste disziplinierte Truppe nach dem Kriege, in Uniform und Helm, die geladenen Gewehre geschultert, zogen die Bataillone der Studenten in die Hauptstadt ein, lagerten in Kasernen, säuberten die Straßen vom Aufruhr, schafften Ordnung.

Aber drüben, im Ruhrgebiet, flammte der Aufstand auf. Wir waren bereit, wir, die wir den Krieg gegen den äußeren Feind überdauert, jetzt das Leben erneut, hier im eigenen Land, gegen die Banden des Aufruhrs in die Schanze zu schlagen.

Wieder trugen uns die klopfenden Räder der Bahn nach Westen. Wieder saß ich auf offenem Güterwagen, wieder umklangen mich die Lieder der Kameraden. Wie lang war das her, daß wir so zum großen Sturm gefahren, damals im Westen?

In das erste Blühen des Landes hinein fuhren wir. Wir kamen in Soest an. Als ob ich früher schon einmal hier gewesen wäre – und ich war es nicht –, kannte ich den Bahnhof, die Straße, die alte Kirche mit den moosgrünen steinernen Kapitellen, die Schule, in der wir lagerten. Als wir in Privatquartiere kamen, wußte ich, ehe ich sie gesehen hatte, die Biegung der schmalen Straße am Wall, und dort war das Haus, in dem wir wohnen würden – alles war wie vorherbestimmt, und alles war schon vorher in meinem Bewußtsein. Und als nun die Tür aufging und neben den beiden Alten zwei junge Mädchen von lichter Schönheit uns erwarteten, da brauchte ich nur noch die Hand der einen zu nehmen, um zu spüren, daß wir uns seit Zeiten kannten, daß uns ein Gemeinsames verband, daß wir hier füreinander bestimmt waren, daß unser beider Weg sich hier berühren mußte.

Auf den Turm der Kirche stiegen wir. Unter uns dehnte sich in früher Blüte das Soestener Land. Sonne lag auf der blühenden Ebene, blaue Wolkenschatten zogen darüber hin.

Wir berührten kaum unsere Hände, unsere Augen trafen sich und wichen auseinander, denn diese Begegnung, dieses Seit-Zeiten-Voneinanderwissen war zu schön, als daß wir es auch nur mit einem Blick zu gestehen gewagt hätten.

Wir holperten wie Kinder die ungezählten Stufen des Turms hinunter, gingen nebeneinander, als gehörten wir seit langem und für immer zusammen, durch die Straßen des Städtchens, zwischen den blühenden Gärten hindurch.

Am andern Morgen, wir litten die Schwere des Abschieds voraus, brachte mir Margot eine Maréchal Niel, die sie mir an die Brust steckte, und erst als sich unsere Hände schon auseinanderlösen wollten, zog ich sie an mich und küßte sie. Mit traurigem Lächeln gab sie mir den Kuß zurück und winkte mir nach.

Wir fuhren wieder, kamen zur eingesetzten Truppe, halfen Ordnung schaffen im Westen des Reichs, den die Rote Armee besetzt und geplündert hatte.

Vom Garten einer Abtei aus, in den die Töne der Orgel klangen, und in dem wir lagerten und ruhten, schrieb ich ihr, grüßte sie noch einmal und legte ihr ein kleines Gedicht ein. Zwei Strophen nur, die uns aber, wie mir schien, verbinden würden in Gedanken und Freude an dem, das wie ein Maienmorgen über unserer Gemeinsamkeit lag.

Dann waren wir in Unna. Mit einem Kameraden hatte ich die Morgenwache. Von überall her klangen die Glocken des befreiten, befriedeten Landes. Die geladenen Gewehre am Riemen über die Schulter gehängt, gingen wir schweigend auf und ab. Schillernd kam der Tag herauf, alle Blütenzweige begannen im ersten Morgenlicht zu erglänzen: Ostern.

Es war Ostern!

Wir drängten den geschlagenen Feind zusammen, der samt seinen Waffen in den Schächten der Bergwerke verschwand. Dortmund lag hinter uns. Hart hinter dem weichenden Gegner her besetzten wir einen Hof. Vieh war dem Bauern von den Aufrührern weggetrieben, geschlachtet, Hausgut geplündert, er selbst und die Seinen bedrängt worden. Er sah in uns seine Befreier, und wir hüteten uns, ihm mit unserer Einquartierung eine neue Last zu werden.

Wir hielten hier manchen Tag. Er war uns ein besorgter und freigebiger Wirt, Bezahlung wies er zurück, ein stolzer westfälischer Bauer. Seinen Hof umsäumten alte Eichen, weite Felder waren sein Eigen, sein Sohn und seine drei Töchter waren aufrechte Leute.

Die Äcker wollten bestellt sein, aber die Arbeiter waren geflohen, die Weiber mit ihnen. Da zogen die Jungen zusammen mit der Maschine hinaus, mühten sich ab, die Arbeit allein zu tun, während der Alte, der mit müden Gelenken nicht mehr hinaus konnte, voll Sorge am Ofen hockte, wie sie die Kartoffeln in den Boden brächten.

Wir Musketiere besprachen uns, nahmen unsere Gewehre und marschierten, Posten im Hause lassend, zu einer Übung hinaus.

Auf den großen Feldern sahen wir den Sohn des Bauern die Maschine fahren, die drei Töchter hinterher die Knollen stecken. Vier Leute und die weite Flucht der Felder.

Wir schwenkten ein, setzten die Gewehre zu blitzenden Pyramiden zusammen und nahmen mit der heimlichen Freude des unerwarteten Helfers die Körbe, schwärmten aus und warfen und traten die Saatkartoffeln in die von der Maschine gezogenen Furchen, Mann neben Mann, der ganze Zug. Das gab ein Stück, da ging die Arbeit vorwärts, die Pferde vor der Maschine mußten laufen, um uns Furchen zu schaffen. Und als der Abend kam, war alles bestellt.

Mit dem Hochgefühl im Herzen, eine gute Arbeit getan zu haben, die Segen in sich tragen und gedeihen würde, zogen wir singend zum Hof zurück, sehr glücklich, daß uns das Schicksal heute zu Schönerem bestimmt hatte als zum Kampf gegen die Brüder des eigenen Volkes.

Ruhe war wieder im Land. Wir schieden, marschierten zurück.

Noch einmal nahm uns einer der großen Höfe auf. Am andern Morgen, es war wieder Sonntag, rief mich einer der Freunde hinaus. Alle taten heimlich und lachten mir zu. Als ich vor den Hof kam, stand in der Morgensonne: Margot! Die Sonne spielte in ihrem Haar. Margot – es war unfaßlich, – wie kam sie von Soest hierher?

Sie ward verlegen vor meinem Erstaunen und zeigte mir ein Telegramm, das mit meinem Namen unterzeichnet war. Wie schön, daß ich sie gerufen hätte.

Da kam einer vorbei, lachte, und nun wußte ich, daß es die Freunde getan. Es war Rasttag heute. Wir konnten ein Stück Wegs zusammen gehen.

Wir freuten uns, draußen lockte blau die Weite, ich hing die Mütze ans Koppel, und dann wanderten wir hinaus in das Blühen des Sonntags hinein.

Oben auf dem Höhenzug lagerten wir unter Zweigen, die blütenschwer vor dem Mittagsblau des Himmels schwangen. Wir hörten die Tiere, das Zirpen der Grillen, das Mittagsläuten weit umher im Land, wir hörten die Stille der Stunde, die zu klingen begann.

Sonne troff aus den silbernen Zweigen, floß über uns hin. Wir schwiegen.

Am späten Nachmittag kamen wir zum Hof zurück, gerade als mein Zug aus dem Tor marschierte. Es war Alarm. Jeder der Freunde hatte ein Teil meiner Ausrüstung umhängen: der eine den Helm, der andere den Tornister, ein dritter das Gewehr, der nächste die Granaten.

Margot gab mir beide Hände. Ich zog sie an mich. Einen Augenblick lag ganz leicht ihr Kopf an meiner Schulter, dann riß ich mich los, hing meine Sachen um, und trat an die Spitze des Zugs.

Noch stand sie dort oben, dunkel gegen den hellen Himmel, winkte mir nach.

Bewaffnet, durch seine Disziplin eine Macht im Chaos der neuen Zeit, rückte das Bataillon der Studenten wieder ein in unser Städtchen.

Wieder nahmen wir die Arbeit unseres Berufs auf, lebten uns ein in die Tage des Friedens, aber kaum waren die am Gewehr gehärteten Hände die feinere Arbeit des Präparierens, das Auge das Schauen, statt über Kimme und Korn in die Wunder des Mikroskops, wieder gewöhnt, rief uns erneut der Ruf der Not zu den Waffen. Schließlich aber schien Ruhe im Land. Wenn wir auch viele Nächte noch unterwegs waren, manchmal im Streit mit den Gegnern, oft auf der Flucht vor Behörden, manchmal einen flüchtenden Freund in die Tiefen des Schönbuchs geleitend.

Teuerung kam ins Land, der Hunger ging wieder um. Die Geldentwertung machte Entschlüsse schwer, aber München, wo die Meister der Medizin lehrten, lockte, München, die Stadt des Geistes und der Kunst.

Und wieder saßen wir, Kameraden, die den Krieg hinter sich hatten, zusammen im Zug, der sich um Mitternacht in Bewegung setzte und uns in zwölfstündiger Bummelfahrt, denn die Schnellzugskarte war schon unerschwinglich geworden, zu unserem Ziel führte. Die Gespräche der ein- und aussteigenden Bauern über Wetter, Feld und Vieh wechselten vom gutmütigen Schwäbisch über das härtere Oberländisch ins Bayrische hinüber, und schließlich, müde der langen Fahrt, aber erwartungswach in allen Nerven und Sinnen, betraten wir den in der Herbstsonne leuchtenden Platz vor dem Bahnhof.

Andere Luft war hier als zu Hause bei uns. Woran es lag, wußte ich nicht, aber es war anders. Nicht nur die Fremde umfing uns, das Neue; ein Geheimnis war noch dahinter, das sich nicht einfach erfassen und mit Worten sagen ließ: das Fließende, immer und überall Bewegliche, der Atem einer Stadt, in der Große gelebt und gewirkt, wo die Schaffenden und Bedeutenden die Luft atmeten, die uns umgab, die Sonne genossen, die uns beschien.

Durch breite Straßen ging es und dann hinüber zum Englischen Garten, über den der Herbst alle Pracht seiner Farben gegossen. Und hier, bei der alten Hofgärtnerei, hier war das Haus, das mich beherbergen sollte. Über schmale Stiegen ging es hinauf; als aber die Wirtin mit freundlichen Worten, in breiter einheimischer Mundart gesprochen, die Tür des großen Zimmers auftat, war ich überrascht von der Sicht, die sich mir durch zwei breite Fenster bot. Hohe Bäume, über denen die Nachmittagssonne lag, flammten in Purpur und Gold, Bäume, die mit schönen Konturen vor der bläßlichen Bläue des Herbsthimmels standen, aus dem ein letztes Geschmetter und Geflimmer zu mir herüberkam. Und wie aus einer fernen Weite drang das Pochen und Klingen, der Atem der Stadt herein.

Veränderung, Neues. Aber ich spürte es gleich: ich war zu Hause, ich würde hier niemals fremd sein, mein Leben hatte hier einen Boden, aus dem etwas Größeres, etwas Ungewöhnliches für mich erwachsen würde. In dieser ersten Stunde spürte ich es: hier würde sich ein Teil meines Schicksals erfüllen. Ich fühlte das Neue, aber es war mir nicht fremd, ich hörte das Brausen der Stadt über die Ruhe des Parks her, aber es schien mir vertraut, die Luft dieser Stadt war mir gut.

Wie viele Meister der Malerei, die ich nur von Nachbildungen kannte, waren hier gegenwärtig! Hier war die Leinwand, die ihre Hände berührt, auf der ihre Blicke erstmals entstehen sahen, was ihr Herz und Hirn sich erdacht, hier, in ihren Werken, waren sie selbst.

Die alten Meister, hier lebten sie und sprachen und ergriffen, und die Jungen, hier wirkten und kämpften sie um Klarheit und Größe des eigenen Schaffens.

Und dann, die Pracht der breiten Straßen, der Brunnen, der Gebäude! Wie floß das Leben hier!

Und die Kliniken mit all den Großen unserer Sache, der wir dienten. Friedrich von Müller, Romberg, Döderlein, Sauerbruch, Zumbusch – viele Hundert waren wir, die ihrer Vorlesung lauschten, acht Semester der Kriegszeit, die sich hier drängten, Vorkriegssemester, die mühevoll fortsetzten, woran der Ausbruch des Kriegs sie damals gestört, und die, während sie das Tagwerk des Kriegers wieder vergaßen, mit Eifer eindrangen in die Geheimnisse der Krankheit, um einmal den Kampf aufnehmen zu können gegen die unsichtbaren Feinde der Völker, der Menschheit. Der Winter kam, und ein Leben begann, dessen Reichtum ich niemals gekannt: Theater, Konzerte, Vorträge; mehr, viel mehr an jedem Abend, der den Tag nach der schönen Arbeit in den Hörsälen beendete, als ich zu fassen vermochte, und als in der Teuerung die flache Börse des Studenten erschwingen konnte.

Damals kam die Morena von Spanien zurück, Wagners Isolde war das erste, mit dem sie ihre Freunde wieder beglückte. Schon morgens um vier stand ich mit an, um eine Studentenkarte zu bekommen. Denn die Morena wollte ich hören. Aber, als ich zwei Stunden gewartet und gefroren hatte, da waren die billigen Karten vergeben. Was nun? Wie viele Mittagessen ich dafür opferte, ist es nötig, sich daran zu erinnern? Ich erstand mir eine der letzten teuren Karten. Der Morena zu Ehren mußte mir die Wirtin den bunten Schlips mit einem Stück alter schwarzer Seide umnähen, damit er zum schwarzen Anzug paßte, und festlich angetan, im Besitz der guten Karte, wartete ich auf das Spiel des Abends, das mir den Atem benahm vor Erregung und Freude. Es nahm mich mit hinüber in die Sphäre dieser großen Liebe. Die Akkorde rauschten auf, führten mich heraus aus meinem Leben. Die Morena sang. Und dann, im letzten Akt, als das Heimatmotiv aufklingt auf der Burg, welch unerträgliche Wonne!

Wie reich war das Leben!

Tief ergriffen von so viel Schönheit ging ich nach Hause, den schwarzen schweigsamen Park entlang.

 

Im Kolleg Friedrich von Müllers war es, im kleinen, ehrwürdigen Hörsaal der Inneren Klinik, daß ich die beiden erstmals erblickte, ihre ruhige Freundin, die sie zu betreuen schien, und sie, sie selbst – Christa.

Vor mir lag ein Heft, unten sprach der Lehrer. Aber meine Aufmerksamkeit war gestört, ich spürte Ungewohntes, Neues, das mich heimlich zu sich zog, leise mich rief. Ich hob den Blick und wandte mich um, da sah ich in tiefblaue Augen, die unter hochgewölbter Stirn lagen und auf mich gerichtet waren. Oder doch nicht auf mich? Ich ließ meinen Blick in dem ihren ruhen, der mich aber nicht zu erfassen schien, vielmehr durch mich hindurchdrang und in eine mir unsichtbare Weite ging, als sähe er Dinge der Zukunft, Dinge, die jenseits unseres Wissens und Erkennens liegen, ihm aber erkenntlich und faßbar wären.

Plötzlich ward der Blick anders, gesammelter, umfaßte mich, lag in meinen Augen einen Herzschlag lang und senkte sich. Feines Rot überlief das Antlitz der Frau. Schlanke Hände faßten mit seiner Bewegung den Stift. Sie schrieb, sah hinunter zum Lehrer, vermied es, meinem Blick noch einmal die Augen zu öffnen.

Vergeblich wartete ich am andern Morgen, ungeduldig, auf den Aufschlag ihrer Lider, auf das Geschenk ihres Blicks, weit entfernt, eine Billigung, ein Einverständnis oder gar eine Zuneigung zu erwarten. Mit einem Blick, der wieder über mich weg, durch mich hindurchgegangen wäre, wäre ich glücklich gewesen für den ganzen Tag. Aber, mochte sie mein Warten spüren oder nicht, er ward mir nicht geschenkt. Nichts blieb mir, als mich auf jede Stunde neu, hoffend, zu freuen, an sie mit allen guten Gedanken zu denken, alles, was gut in mir schien, im Geist ihr darzubringen, als Pfand und Opfer dieser heimlichen, ungesprochenen Liebe.

Festlich geschmückt war der nüchterne Raum, wenn sie ihn betrat, verloren aber und seines Wertes beraubt schien mir der Tag, an dem sie gefehlt, an dem ein anderer. Unbekannter den Platz einnahm, auf dem sie zu sitzen pflegte. Alle ihre Bewegungen, die von vornehmer Anmut waren, lernte ich kennen, mein Sinn prägte sie sich ein, täuschte sie mir vor, abends, zwischen letztem Wachsein und wirklichem Traum. Das Oval ihres schönen Gesichts konnte ich im Geiste nachzeichnen, die hohe Stirn, den Ansatz der lichten Haare, und nur mit einem Gefühl dunklen Glücks konnte ich an ihre Augen denken, die nicht allein durch die Tiefe ihres Blaus erschütterten, sondern auch durch jene Weite des Blicks, die mir überirdisch schien und voll vom Wissen jenseitiger Dinge, dieser Augen, die von Leben und Tod mehr wußten, von Glück und Entsagung, als dieser schmale, feingeschwungene Mund jemals verraten würde. Beim Schluß der Vorlesung wartete ich, zu sehen, wie sie sich ruhig erhob, dann lief ich eilends hinunter, um zu genießen, wie sie die Treppen herabschritt, nicht mit dem eiligen Gang einer kleinen Studentin, sondern mit der Würde einer Fürstin und mit hohem Adel der Bewegung. Und ich sah die Schönheit dieser Augen, die ihr ganzes Wesen noch einmal verdichtet widerspiegelten.

Bald wußte ich den Weg, den sie ging, hinüber zu dem großen Haus, doch wagte ich nur, ihr mit heimlichen Blicken zu folgen, wie denn diese Liebe, die mich nun völlig erfüllte, viel mehr der Verehrung eines Göttlichen entsprach als dem Aufruhr der Sinne. Und sie, die Höhere, über mir Stehende, jemals zu erreichen, jemals ihre Freundschaft oder gar Liebe zu gewinnen, war, wie ich wohl wußte, nicht im Kreis meiner Möglichkeiten gelegen. Ich war vor ihr nur ein kleiner Student, sie war die Schönheit und Erhabenheit, der ich mich im stillen weihen, der ich heimlich dienen durfte mit all meinen Gedanken und all meinem Sinn. In ihr war mir das Große verkörpert, das über mir stand.

 

Einmal war wieder Konzert. Die Philippi sang. Der Zauber ihrer Altstimme füllte den Raum, und mehr, die Herzen der Hörer. Tiefen taten sich auf, Quellen sprangen, Schmerz und Lust strömten aus mit der Macht ihrer Töne. An die Geliebte dachte ich, sah unsere Wege, die sich einmal, vielleicht bald, vielleicht sehr viel später erst, wenn unsre Zeit und Stunde würde reif geworden sein, berühren würden, sah die große Gemeinsamkeit, die unser wartete, und hier, beim Klang dieser göttlichen Stimme wußte ich es: zum zweitenmal in meinem Leben war eine Frau gekommen, die mir Schicksal wurde, die vielleicht einmal würde die Erfüllung sein können, das große Ja im Gebet meines Daseins, und um die doch ein Geheimnis wob, das ich nicht, noch nicht, zu ergründen vermochte.

Tage vergingen, Wochen, aber ich wagte nicht, mich ihr zu nähern. Sie war mir zu hoch, als daß ich es gewollt oder gedurft hätte. Ihr zu schreiben, deren Namen ich kaum kannte unter den vielen, wäre falsch gewesen. Nein, ich mußte warten, bis vieles andere und ich selbst gereift wäre im Lauf meiner Tage, warten, bis sich von selbst erfüllte, was uns bestimmt, bestimmt von einem Schicksal, dem wir vertrauten, dem wir den Glauben gaben an unsere Zukunft.

 

Ob sie spürte, daß da einer war, der sie liebte? Der nicht fordernd kam oder verlangend, sondern zu warten wußte, der geben wollte, der nur um das große Geschenk bat, an sie denken zu dürfen? Ob sie nicht nur um mich wußte, meine Liebe spürte, ob sie selbst einmal an mich dachte? Abends vielleicht einmal, wenn die sinkende Dämmerung alten Kummer aufstehen ließ in der Stunde des Alleinseins, der Einsamkeit? Oder morgens einmal, beim Erwachen, ob sie mir einmal einen Gedanken schenkte, ob einmal dabei das Blau ihrer Augen tiefer, noch leuchtender würde?

Ich wußte es nicht, aber ich dachte mit all meiner Sehnsucht an sie, als wir nun, zwei Freunde und ich, allmählich zum Paß hochstiegen, der düster und drohend über uns lag.

Hinter uns, unten, lag der Hochwald, die Äste der Tannen von der Last des Schnees tief heruntergedrückt.

Kein Laut war weit und breit außer dem Knirschen der Skier im Schnee.

Wir erreichten mit fahl versinkender Sonne den Paß, fuhren drüben hinunter in freier Fahrt. Wir kehrten kurz ein. Aber wir durften nicht bleiben. Über uns, in den Hängen der Berge, lag unsere Hütte.

Die Dämmerung sank tiefer, Wind kam auf, nasser Schnee stiebte uns entgegen.

Wir wagten den Aufstieg, stiegen und stiegen.

Der Wind wurde härter, der Schnee drang durch die Kleider, die Finger an den Stöcken wurden klamm, die Füße müde.

Es war tief in der Nacht. Kein Stern, kein Licht. Das Schneegestöber ließ nach, es wurde kalt, es fror. Wir hatten keine Spur mehr, keine Ahnung, wo wir waren.

Vor uns klaffte ein Absturz, über uns hob sich eine Felskrone in die Nacht hinauf. Wir mußten zurück. Wir hatten uns verirrt.

Wieder waren Stunden vergangen. Längst müßten wir da sein, die Hütte gefunden haben, aber die Nacht war undurchdringlich, die Hütte fern.

Wir hielten, setzten uns einen Augenblick auf die Rucksäcke, um uns zu besprechen.

Neulich, sagte der eine, sind auch ein paar Studenten erfroren, weil sie die Hütte nicht fanden.

Ja, gab der andere zurück, wir dürfen nicht warten; wenn wir einschlafen, erfrieren wir.

Ja, sagt der erste noch, ganz müde, dann sinkt sein Kopf vornüber und schon verraten tiefe Atemzüge, daß er vor vollkommener Erschöpfung eingeschlafen ist.

Komm, wir müssen ihn wecken, wir müssen weiter, und wenn wir die ganze Nacht im Kreis herumlaufen, aber wir dürfen nicht einschlafen. Einschlafen heißt Erfrieren, heißt Sterben.

Ja – ja, sagt nochmals der zweite, legt sich zur Seite und sinkt in sich zusammen.

Grauen steigt in mir auf. Wir sind alle drei verloren. Ach, und wie verlockend ist es doch, auch nur einen Augenblick, einen ganz kleinen Augenblick die Lider zu schließen, die so schwer sind. Nur eine kleine Weile, dann will ich wieder weiter, aber jetzt nur einmal die Augen schließen, einmal ruhen.

Schön – schön ist es, so müde zu sein – – morgen werden sie uns finden – schlafend – schön schlafend – für immer – Ich träume: durch die Nacht kommt eine Gestalt auf mich zu – ich erkenne ihr Gesicht nicht – sie trägt eine Laterne in der Hand, winkt mir, kommt auf mich zu, sie schwebt mehr als sie geht, ihr Schritt versinkt nicht in der Tiefe des Schnees, ihre Augen sind auf einmal über mir, dicht vor meinem Gesicht. Das Licht der Laterne spielt darin, sie sind von unergründlichem Blau. – Komm, sagt sie, komm, – nicht schlafen – wachen, stark sein – komm folge mir.

Träume ich denn? Sie lächelt, wendet sich. Ich erhebe mich, die Glieder schmerzen vor Frost, die Gelenke sind steif, aber sie ruft mich.

Ich sehe die halb im Schnee versunkenen Gestalten der Freunde, rufe ihnen, stoße sie. Aber sie geben kein Lebenszeichen mehr.

Christa winkt mir – ich folge ihrer Gestalt, die der Lichtschein der Laterne im Schreiten umspielt.

Immer wieder, wenn ich müde zusammenbrechen will, wenn mich die Lust, in den weichen Schnee zu sinken, fast übermannt, hält sie, sieht mich an aus der Tiefe ihrer Augen, ruft mich mit leise klingender Stimme. Und immer folge ich ihr. An Gründen, an schwarzen Felsen vorbei, über die Einöde weiter Flächen, die geisterhaft aufleuchten im fahlen Scheine der Nacht.

Der Geruch beizenden Rauchs schlägt mir in die Nase: die Hütte, die Rettung.

 


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