Albert Schramm
Der innere Kreis
Albert Schramm

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Die Zeit, in der das Unbewußte noch wie dunkle Wolkenschatten über dem Land der Kindheit liegt, und auch jene, in der die Wolkenschatten erstmals zerreißen und unser Leben wie ein in Sonne gebreitetes Land vor dem rückschauenden Blick der Erinnerung und erster Erkenntnis liegt, da ich mich erstmals, ganz klein noch, im Staate des neuen rotkarierten Röckchens auf der sonnenbeschienenen Treppe des Elternhauses sitzen sehe, ist schon vorüber. Und auch das große Erleben, dessen Bedeutung die meisten Geschehnisse des späteren Lebens übertrifft, daß ich dieses geliebte karierte Röckchen mit richtigen Hosen vertauschen darf, und damit, voll Stolz über die große und günstige Veränderung auf der Stufenleiter des Lebens, unter die Größeren, die richtigen Buben, mich eingereiht sehe, liegt hinter mir.

Mein Leben war bereits eingefügt in die festen, überkommenen Formen unserer Gemeinschaft, die auch die anderen nicht erfunden, sondern übernommen hatten, in diese Gemeinschaft der Kinder unserer Straße und des alten Pfleghofs, die ein wohlgefügtes Gemeinwesen bildete, mit festen Gesetzen und Begriffen von Gut und Böse, Recht und Unrecht, Schuld und Sühne. Über all dem aber, hoch über der Gewalt der Erwachsenen, thronte jenes Wesen, das den Gang unserer Tage bestimmte, das helfend und richtend in den Ernst unserer Spiele eingriff, zu dem wir unsere Sorgen und Nöte trugen, zu dem ich nach dem bitteren und unersetzlichen Verlust des Taschenmessers um Hilfe beten durfte, das als gerechter und gefürchteter Richter über dem Gut und Böse unserer Taten waltete: der liebe Gott.

Der Raum, das Land, in dem dies Leben meiner frühen Kindheit sich abspielte, war die Straße mit dem hohen und schmalen Haus meiner Eltern, und der alte schöne Pfleghof.

Unserem Hause gerade gegenüber lag seine dunkle Toreinfahrt, durch die man immer erst vordringen mußte, um in das freie, helle Viereck des Klosterhofs zu gelangen, der das Feld unsrer Schlachten, Siege und Sorgen war. Der Hof war von drei Seiten von schönen Fachwerkbauten umsäumt und hatte in der Mitte eine steile, mit Tannen bestandene Böschung. Am Fuß des Abhangs stand der alte Brunnen mit seiner breiten Schale, und zwei Schritte dahinter zog sich im Halbkreis die übermannshohe Brunnenmauer.

Bis dahin war mein Leben, wie das eines jeden Kindes, ausgefüllt gewesen mit mancherlei Glück und Streit, gesühnter und ungesühnter Schuld. Jeder Tag hatte sein eigenes Glück und seine eigene Plage gehabt, die nach der Fülle seiner erlebnisreichen Stunden sich abends lösen durfte in der wohligen Geborgenheit eines kurzen, alles versöhnenden und vergebenden Gebets, und was noch etwa wie letztes Wetterleuchten hinüberglänzte in den Traum der Nacht, es war am nächsten Morgen verwunden, und nicht stark genug gewesen, um den neuen Tag zu belasten oder zu schmälern, der sich wie ein unbetretenes Feld vor dem neu erwachten Daseinswillen dehnte, als ein unbescholtenes Recht auf Erleben und Gewinn.

Ich mag damals nicht ganz sechs Jahre alt gewesen sein, denn mein vier Jahre jüngeres Brüderchen lief schon munter und ohne Hilfe im Kreis der Spielenden umher.

Ein Sommertag ist es gewesen; morgens waren die älteren Geschwister auf die Wiesen hinausgegangen und hatten Weidenzweige und Blumen und Blütenrispen geholt, um des Kleinen offenen Wagen zu schmücken. Wir wollten an jenem Tag ein »Fest« feiern, eines unserer damaligen Spiele, wozu wir alle Leiter- und Kinderwagen mit grünem Laub und Blüten behängten, um sie im feierlichen Festzug durch den Klosterhof zu führen. Noch war die Stunde des festlichen Umzugs nicht herangekommen, doch wir Kleineren hatten uns schon im weiten Hofe eingefunden. Meiner Obhut war das Brüderchen anvertraut, und ich war mir der zwar lästigen, aber großen Pflicht des Aufpassenmüssens durchaus bewußt.

Die blauen Schatten der Tannen fielen auf den sonnenheißen Sand des Hofs, aus dem wir Kuchen buken, um froher Erwartung voll die Zeit zum Umzug zu verbringen. Wir hockten herum und freuten uns über das tiefe Glucksen des Wassers, wenn wir Steine in die Brunnenschale warfen, dadurch das gleichförmige Rauschen des Strahls unterbrechend. Auch ich lauschte beglückt dem Spiel des Brunnens und war stolz, als es mir gelang, einen großen Stein in die überfließende Schale zu werfen. Jäh aber erstarrte ich vor Schreck, als ich plötzlich auf dem Rande der hohen Brunnenmauer das Brüderchen erblickte, das sich eben anschickte, sich mit unbeholfenen Beinchen auf dem schmalen Pfad vorzutasten, jubelnd über den Erfolg dieser ersten gewaltigen Ersteigung. Ich rief dem Kleinen, drohte, schalt, bat, flehte: Kehr um! geh zurück, bitte, komm wieder herunter! – Es half alles nichts. Gelähmt vor Schreck und Schmerz sah ich sein Schicksal sich erfüllen. Mit ein paar Schrittchen ging der Kleine auf der Mauer weiter vor, bis fast in die Mitte des Halbkreises, begann sich plötzlich zu fürchten, hob hilflos die Ärmchen, versuchte noch, sich zurückzuwenden, taumelte und stürzte kopfüber in die Tiefe hinunter.

Die Welt brach ein. In einen Schacht von Schuld glitt mein Leben hinab.

Dann stand ich vor dem Kleinen. Sein blondes Köpfchen lag zwischen zwei scharfkantigen Steinen, die Augen waren geschlossen.

Es war das Furchtbarste, das Entsetzlichste geschehen, das ich mir hätte ausdenken können. Ich hatte nicht auf das Brüderchen aufgepaßt, ich hatte meine Pflicht vergessen, der Kleine war durch meine Schuld gestürzt und lag reglos vor mir. Ich konnte nicht weinen, so groß war die dunkle Last, die sich auf mich wälzte. Der Bruder schien tot, ich war schuld – es war durch meine Unachtsamkeit geschehen. – Tot; das war es: etwas Unwiederbringliches, etwas Absolutes, es war die Vernichtung. Ich war schuld, ich war ausgestoßen aus der Gemeinschaft. Es mußte eine furchtbare Sühne für einen Tod gefordert werden. Es war untragbar, es war nicht zu begreifen. Ich war verloren. Ich starrte auf den Kleinen, der hingeschmettert am Boden lag, ich vermochte kein Glied zu rühren, ich starrte noch auf die blutigen Steine, als schon ein Großer das leblose Körperchen, von dem die Ärmchen kraftlos herunterhingen, aufgehoben und aus dem Hof durch die dunkle Einfahrt, hinüber zu der Mutter getragen hatte.

Es war alles aus, es war alles verdorben, es gab keine Rettung.

Den lieben Gott um Vergebung oder Erleichterung meiner Schuld zu bitten, war nicht möglich. Meine Schuld war zu groß. Niemand, auch er nicht, würde mir helfen können und wollen.

Tränenlos, allein, schritt ich dem Zug der Kinder nach, ging ins Zimmer und zagen Schrittes von da in die Schlafstube, wo die Mutter an ihrem Bett saß, auf dem wie tot das ganz bleiche Brüderchen lag. Die Mutter sah nur auf den Kleinen. Kein Laut kam über ihre Lippen, Tränen rannen über ihr Gesicht. Ich stand dabei, ohne Trotz, ohne Reue, ohne auch nur einen Gedanken an Rechtfertigung. Meine Schuld war eindeutig, mein Urteil mußte gefällt sein. Aber ich bat auch nicht um Nachsicht. Ich erwartete stumm die furchtbare Strafe, die mich treffen, die mich auslöschen würde. In die dunkle Qual dieser Stunde trat mit ruhigem Schritt, von langem grauem Bart umwallt, erhaben als wäre er der liebe Gott selbst, der alte Hausarzt. Ich stand dabei, während er das Brüderchen vorsichtig untersuchte. Keiner beachtete mich, keinem lohnte es mehr, mich zu schelten – meine Schuld war grenzenlos.

Lange horchte der Alte an dem Kleinen herum, endlos lange, schüttelte zweimal verneinend den grauen Kopf, wobei mir schien, er hefte seinen Blick, der stechend durch die goldene Brille fiel, gerade auf mich. Dann erhob er sich, und trat auf mich zu. Jetzt wußte ich, jetzt war der Augenblick gekommen, jetzt würde mich das Furchtbare treffen, der Alte würde es tun. Vor eisigem Schrecken war ich wie gelähmt, an Flucht war nicht zu denken: jetzt geschah es.

Da hob er seine schwere Hand und legte sie mir auf den Scheitel, und seine Stimme klang in dunkler Wärme, als er, zur Mutter gewendet, sagte: Es ist eine Ohnmacht, aber er lebt. Wir können hoffen.

Unter dieser unerwarteten Güte, die mich tiefer traf als die furchtbarste Strafe, brach meine Haltung zusammen. Schluchzend ging ich davon.

 


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