Albert Schramm
Der innere Kreis
Albert Schramm

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Die Karte, die mein früherer Chef dem Vater geschickt, bekam ich durch Zufall zu lesen. Eine Absage für eine Forderung, die ich nicht kannte, stand darauf. So erfuhr ich das Ganze.

Ich erschrak bis ins Tiefste und wußte sofort, daß seine Enttäuschung unwiderruflich war, wie ein gegebenes Wort. Er konnte nicht wissen, daß ein Freund meines Bruders von sich aus den Schritt unternommen, gleichsam, als hätten wir ihn gebeten, uns Hilfe zu schaffen, mußte er doch annehmen, ich hätte den andern veranlaßt, ich wolle die alte Freundschaft mit der selbstverständlich erhobenen Forderung ausnützen.

Eine Frage des Klubs aber, dessen Vorstand ich war, hatte er zu entscheiden.

Einen andern hätte ich schicken können, denn es war schwer, zu ihm zu gehen. Aber hätte ich mich damit nicht vor ihm verleugnet, seine falsche Vermutung bestätigt? Die Freundschaft in Wahrheit belastet? So ging ich doch selbst, mit dem Gefühl, mit dem Wissen, daß man an wichtigen Punkten sich selbst einsetzt und nie einen anderen bittet.

Ich traf ihn. Er aber mußte vermuten, ich käme, ihn nochmals zu drängen, und wies auf die wartende Arbeit.

Ich war vor ihm unwert geworden. Mehr hatte ich nicht zu verlieren. Wenn er mein Recht nicht spürte, wozu Worte vergeuden? Die Lage war gegen mich, es ließ sich nicht ändern. Ich mußte es tragen.

Ich raffte mich auf und wandte mich kurz. Die Hand, die herzlich auf meiner Schulter gelegen, zum Abschied drücken zu dürfen, war mir versagt. Es war schwer. Aber es war eben so. Ich ging.

Da klang hinter mir die vertraute Stimme wieder mit der zitternden Wärme. Glaubte er doch noch an mich? Leise rief er mich an. Wir standen uns auf der Treppe gegenüber.

Wollten Sie mir selbst etwas sagen?

Ich komme wegen einer Sache des Klubs, die ich gerade heute keinem anderen übertragen wollte.

Und ich berichtete ihm und hörte seine Entscheidung.

Mit viel Wärme, auch er schien meine Lage zu begreifen und das schien ihn zu erleichtern, fragte er mich nach den Sorgen zu Hause.

Ich bitte Sie nur, mir zu glauben, daß ich die Güte, die Sie mir immer gezeigt, auch immer als solche empfunden. Den Schritt eines andern zu verhüten war ich nicht in der Lage, da ich nicht darum wußte. Ich bin Ihnen immer dankbar.

Und ich wünsche Ihnen von Herzen, daß den Ihren geholfen wird. Und ich freue mich, daß Sie noch einmal zu mir gefunden. Leben Sie wohl!

Er ging langsam die Stufen hinauf.

Leben Sie wohl, wieder klang mir das Wort in den Ohren, wieder war mir, als war es ein Abschied für immer. Bald darauf war er tot. Ein Herzschlag raffte ihn hin. Unter hundert anderen stand ich, allein, an seinem Grab.

Wir gaben hin, was wir hatten, und mehr noch, die Arbeit der künftigen Jahre. Vermögen und Häuser waren verloren, aber der Name blieb frei und blieb gut.

Und mit einem guten und ehrlichen Namen ist die Welt doch so weit und die Zukunft ein Acker, der nur harrt seiner Saat.

 

Die Klinik lag hinter mir, vor mir die Arbeit des praktischen Arztes, die mich lockte, ihrer Selbständigkeit, ihrer eigenen Verantwortung wegen. Zuvor aber wollte ich noch einmal hinaus und die beiden Freunde besuchen, die Ärzte waren und Erfahrung und Wissen gesammelt in Jahren eigener Leistung. Von ihnen wollte ich lernen, was die einseitige Arbeit der Klinik mir mitzugeben nicht imstande gewesen, was besonders die Praxis verlangte.

In endloser Fahrt ging es zu den Freunden. Weit dahinten, an der böhmischen Grenze, lag ihre Praxis. Mit Fieber kam ich an, frierend saß ich auf dem Rücksitz des Motorrads, mit dem ich geholt wurde, wo die Bahnfahrt zu Ende gewesen.

Ganz auf sich selbst gestellt, ohne den Rückhalt der Klinik, versorgten die beiden in weltfernem Winkel die Kranken. Rasch genas ich in ihrer vortrefflichen Pflege, und nun wurde ich eingeführt in das erstaunliche Können der beiden. Wie wenig nur war es, was ich von der Klinik brachte, das ich hier hatte verwenden können, wie viel aber wußten die Zwei. Sie sahen im Gegensatz zu den meisten von uns den Körper im ganzen, sie kannten die Zusammenhänge wie keiner von uns, und, was mich am meisten erstaunte, es war nicht halbes und oberflächliches Wissen, sondern tiefgründige Arbeit, es gab keine Frage der Chirurgie, die ihnen nicht vertraut gewesen, so gut wie mir selbst, und schließlich kam ich doch frisch und gefüllt mit Erlerntem von der Klinik der Universität. Geburtshilfe vor allem. Normale Geburten, Wehenschwächen, Blutungen, Wendungen, Plazentarlösungen – es schien ihnen nichts Besonderes zu sein.

Einmal, wir hatten abends erheblich gefeiert und alle schon über den Durst getrunken, da ließ man den Älteren rufen. Geburt. Es gehe nicht vorwärts und blute stark. Er nahm mich mit, wir fuhren hin: Plazenta praevia, die gefürchtete Blutung. Zwillinge waren es überdies. Von einem Transport in die Klinik gar nicht die Rede. Schon die Möglichkeit fehlte. Der Rausch war verflogen. Mit eiserner Ruhe beherrschte der Arzt die Gefahr. Beide heraus, die Plazenta dazu, die Blutung stand und die Mutter samt Zwillingen lebte. Wir zogen befriedigt nach Haus, um weiter zu trinken. Und wieder begann ein Tag voll Arbeit, hielt ohne Pause die Kräfte von morgens bis abends in Spannung, und auch die Nacht war nicht sicher der Ruhe. So ging es nun Tag um Tag und Wochen um Wochen. Es war viel, was die beiden zu leisten vermochten.

Eines Tages fiel ein Arbeiter vom Gerüst eines Hauses und brach sich den Arm. Von Kameraden geführt, kam er an.

Die beiden hatten nicht Röntgenräume wie wir in der Klinik. Unter der Treppe, in einem Winkel des Hauses stand ihr Apparat. Aber sie konnten damit umgehen. Wir drängten uns in der Enge zusammen, der Kranke und wir drei, und besahen die mißliche Sache – der Bruch saß hoch oben in der Nähe der Schulter, die Knochen waren gesplittert. Es war ein klinischer Fall. Da meinten die beiden zu mir, ich solle es machen. Bis wir den in der Klinik haben! Und dann sehen wir ihn nie wieder, und solange er in der Klinik ist, kriegen sein Weib und seine Kinder ja nicht einmal Krankengeld und haben gar nichts zu leben. So konnte ich werken. Ich suchte mir Hölzer und Pappe, ich bog und klebte mit Pflaster und Draht. Gestützt an der Seite der Brust ruhte der Arm auf waagrechter Schiene, damit das Gelenk und die Muskeln nicht litten, und so war der Kranke versorgt, sein Arm war weich und ohne Schmerzen gebettet. Stolz lief er im Dorfe umher und pries laut die Kunst seiner Ärzte. Wir prüften im Röntgenbild nach, die Bruchränder der Knochen lagen gut aneinander. Nun mußte man warten, bis Kalk und Gewebe die Knochen verbänden.

Wochen blieb ich nun dort als ihr Gast und sie hatten mit mir mancherlei Mühe und Kosten. Aber ruhig führten sie mich ein in die Art ihrer Arbeit, und ihnen verdanke ich den größten Teil des ärztlichen Könnens der Praxis.

Das Doktorhaus lag unweit der Grenze, und der Wein von drüben war billig und gut. Wir wollten abends eins singen und trinken. Und Gerd, ihr Besuch, ein junges Mädchen aus der Gegend, und ich wollten schmuggeln. Wir erstiegen die Höhe und kauften drüben den Wein in behäbigen Krügen. Beim Rückweg paßten wir auf, aber als wir eben über die Grenze pirschen wollten, erschienen an der Mauer zwei Zollwächter. Wir erschraken und liefen zurück, bargen uns hinter einem blühenden Garten. Hier mußten wir warten; wir lagen im Gras und waren durstig vom Tag und vom Laufen, entkorkten einen der Krüge und netzten reichlich den Gaumen.

Der Wein war vortrefflich, und wieder und wieder kosteten wir.

Aber als wir erhitzt vom Getränk die Grenze erreichten, da kamen die Wächter von ihrer Runde zurück, und wieder mußten wir warten und wieder tranken wir Wein.

Es mußte bald Mittag sein, sie warteten zu Haus mit dem Essen auf uns, und wir durften uns niemals verspäten, das war geheiligte Sitte des Hauses.

Zum drittenmal endlich wagten wir den Übertritt. Da aber, als wir den Weg überschritten, da winkte uns einer, ein böhmischer Wächter. Wir aber lachten ihm zu und winkten ihm wieder. Er hielt uns für Freunde und ließ uns ziehen und wir jagten drüben die Hänge hinunter. Gerd wollte rasten.

Da standen Birken im Grünen, wir legten uns hin in die Sonne und stellten die Krüge in den Schatten von Büschen. Da lagen wir nun. Der Wein machte uns durstig und froh. Wir lagen und sahen hinauf, wo die Wolken schwer und weiß über den Zweigen der Birken vorüberzogen, und tranken und gaben uns die Hände und küßten uns müde.

Das Mädchen schlief ein und lag schön wie die Zeit in der Sonne. Ich störte sie nicht. Was konnte ein Fest am Abend noch bringen; war dies hier nicht mehr, wie das Mädchen hier träumte, umspielt von der Sonne, ein Lächeln des Glücks in den Zügen?

Es dämmerte, als sie erwachte. Wir stiegen hinab und brachten die Krüge. Es klang hohl und leer, als wir sie auf den Küchentisch stellten. Wir waren selber verwundert. Doch der Wein war getrunken.

 

Gerd wurde krank, bekam eine sehr schwere Grippe. Die Lunge wurde ergriffen, und sie brauchte dauernde Pflege. Ich wurde zum Arzt im Hause bestimmt und durfte sie sehen.

Über dem Ebenmaß ihres Leibes lag der Schimmer der Jugend, von entzückender Linie die Glieder, und die Brüste noch zart und wie Blumen.

 

Das Mädchen genas und die Zeit ging ihres Wegs. Dann kam der Abschied von den Freunden.

Ich hatte gelernt bei ihnen, was ich zur Praxis brauchte, und gutes Rüstzeug für die eigene Arbeit gewonnen.

Ich dankte den Freunden und ging.

Das Mädchen und ich, wir küßten uns still, und trennten den Weg, den wir beide berührt und ein Stück zusammen gegangen.

 

Briefe vermögen über die räumliche Ferne hinwegzuhelfen. Sventha und ich, wir schrieben uns oft, mindestens täglich, nahmen auf solche Weise innigen und wissenden Anteil am Leben des andern.

Aber es bleiben trotz allem Briefe, die der Sehnsucht eben nur eine Brücke, ein Behelf sind.

Monatelang konnten wir uns wieder nicht sehen, da wir beide im Beruf hart eingespannt waren und die Zeit für die Reise vom äußersten Ende des Reiches zum andern nicht aufbringen konnten.

Ehe ich meine Praxis auftat, erhielt ich die Erlaubnis, in der Landeshauptstadt bei einem vortrefflichen und bedeutenden Mann einige Zeit zu arbeiten. Wenige Wochen, in denen man Tag und Nacht herandarf, unzählige Geburten sehen und selbst durchführen kann, in denen ich unter der Leitung jenes Mannes nicht nur den normalen Verlauf, sondern auch das Abweichende, Zangen und anderes, Einschnitte, Nähte und so fort, machen und üben durfte, brachten höheren Gewinn als lange Tätigkeit an einem Institut, an dem der junge Assistent an nichts herankommt, wegen des geringeren Materials wenig sieht, und an dem die eben für die Ausbildung des Praktikers so wichtigen Gebiete ihm oftmals verschlossen bleiben.

Da kam eines Tages in jene Klinik ein Brief von unbekannten Leuten aus Wannsee mit einer Einladung über das Wochenende. Da mir wohl ahnte, was dahinter stecke, sagte ich zu und fuhr nach dem Dienst am Freitagabend ab, um Samstagmorgens in Wannsee am Frühstückstisch bei ihrer Freundin Sventha zu treffen.

Das Haus lag unfern dem See, in blühendem Garten: vor der überdeckten Terrasse blühten in vielen Beeten die Rosen, grünte gepflegter Rasen.

Die Gastgeber hatten erstaunlich viel häusliche Pflichten, so daß die beiden Tage wirklich uns, fast nur uns gehörten. So viel seines Verständnis ward uns von jenen entgegengebracht, daß das Haus nur für unsere Wünsche und deren Erfüllung dazusein schien, samt Auto, Boot und Bedienung.

Über dem See brannte die Sommersonne. Wir ruderten hinaus, ließen die Ufer vorüberziehn, sahen den anderen Booten zu und waren beisammen.

Am Sonntag, nach köstlichem Frühstück im Freien, wurden wir im Wagen an die Schönheiten der Gegend geführt, und die gemeinsame Fahrt schloß uns alle zusammen, vor allem verband uns bald auch ein gutes Gefühl mit dem Manne der Freundin, einem Erfinder von Namen.

Der Nachmittag gehörte noch uns. Wir saßen im Garten und ließen die Stunden kommen und gehen. So viel, hatten wir gedacht, wäre nach der langen Trennungszeit zu sagen. Aber wir schwiegen, und das war uns genug, und war mehr.

Der Nachtzug trug uns fort, Sventha nach Norden, mich zurück nach dem Süden.

Wieder lagen Wochen der Trennung, der Sehnsucht vor uns, bis auch sie vorüber waren, und unser beider Schicksal auf einer Straße zu schreiten begonnen.

 

Sventha und ich hatten geheiratet, die Praxis begann. Weiß und licht waren die ärztlichen Räume, Türen und Schranke lackiert, die Instrumente blitzten, die Apparate waren bereit. Nur die Wohnung darüber war hoch, hoch oben, und die Miete nicht minder.

Aber alles ging wohl seines Wegs. Während ich erwartet hatte, in erster Zeit vielleicht den einen oder anderen Freund im Wartezimmer zu finden, war ich überrascht, daß fast vom ersten Tag an so viele kamen, daß ich Arbeit genug fand von früh bis zum Abend.

Viele freilich waren darunter, wie bei jedem beginnenden Doktor, viele, welche die Last und das Kreuz der anderen Ärzte gewesen; und die los zu sein jene sich freuten. Manche aber doch auch, mit denen mich von Anfang an ein gutes Vertrauen verband und die mir über viele Jahre die Treue hielten.

So begann das Neue mit günstigem Anlauf. Und wenn auch die äußere Last der übernommenen Bürgschaften die Freude am Erfolg meiner Arbeit bedrückte, bitterer war die Feindschaft von manchen Kollegen, die nicht begriffen, daß ein Junger sein Lebens- und Arbeitsrecht wollte und brauchte und manchem der Eingesessenen die liebgewordene Trägheit zu stören begann. Einige aber waren von aufrechter großer Gesinnung und ließen mich die Kleinheit von anderen gerne vergessen.

Und wieder, wie bei den Freunden an der böhmischen Grenze, merkte ich, wie viel die Arbeit in der Praxis verlangte, wie anders und vielgestaltiger sie war als in dem engen Rahmen des einzelnen Fachs einer Klinik. Und wie wohl mir manches gelang, so war doch auch einiges nicht gut, und manches ein Fehler, der mir dann Nächte lang das Gewissen bedrückte und mir den Schlaf nahm oder mich mit entsetzlichen Träumen quälte. Die aber, denen ich sicherlich mäßig gedient, waren es oft, die an mir hingen und die meinen Namen verbreiteten; und andere wieder, von denen ich sagen durfte, ihnen geholfen, vielleicht auch den einen oder anderen gerettet zu haben, wurden mir Feind. Und so ist es zum Teil geblieben bis heute. Denn der Laie, und auch der gebildete Laie, hat, trotz allem halben Wissen, von der Arbeit des Arztes im seltensten Fall so viel Begriff, daß ihm ein wirkliches Urteil zukommen könnte.

Kaum einen andern Beruf glaubt man so leicht zu durchschauen wie den seines Arztes, und doch grenzt kaum einer so sehr an die ewigen, unfaßlichen Dinge, die Tiefen haben, die wir alle heute noch nicht kennen. Und weder der Glaube an Wunder und deren Erwartung, noch die Industrialisierung der Mittel erschöpfen das Wesen der Heilung. Vielmehr müssen bei geistigem und technischem Können noch andere Kräfte vorhanden sein, die der Arzt zu verwenden und zu vermitteln vermag, ohne sich um das Urteil der andern zu kümmern. Denn er steht und fällt mit der eigenen Verantwortung für Gesundheit und Leben.

 

Wochen waren vergangen. Nach arbeitsreichen Stunden wollte ich ruhen, um mich zu stärken für den kommenden Tag. Jeden einzelnen Fall hatte ich noch einmal durchdacht, ob auch alles in Ordnung sei, was der Tag von mir gefordert, und müde war ich eben eingeschlafen, als mich stürmisches Läuten herausriß.

Was los sei?

Ein Kind wolle sterben, sofort sollte ich kommen.

Noch wußte ich nicht, daß der drängende nächtliche Ruf so gut wie niemals berechtigt war, und es war gut.

Die Spannung, der Wille zu helfen, und die Sorge, ob ich dem Unerwarteten auch gewachsen sei, ließ mich eilen. Auf meinem Fahrrad, ein Wagen war damals noch unerschwinglich, fuhr ich eilends durch die menschenleeren Gassen der unteren Stadt. Ein dunkler Hof nahm mich auf. Gerümpel lag umher. Dort an der Tür, von der hochgehaltenen Kerze flackernd beleuchtet, das Runzelgesicht einer Großmutter. Ich eilte die schmale Treppe hinauf. Im Zimmer waren die Geschwister und Verwandten voll bangender Sorge versammelt um den Liebling aller, zu dem ich nun vordrang. Ein dreijähriges blondköpfiges Mädchen lag im großen Bett. In schweren Krämpfen wand sich der Körper des Kindes, die Gliedmaßen zuckten, die Augen waren weit offen, die Pupillen dunkel und groß. Der Anfall war vorüber, aber kaum berührte ich die Kleine, als er schon wieder begann. Es war wenig zu finden, nur das Herzchen schlug wild und verzweifelt. Es war keine gewöhnliche Fallsucht, keine einfachen Krämpfe. Und da fiel mir im rechten Augenblick die Erzählung eines alten Arztes ein, dem ein Kind, das Krämpfe bekommen, gestanden hatte, es habe Beeren gegessen. Das Brüderchen wurde verhört und verriet, sie hätten vom Busch, der im Schulgarten stand, Beerlein gegessen, die Schwester aber viel mehr.

Es waren Tollkirschen, die ein Lehrer gepflanzt, um sie als giftig den Kleinen zur Verwarnung weisen zu können. Und nun begann der Kampf mit dem Tod um das Kind. Stunden um Stunden ging es. Immer wieder warfen die Krämpfe das Körperchen hoch, immer wieder brach es zusammen.

Der Morgen graute, als alles vorbei schien. Nun lag die Kleine reglos und schwach, das Herz war so lahm, die Atmung schon kaum mehr zu sehen. Dann wurden die Pupillen plötzlich ganz weit, groß stand das Schwarz in den Augen, die Atmung setzte aus und der Puls war verschwunden. Alle umstanden das Bett. Sie ist tot, sie ist tot, schrie die Mutter, legte die Hände über den Scheitel der Kleinen, ihre Tränen tropften über die Stirn ihres Kindes. Haltlos gab sie sich der Verzweiflung hin. Keiner hatte mehr Hoffnung. Jeder sah, es war aus. Verdorben konnte nicht mehr viel werden. Das kleine Herz war müde, verbraucht, stand still. Da kam mir, daß meine Mutter ein Schwesterchen von mir verloren hatte, ein dreijähriges Mädchen, an einer Herzlähmung nach Diphtherie, und ich bat sie in Gedanken mit allem Kummer, den sie darum gelitten, mir beizustehen, diese Kleine zu retten. Ich gab dem Kind eine Spritze in den Herzmuskel selbst, stach zwischen den Rippen hindurch in das Herz, wartete voll Angst und voll Hoffnung, bange Sekunden, auf ein Zeichen von Leben. Umsonst, die Lider waren geschlossen, die Kleine wurde blau. Nichts mehr zu retten.

Es ist so widersinnig, daß Kinder schon sterben können. Doch da, als der Tod sein Opfer schon nahm, da schlug das Mädchen die Augen auf, atmete tief, bekam wieder Farbe, und legte das Köpfchen zur Seite in einer Bewegung von glücklichem Schlafen. Der Puls, erst matt, wurde besser und voll, sie lebte.

Sie war tot gewesen und sie war dem Leben wiedergegeben. Sie schlief.

Fahl brannte die Lampe an der Decke, eine schwarze Fliege summte darum, wahrend das Licht des Tages durch die Fenster fiel. Die Gesichter waren grau und verfallen. Die Mutter betete leise.

Als ich in der nächsten Nacht wieder gerufen wurde, blieb ich gleich dort, wachte und schlief im Zimmer der Kleinen, denn mir war, der Tod stünde leibhaftig am Bett und ich müßte das Mädchen selber beschützen mit meiner Nähe, um gegenwärtig zu sein mit allen guten Kräften der Hilfe, des Willens.

Manchmal kam noch ein Krampf, aber die Schärfe des Gifts war gebrochen.

Mit Tagesgrauen fuhr ich müde durch die erwachende Stadt nach Hause. Eisenbahner und Postboten gingen und fuhren des Wegs, Mädchen kamen mir entgegen, die zur Arbeit gingen, schwatzten und lachten. Ich begriff es nicht. Wie konnte man in der Welt noch lachen, wie konnte alles seinen Gang gehen, als wäre nichts geschehen, und dabei wäre doch fast diese Kleine gestorben.

 

Vielleicht wußte ich gerade in den vergangenen Jahren, vor allem in einer chirurgischen Klinik, besser mit dem Tod umzugehen als mit dem Leben. Während ich, seit dem Krieg schon, mit dem Tod vertraut zu sein glaubte, überraschte mich das Leben auch im Beruf in mancherlei Formen.

Wo auch wäre es echtere Form geworden als in einem schön gewachsenen Weibe?

Viele kamen aus Neugier, manche aus Not, andere, um die Minuten beim Arzt zu genießen.

Wenn auch fast alle Krankenkassen für leichte und sehr schwere Erkrankungen gleichermaßen eine einzige Untersuchung innerhalb voller vier Wochen, also auch etwa bei einer Lungenentzündung, aus begreiflichen Gründen für durchaus hinreichend erklären, so wird doch jeder Arzt, dem das Wohl seiner Kranken am Herzen liegt, viel öfters untersuchen müssen, und wird es auch, wo es not tut, gerne tun, auch wenn es ihn sehr viel Zeit und Geduld kostet. Geduld aber, gegen den Kranken und die Natur, ist das erste Rüstzeug des Arztes.

So sehen wir in der wiederholten eingehenden Untersuchung die einzige Möglichkeit, jene Krankheiten schon früh zu entdecken, die weder mit Schmerzen noch mit äußeren Anzeichen beginnen, wie etwa der Krebs, und deren Heilung doch nur von der frühzeitigen Behandlung abhängt. An Markttagen nun, wenn die Landleute hereinkamen in die Stadt, war das Wartezimmer oft überfüllt. Und so sehr ich die schönen Trachten unserer Heimat liebe, sah ich sie draußen im Land, auf den Wegen und Feldern, oder bei bäuerlichen Festen, kamen ihre Trägerinnen ins Sprechzimmer, so faßte mich Grauen. Bänder ohne Zahl, Verschnürungen des Mieders mußten gelöst werden, Schürzen, Über- und Unterkleider, von den vielen Stücken der Leibwäsche gar nicht zu reden.

Da stand denn die Bäuerin und löste mit der Ruhe, mit der der Apfel reift, die Spangen und Schleifen, legte alles zusammen, bis sich, nach nutzlosen Minuten, endlich der Leib aus den vielen Schalen gelöst. Fehlte der Kranken auch nur eine Kleinigkeit, auf die genaueste Untersuchung wurde größter Wert gelegt. Denn der Bauer, der sein Geld ja nicht leicht verdient, will auch etwas dafür haben. Da kaum ein Mensch sich zu entkleiden und gleichzeitig die Fragen des Arztes nach Entstehung und Hergang des Leidens zu beantworten vermag, so war all diese Zeit, die man doch besser für die genauere Untersuchung verwendet hätte, nutzlos vertan, und die anderen mußten das Vielfache warten.

Wenn alles wieder angezogen und das zweitletzte Miederband eben verschnürt wurde, und plötzlich der Vielgeplagten einfiel, daß sie ja den einen kleinen Kummer, etwa den Druck im Bauch nach vielem und fettem Essen, bei der Untersuchung zu erwähnen vergessen hatte, und mit derselben Ruhe die fast vollendete Bekleidung bis zur Vollständigkeit wieder rückgängig zu machen begann! Wehe! Kein Wort, kein Drohen, kein Flehen konnte die Ausführung des gefaßten Gedankens verhindern, und drüben im Wartezimmer brach inzwischen ein Tumult aus. Hier half nur Flucht! Und so nahm ich den Nächsten ins kleinere Nebenzimmer, um endlich auch anderen zu raten. Wie aber erschrak ich, als jene Bäuerin ohne Scheu die Tür auch dorthin öffnete und sich durch die Anwesenheit eines Mannes in keiner Weise stören ließ, mir das Allerletzte zu erzählen, was sie nun doch noch vergessen hätte und das ihr der Ahne noch besonders ans Herz gelegt. Zeit, viel Zeit muß man für manche Kranke haben, und es ist manchmal nötiger als eine Arznei, sie nur den Gram vom Herzen reden zu lassen. – – Aber beileibe nicht alle, denn manche sind Schwätzer!

Und dies hier war zu viel!

Dann aber schickte mir jene, als sie ihren bescheidenen Obolus hinterlegte, eine Kleinigkeit im Vergleich zu dem, das sie der Kurpfuscherin zutrug, noch die Schwester herein, um mir sagen zu lassen, so leicht möchte sie ihr Geld auch verdienen, wie der Doktor.

Von da an aber richtete ich mir zwei Sprechzimmer ein, um die nutzlose Zeit des Aus- und Ankleidens der Kranken lieber für die eingehende Untersuchung zu verwenden.

Hier aber versagt noch meist unser Können. Weder der Schwester noch mir gelingt es, einen Menschen zu bewegen, auch nur die Brust oder ein Bein freizumachen, solange ich im Nebenraum einen anderen Kranken untersuche und er allein ist. Die wenigsten können die Scheu vor sich selbst überwinden. Der Arzt muß durch sein Dabeisein das Recht der Entblößung beweisen. So scheu sind fast alle vor der Nacktheit des eigenen Körpers.

 

Einmal aber kam eine junge Frau und klagte über Herzstiche. In gewohnter Weise wurde sie aufgefordert, die Oberkleider ein wenig zu öffnen, solange ich im anderen Sprechzimmer untersuchte, damit nachher Grenzen und Töne ihres Herzens nachgesehen werden könnten. Die Frau war von schönem Wuchs und hatte ein gutes Gesicht. Aber eine Schwingung und Spannung ging von ihr aus, die außerhalb des Berufs vielleicht hätte erregend sein können, hier aber störend und belastend war.

Wenige wissen, wie sehr sich der Arzt durch seinen Beruf des Mysteriums des Weibes beraubt. Und es bleibt ihm nichts übrig, als Beruf und eigenes Erleben aufs schärfste zu trennen, und was er sich an Gefühl gegen die furchtbare Gewöhnung des Sehenmüssens erhalten kann, ist nur der sehr seltene ästhetische Genuß eines schöngewachsenen Leibs, und auch nur dann, wenn dieser durchgeistigt ist und frei von jeder erregenden Spannung.

Ich ging nebenan und verband inzwischen ein offenes Bein, schrieb ein Rezept und ging wieder hinüber, das Herz der Frau zu untersuchen. Ich wollte mich eilen, denn viele waren gekommen, die ein Recht auf mich hatten. Wie aber erstaunte ich, als das Weib nun vor mir stand, nur noch mit spinnwebfeiner Seide bedeckt, die so hauchdünn war, daß nicht nur das Dunklere der Brust und des Schoßes sich zeigte, sondern auch der matte Schimmer der Haut. Und in den wenigen Augenblicken meines überraschten Staunens lösten mit lässiger Bewegung ihre schlanken Hände die Bänder über den Schultern, und langsam sank die Seide an ihr nieder.

Sie war makellos schön.

Ehe ich ihr sagen konnte, sie habe das Maß des Nötigen überschritten, brachte sie mit ernster Stimme Klagen vor, die ihr Verhalten zu rechtfertigen schienen, aber doch zu viel Sachkenntnis verrieten. Ich untersuchte sie, weil man sich gerade in voreingenommenen Fällen immer wieder täuscht und ein wirkliches Leiden übersieht, fand aber nichts und sagte es ihr. Sie aber klagte fort, und als ich mich, immer gleich freundlich und sachlich, nicht überzeugen ließ, ja vielleicht meinem Lächeln ein wenig gutmütiger Spott beigemischt war, da riß sie auf einmal die Augen weit auf, maßloses Erschrecken spiegelte sich darin, ihr Gesicht verfärbte sich dunkelrot, Tränen rannen über die Wangen auf ihre Brust herunter, der ganze Leib begann zu zittern. Und schon gaben die Gelenke ihrer Knie nach, und wollte ich sie nicht auf den Boden niederschlagen lassen, mußte ich sie auffangen.

Schwerer hysterischer Anfall. Ich legte sie unsanft auf die Untersuchungsbank, machte mich mit harten Griffen von ihrer Umklammerung frei, um der Schwester zu läuten. Da aber war alles verflogen, die Schmerzen, die Klagen, der Anfall. Schon war ihre Schönheit verhüllt, und sie bat sogar, in vollendeter Beherrschung der Lage, um ein Rezept. Ich verschrieb ihr ein Beruhigungsmittel für ihr Verhalten, denn auch dies war ja Krankheit.

 


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