Albert Schramm
Der innere Kreis
Albert Schramm

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Offene Güterwagen. Darauf, in langem Zug, die kriegsstark aufgefüllte Division. Bei uns die Gewehrwagen wohl mit Holzkeilen an den Rädern verklemmt und obenauf, um das geölte und glitzernde MG herum, die Schützen in bester Stimmung: nach Osten trug uns der Zug.

Schon morgen würden wir durch Deutschland fahren. Es hieß, wir kämen nach der Türkei, bestimmt auf einen östlichen Kriegsschauplatz.

Grüne Wälder säumten die Bahnstrecke, Sommerhimmel wölbte sich über uns. Manchmal wurde das gleiche Lied vom ganzen Zug aufgenommen, wobei die in den vordersten Wagen meist mit dem letzten Vers zu Ende waren, als die in den letzten eben damit begannen. Und so schien es, als ob von weither ein langes Echo klänge.

Die Feldküchen dampften schon. Es ging gegen Mittag, immer noch fuhren wir weiter zurück, immer noch hielt der Zug die Richtung nach Osten. War auch das Endziel geheim, so viel war nun sicher: wir fuhren der Heimat zu, würden sie wirklich durchfahren.

Auf einem sehr weit zurückliegenden Bahnhof hielt der Zug eine Zeitlang. Wir winkten den vielen, die hierher vom Urlaub zurückkamen und auf dem Bahnsteig auf ihre Frontzüge warteten, übermütig zu. Morgen waren wir daheim! Von allen Wagen des endlosen Transportzugs erschollen die fröhlichen Lieder.

Endlich ging es weiter. Die Lokomotive pfiff vorn am Zug, eine andere antwortete vom letzten Wagen her, und schon stießen beim Anfahren die schweren Wagen aneinander und nun setzte sich der Zug in Bewegung, es ging weiter.

Aber, was war das, nicht weiter nach Osten, sondern in spitzem Winkel wieder zurück, nach Westen, zur Front.

Das Singen verstummte. Das Schlagen der Räder klang gleichmäßig herauf. Wir kamen nicht nach dem Osten, wir fuhren zurück, wir blieben im Westen. Offensive.

Ein Druck war im Magen, eine Spannung lag über allen wie ein jähes Erschrecken.

Die Kochgeschirre hingen halbvoll am Gewehrwagen, die Lust zum Essen war uns verschlagen.

Die Hoffnung auf den fernen Kriegsschauplatz war vorbei, die nichts anderes war als das Zögern, nach der langen Ruhe wieder unterzutauchen im Grauen der Westfront, das Los anzunehmen, das uns der Krieg zugewogen, für viele freilich das Los des Todes, das auch mir willkommen war, seit ich die Geliebte verloren.

Das Buchenlaub glomm in den Pfeifen. Über den Wipfeln der Bäume brannten die Sterne der Sommernacht. Von drüben klangen einzelne Worte der Kameraden, die sich stritten, ob die Offensive verraten sei oder nicht.

Komm, hatte Ernst gesagt, wir wollen in den Wald gehen. Dunkelheit ist gut, Stille tut wohl.

Und nun saßen wir, wie vor einem Monat, damals in Ruhe, an einem Wegrain. Samten, wie ein Mantel, legte sich die Nacht um uns. Ernsts Pfeife glühte auf, der Widerschein erhellte sein Antlitz. Es war undurchdringlich und ruhig.

Fallen, klangen dann seine Worte ins Dunkel, fallen, du, ist leicht, aber feig. Leben ist schwer, aber tapfer und gut. Ich horchte der Stille nach, in die seine Worte verklungen. Leben ist tapfer und gut – aber mir war Evelyn, mir war alles genommen.

 

Das Dröhnen der ersten Granate füllt uns mit Grauen. Grauen, aber es ist keine Furcht, keine Feigheit. Sie tragen die ersten Verwundeten an uns vorbei. Man sieht von der Zeltbahn verhüllt, wie aus grauem Stein gehauen, ihre Gestalt.

Der Sturm ist mir recht, komme es wie es wolle. Es ist die deutsche Entscheidungsschlacht, es ist die letzte deutsche Offensive. Es lohnt sich, hierbei zu bleiben.

Die Kompanien lösen sich auf, in Reihe zu einem gehen wir vor.

Aus dem Dämmer des Abends, wie ein Berg altersgrauer Sagen, hebt sich die langgestreckte, steile Höhe, die wir im Sturm nehmen werden. Morgen, mit Tagesgrauen.

Über ihre dunkle Kante steigt, wie zum Spott, ein Planet herauf. Ich starre ihn an. Ist das ein Wunder, oder hat er sich in diese Nacht verirrt? Kann denn das sein, daß hier ein Stern aufgeht, wo wir zum Sturm vorgehen, wo mich der Kummer fast niederdrückt, wo ununterbrochen der Tod einschlägt mit Flammen und Eisen? Hier, wo die Rufe der Getroffenen und die Todesschreie der Verlorenen aufgellen in den Pausen zwischen dem Dröhnen der Rollsalven schwerer Granaten.

 

Mitternacht muß längst vorüber sein.

Und da bricht mit einem Mal auf der ganzen Front, soweit ich sie hinauf, hinunter übersehe, das deutsche Vernichtungsfeuer aus Tausenden von Rohren. Die Nacht ist flammenhell. Die Ohren drohen zu zerreißen.

Auf einem frisch aufgeworfenen Erdhaufen stehend schaue ich in das Feuer. Auf einmal ist Ernst neben mir. Er ruft mir etwas zu, aber obgleich wir nebeneinander halten, kann ich ihn nicht verstehen, der Lärm des Feuers ist zu groß, ich sehe nur im Flammen der Nacht, wie er den Mund aufreißt und mir etwas zuschreit. Ich verstehe kein Wort und er erwartet es auch nicht. Er faßt nach seinem Bein, richtet sich schon wieder auf und deutet mit dem Arm auf die Flugbahn einer ganz schweren Mine, die, einen Feuerschweif ziehend wie eine Riesenrakete, oben umbiegt und herunterstürzt auf die Stellung des Feindes. Nebeneinander gehen wir vor durch das Feuer. Wir torkeln über Gräben und Trichter, Drähte und Leiber dem Schatten zu, der sich über den zuckenden Horizont hebt, und den wir, vor Tagesgrauen, stürmen.

 

Auf dem vierzig Stufen tiefen Stollen trommelt das Abwehrfeuer des Feindes. Es ist kein einzelner Laut zu hören, nur ein dumpfes Trommelrasseln, das dunkel in die feuchte Tiefe des Unterstandes herunterklingt.

Es ist nicht gut, so tief unten zu sein. Man bekommt hier, in der bergenden Tiefe, Furcht vor dem Feuer draußen. Man mag nicht mehr hinaus.

Ernst zieht das eine Hosenbein aus dem Stiefel, streift es auf. Die ganze Wade ist zerfetzt, aus der Wunde sprudelt das Blut. Er hatte nichts davon gesagt, wann schon hatte ihn der Splitter getroffen? Wie konnte er mit dieser Wunde, diesen Schmerzen noch mit mir vorgehen?

Ich schaue ihm fragend und erschrocken in die Augen. Er zuckt mit den Mundwinkeln, macht eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. Aber während ich ein Verbandpäckchen nach dem andern auf die Wunde presse, fängt er auf einmal an zu stöhnen, wird ganz bleich und sinkt langsam hintenüber an die Stollenwand. Ernst, Erne!

Alle starren auf einmal zu mir her. Hab ich das geschrieen? Da kehrt der Blick aus seinen verdrehten Augen wieder, fällt in den meinen. Wieder macht er, nur schon viel müder, die wegwerfende Bewegung, aber wieder sinkt er zusammen.

Wir legen ihn auf eine der Drahtfallen, ich sitze bei ihm. Jeder hat noch einen letzten Schluck Kaffee in seiner Flasche, den er sich für den Sturm aufgespart. Jeder bringt ihn herbei.

Erne öffnet schmal die Lippen, trinkt, verschluckt sich. Ich schiebe ihm einen Tornister unter das Kreuz, halte ihm den Kopf. Ich schäme mich vor den Kameraden, komme mir weich und unbeholfen vor. Aber Ernst trinkt nun, ein, zwei Becher – noch einen – wischt sich mit der Zunge die Lippen, lächelt auf einmal vor sich hin, sucht mit seiner Hand die meine, drückt sie, lächelt noch einmal und legt den Kopf zur Seite, auf den Tornister zurück.

Alle starren her. In die Stille klingt nur das dumpfe Trommeln des Feuers. Ich neige mich über ihn – Erne – Erne – stirb mir nicht – stirb du nicht – Erne! Und wenn es einen von uns nehmen muß, warum dann nicht mich? Zwei-, dreimal atmet er tief und dann liegt er wieder totenstill. Ich weiß nicht, lebt er noch oder ist er schon hinübergegangen zu den andern allen, die heute fielen? Ich kann ihn nicht bewegen. Trinken kann er nicht mehr. Der Kaffee läuft aus dem aufgebrochenen Mund wieder heraus. Ich kann nichts tun als seine Hand halten und warten. Beten kann ich für ihn – vielleicht nützt es – beten und da ist wieder jener Choral, ohne Worte, nur im ganzen, eine Form, in die ich all meinen Willen presse, daß der Freund leben soll: Ein feste Burg – ein gute Wehr und Waffen –

Ich sehe immerzu in sein totenblasses Gesicht und halte seine Hand, die nicht kalt wird und starr, sondern sich langsam erwärmt in der meinen.

Es ist bald vier Uhr. Wir müssen die in der Gegend, in Stollen und Trichtern verstreuten Gewehre, und was noch übrig ist von der Kompanie in Sturmstellung sammeln, sagt der Kompanieführer, zwei gehen hinaus.

Das Feuer dröhnt oben dumpf. Alles starrt betreten vor sich hin. Unser junger Zugführer erhebt sich zögernd unter dem Blick des Kompanieführers und sieht mich fragend an. Ich streiche einmal noch über die Hand des Freundes, nehme Gasmaske und Pistole, setze den Helm auf und steige mit dem andern die Stufen des Stollens empor. Sowie wir den Gang hinaufklettern, schwillt der Lärm des Feuers draußen zum Tosen auf.

Als wir ganz oben sind, und vor dem Blick sich die Erde aufhebt und zu kochen scheint, als gerade vor uns ein Einschlag liegt, der uns Steine und Dreck entgegenschleudert, da sinkt er mit vor Schrecken aufgerissenen Augen am Stolleneingang zusammen. Sein Rock ist ganz neu. Er muß erst frisch als Ersatz aus der Heimat gekommen sein, war vielleicht zum erstenmal im Feuer, in solchem Feuer. Ich sehe ihn, sein Aufspringen erwartend, an. Er zuckt die Achseln, unfähig, sich zu erheben. Aber die Gewehre! Es ist bald Sturmzeit! Meine Armbanduhr hat schon über halb vier.

Ich schreie ihm etwas zu, das der Granatlärm verschluckt, zeige hinaus in die kreidegrauen Trichter. Es wird schon Tag.

Einer muß gehen, die anderen holen. Wenn er nicht mitkann, dann in Gottes Namen – allein.

Und um mich, nicht wahr, Evelyn, um mich ists ja nicht schad.

Dann gebe ich mir einen Ruck und stürze in das Feuer hinein und schon wirft mich ein Einschlag nieder, deckt mich halb zu, aber ich bin unbehindert, ich habe keine Last, keinen Schlitten, kein Gewehr, springe leicht auf, in den nächsten Trichter hinüber, und dort, dem alten Laufsteg nach, dort in der Nähe werden sie sein.

Es ist wie eine Mondlandschaft: Krater, halbhaustiefe Trichter. Ich finde eine Besatzung in solch einem Trichter: fünf Mann, fünf, nein, einer ist tot; zwei starren aus Kindergesichtern vor sich hin, zwei aber sitzen nebeneinander, rauchen.

Ich winke ihnen Aufruf und Richtung zu. Sie nicken, machen sich auf, durch das Feuer hinüber zum Stollen, wo die andern sind.

Vier Gewehre bringe ich zusammen. Mit dem letzten komme ich selbst durch dies schon wieder veränderte Trichterland in dem Augenblick an den Stollen, in dem die anderen heraufkommen. Das Feuer läßt nach.

Mein Zugführer hat sich wieder in der Gewalt. Betreten schaut er mich an, aber ich sehe ihm ruhig in die Augen, lächle nicht. Ich verstehe ihn, wir kennen ja alle diese Augenblicke der Schwäche, des völligen Versagens. Es geht vorüber, besagt nichts. Ich frage einen Schützen voll Sorge nach Erne, da lächelt der und zeigt hinter mich. Da steht, ein MG auf der Schulter, der Freund, totenbleichen Gesichts, aus dem aber in ruhiger Klarheit die Augen schauen. Ja, als er mein Erstaunen sieht, geht ein Lächeln über seine Züge. Ehe ich vor Verwunderung die Sprache wiederfinde, um ihn zu bitten, nach dem Blutverlust doch hier im Stollen zu bleiben, gibt der Kompanieführer mit der Signalpfeife das Zeichen zum Vorgehen. Wir treten an, nach dem Kompaß, Richtung auf die beiden zerschossenen Baumstrünke auf der Höhe haltend, die schattenhaft in den Morgenhimmel starren.

Wir treten, von zwölfen noch vier Gewehre, an zum Sturm. Ich denke an Evelyn. Es ist vier Uhr morgens. Sturmzeit.

 

Mit gefälltem Gewehr, mit schußfertigen MGs gehen wir gegen den ersten Graben vor. Kein Schuß, kein Widerstand, kein Gegner, der zweite, der dritte – leer! Sie sind zurückgegangen, erwarten uns in einer Aufnahmestellung. Wir sind verraten. Das Feuer lag falsch.

Die Gräben sind überschritten, die Kuppe des Berges genommen. Jenseits in die Ebene hinunter tragen wir den Sturm, mit Gewehr und Handgranaten und Spaten. Durch Morgennebel und Gasschwaden schimmert der Julimorgen herauf. Vor uns, in der Ebene, kilometerweit dort vorn, zieht eine Straße durchs Tal, von Pappeln bestanden, deren schräge Schatten sich dunkel von dem hellbeschienenen Feld abheben.

Hinter einer Erdwelle kurze Rast, neue Gewehr- und Zugführer treten an die Stelle der gefallenen.

Feindliche Maschinengewehre streichen die Gegend ab. Erde spritzt neben mir auf. Von dort her pfeift der Geschoßstrahl, in dem Trichter dort scheinen sie zu sitzen. Wir werfen das schwere Gewehr in Stellung; einen Gurt mitten hinein. Das feindliche MG schweigt. Wir stürzen, nun einzeln und gewehrweise, vor, nehmen Stellung, mitten zwischen den Ketten unserer vorlaufenden Infanterie, fassen überhöhend oder mit direktem Schuß die verstreuten Nester der Verteidiger, in die wir mitten hineingestürmt sind. Um uns her schlagen die Granaten ein, die Ohren gellen, vor uns raucht und dampft die ganze sonnenbeschienene Ebene.

Welle auf Welle stürzt heran, zwischen unseren Gewehren durch, vor, hinunter in die Ebene. Wir packen zusammen, rennen in kurzen Sprüngen nach, eröffnen das Feuer, stoppen, stürzen wieder vor.

Der Rachen ist ausgebrannt vom Gas. Blau- und Gelbkreuz haben sie geschossen. Die Haut schwillt auf, bildet Blasen vom Reiz der. Gase.

Weiter, dort vor in die Ebene.

Der Widerstand der Feinde wird zäher. Sie sind vorbereitet auf den Sturm und oft in der Überzahl. Aber wir haben die Offensive für uns. Die Welle des großen Sturmes trägt uns ohne Halt voran. Ein paar von uns nehmen ganze Haufen von Feinden gefangen, schicken sie unbewacht zurück. Weiter, weiter vor branden die Wellen des Angriffs, über die jetzt stark besetzten Aufnahmegräben hinweg, weiter vor, wo die hohen Pappeln die Straße säumen – die erste Kette erklettert den Straßendamm, wird wieder heruntergeworfen vom Strahl der Geschosse. Wir entdecken eine Unterführung, das schwere MG geht gerade durch, schon sind wir drüben, ein paar Infanteristen dabei, und da – der Bataillonsführer selber – mein Gewehr ist in Stellung, – der Graben wird seitlich unter Feuer genommen, aufgerollt, abgedämmt mit Erde und Sandsäcken in fliegender Hast.

Aber die Infanterie kommt nicht nach. Die Straße ist nicht zu überlaufen, haarscharf wird sie ununterbrochen von den feindlichen MG-Schützen bestreut. Aber wir paar bleiben vorn. Wir können hier nützen und das spätere Vorgehen der Infanterie unterstützen und decken.

So, da wären wir, eingebaut sind wir. Bald werden die anderen vorkommen und unsere schwache Stellung verstärken. Aber der Gegner will uns den Graben nicht lassen. Von der Flanke prasseln plötzlich Geschosse heran, mein Richtschütz schreit auf, stürzt auf das Gesicht, bleibt liegen, ein paar der mitgekommenen Infanteristen torkeln durcheinander, Gewehrgranaten platzen mit hellem Knall zwischen uns herein. Mein dritter Schütze, und was hier vorn schlimmer ist, mein Gewehr ist getroffen, das MG ist zerbeult, der Schloßkasten durchschlagen, der Mantel –

Es muß Mittag sein, die glühend heiße Sonne steht senkrecht über uns, unsere Schatten am Boden sind klein.

Kommen sie nicht vor? Können sie uns denn nicht helfen, kommen wir denn über diesen Teufelsgraben nie hinaus? Auf einmal Geschrei und Getöse hinterher Sandsackbarrikade. Handgranaten krachen, mein letzter Schütze sinkt neben mir zusammen, umkrampft mit beiden Armen meinen Stiefel, hindert mich, hält mich fest – ich trete mich frei – vor mir, da, blaue Helme, ein feindlicher Stoßtrupp, keuchende Gesichter – aufschnellende Wurfarme, Krachen von Granaten, aufgerissene Augen, aus denen das Weiße blinkt – Geschrei hüben und drüben –

Meine beiden letzten Granaten reiße ich ab, werfe sie hinüber, unter die drüben hinein, sie krachen auf, ein paar stürzen, alles drängt gegen-, aufeinander, ich reiße die Pistole aus dem Gurt, fünf, sechs, acht Schuß aus dem Lauf, der neunte, der letzte Schuß, hinein in den Tumult, ein Gesicht sinkt vor mir nieder, Arme werfen sich auf da stürzt einer auf mich zu, das spitze, lange Bajonett fährt gegen mich an – ich habe mich verschossen, ich habe keinen Schuß mehr – da reiße ich mit raschem und verzweifeltem Griff die Leuchtpistole aus der Koppel, drücke, mitten in das verzerrte Gesicht des Stoßenden hinein, ab – in einer Magnesiumflamme bricht er vor mir nieder, das Bajonett sticht neben meinem Stiefel in den Boden – Verschossen, keine Patrone, keine Handgranate, nichts mehr – da – dort – der lange Spaten meines MG-Schützen, ich reiße ihn dem Toten aus den verkrampften Händen, schwinge das Eisenblatt am langen Stiel hoch über mir, stürze mich auf die Sandsackbarrikade zu; gleich, Evelyn – gleich ist es so weit – strahlender Himmel – hoch und blau – Weite – alles Weite – gleich, Evelyn – ich bin fertig – sofort sind sie heran – ich habe keinen Schuß mehr, keine Granaten, nur noch meinen Spaten, und mit dem will ich mich wehren, ich gehe nicht zurück, – leb wohl, Evelyn – wehren, bis sie mich niederschlagen.

Die plötzliche Stille ist wie ein Wunder. Jetzt erst sehe ich die andern. Sechs, acht leben noch, Verwundete liegen um mich her, einer preßt die Hände auf den Leib, wälzt sich auf dem Rücken hin und her, aber kein Schrei stößt aus dem weit offenen Mund.

Der feindliche Stoßtrupp ist zurückgeworfen, ist abgeschlagen.

Wir schleppen in Zeltbahnen unsere Verwundeten durch die Unterführung zurück, verbinden sie, geben sie den Sanitätern.

Hier ein breiter und tiefer Graben. Hier bauen wir uns ein mit einem unserer letzten Gewehre, hier wehren wir die Gegenstöße der Feinde ab, beschossen von eigenen schweren Geschützen, deutschen Einundzwanzigern.

Sieben Tage, sieben Nächte. Feuer, Hunger, brennender Durst. Einer brachte einmal am glühend heißen Mittag des dritten Tages eine Koppel voll Flaschen mit Wasser, das er von der kleinen Quelle, die dauernd unter Feuer lag, herangeholt hatte, die Flaschen aus rostigem Eisenblech, mit dem graubraunen, fleckigen Plüschüberzug, Flaschen, aus denen alles faulig schmeckte, aber Flaschen voll Wasser. Als er sie niederlegte, um sie zu verteilen, wurden sie von einer krepierenden, herumliegenden Steckzünder-Handgranate, auf die einer trat, zerrissen. In den eroberten Stollen fanden wir viele Sardinen, aber unser Magen nahm sie nicht an. Und der Durst wurde unerträglich durch ihren Genuß. Dann sammelten wir in einem Trinkbecher das ölige Wasser aus den Eisenmänteln der zerschossenen MGs, verteilten und tranken es tropfenweise.

Während des stärksten Feuers gingen wir einmal in einen der tiefen Stollen der eroberten Stellung. Ich stieg hinunter und rief hinein. Er schien unbesetzt und keine Falle zu sein. Nichts rührte sich.

Ich brannte ein Zündholz an, da fiel der Schein auf zwei hingekauerte Gestalten, die sich mühsam erhoben und die Hände hochnahmen: zwei Gegner. Ich brannte ein Papier an, legte die entsicherte Pistole vor mich auf den Tisch und entzündete den Kerzenstummel, der in einem Flaschenhals stak. Die beiden rührten sich nicht, starrten mich mit entsetzten Augen an. In das dumpfe Trommeln des Feuers klang die heisere Stimme des einen: Schonung, Gnade!

Beide waren verwundet, große, stämmige Leute, der eine hatte einen Brustschuß und atmete schwer.

Da kamen die andern die Stollenstufen heruntergepoltert, sahen die beiden. Die sprachen, fast flüsternd, auf uns ein, und wir übersetzten, soweit es gelang. Ja, sie seien verwundet, sagte der eine, sie hatten keine Waffen, sein Freund sei fast tot, wir sollten sie schonen. Sie taten uns leid, und als einer mit ein paar entdeckten Büchsen ankam, gaben wir ihnen ab und ließen sie trinken vom Rest unseres Wassers. Traurig und elend saßen sie in ihrer Ecke, der Kleinere konnte sich nicht mehr bewegen.

Da schrie der Posten herunter: Der Stollen brennt! Heraus, heraus! Und schon drang Qualm und stickiger Rauch in dichten Schwaden herab, das brennende Öl eines zerschossenen Flammenwerfers lief über die Stufen, alles entzündend.

Alle sprangen auf, griffen nach Maske und Gewehr und stürzten durch den brennenden Gang hinauf ins Granatfeuer, das auf dem Graben lag.

Nur zu dritt standen wir noch im Stollen und dort in der Ecke die beiden Feinde, deren Augen sich in Entsetzen weiteten.

Mühsam erhob sich der eine, nahm die Hände des anderen, und setzte sich schweigend und ergeben wieder neben ihn, sein Schicksal zu teilen.

Als wir ihnen über die flammende Treppe halfen und den Verwundeten mit hinaufschleppten, da rannen dem in einem fort die Tränen aus den Augen. » bons camarades« sagte er mit leiser, fast ersterbender Stimme, » bons camarades«.

Sturm und Abwehr. Sieben Tage und Nächte. Am achten Tage, wieder einem Sonntag, kamen wir zurück. Von einhundertzehn noch zehn, und ich war darunter. Hinter uns lag der Berg, den wir gestürmt, hinter uns die Pappelallee, die wir erreicht hatten. Wir waren kilometertief in die feindliche Stellung eingebrochen, hatten nach falsch liegendem Feuer Graben um Graben, Nest um Nest, aus der Hand gestürmt, aber wir waren verraten, wir waren nicht durchgebrochen. Hier hatten wir den Krieg verloren, hier war unser letztes gutes Blut versandet.

Wir würden noch ein paar Monate hinhalten, wir würden selbstverständlich ohne Befehl nicht zurückgehen, aber eines Tages würden wir von der Übermacht, der wir nur noch unsere verbrauchten Truppen, unsere ausgeleierten Kanonenrohre gegenüberstellen konnten, zerrieben.

Siegen? Das wußte jeder von uns, war jetzt Irrsinn, aber einen anständigen Frieden, ob wir den vorher noch, ehe es soweit kommen mußte, bekommen würden?

Sieben Tage, sieben Nächte im Feuer der Offensive und umsonst.

Und ich, Evelyn, ich lebe!

 

Wieder birkenbestandene Wiesen, wieder Sonntag. Wir wuschen uns, zogen uns neue Wäsche über, aßen reichlich und empfingen Post. Ich bekam von der Mutter einen Brief, der schon mit der Aufschrift »tot« zurückgehen sollte, und in dem sie mich um ein Lebenszeichen bat. Seit Tagen schon hörten sie das Dröhnen der Kanonen, und sie wüßten, wir seien dabei, und ein schweres Maschinengewehr habe nach dem Tagesbericht den südlichsten Punkt der Offensive erreicht, die große Straße überschritten. Wie gut, daß ich das nicht gewesen sei. Sie spüre, daß ich lebe, aber ich solle schreiben, damit sie Gott danken könne für die Rettung ihres Jungen.

 

Ersatz war gekommen. Junge Leute mit Knabengesichtern. Die Kompanien wurden aufgefüllt, die Lücken geschlossen.

 

Drüben, an der Straße, im Sturmfeld lagen die Toten, die Freunde, die waren wie wir. Sie hatten das Ihre getan, sie ruhten, sie wußten im Hinsinken, daß wir weiterführen würden, was sie begonnen, bis auch uns einmal die Kugel niederstreckte oder der Schlamm des Trichterfeldes verschlang, und wieder andere die Lücken füllten, die wir sterbend gelassen. Auch sie mochten versinken im Wirbel der Schlachten, aber unser Zug, unsere Einheit würde bestehen, würde weiterfechten um die Sache des Ganzen, auf allen Feldern des Krieges, und später des Friedens, auch wenn wir, der Einzelne, lange vergessen. Nachmittags erfuhren wir, daß wir noch am selben Abend auf Lastautos verladen würden. Rechts von uns sei der Feind eingebrochen und wir sollten ihn aufhalten. Es stünde schlecht.

 

Vor dem schreiend roten Abendhimmel standen düster und schwarz die hohen Pappeln der Straße, auf der die Lastwagen hielten.

Wir wurden verladen. Zusammengepreßt pferchten wir uns mit unserem Gerät aneinander, und unter dem Brummen der Motoren, dem Schlagen der Räder fuhr die Division in die Nacht hinein, die sternenklar war und kalt. Wir fuhren schon eine Zeitlang, da verstärkte sich plötzlich das Motorengeräusch. Es schien nicht vom Boden, sondern aus der Luft zu kommen: feindliche Flieger hatten uns entdeckt, flogen über uns die Straße ab.

Wehrlos, eng aneinandergepreßt, hockten wir schweigend auf unseren Wagen, die unentwegt weiterfuhren, solange nicht Leuchtschirme herabsanken und alles aufflammen ließen in grellem Magnesiumlicht, das unsere nachtgewohnten Augen blendete. Dann hielten sie mit hartem Ruck, aufeinanderprallend, an.

Totenstille herrschte dann. Wir wagten kaum zu atmen und warteten klopfenden Herzens auf den Abwurf der Bomben. Stunden um Stunden ging es so unter den feindlichen Fliegern dahin.

Einmal war großer Halt. Von weiter vom klangen kurz nacheinander zwei dumpfe Detonationen, roter Feuerschein füllte die Nacht.

Beim Weiterfahren kamen wir an den Resten der getroffenen Lastwagen vorüber. Volltreffer. Auf jedem waren, so eingepfercht wie wir, dreißig Mann gesessen, zwei Wagen waren getroffen.

Zehn Stunden ertrugen wir diese Fahrt unter dem Brummen der feindlichen Flugzeuge. Endlich, endlich Tag, und endlich Aussteigen, endlich offener Kampf.

 


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