Albert Schramm
Der innere Kreis
Albert Schramm

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Abends kamen zur Musik Freunde auch in unser Häuschen. Mozart, Beethoven, Reger-Streichquartette wurden gespielt.

Wir waren im langsamen Satz des Beethoven, da schrillte die Glocke des Fernsprechers, dieser infernalischen Quälmaschine, und widerwillig, wie stets in der Nähe dieses Feindes aller Ruhe und Gesittung, hob ich den Hörer ab. Eine vornehm näselnde und doch anmaßend eindringliche Stimme klang mir ins Ohr.

Aller Mut verließ mich. Der schöne Sonntagabend war dahin, dahin die Freude an Musik und häuslicher Ruhe. Sie wußte, heute war Sonntag, heute konnte ich mich nicht hinter zu viel Arbeit verstecken. So war also der Kleinkrieg, den diese Quälerin ihrer Umgebung seit Jahren gegen mich führte, wieder im Gange.

Alle Ausreden, alles Flehen half nichts. Der Arzt vom Sonntagsdienst sei nicht zu erreichen und auch kein anderer der Kollegen (ich wußte wohl, daß sich jeder bei ihr verleugnen ließ). Sie erhob Anspruch auf einen sofortigen Besuch durch Angabe von Symptomen, die einer akuten Krankheit entsprachen, und die sie mit so genauer medizinischer Kenntnis zu schildern wußte, daß ich die Verantwortung einer schroffen Ablehnung oder gar die Gefahr einer Versäumnis nicht auf mein ärztliches Gewissen nehmen mochte, obgleich ich von ihrem Täuschungsversuch schon jetzt überzeugt war. Aber die doch vorhandene Möglichkeit einer Gefahr zwang mich in den Wagen. Heftig trat ich den Gashebel durch, daß der Motor wie ein geschlagenes Tier unter meinem Zorn aufheulte, und fuhr hinein in die Stadt. Der nach der harten Arbeitswoche verdiente und nötige Abend im Kreise der Meinen war mir ohne Grund genommen. Und draußen spielte das Streichquartett weiter. Ich hatte wenig Hoffnung, den Reger noch zu hören. Die ganze Woche hatte ich mich gerade auf ihn gefreut. Auf mein wütendes Klingeln öffnete mir ein Mädchen mit gestärktem Häubchen. Sie müssen aber hier warten, bis ich Sie gemeldet habe und wieder herunterkomme, rief sie mir entsetzt nach, als ich sofort und ungehalten die Treppe hinaufstieg.

Es war nicht anders, als ich es erwartet hatte. In der Bettnische, auf weichen Pfühlen hingestreckt, mit rosaseidenem Spitzenjäckchen bekleidet, das sie über dem Busen kokett zu schließen vergessen, glänzte mir die Erhabene entgegen. Schmelzend vor Liebenswürdigkeit ihr Gruß. Lieber Doktor – ich hab Sie herbitten müssen, – leider, – denn ich weiß ja, daß auch der einfache Arzt seine Sonntagsruhe braucht. Aber ich konnte natürlich unter keinen Umständen säumen, denn die Symptome weisen so eindeutig auf Appendicitis (sie verwandte das lateinische Wort für Blinddarmentzündung), daß ich unbedingt eine Untersuchung veranlassen mußte. Der Fluß ihrer Worte wurde in seinen Wiederholungen so lächerlich, daß mein Zorn schon fast verflogen war und mir der Schalk im Nacken saß. Mit viel Sorgfalt untersuchte ich also an dem dafür bekannten Punkt, bei dessen leichter Berührung meine plätschernd daherredende Schwerkranke vorübergehend in Schmerzensrufe ausbrach, um sofort nach erfüllter Pflicht weiter zu reden.

Nun erklärte ich ihr, ihre Annahme sei richtig. Man müsse sofort operieren.

Ich erhob mich, um angeblich zur Klinik zu fahren, sie anzumelden. Nun aber zeigte sich, daß ihre Beschwerden allein durch die Anwesenheit des Arztes so viel leichter geworden waren, daß man auf die Durchführung der Operation verzichten konnte. Unaufhörlich aber ergoß sich ihr Gerede in meine Ohren.

Draußen, im Häuschen, würden sie jetzt wohl eben mit dem Reger beginnen. Und hier, bei dieser Frau, die nun plötzlich durch übertriebene Zeichen einer Herzschwäche eine weitere Untersuchung erzwang, sollte ich meine Erbauungsstunde vergeuden! Hier, wo für einen Arzt nichts zu tun war.

Als nun, ganz unvermittelt, auch eine alte, fast vergessene Knöchelentzündung wieder Beschwerden verursachte, da war es für diesen Abend genug.

Ich entschloß mich zu ruhmloser Flucht.

Freundlich, wie es mir die Würde des Standes gebot, verließ ich die Enttäuschte..

Rasch fuhr ich hinaus zu den Freunden. Ich kam recht, um ihr Gespräch über den Reger zu hören, den sie soeben beendet hatten. Um diese Zeit war in der Stadt ein Fest gefeiert worden und wir waren geladen. Einmal wollten wir wieder den Ring überspringen und mit anderen zusammen sein. Obwohl wir meistens der Stille bedurften, da uns die Arbeit zwang, Tag für Tag mit Ungezählten von morgens bis abends das eigene Ich zu verbinden, und es also unsere Pflicht war, das Reden, die Klagen der andern zu hören, in uns herüberzunehmen, um ihnen zu helfen, auch wenn wir wußten, daß sie schal übertrieben und oft anmaßend waren. Keiner nämlich vermag einem Kranken zu helfen, wenn er nicht dessen Last, dessen Not auf sich selbst überträgt und sie duldet. Dies aber ist schwer und die Not so vieler andern oft kaum mehr zu tragen. Und darum sind dem Arzt Zeiten der Stille, des Ruhens, der Sammlung so nötig wie kaum einem andern, nicht nur um seiner selbst willen, sondern um Kräfte zu schöpfen, die Bürde der andern zu tragen. Deshalb, weil sein Leben grausam eingespannt ist in das Kranke und Sieche, das Haltlose und Sinkende, in die Klammern der Not und des Leidens, deshalb liebt es der Arzt, Gesundes zu sehen: das Grüne im Frühling, das Blühen der Rosen, das gesunde Lachen eines Kindes, oder, nach der Enge der Kammern der Krankheit, die Weite der Landschaft, die blauende Flucht ferner Berge, und statt der ewigen klagenden Worte das wohlige Rauschen des Waldes, oder auch einmal wieder das Untertauchen in die lustige Freundschaft Gesunder. Also gingen wir hin, bereit zu jeglicher Freude.

Aber schon, als wir sahen, wie sie laut waren vor sich und den andern, wurden wir stiller. Narrentanz schien das Ganze zu sein, fern von den grünenden Ufern der Freude. Aber wir mühten uns, ihre Gesten zu teilen, und so wie sie der Not und der Last zu vergessen, wie sie das Wissen um Kranksein und Sterben einfach beiseite zu tun und zu glauben, es gäbe nur Froheit der Sinne. Uns schien aber im ganzen festlichen Saale nichts von der inneren Freude zu sein, nur wenige waren hinabgetaucht auf den Grund ihres Glücks. Sie tanzten in stiller Bewegung und ihre Körper nahmen sich an, schön, wie die Stunde das Glück, und verträumt, wie die Gräser die Sonne. Durch die Masse der Lautheit glitten sie hin, beseligt und einsam, als trüge ihr Kahn sie durch Bläue und Weite.

Auch wir tanzten zusammen, und wieder spürten wir, wie Bewegung und Rhythmus mehr sein kann als Bindung durch Worte, wie das Schwebende, Tragende, still entzückt und behütet, und daß der schöne Tanz eine Hingabe ist, ein Nehmen und Geben, so sein, wie nichts sonst an Klang und Bewegung.

Laut aber waren die meisten. Es wurde viel gelacht und getrunken. Als aber, um die Gegenwart des Arztes auszukosten, eins nach dem andern begann, die eigenen Leiden zu nennen, und auch hier den Arzt nicht mit Fragen verschonte, ihm gleichsam den Boden des Festes und seiner Erholung entzog, ging Sventha nach Hause, um im Kreis ihres innersten Reichtums, bei ihren Kindern zu feiern, in gedachter Gemeinsamkeit all jener, die ebenso fühlten, die eine Gemeinschaft verband, ein heimlicher Orden, der nie sich mit Worten bekannte, und dennoch bestand. Das ist die Gemeinschaft der Stille, der Eltern, der Liebe, des innersten Volkes.

Ich aber blieb, ich wollte die Freude erzwingen. Ich gedachte verwundert der Studentenzeit, in der wir unmäßig waren in der Gewohnheit des Trinkens, aber doch trunken wurden des Weins und der Jugend. Lag sie denn so weit zurück? War es denn möglich, daß wenige Jahre der Arbeit in Krankheit und Qual die Quellen des Lebens zu verschütten vermochten? Oder war es doch anders? Lernten wir, die doch in jene dunkleren Tiefen der Not täglich hinunterstiegen, früher als andere, die Freuden zu sichten, sie besser und strenger zu werten?

Ich wußte es nicht, ich wollte genießen! Aber je mehr ich trank und je lauter mein Singen geworden, desto stiller und einsamer ward es in mir, und auf einmal sah ich mich als kleinen Jungen, mitten im Trubel des Jahrmarkts stehend, den alle jubelnd genossen, und sah mich jämmerlich weinen.

Niemals ist das Gefühl des Verlassenseins und die Sehnsucht nach einfacher Stille so groß als in ihrem Gegensatz, inmitten der andern, die festen und feiern. Erst spät in der Nacht, als die Paare und Frauen gegangen, da fanden sich Männer zusammen. Sie hatten Flaschen mit Wein und luden mich ein – nach Borgun.

Sie stürmten zum Wagen und als ich herauskam, war er schon voll, ein anderer saß schon am Steuer, und eben fuhren sie an, und hatten doch mich und den Hausschlüssel vergessen. Ich rief, ich lief ihnen nach, und da plötzlich brach etwas auf, was dunkel geruht, und ich rannte dem Auto zur Seite, stützte mich laufend auf und sprang in freiem Satz in den offenen Wagen. Auf schrieen vor Schreck die Gesellen, doch ward ich freundlich im Fond gebettet, quer vor den Füßen der Freunde, und lehnte mich an die Tür und fühlte mich frei und geborgen.

Ich spürte wohlig die Schwingung der Kurven, ich hörte das Schreien, als einem der Wind den Hut fortgerissen, ich hörte die Schreckensrufe der Freunde, als in der unteren Biegung des Wegs am Wald der Wagen sich neigte und auf zwei Rädern die Kurve erkämpfte. Ich rührte mich nicht. Alles war Seligkeit, alles war Lösung, alles war Freude. Aus dem Knurren des Motors schloß ich, daß wir den Berg, den oberen Weg zum Waldrand erklommen. Tief unter uns war nun das Tal, neben uns schossen die Hänge ins Dunkel.

Ich sah hinauf, wo vor glitzerndem Himmel die Äste der Föhren und Eichen vorüberglitten und war fröhlich, wie ich es lang nicht gewesen.

Aussteigen! rief eine Stimme. Ich hörte das Knacken des Schlosses der Tür, daran ich lehnte, ich wollte noch rufen, aber schon schlug die Wand, die mich schützte, nach außen, ich rollte aus dem fahrenden Wagen hinaus und hinunter ins Dunkel. Da lag ich nun, ordensgeschmückt, eine Hecke hatte mich aufgefangen, im Frack in der Wiese. Groß standen die Bäume des Waldes zu Häupten und drüben war der Schatten des Firsts von Borgun. Ich schleppte mich hin, und sah oben die Lichter des Wagens.

Als sie endlich herunterkamen ans Tor, war ich da, um die Gäste zu begrüßen. Sie glaubten es nicht, und einer lief hinauf, mich im Wagen zu suchen. Der kleine Oberarzt der Klinik aber war stolz, als ich ihm sagte, was war, und wie ers gemacht, und wie mirs gegangen.

Noch war es kühl in Borgun, doch der Kachelofen brannte, das Feuer schlug auf und wir tranken zusammen, der Ophthalmologe, der Kinderarzt, der Ornithologe, ein Philosoph, ein Hauptmann, ein Sänger und ich.

Schon glänzte der Wein in den Gläsern, als das Brummen eines Wagens uns aufhorchen ließ. Die Wagentür schlug, und fordernde Fäuste pochten ans Tor von Borgun. Herein trat der Kapitän, der Beste von allen, der Sieger vom Skagerrak. »Kapitänleutenant – Fähnerich-Sergeant« sang zum Gruß der Chor der Genossen. Seine Augen sprühten vor Feuer, fast wie der Wein in den Gläsern.

Nun ward es ein Fest. Die Bürgerlichen wurden zu Fürsten ernannt, die Gelehrten zu Geheimräten, der Hauptmann zur Exzellenz, und der Kapitän, der edle unter den Männern, wurde Admiral.

Die Zeremonie der Großen war unser. Eine Welt ward erfüllt, die wir oftmals verspottet, doch niemals besessen, und das Zeichen der Würde war Wein.

Die Kerzen brannten in silbernen Leuchtern, wir stießen die Gläser zusammen und tranken. Wir sprachen von Leben und Tod, von Weibern und Pferden, von Ferne und Heimat, und zuletzt auch vom Krieg. Wir gedachten der Toten und stießen die Gläser zusammen. Wir wußten die Freunde am Tisch, die die Erde von Frankreich umhüllte, die Erde Europas und die Fluten unendlicher Meere. Ein jeder bekam seinen Römer, wir tranken für sie, und schlugen die Gläser zusammen. Scherben klirrten und Wein rann über das Laken.

Dann sangen wir noch »Den schöneren Tod« im Bewußtsein des Lebens und bereit, es zu lassen für das, was wir liebten, die Heimat, wenn wir wieder marschierten:

Kein schönrer Tod ist in der Welt,
als wer vorm Feind erschlagen – –

»Wir zogen in das Feld« sang der Sänger mit grundlosem Baß und dann erklangen die fröhlichen Lieder der Runde. Der Admiral aber war müde und legte sich still auf den Teppich und schlug ihn, als es ihn fror, über sich zusammen, drehte sich schlafend weiter und hüllte sich ein.

Wir rollten ihn vollends in dem großen Teppich zusammen, banden ihn zu, damit ihn nicht friere, feierten weiter und sangen still und froh das Lied vom Seemannsgrab: »Eingehüllt in Segeltücher sinkt er nun ins Meer hinab« –

 

Später aber, als der Morgen nahte und wir scheiden mußten, vergaßen wir, ihn mitzunehmen, da er ja selbst einen Wagen hatte, der aber nicht oben am Weg war, sondern irgendwo in der Wiese. Und wir hatten genug mit uns selber zu tun. Denn der Ornithologe fuhr mit dem Heck des Wagens bis dicht an die Böschung, zu wenden, und als er Gas gab und der Wagen mit grobem Ruck ansprang, daß der Motor aufheulte vor Weh, da hatte er rückwärts geschaltet und wir schossen hinaus über den Hang, hinunter in die Wiesen.

Da hingen wir denn. Doch der Wein gab uns Kraft und wir hoben das Fahrzeug zusammen mit Balken und Stricken und munterem Gesang auf die Straße, stiegen ein, und der Kinderarzt fuhr mit behutsamen Händen. Der Nebel dampfte im Tal.

 

Längst schon lag ich im Schacht meines Schlummers. Sventha, die Treue, versorgte die Kranken. Tief im Vormittag weckte sie mich. Die Sonne fiel grell in die Fenster. Frau Hansen ist hier. Ihr Mann sei verloren, man wisse nicht, wo er geblieben. Gestern sei er letztmals gesehen worden, als er allein mit seinem Wagen in der Richtung der Hauptstadt gefahren. Nun sei sie wirklich in Sorge. Ob ich etwas wüßte.

»Borgun« sprach ich schlicht und schlief wieder ein. Die Frauen aber fuhren hinaus vor die Stadt und hinauf auf den Berg und fanden den Wagen des Gatten tief in den blühenden Wiesen, still ruhend auf der Seite liegen. Die Scheiben waren zersprungen, vom Mann keine Spur. Als sie ins Haus traten, schlug ihnen Qualm und der Geruch gewesenen Festes entgegen.

Durch die hohen Fenster floß friedlicher Schein. Nichts war zu finden. Der Mann war nicht hier.

Wie ordentlich Ihr Mann ist, meinte Frau Hansen, sogar den Teppich rollte er auf und legte ihn zur Seite, damit er nicht begossen würde.

Da klang ein Stöhnen auf, geheimnisvoll aus den Wänden. Man kennt es von Sagen. Aber keiner war da, ders gewesen.

Die Frauen rollten nun den Teppich auf, der schwer war wie Stein. Und darinnen lag, blau im Gesicht, aber friedlich, der Mann. Sie weckten ihn mühsam.

Er aber hatte vom Kriege geträumt, erkannte die Frauen als Fremde und sprach die ergreifenden Worte: Laßt ruhen die Toten – ich bin mein versunkener Freund – und er ist mein Leben –

Und die Lider sanken ihm zu und es barg ihn der schützende Schlummer.

Sventha fuhr wieder zur Stadt, doch die Freundin blieb draußen, kochte Kaffee und half dem Herrn ihres Hauses und Hüter der Herzen zu spätem Erwachen – – –

Dann, als wir abends hinauskamen und unsere Gäste besuchten, da standen am Himmel die Sterne.

Der Admiral aber sprach:

Noch immer nicht Morgen!

 

Der Tag war voll Unrast, Gehetze und Nutzlosigkeiten gewesen. Viele hatten gerufen, manche gequält mit nichtigen Dingen. Ich selbst aber spürte mein Herz von der Arbeit der letzten anstrengenden Jahre.

Müde und mißgelaunt kam ich zum Essen. Es ging schon tief in die Nacht.

Sventha war ruhig und gütig, wie stets in besonderem Maße, wenn mich der Erfolg des Tags nicht befreite.

Zum Lesen war ich zu müde und Musik war mir zu schwer, und doch waren die Nerven übererregt von der Arbeit. Ich nahm ein Mittel und legte mich schlafen. Es mochte gegen Mitternacht gehen, da rief mich die Glocke. Ich sammelte meine Gedanken, stand auf, müde und schläfrig, und stieg in die Kleider. Da schrillte die Glocke des Anrufs. Ob ich nicht käme, ob man vielleicht einen andern rufen sollte oder was los sei. Ehe ich antworten konnte, mit dem Hinweis, daß Zaubern nicht zu meinen Künsten gehöre, und bitten wollte, doch gern einen andern zu rufen, oder sich einen Arzt zu halten, der dauernd dort schliefe, ward eingehängt. Während ich schon die Schuhe schnürte, rief wieder die Glocke – die Frau sei im Sterben, ich müsse mich eilen. Man hat als Arzt ein Gefühl für die Not, und die Art eines Anrufs verriet schon im voraus, was los ist.

Ich eilte mich dennoch, um nichts zu versäumen. Der Wagen brachte mich hin, keine Viertelstunde war seit dem ersten Anruf vergangen.

Das Haus war mir fremd, ich fand es verschlossen. Ich klopfte und rief, nun doch schon erzürnt. Es dauerte lange Minuten, bis sich der Kopf eines Mannes zeigte, und eine heisere Stimme rief, was ich wolle.

Der Doktor sei da, sie hätten doch eilig gerufen. Das Fenster schlug zu, herab tappten Schritte mit eisiger Ruhe. Die Haustür ging auf, im flackernden Licht glänzte das Gesicht eines Mannes.

Eigentlich könne man sich das Geld ja sparen, es sei gar nicht schlimm. Und jetzt wieder besser, ich könnte gehen, er brauchte mich nicht. Aber wenn ich schon da sei.

Es ist unter der Würde zu schlagen.

Ich ging hinauf und sah nach dem Weib, das lächelnd im Bett lag.

Was los sei, fragte ich sie barsch.

Ach, die Herren Ärzte sind ja immer gleich so unwirsch, sprach sie mit leidendem Ausdruck.

Das nachher! jetzt aber reden! wo fehlts?

Da zeigte sie stolz ihre Brust und wies auf die Seite. Sie habe Stechen am Herzen, länger schon, viele Wochen. Und da merken Sie's heute in der Nacht?

Ja – ein anderer Herr hat mich behandelt, aber er ist nicht zu finden, man hat überall vergeblich gesucht, denken Sie nur, und da dachte ich, wenn ich nun einen Herzkrampf bekäme, und vielleicht sterben müsse, denn mein Mann – hat mich vorhin gezankt, ich wäre hysterisch. Dies nun gefiel mir. Ich sah nach ihm hin und bezwang meinen Zorn.

Der zuckte die Achseln. Dann sagte er langsam: Schlagen sollte man solche Geschöpfe, verschlagen!

Ein Mann, ein Wort! sagte ich da, Sie haben mir aus dem Herzen gesprochen. Tun Sie's, es ist die beste Arznei!

Ich nahm meinen Hut und fuhr müde durch die Gassen der Altstadt nach Hause. Aber schon beim Entkleiden wußte ich, diese Nacht kommt noch mehr, und legte die Sachen bereit.

Die Nacht war gestört. Ich nahm noch ein Mittel, den Schlaf zu erzwingen.

 

Ich bezwang meinen Ärger von vorhin und schlief wieder ein. In meinen Traum aber fiel häßlicher Lärm! Alle Glocken klingelten zusammen: Alarm! – Was ist los? – Ach, es ist der Apparat, dessen Schrillen mich aus dem Schlaf reißt. Will denn dieser furchtbare Tag, diese Nacht nie ein Ende nehmen? Was für eine Rücksichtslosigkeit, was für eine neue Bagatelle wird es wieder sein, die mir grundlos die paar Stunden Erschöpfungsschlaf nimmt?

Aber ich will mich nicht erbosen, ich muß lernen, es gehört zu unserem Beruf. Wenn es auch mit das Schwerste ist, für die tausendmal überschätzten Leiden von manchen unsere Arbeit zu geben und unsern Schlaf zu opfern, viel hundertmal immer wieder – und wenn wir auch die paar genau kennen, die seit Jahren nur nachts rufen, auch wenn der Beginn ihrer Krankheit schon Tage zurückliegt, an denen sie hätten rufen können, wenn wir sie auch mit Namen kennen und ihnen böse sein und sie sogar verachten müßten – es darf uns nicht stören, damit wir für den einen dann da sind, der wirklich in Not ist, der wirklich mit Recht auch nachts unsere Hilfe ruft.

Die Glocke schrillt noch immer in grausamen regelmäßigen Abständen. Nun aber, schon mit dem ersten bewußten Wachsein weiß ich – Gefahr! Wirkliche Not. Hilferuf, brennender Hilfeschrei!

Ich reiße den Hörer von der Gabel. Die Stimme des Richters: Kommen Sie, kommen Sie sofort! – Er brauchte mir nichts mehr zu sagen. Alles ist mir sofort offenbar. Aus der Erregung seiner Stimme formt sich aus meinem Innern das ganze Bild: auf dem Lager liegt die Frau mit blassem Gesicht, ihr Leib windet sich in Wehen – das Blut schießt aus ihr heraus, über die braune Haut, über das weiße Linnen – die schmalen Hände verkrallen sich in das Kissen. Uta!

Die erregte Stimme des Richters sprudelt hastig heraus und bestätigt, was ich schon ahne, so sicher weiß und so deutlich vor mir sehe, als wäre ich schon dort. Seine Schwägerin ist aus Holland zurückgekommen, wo sie Verwandte ihres Mannes besucht hatte. Sie wissen ja, sie wollte hier in Deutschland ihr Kind erwarten – es ist zu früh, sie blutet fürchterlich – meine Frau ist bei ihr.

Ich stelle ein paar kurze, eilige Fragen. Wie weit, seit wann?

Noch wehre ich mich im Innern dagegen, Uta, während ich mit meinen Instrumenten in ihrem Körper herumarbeiten würde, unter meinen Händen verbluten zu sehen, noch versuche ich einen Augenblick lang dieser furchtbaren Belastung zu entgehen. Ich weise kurz auf den Vorteil der hygienischeren Arbeit in einem Operationssaal hin, aber die Verbringung sei nicht mehr möglich, es sei schon zu spät, ich hörte durch den Apparat das aufgeregte Rufen seiner Frau.

Schon bin ich in den Kleidern, reiße die Flügeltüren der Garage auf, sitze, den Instrumentenkoffer neben mir, im Wagen, fahre hinaus, die Türen bleiben auf, Eile, Notruf, – eine Frau, meine Freundin, meine Uta will verbluten. In irrsinniger Fahrt jage ich durch die Straßen, den Berg hinauf – Uta – Uta, – – da liegt sie unter Tannen des Schwarzwalds, die Sonne spielt durch die Zweige über sie hin, Hans ist bei ihr – sie lacht so glücklich – Uta – Jahre dann fort – Jahre drüben in der Südsee – und nun kommt Uta heim, um in meinen Händen zu sterben.

Es ist nicht Angst, es ist das kalte Wissen von Utas Gefahr, und von der knappen Zeit, den Minuten, die zur Rettung geblieben. Da ist die obere Kurve, der Wagen schießt hinein, ich reiße das Steuer herum, eine Wand fährt auf mich zu, die Felgen der Räder kreischen auf unter dem Druck des Schwungs, der Wagen neigt sich zur Seite, richtet sich wieder auf, rasch. Gas, weiter – hier – ihre Straße – die Biegung, das Haus. Die schmiedeeiserne Laterne überm Haus ist beleuchtet. Schwarz und unheimlich starrt mir daraus die Hausnummer, die große eiserne 4 entgegen, sie ist wie ein Kreuz, der Türgriff ist mattsilbern, alles ist von fürchterlicher Deutlichkeit und prägt sich tief in meinen Sinn. Die Stufen, nur rasch, die Treppe hinauf mit dem massiven Geländer, hinter mir spricht der Richter Worte von höchster Gefahr und hat doch noch die Größe, sich in diesem Augenblick der Not für die gestörte Nachtruhe zu entschuldigen: Wo hätte ich Hilfe suchen sollen, wenn nicht bei Ihnen? sagt er leise, fast bittend. Es ist mehr als eine Geste, es ist erschütternd in diesen Minuten der Gefahr.

Und da liegt Uta. Sie erkennt mich, lächelt mir traurig zu, hebt matt die eine Hand, läßt sie sehr hilflos wieder ins Kissen sinken.

Sie gähnt. Es ist nichts zu überlegen. Uta ist am Verbluten, ist schon fast ausgeblutet, fast tot. Ich reiße die Decke weg. Das Bett ist eine einzige dampfende Blutlache. Das Kind ist heraus, besudelt von Blut, tot.

Die Frau des Richters muß weg, sie hat hohes Fieber und eine eitrige Angina. Hebamme ist keine da. Alles ist ganz plötzlich gekommen. Rasch die Gummihandschuhe über. Der Richter muß helfen. In das Klappern der Instrumente schlägt mit dunklem ruhigem Ton eine Uhr, über mir an der Wand, sie hat arabische Ziffern und ein langes, messingglänzendes Pendel – drei Uhr. Drei Uhr drei – vier – sechs Minuten

 

Uta sinkt plötzlich hintenüber, seufzt noch einmal auf – Soja – Soja – haucht ihre Stimme. Ich sehe die zusammensinkende Bewegung der Frau, spüre, es ist aus, es ist umsonst – Uta stirbt – Uta – ich gebe nicht nach – ich beiße die Zähne aufeinander – ein paar Griffe noch – stirb nicht – ach Uta – eine halbe Minute – ein paar Sekunden noch – Uta. Sie stirbt – Gott – sie stirbt uns –, ruft der Richter. – Weiter, nicht zögern – jetzt – fertig – Mull – Da steht die Blutung. Alles ist sauber, die Tamponade sitzt, die Spritze ist gegeben, dort, rasch die große Ampulle aufschlagen, hier, so, – eine Infusion wird gemacht – langsam kommt der weiche Puls wieder, aber immer wieder wird er so schwach, daß er kaum mehr fühlbar ist, kaum schlägt noch das Herz. Ich presse die Lippen aufeinander, denke mit aller Kraft an Utas Leben. Uta – ich rufe dich – Uta hörst du denn nicht – du sollst leben – leben wollen – ich will, daß du lebst – Herrgott – hilf du – bei meiner Mutter – Herrgott, hilf mir – hilf mir doch – bei meinen Kindern – Uta!

Eine feine Röte steigt in ihre totenblassen Lippen, in die bleichen Wangen, zieht sich nun über die nasse, kalte Stirn – und jetzt beleben sich ihre Züge. Sie schlägt, sehr müde, die Augen auf.

Sie lebt, – Uta lebt – Herrgott!

 

Lange sitze ich an ihrem Lager – lange.

In frischer Wäsche, sauber gebettet, liegt sie vor mir. Ihr Handgelenk liegt schlaff und hingegeben in meiner Hand. Ich spüre die weiche Welle ihres Pulses, spüre die Wärme ihres Blutes, das wieder voller durch die Adern fließt, spüre Utas Leben.

Ich bin sehr müde, und sehr glücklich.

 

Durch den aufgehenden Tag fahre ich nach Hause. Ich denke an ihre beiden Buben, die diese Nacht fast ihre Mutter verloren hätten. Die Sonne glänzt rot in den Giebelfenstern eines Hauses. Vögel singen in den Gärten, eine Amsel – ein Fink – über mir ist fahlblauer Morgenhimmel.

 

Uta lebt. Manchmal noch besuchte ich sie, sie erholte sich wieder völlig. Was bedeutet Soja? Es war damals ihr letztes Wort.

Soja nehmen die Eingeborenenfrauen, denen sie manchmal geholfen, bei schwerer Blutung. Daran dachte ich noch. Aber dann spürte ich deine Kraft, deinen Willen, du hieltest mich fest am Leben, als ich es schon aufgegeben hatte!

Und dann kam der Tag, an dem mir Uta zum Abschied die Hände gab, da sie ihr Weg wieder hinübertrug über Tausende von Meilen, hinüber zum Malayischen Archipel. Die Südsee wird sie wieder umrauschen und in blauen Schatten der Urwald.

 

Die Familie hatte ich lange behandelt, ich kannte ihre überempfindliche Art, ihre Eigenheiten. Im Grunde waren sie besonders gute und tüchtige Leute.

Doch auch die Arbeitskraft des leistungsfähigen Arztes hat ihre Grenzen, wird auch sein Feld von Behörden oft kärglich beschränkt; denn was der eine nicht kann, leistet der Könner noch lange. Aber hier nun war es zu viel.

Wir hatten Epidemie und so viel Besuche waren schon angemeldet, daß ich guten Gewissens keinen mehr annehmen durfte und die Weisung geben mußte, es allen, die riefen, zu sagen. Darunter auch jener Familie.

Und nun hatte ich in der Zeitung gelesen: die kleine Hilde war tot. Das einzige, vierjährige Mädchen neben vier Buben.

Ich dachte daran, als mir die Schwester noch nach Schluß der Sprechstunde die Mutter der Verstorbenen meldete. Natürlich ließ ich sie bitten. Mochte das Essen warten, mochte die Stunde der Ruhe verloren sein, die ich mir draußen in der Sonne erhofft. Hier war wirkliche Not. Tränenlos saß sie da. Nur einmal erzählen wolle sie, einem müsse sie es sagen.

Da gab es nichts, als zu hören, sie reden, den ganzen Jammer der Mutter einmal heraussprechen zu lassen zu einem, den sie für gut genug hielt, ihre Not zu verstehen.

Jeden Tag sei sie morgens und abends zur Klinik gegangen, man habe ihr gesagt, sie solle das Kind nicht besuchen, nicht sehen und sprechen. Es sei keine Gefahr, und ihre Anwesenheit rege das Mädchen nur viel zu sehr auf.

Also verzichtete sie Tag für Tag, die Kleine zu sehen, um des Kindes Besten willen, würgte die eigene Sehnsucht hinab. Aber eine Angst, die sie Tag und Nacht hatte, Angst um das Leben des Kindes, trieb sie immer wieder ans Tor, an die Tür, dahinter ihr Kind lag.

Letzten Sonntag morgen zwang es sie plötzlich heraus und hinaus in die Klinik. Man habe sie beruhigt, sie möge morgen wiederkommen. Sie aber stellte den Chef der Klinik bei der Runde, rief ihn an. Der jedoch konnte nur Beruhigendes sagen, das Fieber sei fort, Gefahr bestünde keine mehr. Er mache jetzt ein Röntgenbild, sie möge eine Stunde draußen herumgehen, und dann würde man sehen, und ihr Genaueres sagen können.

Sie blieb, sie ging zu der Tür ihres Kindes, wartete bangenden Herzens. Keiner wußte es, keiner konnte es erkennen, kein Mensch, keine Schwester, kein Arzt – nur sie, die Mutter, sie spürte die Gefahr.

Da hörte sie durch die Tür die Stimme der Schwester, und daß die Kleine erbrach.

Dann wieder die gütige Stimme der Schwester: Schlafen sollst du jetzt, Kleine, schlafen. Dann folgte ein Würgen, ein schreckliches Stöhnen. Da hielt es die Mutter nicht mehr, die lange gestaute Angst, die Not ihres Herzens hieß sie hineinstürmen. Da rang die Kleine nach Atem, das Gesichtchen war blau, die Händchen verkrampft.

So sah sie das Kind, riß es heraus, hobs auf die Arme, bargs an der Brust – An ihrem Herzen ruhte die Kleine. Ihr einziges Mädchen war tot.

 

Die Schwester floh, riß andere mit sich die Treppe hinunter, verfolgt von den Schreien der Mutter, die als Einzige den Tod ihres Kindes geahnt.

Sie hatte mir alles erzählt. Nun war sie still und zeigte mir Bilder der Kleinen, wie sie fröhlich am Tisch saß und spielte. Verstehen Sie nicht, können Sie nicht verstehen? Ja, ich verstand sie. Ich wußte, daß es heimliche Dinge gab, wie die Ahnung der Mutter, aber auch, daß es Erfüllungen gab, die höher waren als aller Verstand. Dies hier war nicht Schuld eines Arztes, der auch nur zu geben vermag, was im Sinne des Menschlichen sein kann, dies hier war Schicksal.

Daß es Not gebe und Tod, die kein Mensch zu verhindern die Kraft hat, das solle sie glauben. Die Erinnerung bewahren an das Glück ihres Herzens, aber der Kleinen noch lieber den Tod gönnen als ein Leben voll Krankheit. Viele haben alles verloren, wie jene Mutter, der drei Söhne am Feinde gefallen, sie aber habe noch vier prächtige Buben. Und das ist ein Ziel, und das ist ein Glück, ein unermeßlicher Reichtum.

Da schwieg sie und gab mir die Hand und trug, was ihr das Schicksal gegeben.

 


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