Albert Schramm
Der innere Kreis
Albert Schramm

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Der Frühling kam wieder. Die Birken grünten, die Erde roch würzig, die Vögel begannen zu singen. Da kam der Flügel ins Häuschen, und als es Mai war, blühten die Tulpen. Die Fahne der Hanse, Sventhas Geburtsstadt, wehte am Mast, die Fahne, die über vielen Meeren geflattert. Durch die Fenster sah die blühende Weite herein und drin waren Schalen und Kannen mit Blüten gefüllt. Sventhas Geburtstag.

Wir saßen mit Freunden im Zimmer und die Geigen erklangen. Musikfest war auf Borgun. Das Beethoven-Sextett mit zwei Hörnern und das Schubert-Oktett ließ die Räume erklingen und füllte die Herzen. Und ums Häuschen blühte der Mai.

Abends brannten die Kerzen, eine neben der anderen, auf dem Rand der Terrassen, der Fenster. Borgun lag im Schimmer der Lichter.

Wir saßen und schwiegen und sahen die Flammen verglimmen. Dann fuhren die Gäste nach Haus und wir blieben allein.

Enger noch, inniger schloß uns der Kreis unseres Lebens zusammen.

 

Bald kamen die Tage der Sorge, des Bangens, aber alles ging gut. Wir bekamen ein Mädchen, dunkeläugig und blond, das zart war und still. Der Junge aber, dem Sventha später das Leben geschenkt, war kräftig und stark und wußte von klein auf das Seine zu sichern.

War der Raum unseres Lebens noch irgendwo leer gewesen und fahl, nun begannen die Tage zu reifen und die Werte der Jahre zu wachsen.

Jetzt erst, da wir selbst Sorge und Glück um die Kinder erspürten, wurden wir eins mit jenen Unzähligen, die nicht nur sich selbst zu leben begriffen, sondern der Zukunft, den Kindern, dem Volk.

Und wenn auf der neugebauten Terrasse die Kinder spielten, das zarte und vornehme Mädchen, und der Bub, der schwerfällig wie ein Frachtschiff auf See durch die Brandung der Gräser und Blumen auf mich zukam, mir ein Blatt, eine Blüte, ein Hälmchen zu schenken, wenn Sventha Rosen schnitt und der Tag blau war und weit, dann sann ich wohl vor mich hin, dann gedachte ich der Toten des Lebens: des Freundes, der vielen, die neben mir niedergesunken, die drüben in Frankreich lagen statt mir, dem es gleichfalls gegolten, dachte an Christa, an ihre Liebe, an ihren Tod, an die Freunde vom Norden. Und ich begriff die Größe des Glücks, leben zu dürfen im Kreise der Meinen, und ich dankte aus inbrünstigem Herzen dem Leben und Gott. Ich stand in der Mitte des Wegs.

Doch ich wußte es wohl und vertraute der Zukunft.

 

Man muß Fühlung haben mit den Dingen des Hauses, man muß sie berührt, ihre Art in der Hand gespürt haben, die Faser des Holzes, die körnigen Kanten des Steins. Der Herbst brannte über die Höhen.

Oben im Wald, an den westlichen Hängen, sahen wir das Gestein verwittern in Wind und in Wasser. Die Erde war fortgespült, Platten ließen sich heben aus den Schichten des Bergs.

Wir zogen hinauf und brachen die Steine mit eigener Hand, hoben sie auf aus der Tiefe des Dunkels, da sie geruht, daß das Licht der Sonne die Farbe beschien, das Grau und das Gelbrot und das Braun des eisenhaltigen Steins.

Erst schoben und zogen wir den kleinen Handwagen über die nadelglatten Waldwege, aber unsere Beute war so gering, daß es niemals gelingen würde, die ganze Terrasse mit Platten zu belegen.

Also nahmen wir unseren Wagen, fuhren über grundlose Wege, über Steine und Gräben auf dem schmalen Randweg dahin, kehrten im Gehölz ohne Weg über Stümpfe und Moos und luden ihn statt der Sitzpolster mit Steinplatten voll, bis die Reifen unter dem Druck des Gewichts fast platt den Boden berührten.

Dann wurde gerastet, ehe die gefährliche Fahrt begann. Es war noch frühester Morgen.

Wir saßen am Wegrain; zwischen den Stämmen der Bäume blinkten die Marienfäden, die Spinnennetze auf, darin Tauperlen hingen, die im Morgenlicht zu funkeln begannen wie vergessener Krönungsschmuck einer Märchenprinzessin.

Drüben auf die Wiese des Hangs trat Rotwild heraus, ein Rudel Kahlwild, gefolgt vom Hirsch.

Der kapitale Zwölfer trug das Gewicht des Geweihs mit wundervoller Würde.

Da lief, im Spiel der leichten Gelenke, ein Kronenzehner von der Seite heran, näherte sich dem Kahlwild.

Der Ältere trat mit kraftvoller Würde auf ihn zu. Keine hastige Bewegung verdarb seine Majestät, nun aber nahmen die Gegner sich an und schon prallten die Geweihe aneinander, als ob man Balken auf Bretter schlüge. Der Morgen dröhnte vom Kampf der Beherrscher des Waldes. Die Hufe stampften den Boden, Dampf der gewaltigen Leiber stieg auf in die Sonne, aus dem Geäse brach keuchender Atem. Der Zehner wich kämpfend zurück, verhielt, stellte sich wieder. Da warf der Platzhirsch mit prächtigem Anlauf sein ganzes Gewicht dem Feind mit voller Wucht ins Geweih. Es knallte, als bräche ein armdicker Ast von den Bäumen.

Der Andere knickte mit dem Hinterlauf ein, flog zurück und brach nieder. Abgekämpft erhob er sich wieder und drückte sich fort in die Dickung.

Stolz warf der Sieger auf, hob das herrliche Geweih. Groß und breit stand er drüben im Licht, wiegte das Haupt. Der Brunftschrei brach aus der Brust des Gewaltigen.

Sie ästen wieder. Fern klang ein Schuß, rollte im Echo über die Wälder.

Der Hirsch hob den Kopf, sicherte noch, erhobenen Geweihs, in die Richtung des Schusses, als schon das Kahlwild über die Lichtung geflüchtet. Dann ging er stolz mit erhabener Ruhe zum Dunkel der Dickung.

Wir schauten noch lange hinüber. Hinter uns, weit im Wald, begannen die Holzfäller den Tag. Das Schlagen der Äxte klang hart in den Morgen.

Nun fuhren wir ab, vorsichtig, im kleinen Gang, Sventha am Steuer, ich stützte und schob und lief nebenher. Die Kurve vor dem Absturz ward gut überwunden, nun aber hieb die Achse in die Kuhle des Grabens. Rückwärts und wieder hinein und im Schwung darüber hinaus. Durch die sumpfige Strecke des Wegs, über den hier ein Bach lief, half uns die Steilheit der Abfahrt. Unten bremsten wir ab. Im Licht des beginnenden Tags glänzten die Höhen umher, nur das Tal war blau und verschattet. Von den Dächern des Klosters stieg Rauch in dünnen Säulchen empor, kräuselte sich flaumig auf, stieg hinauf in die blinkenden Schichten der Sonne.

Wir fuhren langsam dahin. Es ging gut. Bis wir an den schrägen Abfall nach außen kamen. Hier schien alles verloren, die Neigung war zu stark und die Fahrt zu gefährlich. Abladen? Tragen? Platte um Platte?

Wagen wir's!

Ich wollte ans Steuer, aber die Frau liebte Gefahr fast mehr noch als ich und sie blieb.

Langsam senkte sich das schwerbeladene Fahrzeug nach vorn und nach außen, das Viereck des Hecks neigte sich furchtbar, mehr noch, nach außen. In unfaßlichem Winkel hing der Wagen am Berg über dem Hang und neigte sich, weiter noch, weiter – ich sah – es war aus – nun mußte er stürzen, das Vorderrad sank in die Tiefe, die Steine mußten Sventha erschlagen. Da, im letzten Augenblick, als der Wagen sich neigte, gab sie Gas, riß den taumelnden Wagen auf und hinaus in den Weg. Torkelnd sprang das schwere Gefährt hinüber zum Häuschen.

Nie wieder, sagten wir, erlöst und entschlossen.

Aber nun fuhren wir täglich, abwechselnd am Steuer.

Gut in Sand gebettet lagen die rohen unbehauenen Platten. Nun gossen wir sie aus mit füllender Mischung aus Kies und Sand und Zement. Noch den Rauhstrich über die Fugen und alles war fertig, die Terrasse belegt!

Dann bauten wir das Mäuerchen gegen Sicht aus Platten und Beton und dann die Bastei für die Birke. Das Haus für den Wagen wurde gebaut aus Betonmauern, T-Trägern und Hurdis, genau mit der Wasserwaage gerichtet und darüber der Glattstrich gelegt, innen verkleidet und dann mit großen hölzernen Türen versehen, die wir aus Brettern mit Nut und Feder gefertigt.

Alles war roh und ohne künstliches Gefüge, aber mit eigenen Händen erbaut, und viele gute Gedanken waren hineingeschafft in die Mauern. Und die Arbeit mit Erde, Steinen und Holz war Erholung und Ausgleich zur Art des Berufs.

Die Mauern standen, alles war wohl gefügt, nur noch einen Mörser müßte man haben, zum Schießen an festlichen Tagen!

 

Besuche waren angemeldet. Ich fuhr aus dem Hof. Es war nach Tisch und starker Verkehr auf der Straße. Da sah ich den kranken, nun zwölfjährigen Hund das Gewühl durchqueren. Zwischen den vielen Fußgängern und Wagen wand er sich mühsam hindurch, die Ohren hingen ihm schlaff, die Gelenke trugen ihn kaum. Lang schon lag er lahm auf seinem Lager. Ich hielt und rief Sventha. Da kam Geri heran. Sein Atem war keuchend und mühsam, die Zunge hing weit aus dem Maul, müde war der Blick seiner Augen geworden. Er konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Rasch warf ich ihm eine Decke aufs Pflaster des Hofs, da sank er zusammen, leckte mit letzter Kraft meine Hand. Da lag der sterbende Hund.

Noch einmal hatte er sich, als er den Tod schon nahen spürte, mit letzten Kräften erhoben, hatte sich vom Haus meines Vaters zu mir durch die Straßen geschleppt, um mich, den Kameraden vergangener Jahre, noch einmal zu sehen. Ich hob seinen Kopf, ich gab ihm zu trinken. Mühevoll schlürfte er Suppe und Milch. Dann streckte er sich müde aus. Wir trugen ihn in den Wagen und fuhren zusammen zurück und betteten ihn in seinem Schuppen.

Lange saß ich noch bei ihm, streichelte sein Fell und sprach zu ihm in alten gewohnten Worten. Dann aber mußte ich fort, nach den Kranken zu sehen, denen ich mehr gehörte als ihm und mir. Abends war mein erster Gang zu Geri. Doch er lag steif auf dem Lager.

Einsam war er gestorben.

Wir gruben ihn ein und mit ihm versanken die Jahre der Jugend. Ein Sandstein schmückt sein Grab.

Über die Höhen, durch die grauen Stämme der Buchen, durch die knorrigen, hartrindigen Äste der Eichen fegt der Wind. Die Zweige biegen sich unter seiner Kraft, schnellen zurück, die Wipfel müssen sich beugen, erheben sich wieder mächtig und frei in den blauen Horizont hinein, aus dem die weißen Sommerwolken steigen und über die Höhen und Täler hinfahren wie Schiffe mit schäumendem Bug, heute wie ehedem, als diese Eiszeittäler entstanden und mächtiges Pelzgetier sie bewohnte.

Und die Wiesen blühen. Milliarden von Margueriten und Salbei wogen im Wind, der schon anfängt, die Laternen des Löwenzahns auszublasen und die kleinen, feingebauten Flieger mit sich fortzutragen über Wiesen und Äcker und Weiten.

Seit Tagen sitzen wir hier oben. Über der neuen Pergola und Terrasse brennt die Sonne. Alle Rosen sind auf. Das Haus, der Gang, die Terrasse ist überschüttet von tausend rosa und roten Blüten. Der Wind streicht durch die Ranken und Zweige, schüttelt die Blütenblätter herunter, wirft sie wie Schaum ins Wasser des Beckens der unteren Terrasse, daß sie purpurn aufleuchten über dem Blau der Platten des Bades.

Manchmal spiele ich eine Stunde auf dem Flügel, meist tue ich nichts, schaue in die Ferne, die sich blau über die Höhen des Waldes hebt, sehe, als Wichtigstes des Tages, dem Flug eines Bussards zu, der die weiten Schwingen dem Wind bietet, sich tragen läßt, dann mit wenigen Flügelschlägen höher steigt, in großer Schleife sich hinaufhebt, in der Biegung des Kreises sich einwärts neigt, daß das Untere der Schwingen weiß und silbern in der Sonne aufleuchtet, weiter steigt, bis er, kaum mehr sichtbar, im Blauen den Blicken entschwindet.

Oder ich lasse das blanke Blatt des Spatens in die dunkle Erde fahren, schütte den kleinen Wall unter der Terrassenmauer auf, freue mich am fetten Glanz des Bodens, den ich schaufle und festschlage, daß er hält.

Die Frau liegt oben auf der Terrasse im Liegestuhl, genießt nach der Hast der Arbeit die Ruhe des Tages.

Während ich an den unteren Bäumen sehe, wie die Äpfel werden wollen dies Jahr, die kleinen roten Trierer, und die großen Jakob Lebel, die immer erst nach Weihnachten aus der Schublade kommen, höre ich oben am Tor den Hund anschlagen.

Dann höre ich sprechen. Die Postbotin wird es sein, die den Weg auf den Berg nicht gescheut hat. Sie hätt' ihn sich sparen können, den steilen Weg. Denn Post kommt in den Korb, wird gar nicht geöffnet.

Aber Sventha kommt, einen Brief in der Hand, von der Terrasse herunter. Über ihrem weißen Kleid spielen Sonne und Schatten der Zweige. Meinen Unmut, der über Fernruf und Post stets gleich und hier besonders groß ist, besänftigt sie mit dem Anblick einer ausländischen Marke. Der Brief trägt Liselotts, ihrer Freundin Schrift.

Sie schreibt aus Südfrankreich, sie komme mit ihrem Bruder, der eben von Schanghai aus ihrer Chinazentrale über Neuyork, wo er noch zu tun hatte, auf Urlaub fahre. Sie kämen in seinem Wagen über Avignon-Genf-Zürich und würden zwei Tage bleiben oder, wenn wir es litten, auch drei. Nach all der Ferne hätten sie Heimweh nach der Stille von Borgun. Den Wald wollten sie hören und der Heimat Atem verspüren, in der doch der Grund aller Wanderschaft und Sehnsucht sei.

Und wann sie denn kämen? Am 24. Juni könnten sie da sein. So, und der wievielte wäre wohl heute? Wir wissen es nicht. Hier haben die Tage keine Nummer, hier sind sie nicht eingereiht in den Gang einer errechneten Zeit, hier sind sie frei und groß, wie das Rauschen des Waldes und weit und blau wie die Ferne der Alb. Wir wissen es nicht. Aber wenn wir es genau bedenken, kann es wohl beinahe schon so weit sein.

Währenddem hören wir das Brummen eines Wagens im Tal unten, der ins Dorf biegt, am Berg unter der Klosterkirche geschaltet wird und mit dem höheren Ton des kleineren Gangs durch die Wiesen singt, sich drüben am Wald verliert und nach Minuten, in denen wir ihm nachhorchen, plötzlich laut über uns am Wald aufdröhnt und verstummt. Schlagender Klang einer Wagentür und, braun wie die Neger, mit Lachen und Leben, den schmalen Weg der Einfahrt herunter, kommen Liselott und ihr Bruder.

Über Lachen, Staunen, Sich-einmal-wieder-haben, steigt die festliche Fahne Borguns am weißen Mast empor, wirft ihr blaurotes Tuch in den Wind, läßt es flattern und knattern: Feiertag!

Erzählen, Berichten und Fragen löschte die Hitze des Mittags. Alle ruhen auf der Terrasse, in den Liegestühlen ausgestreckt, zwischen denen Tischchen mit dunklem Mokka, mitgebrachter Schokolade und Rauchzeug in den kleinen silbernen Hausgeräten gedeckt sind. Kleine Rauchsäulen steigen in die Stille des Nachmittags, die Blicke umfassen zwischen den steinernen Rahmen der Säulen hindurch das tiefgegliederte Bild der wohlig ruhenden Landschaft.

Es ist so still, daß man die Bewegung eines Rosenzweigs hört, der sich aus einer Spannung löst und von einer der Säulen abschwingt und Blütenblätter einer reifen Rose verstreut. Man glaubt, das Aufsinken der Blätter auf den Rasen zu hören.

Weit ist Schanghai, Neuyork – hier ist Mittag und Sonne. Drüben liegen blau und dunstig überhaucht die Berge der Alb im ruhigen Fluß der Linien, hier fällt in die Stille der Stunde nur das anwogende und abklingende Rauschen des Waldes. Hier ist die Mitte der Welt.

Abends bitten wir gemeinsame Freunde. Sventha kommt vom Apparat, berichtet: ja, sie kämen gern, aber sie hätten Besuch, ein Ehepaar aus Holländisch-Indien. Die würden sie mitbringen.

Wir freuen uns über ihren Scherz, rauchen und schweigen wieder.

Abends aber, als der Wagen den Berg heraufkommt, sind wir doch gespannt. Und dann steigen in der Tat außer dem Richter und seiner Frau noch zwei andere aus, in deren dunkelhäutigen Gesichtern das Weiß der Augen fremd aufleuchtet.

Vor mir steht Uta, die Benninghoffs Braut war – – und dann doch ins Ausland nach Holland, richtig, nach Holland geheiratet hatte – – sechs, ja, sechs Jahre war das her; Kniebis, hohe Schwarzwaldtannen, in denen die Mittagshitze brütet, in deren Ästen die blauen Wimpel des Sommerhimmels hängen und die dunkelbraunen samenschweren Zapfen, und unter denen die Erde nach Harz und Nadeln riecht, nach Wärme und Geborgenheit, unter denen das Moos dunkelblau vom Schatten ist, das weiche knisternde Moos, in dem Uta liegt, den Arm unterm Nacken, und schläft, mit geschlossenen Lidern, aber weit geöffneten Zügen – schläft und träumt, von der Zukunft, und Ferne und Weite, blauem Meer und südlichen Sternen. Ja, so war Uta – und nun war sie wiedergekommen, stand vor mir, dunklen, fragenden Gesichts. Ich fasse ihre beiden Hände. Tief fallen unsre Blicke ineinander, ruhen einen Herzschlag so, befühlen, erkennen sich. Es liegt keine lange Zeit zwischen damals und heute, es ist alles erst jetzt gewesen, gestern, oder vor einer Woche vielleicht. Wie klein und unwichtig doch die Zeit ist mit dem Lärm ihrer ewigen Fahrt, und wie groß und scheu doch die Gegenwart ist, die unveränderliche Gegenwart des Voneinanderwissens und -fühlens, des Zusammenseins, selbst in den Räumen des Vergessens. Ferne, Südsee, blaues Meer, dunkle Schatten vom Urwald, schillernde Sterne der anderen Nacht – alles ist gegenwärtig – Uta ist über das Meer und die Zeit gekommen, Uta.

Sie läßt ihren Blick über das Rund des Tales gleiten, das sich in Dämmerung breitet, über den fernen Rand der Alb, und zurück hierher, läßt ihn ruhen auf dem Haus, auf Sventha, die eben heraustritt, sie willkommen zu heißen, wie manchen schon, der aus der Fremde kam, die Heimat wiederzufinden. Noch einmal sinkt Utas dunkler Blick in den meinen, doch nun schon mit einem Leuchten, das zutiefst innen aufbricht. Ein Lächeln umspielt ihren Mund, sie drückt mir nochmals die Hand, fest umschließen ihre braungebrannten Finger den breiten Rücken meiner Hände. Sie hebt sich ein wenig, ganz leicht, auf die Zehenspitzen, küßt mir ganz flüchtig und innig den Mund, wendet sich zu Sventha und sagt, während ihr Antlitz noch um einen Ton dunkler wird: Wir kennen uns so lange, und haben uns einmal sehr gerne gehabt. Aber die Sehnsucht trieb mich hinaus und ich hätte fast die Heimat vergessen, hätten mich nicht manchmal die alten Freunde und die alte Zeit gemahnt!

Sventhas Blick geht von ihr zu mir, dann schiebt sie in ihrer stillen Art den Arm unter den von Uta und zieht sie mit sich hinunter zur Terrasse, so herzlich wie ihre liebste Freundin.

Auch ihr Mann, der Holländer, findet sich ein in die dunkle Wärme des Abends und des Wiedersehens.

 

Dämmerung sinkt über den Wald, die Alb verglimmt in der Ferne, aus den Gründen steigen die Nebel, die ersten Sterne kommen über den Kamm der Höhe herauf. Die Meisen sind ruhig, die Stare schlafen im Häuschen am großen Apfelbaum.

Wir rüsten ein Fest. Diese Nacht wird die Fahne von Borgun nicht eingezogen werden.

Dann sitzen wir in der Pergola. Drüben, überm Tal, steigen die Bilder der Sterne herauf über den schwarzen Rand des Waldes und wandern am dunklen Viereck der Balken und Säulen vorüber. Im Tal erglühen die Lichter des Dorfes. Nun entzünden wir die kleinen Kerzen, mit denen wir, eine an der anderen, die Mauer der Terrasse schmücken. Ihr Schein fällt in die Nacht, von Faltern umflattert. Rosen füllen die silbernen Schalen, die matt aufleuchten im Dämmer der sinkenden Nacht und im warmen Schimmer der Kerzen. Das Zirpen der Grillen klingt über die Wiesen.

Über die dunkle Linie des Waldes steigt der Mond ganz groß herauf, sein Licht bricht sich funkelnd im Schliff der Gläser, die gefüllt sind mit altem Wein, sein Licht bricht sich im großen Stein von Liselotts Ring. Einer bricht die Stille, fragt nach dem Ring. Lange noch schweigt Liselott, dann erzählt sie mit ihrer ruhigen Stimme, aus der die Weite der Länder klingt und das Wogen der Meere, erzählt die Geschichte des Rings:

Im letzten Jahr war es. Ich war bei Werner zu Besuch, und ich fuhr mit dem Postboot den Yangtsekiang hinauf. Es war eine helle Nacht, so wie heute. Die Wasser des Stroms zogen vorüber und ferne lagen die Ufer. Um uns war Stille, die Nacht war weit.

Da legten sich große Boote, die aus der Dunkelheit tauchten, neben uns, sperrten uns den Weg. Wollten wir sie nicht rammen und unser eigenes Boot damit gefährden, mußten wir die Maschine zurücknehmen. Kaum war die Fahrt im dunklen Strom verlangsamt, als auch schon gespenstische Gestalten an Bord kletterten, auf die Brücke huschten, auf den Aufbau, und die Luken besetzten, bewaffnet bis an die Zähne. Wir wurden zusammengetrieben gegen das Heck des Schiffes. Alles ging lautlos zu. Wir waren überfallen, chinesische Räuber waren an Bord. Messer, Gewehrläufe blitzten, unverständliche Rufe gellten nun über Deck. Plötzlich die Stimme des Kapitäns: Nur nicht schießen – um Gottes Willen schießen Sie nicht! Aber schon war es zu spät. Dicht neben mir zuckte rotes Mündungsfeuer auf, schlug der Krach einer Pistole ins Dunkel. Einer der Europäer, noch unerfahren im Lande der Weiten, hatte einen der Räuber, der ihm zusetzte, niedergeschossen, das einzige getan, das man nicht tun durfte.

Messer zuckten auf, und unter gräßlichem Schreien stachen sie ihn nieder.

Ruhe behalten, nicht widersetzen! klang eine Stimme durchs Dunkel.

Was konnten wir machen? Wir wurden, unbewaffnet waren wir doch alle, in Boote genötigt und über die gurgelnden Wirbel des unheimlichen Stroms zum Ufer gebracht, an dem schon Wagen auf uns warteten. Alles war genau vorbereitet. Kaum waren wir verladen, setzte sich der Zug, dem Inneren zu, in Bewegung. Über eine uferlose Ebene ging es, die ganze Nacht, unter den prahlend funkelnden Sternen dahin, bis wir mit Tagesgrauen einen Höhenzug mit niederem Wald und eine Siedlung erreichten. Teils in einfachen Hütten, teils in einer weiträumigen Höhle wurden wir untergebracht und bewacht. Flucht war, da keiner auch nur die Gegend kannte, unmöglich. Unsere Verpflegung war wider Erwarten ausgezeichnet. Die Behandlung zuvorkommend, fast ritterlich. Sie wachten besorgt über unser Wohlbefinden.

Dann mußten wir an unsere Freunde in der Stadt schreiben. Die Post wurde von den Räubern bestellt und mit ihren Forderungen an Lösegeld versehen.

Nun durften wir uns sogar im Freien bewegen, so sicher fühlten sich die Räuber ihres Fangs.

Die Tage vergingen in Sorge und Bangen. Nichts geschah.

Aber nach und nach trafen Briefe ein, Geldbriefe, und immer wieder wurde einer von uns Gefangenen weggeführt. Wohin? Zurück in die Freiheit, oder, nun, da der Preis durch die Verwandten bezahlt, doch in den Tod, um das Geheimnis ihres Räuberberufs zu bewahren? Wir wußten es nicht.

Ich lag in Fieber und Frost, war ohne ärztliche Pflege. Es ging mir schlecht, und meine Hoffnung, lebend zurückzukommen, schwand von Tag zu Tag. Da kam einer der Wächter mit meinen Papieren, meinem Paß, rief meinen Namen und führte mich vor den Führer der Bande. Grauen faßte mich, als ich in seine lederfaltigen Züge sah. Keine Menschlichkeit, kein Erbarmen fand ich darin, nur Härte, Grausamkeit, von einem starren Lächeln überdeckt. Da erhob sich der Mann, der mein Leben in der Hand hatte, trat auf mich zu, verneigte sich höflich und sagte mir in gutem Englisch, er bedauere, mich krank zu sehen. Es läge ihm indes nur an lebenden Gefangenen, und er schlüge mir vor, meinen Arzt in Schanghai zu benachrichtigen.

Ich traute meinen Ohren nicht. Aber als er, ohne daß während des ganzen Gesprächs sein Lächeln sich veränderte, seinen Vorschlag wiederholte, gab ich ihm die Anschrift meines Arztes, schon in Sorge, ob es nicht eine neue Falle wäre, und ob ich nicht lieber auf die Hilfe des Freundes verzichten sollte, der vielleicht doch zu spät kam, und den ich nur ebenfalls in die Hände der Räuber spielte. Ich wurde in eine Hütte gebracht, ordentlich gebettet und von einer Alten gepflegt. Der Hauptmann schickte mir Blumen und Früchte.

In meinem Fiebertraum glaubte ich später das Brummen eines Motors zu hören, aber die endlose Straße, die ich von meinem Lager aus übersehen konnte, bis sie sich, ein dünner, gelber Streifen, in der Ferne verlor, war leer. Kein Wagen war zu sehen. Endlos, ohne Leben, lag die Ebene vor meinem Blick.

So schwer aber fieberte ich, daß das Brummen, das mir in den Ohren tönte, sich dauernd verstärkte und auch unter den kühlen Umschlägen auf Stirn und Schläfen nicht besser wurde.

Eine gelbe Wolke hinter sich herziehend, setzte das Flugzeug draußen in der Ebene auf. Zwei Männer kamen auf die Siedlung zu, ein Chinese und, wie ich an der Kleidung sah, ein Europäer, und kaum ein paar Minuten danach stand mit dem Führer der Bande Fielding, der Arzt und Freund, vor mir. Eine Frau war in Not, er hatte den Flug bedenkenlos gewagt. An seinem Gesicht merkte ich, wie schlecht ich aussehen mußte. Wie wenig gut es mir ging, spürte ich ja.

Er verhandelte mit dem Hauptmann, wollte mich mitnehmen. Aber der lächelte seine Maske, schüttelte den Kopf. Ich mußte also bleiben. Fielding kam wieder zu mir, untersuchte mich noch einmal, gab mir Arznei und machte mir Hoffnung, morgen mit dem Geld, das sie zusammenlegen wollten, mich freizubekommen. Lange sah ich dem Flugzeug nach, lauschte dem letzten, fernen Brummen des Motors, war wieder allein. Das Fieber quälte mich und die Nacht wollte kein Ende nehmen, der Tag nicht aufgehen. Und doch ward es Morgen, und doch ward es Mittag. Als es später und später wurde, wußte ich, Fielding kam nicht. Sie hatten die Lösesumme nicht aufgebracht oder schlimmer, er war verunglückt oder ermordet. Oder er hatte, töricht genug, versucht, Polizei auf die Spuren der Räuber zu lenken! Denn das wußte man wohl, dann waren wir alle verloren.

Und noch eine Nacht und noch einen Morgen!

Da aber schlug das Summen der Maschine an mein Ohr, es war keine Täuschung der fiebrigen Sinne, sie setzte sicher im Feld auf, rollte auf uns zu. Der Freund stieg aus, winkte von weitem, verhandelte mit den Räubern. Als er zu mir trat, war ich zu schwach, seine Hände zu drücken.

Zwei Gelbe faßten mein Lager, trugen mich hinüber zum Flugzeug. Ehe Fielding einsteigen konnte, als schon der Pilot den Propeller angeworfen hatte, trat der Räuberhauptmann plötzlich auf ihn zu, zog mit raschem Griff eine kleine Tasche aus seinem Wams: für den Arzt, sagte er mit vornehmer Verbeugung, wandte sich an mich und steckte mir an den fieberheißen Finger den Ring, den er von seiner Hand nahm. Der Stein bringe mir Glück. Er habe mich geliebt.

Die Maschine zog an, setzte ab, die Erde versank in der Tiefe, und mit ihr der Räuber, der unbeweglich stand, bis wir ihn aus dem Blickfeld verloren.

 

Liselott hob ein wenig die Hand über ihr Weinglas. Das volle Licht des Mondstrahls brach sich flackernd in dem großen Stein ihres Rings.

Alle schwiegen und sannen dem Stein nach.

In die Stille klang das Rufen des Waldkäuzchens, bald dicht über uns in den Bäumen, bald fern überm Tal. Dann sprachen wir über Steine, Sterne und die stummen Dinge und Zusammenhänge des Lebens, die wir nicht ergründen können, und die doch da waren, und sich zeigten, die wir Zufall oder Glück oder Unglück nannten, weil wir nichts davon wußten.

Ich erzählte, daß im Krieg die Frau meines Bruders eines Morgens zu meiner Mutter kam: Es ist ihm etwas zugestoßen – ich spüre es, ich weiß es – etwas Furchtbares ist geschehen!

Anderntags kam das Telegramm: zur selben Stunde hatte eine Granate meinen Bruder, der in einem vorderen Graben an der Somme stand, verschüttet.

Meine Schwester Uta hier, unsere Malayin, sagte die Frau des Richters, hat von Kind auf Gesichte. Man könnte darüber lächeln, aber das Geschriebene läßt sich nicht leugnen: am Tag, als unser Vater starb, schrieb sie von den Inseln des Malayischen Archipels einen Brief, sie habe Vaters Leichenzug gesehen. Er sei gestorben.

Noch sannen wir den dunklen Zusammenhängen nach, dem Wittern von Gefahr, das wir von manchen Tieren kennen, den unfaßlichen Dingen des Dunkels, als der Holländer sagte, vieles, was wir Europäer für Aberglauben hielten, lebe auf den Inseln des Archipels.

Vieles auch, sagte da Uta, das nichts mit Aberglauben zu tun hat, sondern mit furchtbarer Wirklichkeit. Sie schwieg, als sänne sie der Vergangenheit nach, und wir wagten nicht, sie durch Fragen zu stören.

Der Mond stieg über das Tal, die Schatten der Säulen wanderten über den Rasen. Das leise Klirren der Trinkgefäße und das Schwirren der Nachtfalter um die Kerzen auf der Mauer waren die einzigen Geräusche.

Ja, sagte der Holländer da wieder aus seinem Dunkel heraus, das war schlimm, damals, dort vorn im Urwald, auf der einsamen Station, und leicht hätte es uns beiden das Leben kosten können!

Das gemeinsame Schweigen war ein Warten und eine gemeinsame Bitte. Uta lehnte sich zurück, der Korbstuhl knisterte leise – und sie begann zu erzählen, mit einer Betonung, in der die Ferne und Fremde der Südsee klang: Die Regenzeit war vorüber, aber noch war der Busch dicht. Wir lagen, mein Mann als Beamter der Regierung, auf vorgeschobener Station.

Morgens war ein Transport vorgekommen, der unter anderem die volle Kasse mit den Gehältern und Löhnen brachte, sowie eine große Summe Geldes, das zur Weiterführung an die seitlich gelegenen Stationen bestimmt war.

Als mein Mann das Geld in meinem Beisein in dem sichersten Schrank unseres Wohnraums barg, huschte über die Veranda draußen wie ein Schatten ein Farbiger vorbei. Hatte er uns beobachtet?

Aber nichts geschah. Wir verschlossen alles gut und wünschten, es wäre Morgen des anderen Tages und der Transport ginge schon weiter und wir hätten das Geld aus dem Hause.

Ruhig verging der Tag, versank in der kurzen Dämmerung, und Dunkel lag über dem Busch und der Station. Als wir noch einmal auf die Veranda traten, die das Haus umlief, war nichts Verdächtiges zu sehen. Strahlend hell hoben sich die Sterne aus der Kuppel der Nacht. Alles war schön und friedlich. Fern aus dem Busch nur klang das Schreien der Tiere.

Wir prüften die Schlösser, mein Mann nahm Pistole und Gewehr und schlief drüben vor dem Schrank auf dem Divan des Wohnraums, während ich mich im Schlafraum daneben niederlegte und einschlief, mit dem sicheren Gefühl kommender Gefahr.

Ich träumte. Tappende Schritte näherten sich unserem Haus, dunkle Gestalten schwangen sich über das Geländer unserer Veranda, drangen ein in unser Haus, erbrachen den Schrank, raubten das Geld – das mein Mann doch bewachte! Und er selbst?

Waren das nicht tappende Schritte nackter Sohlen, huschende Windlichter im andern Zimmer? Träumte ich denn noch?

Ich schlug die Augen auf, schlug sie sofort nieder, stellte mich, als ob ich schliefe, blickte durch die fast geschlossenen Lider. Was ich sah, ließ mir das Blut vor eisigem Schrecken gerinnen: über meine Brust hielt ein Malaye das krumme Messer, bereit zum Stoß. Drüben, im andern Zimmer, lag mein Mann geknebelt und gefesselt am Boden. Über ihm der Schrank war erbrochen; die Eingeborenen, bei denen einer unserer Diener stand, raubten das Geld. Mein Herz schlug so sehr, daß ich fürchtete, mich zu verraten. Aber ich hielt an mich, brachte die Kraft auf, schlafend zu scheinen.

Dann verschwand der Spuk. Die Gestalten huschten durch die Fenster, schwangen sich über die Brüstung, mein Wächter hinterher. Kaum war er draußen, da stürzte ich auf, griff das Gewehr meines Mannes, schoß durchs Fenster in die Nacht, wo ein flackerndes Licht den Weg der Flüchtenden zeigte. Der Knall des Schusses gellte ins Dunkel, ein Schrei brach herüber, erstarb in Wimmern.

Ich befreite meinen Mann. Wir wachten mit geladenem Gewehr, Seite an Seite, bis es Morgen wurde. Wir haben durch den Verwundeten die ganze Bande bekommen, wir waren gerettet, aber wir können beide diese Nacht auf der Station dort unten im Busch niemals vergessen.

Und jetzt, sagte ihr Mann, wollen wir erst einmal ein paar Monate in Deutschland bleiben.

Ja – Deutschland.

Silbern glänzten die Dächer des Klosters, dunkel und würdig stand der Wald dahinter, aus dem sich leises Rauschen hob.

Drüben bei euch im Schatten des Urwaldes, sagte der Richter dann, und bei uns hier, in den Wirren des Kriegs und des Friedens: Gefahr, an manchem Tag, von dem wir es nicht wissen und denken, Gefahr für unser Dasein, – aber wie könnten wir den Besitz des Lebens ermessen, wenn wir es nicht verlieren und erhalten könnten?

Lange schwiegen wir dann. Ab und zu funkelte der Mond, der nun schon weit überm Dach des Hauses stand und sich den Bäumen des diesseitigen Hangs zuneigte, im Kristall des Glases, das einer zum Mund führte, um still den Wein zu trinken, der in heißer Sonne gewachsen, den Wein, der Stoff aus Erde und Himmel vereint, der Geheimnisse der Kraft und des Reifens trug und verlieh. Dann versank die silberne Scheibe im Geäst der Bäume hinter der dunklen Linie des Horizonts. Von weit her, übers Tal, schreckte ein Reh.

Tau fiel. Die Kerzen brannten allmählich herunter. Da holten wir die Gewehre, erwachten aus dem Traum der Nacht, schossen die Kerzen über den Rand der Mauer hinunter, bis die letzte verloschen, der letzte Widerhall eines Schusses übers Tal hin verklungen.

Die Nacht ward grau, der Tag dämmerte herauf. Die ersten Vögel erwachten und sangen, der Graspfeifer, die Stare.

Und da begann über den Hängen drüben ein Flimmern, ein Hochschießen feuriger Strahlen, und dann stieg die Sonne über den dunkeln Wald herauf, übergoß uns mit Licht und Wärme. Die Rosen glühten auf, die Pfeiler der Terrasse wurden hell. Die Schaumwolken am Himmel droben bekamen rote Ränder, die Fahne, die am Mast geruht und geträumt, entfaltete sich ruhig und breit im ersten Morgenhauch.

Die schweren Sandsteine der Terrassenmauer wären nicht gewichen, hätte man sie andersrum gesetzt und so her gefügt, sagte mir der alte Präsident. Er hob, mit einer verschabten Lodenjoppe angetan, leicht einen der schweren Steine auf, zeigte ihn mir her und bewies es mir mit der Sachkenntnis, die seinem Maurer seinerzeit gemangelt hatte. Auch die Fundamente sind viel zu schwach und nicht mit Eisen gebunden. Dann sprachen wir über die Erde bei den Wicken, die dies Jahr wieder erneuert werden mußte, damit sie ordentlich blühten, und gingen, im Gespräch über die Wirkung der Nosprasit-Spritzen, an seinen sauberen Obstbäumen vorbei, zu seinem Gemüsegarten hinüber, den er allein versorgte. In Reih und Glied standen die Gemüseköpfe, sauber geharkt waren die Beete. Wichtig war auch, daß man diese schwere Erde mit Torfmull mischte, und am besten mit etwas Pferdemist, dem Rasen aber mußte man Kupferkalk-Wacker geben.

Unser ernsthaftes Gespräch, denn es ging uns um wirkliche Wichtigkeiten, wurde unterbrochen, weil der alte Herr, sich tief verneigend, den sonnenverbrannten Strohhut zog. Die Königin, die drunten im Kloster wohnte, ging draußen vorüber und dankte dem verdienten Manne, dessen Bedeutung vielleicht nur ein paar Eingeweihte der Regierung kannten, die in Berlin in wichtigen Entscheidungen wegen seiner Sachkenntnis und Menschlichkeit gerne mit ihm verhandelten. Hier wußte es niemand, jedenfalls nicht durch ihn. Wir sprachen noch über die neue Art, mit schwerem Gas Wühlmäuse zu fangen, was er fast für besser hielt als Fallen, als ihm ein barfüßiger Junge vom Dorf herauf einen Brief brachte, schon von weitem winkend und rufend: Sind Sie das, Herr Präsident?

Es war ihm unangenehm, daß im Beisein eines anderen durch die Aufschrift des Briefes das ihm verliehene Adelsprädikat verraten worden, dessen er sich nie bediente und das er für sich ablehnte, so sehr er es bei anderen anerkannte. Ihm galt nur der Adel der Arbeit und der Pflichterfüllung. Es war Sonntagnachmittag, und wir sprachen noch von neuer Musik, und er sagte mir, daß er sie großenteils liebe, wenn sie ihm auch etwas fremd sei. Wir spielen zusammen Händelsonaten, wissen Sie, das Largo. Denn, lachte er bescheiden, ich habe meine Geige wieder herausgeholt, trotz meiner Nervenentzündung.

 


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