Albert Schramm
Der innere Kreis
Albert Schramm

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Die Freunde warteten. Ich wollte mich mit ihnen treffen; es sollte am Abend musiziert werden: Klaviertrios, Schubert und Beethoven. Was war die Arbeit eines übervollen Tages, gemessen allein an der Vorfreude auf diese Stunden? Und war der Tag nicht reich auch an Licht, war dieser Junge in meinem Saal nicht ein biblisches Beispiel von Würde und Größe?

Da, als ich schon Mantel und Hut nahm, rief mich die Schwester zurück – noch ein Zugang, eben eingeliefert. Ich hing den Hut wieder auf, zog den weißen Mantel über und ging hinüber zur Ambulanz. Eine alte, sehr hagere Dame mit Falten vieler Sorge, vielen Kummers im Antlitz, stand bescheiden an der Tür, aber das Neigen ihres Kopfes war von unerwarteter Hoheit, und doch von einer Ergebenheit gegen ein schweres Schicksal, die ergriff. Sie sprach mich nicht an, sie gab mir nur ihren stummen Gruß, in dem die ruhige Bitte um Hilfe war, mit hinein in den Aufnahmeraum.

Im grellen Licht der Ambulanz, das die weißen Kacheln der Wände und des Bodens prall zurückwarfen, lag, einsamer als in jedem Dämmer oder Dunkel, der halbnackte Leib eines älteren Mannes, vom Wärter schon zur Untersuchung gerichtet.

Fast schon wollte ich, um den Fall rasch zu klären, zuerst die Blicke auf den entblößten Leib werfen, die abtastenden Hände auf die gelbe und faltige Haut des Mannes legen, als ich in seine Augen sah. Sein Blick hielt mich fest. Er war von der gleichen Ruhe und Bereitschaft wie jener der Frau, die still draußen auf das Urteil des Arztes wartete, das im günstigen Fall schwer war, im andern ihr alles zerschlagen mußte, das sie noch hatte in diesen Zeiten äußerer Not: ihren Mann, der ihr Freund war, der Geliebte ihrer Jugend und der Zeit ihres Glücks, der Kamerad ihres Alterns und ihrer Not.

Ich begriff ihn sofort. Ich spürte das Außergewöhnliche seiner Art und seiner Lage, verneigte mich leicht. Mit einem Heben und Neigen des Kopfes, das ihn zu schmerzen schien, dankte er meinem Gruß, der Tatsache des Grußes vielleicht, die er nicht erwartet haben mochte, vielleicht auch der Wärme meines Grußes, die er wohl spürte und die ihn zu wundern schien, so wenig noch mochte er von seinem Leben erwarten, auf nichts, gar nichts mehr schien er Anspruch zu erheben. Die nötigen Fragen beantwortete er mit ruhiger Stimme, bat nach der Untersuchung um Entschuldigung, daß er mir die späte Mühe mache, er komme von auswärts und habe mit einem Warenfuhrwerk fahren müssen, das ihn und seine Frau mitgenommen habe und das erst jetzt angekommen sei. Denn die Eisenbahn sei bei der Geldentwertung leider für sie unerschwinglich geworden, und ihr alter Freund, der Sanitätsrat, konnte sie nicht fahren, weil er das Benzin für das Auto nicht aufbrachte, da sein Krankenkassenhonorar für das ganze Vierteljahr für die Arbeit und Verantwortung an viel hundert Kranken nur gerade für eine Büchse Malzextrakt gereicht habe, die er seinem Enkelkinde gekauft.

Leider sah ich, daß der Mann nur zu berechtigt war, mir die Mühe zu machen: eine faustdicke Geschwulst lag in der Magengegend, schon mit der Haut verwachsen, die Leber war geschwollen und verhärtet – Krebs.

Ich bemühte mich, undurchdringlich oder gar zuversichtlich auszusehen, aber er ließ sich keineswegs täuschen. Ein feines Lächeln, fast ein Schimmer von Schalkheit, huschte über sein Gesicht. Dann sah er mir offen in die Augen und fragte mit klarer Stimme, in der weder das Alter noch die Furcht vor dem Tode war: Ist Hoffnung? lohnt es, zu operieren? Wir müssen unser Letztes drangeben, den kleinen Rest unseres Lebenserfolges und wenn es aussichtslos ist, kann ich auch so sterben und das Geld für meine Frau sparen. Was, glauben Sie, Herr Doktor, ist das Rechte im Sinn meiner Frau?

In seiner Stimme ist weder Feigheit noch Klage, weder Trauer noch die Bitte um Hilfe, nur die Sorge um seine Frau, der er über den eigenen Tod hinaus helfen will.

Da liegt der Alte, den Magen fast zugewachsen. Schmerzen haben sich in sein Gesicht gegraben, er leidet, muß leiden bei dieser Geschwulst, und da wirft er die Möglichkeit einer Hilfe, einer letzten Hilfe von sich, um seiner Frau die paar Mark, diese entwerteten Papierlumpen, zu sparen, damit sie sich vielleicht davon an einem warmen Mittagsmahl sattessen könnte, das sie wohl beide lange entbehrt hatten.

Ja, da sah ich sie vor mir, diese beiden Alten, die wohl bessere Tage gesehen hatten, wie ihnen durch die Entwertung eines ums andere genommen wurde, wie sich ihr Lebenskreis, der wohl einst weit geschwungen war, immer mehr verengte, bis die nackte Not sie hungern hieß, und wie sie weiter ihren Weg gegangen waren – aufrecht, unbeugsam, klagelos, stolz und überlegen über jegliches Geschick, und blieben, das sie immer schon waren. Ich sah, wie sie sich quälten, wie sie hungerten zusammen, wie er ihr die Schmerzen verbarg, um sie über den drohenden Verlust ihres Gefährten solange als möglich hinwegzutäuschen, ihr solange als möglich im kärglichsten Dasein den unerschöpflichen Reichtum ihrer Gemeinschaft und ihrer gemeinsamen Unbeugsamkeit zu erhalten. Ich sah ihn, während schon die Schmerzen ihn quälten, der Magen schon keine Kost mehr annehmen wollte, mit schwindenden Kräften Kohlen tragen, und Holz und Wasser. Ich sah ihn hinaufsteigen über die steilen Treppen zum dürftigen Giebelzimmer, in das die Not sie verdrängt, ich sah die Frau sich sorgen und ihm in Liebe das erhalten, dessen er am meisten bedurfte, ihren Stolz, ihre Vornehmheit. Ich sah sie inmitten der Not zu Tische sitzen, mit seinen Bewegungen, mit den abgearbeiteten Händen die kümmerlichen Bissen zum Munde führen, als säßen sie bei festlicher Tafel, ich hörte sie gute Worte sprechen zusammen, Worte des Trostes, des Geistes, der Stille.

Ich konnte nicht sagen, ich will Ihnen die Kosten der Klinik ersetzen, denn wir, wir waren ja alle am ärmsten geworden, hatten ja nicht einmal einen Acker mit Kartoffeln oder ein Beet mit Gemüse, geschweige denn Fett oder Mehl oder Fleisch. Und ob Tausende oder Millionen auf den Scheinen standen, die wir als Lohn unserer Arbeit erhielten, es war immer dasselbe: Nichts. Aber durch wen und wie die Hilfe, die hier Hoffnung bot und nötig war, bezahlt werden würde, das war mir gleich. Ich riet zur Aufnahme, und wenn es sein mußte, zur Operation. Ich versprach, ihn morgen dem Chef vorzustellen, und das andere sollte meine Sorge sein. Vielleicht ließe sich mit dem Verwalter reden.

Und da erstaunte ich. Denn der Mann, dem nun, da ich den roten Stationszettel unterschrieben hatte, die Hilfe der Klinik offen stand, zögerte. Ich möchte nicht, sagte er ganz leise, daß Sie für mich Besonderes tun, es steht mir nicht zu. Ich kann es nicht annehmen, es sei denn, Sie tun es nicht mir, dem Kranken, sondern meiner Frau zuliebe.

Er sank zurück. Der Schmerz brannte über sein Gesicht, die Hände ballten sich zu Fäusten vor Qual. Aber kein Wort, nicht der leiseste Laut einer Klage kam über die schmalen Lippen des Alten.

Und so blieb er denn und kam auf unseren Saal, wo noch einer zu leiden verstand unter den vielen der Ungeduld, noch ein anderer, der auch mehr verlor als ein Glied oder Gelenk oder das Leben, der Junge mit dem Bruch und den Verbrennungen.

 

Unten wartete die Frau des Krebskranken. Ich berichtete ihr. Sie nahm alles ruhig auf. Nichts, schien mir, konnte diese Frau noch überraschen. Ungewöhnliches mußte sie erlebt, erduldet haben. Dann, als sie eben hilflos an der Tür stand und ich mich erkundigte, wo sie zu bleiben gedächte, fragte sie, nun doch mit zögernder Stimme, ob sie nicht hier, im Wartezimmer, die Nacht über sitzen bleiben dürfe. Sie fühle sich sehr rüstig, ein Bett brauche sie keinesfalls und es sei ihr, offen gestanden, auch zu teuer, sich ein Zimmer im Gasthaus zu nehmen, dafür könne sie ja dann ihrem Mann manches Gute tun.

Das Bleiben ging natürlich nicht, und die Schwester, die ich fragte, führte mich zur Schwester Luise. Schwester Oberin, an Schweigen gewöhnt, hörte mich an. Wie immer, wußte sie auch hier Rat in der unerschöpflichen Hilfsbereitschaft ihres opfervollen Lebens. Mit gütigen Worten empfahl sie die Dame der Fürsorge der Frau unseres Pförtners, und wies ihr Kammer und Schlafstelle an. Gott segne Sie, Schwester Oberin, sagte die Greisin, und aus ihrem Munde war den Worten alles Gewöhnliche und Gewohnte genommen. Sie waren ein wirklicher Segen. Und die Oberin spürte es und neigte ihr Gesicht tiefer, den Segen der Worte zu empfangen. Es ist nichts, antwortete sie dann mit ihrer ruhigen Stimme, wir tun unsere Pflicht, nichts sonst. Wir erfüllen unser Leben damit, daß wir dienen. Gott helfe Ihrem Manne, wir wollen das Unsrige tun.

 

Nun ging ich. Die große Tür der Klinik schloß sich hinter mir, kühle Nachtluft wehte mir erfrischend ins Gesicht. Es mochte neun Uhr durch sein, ich wollte ausschreiten, die müdgestandenen Beine zu bewegen. Da trat aus dem Schatten der Ligusterhecke hervorhumpelnd ein altes Weib an Krücken auf mich zu. Nichts für ungut, Herr Doktor, ich warte seit gut drei Stunden hier auf Sie. Bitte sagen Sie mir nur ein Wort, wie es meinem Jungen geht, der heut von der Leiter gestürzt ist, sich das Bein gebrochen und noch dabei verbrannt hat, weil das heiße Öl über ihn fiel – bitte bloß ein Wörtchen, wie's ihm auch geht und ob er lebt und wieder gesund wird. Ich bin gleich gegangen, als ichs gehört hab, aber die Besuchszeit war aus, bis ich gekommen bin, ich bin halt ein wenig schlecht zu Fuß.

Es geht ihm nicht schlecht, Mutter, sagte ich ihr, er wird wieder gesund werden, denk ich, ganz gesund, wenn's auch ein paar Wochen dauern mag!

Ach, wenn es wahr war, daß er wieder gesund wird, der gute Bub. Sehen Sie, da steh ich jetzt und warte eine Stunde um die andere, und jetzt, wo ich fast angefroren bin, da bringen Sie mir eine so gute Nachricht. Ich danke Ihnen schön!

Dann humpelte sie zur Haustür, bückte sich mit Mühe und legte ein Tannensträußchen und zwei Christrosen auf die Steinstufen am Eingang. Wenn ichs ihm auch nimmer bringen kann, heut abend, so solls doch da bei ihm, in seiner Nähe sein. Er wirds schon spüren, daß ich da war.

Ich sehe ihrem Beginnen zu. Die Zuversicht der Alten rührt mich und da denke ich, jetzt ist es schon so spät geworden, jetzt kommts darauf auch nicht mehr an, und hebe die paar Reiser auf und trage sie rasch noch dem Pförtner hinein mit der Weisung, sie gleich morgen früh dem Jungen hinaufzubringen in den Saal.

Dann, als ich gehe, höre ich noch lange das Klappern der Krücken auf dem gefrorenen Pflaster hinter mir her.

 

Chirurgen gelten oft als gefühllose Techniker, man schildert sie so, auch Ärzte. Mag sein, daß es solche gibt und daß der Beruf gerade des Chirurgen, der Tag für Tag gräßliche Schmerzen mit ansehen, sie oftmals verursachen muß, im Lauf der Jahre abstumpft. Ich selbst habe unter den Großen der Chirurgie, soweit ich sie kennenlernte, kaum einen so gesehen. Oft allerdings – denn es sind Männer, die an den Grenzen zwischen Leben und Tod zu arbeiten gewohnt sind – sind sie besonders ernst, da vor ihren Augen, die so viel wirklichen Kummer sehen müssen, das Geklage und Gerede der meisten zu dem Nichts wird, das es ist. Sie sind ernst und still, und ihre Güte und Menschlichkeit ist verdeckt und zeigt sich nicht im Ablauf gewöhnlicher Tage. Oft habe ich es selbst empfunden, daß nichts so still und schwer macht als das Eindringenmüssen in den Kummer der andern, als ermessen müssen, wieviel Leid da ist, wie viel Kummer getragen wird, wie doch manchmal aus der Masse des Durchschnittes jene auftauchen, deren Schmerzen riesenhaft sind im Vergleich zu den unsern oder denen der klagenden Freunde, und die sie tragen, wie man es etwa trägt, daß man älter wird, ohne Aufhebens, ohne Klagen, ohne Worte. Wenn man mit ihnen zusammen war, an ihren Betten gesessen, ihre fieberheißen Hände gehalten und aus ihrem schmerzensdunklen Blick den ruhigen Sieg über alles Schwere gelesen, oder einem von ihnen die Stunde des großen Heimgangs geteilt, und vielleicht den letzten Weg zur Stille erleichtert und ihm dann die Augen über den gebrochenen Blicken geschlossen hat – es leuchtet ein, daß man den Lärm des Tages umgeht, das prahlende Prangen künstlichen Lichts im Trubel von Festen als Kränkung empfindet, als Kränkung für die, die einem das Geheimnis ihres Todes mitgeteilt haben, und daß man die Stille begreifen lernt und den Segen der Ruhe.

So war unser Meister. Streng in der Arbeit, vor allem gegen sich selbst, verkannt und mißverstanden von vielen. Wem er aber Einblick gegeben in die vornehme Art seines eigensten Wesens, der ward beschenkt und ergriffen von so viel Freundlichkeit und Menschenliebe, so viel Hilfsbereitschaft und Güte.

Ihm berichtete ich am andern Morgen, schon vor der Vorlesung, die ich damals zu betreuen hatte, von dem Zugang. Ich verhehlte dabei nicht, daß ich glaubte, es sei sehr schwer, dem Manne zu helfen, und wies auch auf dessen besondere Art mit ein paar Worten hin, die nicht eigentlich zur Gewohnheit des Aufnahmeberichtes gehörten. Das Antlitz des Meisters veränderte sich nicht. Es verriet nicht, ob er Anteilnahme oder Mißbilligung empfände. Nur, als ich ihm sagen mußte, daß mir die Verwaltung wegen seiner Aufnahme Schwierigkeiten machen müsse, da hier ja kein städtisches Krankenhaus mehr wäre, die Leute aber offenbar verarmt seien, da hob er seine Lider und ein voller Blick seiner braunen Augen fiel in den meinen.

Gleich nach der Vorlesung, ehe er die erste Privatoperation begann, ging er mit mir auf die Station; ein ungewöhnlicher Beginn des sonst streng nach feststehendem Ritus sich abwickelnden Tages.

Wir traten an das Bett des Schwerkranken, der sich mit schwacher Kraft und unter Schmerzen aufzurichten versuchte, um dem Meister die gebührende Ehrung des Grußes entgegenzubringen. Er ward in dessen knapper Art, wie jeder andere auch, begrüßt. Und nichts verriet ein besonderes Entgegenkommen. Aber die Untersuchung war eingehend und genau und dauerte lange. Und als die Hand des Arztes ruhig auf dem Leib des Kranken liegen blieb, während der Blick forschend auf den feinen Zügen des Mannes lag, der dem des Chirurgen nicht auswich und offen gleichermaßen seine Not bekannte, ohne eine Spur von Anspruch auf Hilfe zu erheben, da sah ich, daß hier das Schicksal zwei Große aneinander geführt, die in Verzicht und Hilfeleistung einander wert und ebenbürtig waren.

Nichts aber verriet das Besondere, und daß etwa unser Meister alles auch so ansähe, wie ich, sein jüngster Hilfsassistent. Schweigend gingen wir wieder hinaus in den Gang. Ja, sagte er, Metastasen in der Leber. Ob wir ihn retten können, ist fraglich, aber möglich. Wir machen auf. Und zwar noch heute. Ich operiere ihn selbst. Und wegen des anderen, sagen Sie dem Manne, wir könnten ihn behalten, die Unkosten würden von einem Hilfsfond beglichen. – Ich wußte, daß es das in der Klinik nicht gab, ich wußte, er würde sie selbst übernehmen.

Vielen Dank! sagte ich leise, aber voll wirklicher Freude. Denn nun, da geholfen war, da der Chef selbst operieren würde, da wußte ich erst, wie sehr mir an dem Alten, gerade an ihm, gelegen war.

Vielen Dank, Herr Professor!

Niemand hat sich zu bedanken, sagte der Chef, fast böse, allenfalls der Mann, aber vor allem nicht Sie.

Aber er liegt doch auf unsrer Station –

Der Chef läßt mich stehen, geht davon. Doch er wird helfen.

 

Ich sprach mit dem alten Herrn, der Chef wolle operieren, er sähe es als hoffnungsvoll an.

Er nickte nur. Dann bat er: Sagen Sie meiner Frau vorerst nichts davon, morgen wird sie es früh genug erfahren, wenn ich noch lebe. Falls ich aber aus der Narkose nicht mehr erwachen sollte, sagen Sie bitte dem Herrn Professor, daß ich ihm jetzt schon gedankt hätte, auch im Namen meiner Frau, falls ich es hernach nicht mehr könnte. – Dann bekam er die Spritzen und ward hinübergefahren, weiß und zugedeckt und reglos, hinüber zum Operationssaal. Und bei dem Manne hier denke ich auf einmal, wie man mir damals auch das Liebste, das ich hatte, hinübergefahren unter weißen Tüchern, den geliebten Leib, Christa.

Die Narkose gelingt leicht, der Bauch wird mit Längsschnitt eröffnet, die Gefäße bluten nur schwach und wir kommen mit wenigen Unterbindungen aus, kommen rasch vorwärts. Das Bauchfell wird geöffnet, das Netz, und der Magen liegt frei. Er ist mit der Umgebung, auch mit der Leber verwachsen – fast der ganze Magen wird entfernt, der Meister arbeitet sicher und rasch. Es gelingt nicht, alle Neubildung völlig zu entfernen, und die Metastasen, die Aussaat im Körper, wird auch nicht mehr zu beheben sein, aber es ist ein Atemholen, es können ein paar Jahre sein, die ihm geschenkt werden. Und wer griffe nicht zu, wenn ihm fast schon am Tag seines Todes vom Schicksal ein paar Jahre zugegeben werden, wenn er sie auch äußerlich in Not, innerlich aber im Reichtum von Freundschaft und Liebe verbringen darf? Um seines Weibes willen wird er dankbar sein, wenn er ihr auch den größten Dienst vielleicht nicht wird erweisen können, sie überlebend in ihrer Todesstunde bei ihr zu sein, um dann selbst den einsamen Tod des Zurückgebliebenen zu erwarten.

Mechanisch tupfe ich das Blut der Gefäße im Schnittgebiet auf, halte Klammern, Haken, Pinzetten, Scheren, mache alle die Handgriffe des Assistenten mit der ruhigen Sorgfalt bei der Arbeit des Meisters. Die Schichten werden vernäht, die Bauchhöhle verschlossen, Jod, Mastix und der Verband angebracht. Das Herz ist leidlich, der Puls nicht schlecht.

Still lag er auf der Station, klagte niemals, war stets von einer zuvorkommenden Höflichkeit, nicht nur gegen den Arzt, sondern gegen jeden im Saal, war er auch noch so ungeschlacht, laut oder grob. Keiner sah, daß er litt, auf die Frage nach seinem Befinden gab er stets zur Antwort: Besser, viel besser als ich erwarten kann.

Niemals vergaß er den Dank an die Wärter, die Schwester, den Arzt der Station. Es ist nicht leicht, im Saal einer chirurgischen Klinik mit Schwerkranken zusammenzuliegen, die Nächte zu wachen, zu warten, gestört von den Leiden der andern. Er aber, der empfindsame feinnervige Mensch, fügte und fühlte sich ein, trug, was er litt, mit dem Lächeln der Größe.

Solange er da war, gab es keine Unzufriedenheit im Saal. Sein Beispiel zwang auch die andern zu Ruhe und Zucht, Ruhe und Geduld, wenn einmal dem einen das Essen, dem andern der Griff eines Wärters mißfiel. Er war ein Vorbild für alle, auch hier.

 

Auch er, der Leiter der Klinik, muß sich in acht nehmen; er darf nicht ungerecht sein, nicht im bösen und nicht im guten Sinn. Nicht, weil die Zeit noch voll Aufruhr und Gärung ist und weil der Unbedeutende glaubt, ein Recht zu haben über das Tun eines Meisters zu urteilen, sondern weil so wie er und sein Handeln auch die Klinik ist mit allem, was darin lebt und arbeitet, lernt und dient. Aber es läßt sich machen in diesem Fall, der menschlich nicht als besonderer gelten darf vor seinem strengen Sinn, der aber wegen der Schwere der Erkrankung und der Ausdehnung und Gefahr der Operation nicht auf dem Saal verbleiben darf, wo er die andern stören und ihre Heilung schädigen und verzögern würde. Denn es geht ihm nicht gut.

Ob ein Einzelzimmer auf der Station frei sei? Nein, sagt die Schwester, im kleinen Einzelzimmer liegt der Mann mit dem Hirntumor, den man wegen seines Stöhnens unmöglich zu den andern legen könnte.

Dann bringen Sie den Mann auf meine Station. Ist etwas frei?

Zweiter Klasse, sagt der Assistent, ist alles belegt. Nur zwei Zimmer erster Klasse – aber das wird ja kaum in Frage kommen.

Also erster, in das Zimmer nach Süden, mit dem Balkon, sagte der Chef.

 

Als ich abends seine Frau, und ich freue mich, daß ich es kann, zu dem Einzelzimmer der Privatstation führe, erschrickt sie ein wenig. Sie überschätzen uns, Herr Doktor, hat mein Mann vielleicht unklar gesprochen? Wir sind verarmt, die Zeit hat alles entwertet. Wir haben nichts mehr, wir können uns unmöglich mehr ein Einzelzimmer leisten, so sehr ich es meinem Manne gönne. Es steht uns nicht zu, und wir wollen Sie, der Sie gut zu uns sind, nicht enttäuschen.

Nun darf ich ihr sagen, daß der Herr Professor selbst es so angeordnet hat, weil drüben auf der Station kein Platz mehr war, und die Kosten würden aus dem Hilfsfond der Klinik ...

Ich hielt bestürzt inne, denn da rannen auf einmal, ohne daß sich die Haltung oder auch nur das Gesicht der Greisin verändert hätte, zwei helle Tränen über ihre eingefallenen ausgehungerten Wangen, rannen über die Falten herunter, tropften auf das graue Kleid.

Sofort entschuldigte sie sich für ihre Weichheit. Sehen Sie, sprach sie mit zitternder Stimme, wir waren vermögend, hatten Dienstboten, mein Mann war glücklich in seinem Beruf. Unsere beiden Söhne fielen am Feind, unsere Tochter holte sich einen Lungenkatarrh in einem Lazarett. Um ihr die Kur zu ermöglichen, verkauften wir zu Beginn der Geldflut unser Haus und alles, was wir hatten, nur um dem Kind alles zu tun, was wir konnten. Sie starb. Das Geld verlor seinen Wert. Wir haben viel Gutes, viel Glück gehabt, wir rechten nicht. Und bis jetzt hatten wir ja noch uns und die Gemeinsamkeit unserer Not, und äußere Not an sich bedeutet gar nichts, und auch den Hunger hielten wir aus – aber wir sind Güte von anderen nicht mehr gewohnt, entschuldigen Sie. Wie geht es meinem Mann?

Alles geht gut.– Ich öffnete die Tür seines Zimmers und zögernd trat sie ein, ungebeugt, unbeugsam, weder erschüttert vom Schmerz noch von der Hoffnung, Siegerin, schon jetzt, über das Schicksal, das schwächer ist als sie. Langsam ging es vorwärts, Tag für Tag. Aber es war keine laute Freude darüber. Immer war diese Stille im Zimmer, in der alles geborgen war, diese Bereitschaft, hinzunehmen, was das Geschick auch brächte. Und weder der neunte Tag nach der Operation, als der Kranke mit Lust erstmals wieder eine Kleinigkeit aß, sich köstlich erholt und wohl fühlte, noch der zehnte, an dem er infolge einer Herzschwäche in den Armen seiner Gattin verschied, so wie ein müdes Kind endlich einschläft, brachte Unerwartetes für die beiden.

Drüben, in der Friedhofkapelle, wurde er aufgebahrt. Die Kranken der Station, auf der er gelegen, schickten Blumen, die Schwestern einen Kranz, ebenso andere. Niemand wußte, woher, und doch war der Sarg mit Blumen und Kränzen umgeben. Da lag er aufgebahrt im einfachen Sarg, ruhend von allem, ein Aufrechter des Lebens, der er war. Meine Freunde spielten ihm den langsamen Satz des Regertrios.

Die Töne der Geigen und des Cellos klangen auf in der Kapelle, schwebten segnend hin über den Toten.

Wer sich von der Station frei machen konnte, war herübergekommen, auch der Chef. Die Töne verklangen, das Überirdische hatte ihn gesegnet und ihn aufgenommen.

Dann sprach der Meister mit leiser, eindringlicher Stimme, sprach zu uns und der Frau des Toten, die aufrecht, im Silberkranz ihrer Haare, an der Bahre stand.

Ein Großer des Lebens ist hingegangen, hat erfüllt. Seine Söhne hat er am Feind verloren. Wir ehren sie. Sie sind die Toten des Krieges, die Helden fürs Vaterland. Er aber hat ihren Tod als williges Opfer hingenommen in selbstverständlicher Stille, als aufrechter Mann, wenn ihn auch der Kummer fast niederwarf. Sein Leben zerbrach; die Welt, in der er gelebt und gearbeitet, wurde ihm zerschlagen, der Lohn seiner Arbeit genommen. Ohne Zögern aber, mit der gleichen Selbstverständlichkeit, nahm er das neue Leben der Armut an, ohne ein anderer darum zu werden, größer als alle, die sein Leben früher oder heute geteilt. Er bleibe uns Vorbild, wir wollen ihn ehren, der ein Überwinder war, ein Held im Heere des Schicksals. – – – Noch einmal klangen die Geigen auf. Ein Choral schwebte über dem offenen Sarg. Dann ward er geschlossen und der Tote hinausgetragen. Die Glocken läuteten ihm. Seine Frau schritt hinter ihm her, aufrecht, die offenen Augen ins Weite gerichtet. Dann warf sie ihm mit zitternder Hand die Erde auf den Sarg und das grüne Reis, das man ihr, nach der Sitte, gab. Auch diesen letzten Dienst erfüllte sie dem Kameraden eines langen Lebens. Dann dankte sie allen und ging, von keinem begleitet, aber aufrecht und stolz aus dem Garten des Todes.

 

Es war Sommer geworden und wir begannen die neue Hütte zu bauen, das Berghaus. Da wir nur wenig Geld hatten, taten wir, was immer möglich war, selbst, und wurden dazu auch von den alten Herrn des Klubs, soweit sie unsere Vorgesetzten waren, für eine oder zwei Wochen beurlaubt, zogen hinaus auf die Höhe.

Das Schnurgerüst war gesteckt und wir hoben die Fundamentgräben und den Keller aus: Peter der Starke, Hans Benninghoff und ich. Den Tag über arbeiteten wir, hackten und schaufelten, fuhren im Karren die Erde, abends kochten wir uns oder gingen hinüber zum Gasthof, um für ein paar hunderttausend Mark ein warmes Abendessen oder doch eine Suppe zu bekommen.

In jener Zeit war ich in unermeßliche Schulden geraten. Ich hatte mir eine graue Wildlederhose vom Gehalt eines ganzen Monats gekauft, sie kostete etwas über vierzigtausend Mark, aber bis mein Geld in die Stadt kam, war es schon weiter entwertet und der Kaufmann rechnete den Rest jedesmal in Dollar um, dessen Wert für uns rascher stieg als die Nennzahl unseres Gehaltes. Nun aber hatte ich den dritten Monatslohn darangegeben, ein Vierteljahr hatte ich von morgens früh bis spät in die Nacht meinen Dienst in der Klinik getan, geholfen, wo es möglich war, an den Betten von Sterbenden gestanden, Trost gesprochen, die Hände in Blut und Wunden getaucht und mein Bestes getan, und meinen ganzen Lohn für sie hingegeben. Nun aber war sie mein, festes mausgraues Leder, hatte gelbliche Nähte und eine seitliche Messertasche, in der ich stets meinen Hirschfänger trug. Er galt mir als Waffe und Zeichen des Freien, wie dem Germanen das Schwert. Auch Peter war der Versuchung erlegen und eines Tages kam er mit einer hellgelben Lederhose an, mit Nähten, Messertaschen und Stilett. Und nun saß uns das Messer, das zu jeglicher Arbeit ebenso verwendet wurde wie beim Essen, stets locker in der Tasche. Wir pflegten auch leichtere Streitigkeiten mit dem Hirschfänger auszutragen, nur im Scherz zwar, aber mit scharfen Hieben, und stets gab es neue Kratzer und Stiche.

Die Woche über waren sie nicht bei der Arbeit geduldet, sonntags aber durften die Mädchen heraufkommen.

Der Ostwind fegte über die Hochfläche, bog die knorrigen Birken und Bergföhren nieder, warf ihre Wipfel hin und her. Das Riedgras lief in schillernden Wellen vor ihm her wie die Wasser eines Sees im Mittagswind.

Wir lagen beieinander im Gras und Windschutz. Über uns standen die Tannen des Schwarzwalds, in deren Ästen die blauen Wimpel des Sommerhimmels hingen und vor dem das Goldbraun der samenschweren Tannenzapfen in der Sonne glänzte. Ingrid, den Anfang der Narbe über der Stirn, und Peter lagen am Rain, Hans Benninghoff saß ein paar Schritte entfernt am Bach und baute aus Steinen und Sand einen Staudamm. In den so entstandenen See warf er die roten Blüten der Feuernelken und Rindenspitzen, daß sie schwammen wie Schiffe. Die Sonne brannte draußen auf die Wiesen. Im schattigen Moos unter der Tanne lag Uta, die Arme unterm Kopf. Ihre Brust hob sich mit ihrem Atem. Lichtkringel spielten über ihre Stirn – es war, als hätte ich das alles schon einmal erlebt, als wiederhole sich hier ein stiller Ausschnitt vergangener Zeit.

Ich sah das schöne Gesicht Utas, ich spürte ihre Nähe und mochte sie gerne. Daß sie Hans Benninghoff gehörte! Wenn wir uns jetzt erst getroffen hätten, unverbraucht beide, beide voll Willen zur Zukunft, das hätte vielleicht ein großes Leben werden können. Aber mein Ziel, mein Wunsch an die Zukunft war nicht wie der ihre. War meine Hoffnung, einmal den Kreis, der mich umschloß, sei er noch so eng gezogen, zuinnerst ganz zu erfüllen, in ihm mein Werden, meine Arbeit, mein Leben, ganz auszufüllen und so seinen Ring zu sprengen durch die innere Weite, so ging Utas Sehnen hinaus in die äußere Weite – – ferne Länder, Wanderschaft – – Fahrt über blaue Meere und durch sagendunkle Wälder. – Hatte ich einem väterlichen Freund das Angebot einer großen Praxis in Südamerika abgeschlagen, weil ich glaubte, das Rauschen des Schönbuchs nicht entbehren zu können und die blaue Weite der Alb, so war es ihr leid, daß ihr Schicksal noch nicht die Schwingen gebreitet, sie hinüberzutragen über die Grenzen der Heimat.

Wohin uns die Zukunft wohl tragen würde, dich, Uta, und mich? Und ob uns das Leben noch einmal zusammenbrächte, später einmal, und ob wir noch eine Aufgabe aneinander zu erfüllen hätten, die das Leben uns gab? Wer konnte es wissen?

Hans füllte seinen Filzhut mit Steinen, erstieg das flache Dach des Brunnenhäuschens und bewarf uns von dort mit seinen Geschossen. Erst waren wir zu faul, als er aber Peter ins Gesicht traf, sprang der auf, seine Festung zu stürmen.

Der Streit zog uns an und auch die Mädchen griffen ein, wir stürmten. Kaum aber hatte sich einer hinaufgeschwungen, da rissen ihn die anderen herunter. Wir warfen mit großen Erdbrocken, der Streit wurde erbittert, auch Wasser aus Filzhüten tat guten Dienst.

Nun ging es um die Mädchen, die, während wir uns bekämpften, das Dach erstiegen hatten, oben saßen und erobert werden wollten. Als ich schon von der Seite her das Dachgesims erfaßt hatte, um mich hochzuklimmen, während mich an den Füßen Hans herunterziehen wollte, meinen Stößen aber weichen mußte und mir also der Erfolg fast sicher schien, hatte Peter von der andern Seite das Dach erstiegen und stürzte auf mich zu, mich hinunterzustoßen. Da ihm dies indes nicht ohne weiteres gelang, zog er unter dem Geschrei der Mädchen den Hirschfänger blank und stieß vor meinem Gesicht und den Händen hin und her, und schon, als ich ihn nunmehr angriff, um ihn über das Dach hinunterzuwerfen, stieß er mir das Messer in die Hand, daß das Blut herausschoß. Wütend und brennend vor Kampfgier zog ich ebenfalls das Messer, und als er nun über mich herfiel, fuhr ihm die Schneide in den Schenkel. Rot perlte das Blut über die neue goldgelbe Hose, er fiel über das Dach in den weichen Grund. Ich war der Sieger, die Mädchen gehörten mir. Ich wollte sie eben fassen, lief auf sie zu, als mir Hans einen hakenförmigen Tannenast zwischen die Beine warf, daß ich kopfüber hinunterstürzte. Ich raffte mich auf, aber schon fuhr mir ein kopfgroßer Erdbrocken in den Rücken und warf mich wieder nieder. Mit beiden Händen riß ich den schweren Stein auf, der da vor mir lag und warf ihn, am Boden knieend, nach dem Feind, dem er im Augenblick, als er auf das Häuschen zustürzte, in die Flanke fuhr. Er hielt im Ansturm inne und sank zusammen. Alsbald zeigte sich, daß er keinen Scherz machte, sondern Atemnot und Schmerzen hatte. Peter humpelte mit seinem angestochenen Bein heran, das Rot und Gelb seiner Hose glänzte in der Sonne, die Mädchen stiegen herunter vom Dach und wurden Samariterinnen. Etwas beschämt trug ich mit meiner blutenden Hand den Stein des Mißgeschicks zum Bach und versenkte ihn.

Nun lagen wir wieder friedlich in der Sonne. Hoch oben zogen die Sommerwolken über die Wälder, von weither sang das Brausen der Wipfel, anschwellend und abklingend wie der Flügelschlag des Windes.

Auch im rauhen Spiel waren wir uns zugetan. Aber es hatte gezeigt, wie ernst es einmal vielleicht werden könnte. Als Hans die übertriebene Behauptung aufstellte, er spüre deutlich ein Knacken in der linken Seite, wurden ihm doch vorsichtig Rock und Hemd ausgezogen. Mit braungebranntem Körper, nur mit der grauen Sporthose angetan, schön wie ein Held der Antike, lag er auf seiner Jacke. Uta kniete neben ihm, hielt seine Hand, während ich ihn untersuchte.

Es ließ sich nicht leugnen, das Knacken war wirklich da. Es war aus mit der Arbeit. Hans bekam einen Heftpflasterverband über die Brust und mußte sich schonen.

Ich hatte ihm eine Rippe zerbrochen.

 


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