Albert Schramm
Der innere Kreis
Albert Schramm

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Auf den Sommerwiesen standen zu Tausenden die Margueriten. Wogen von Blüten und Gräsern hoben und senkten sich im Mittagswind, und die Wanderwolken waren groß und schwer von festlichem Weiß.

Der See lag blau und glänzend im Licht, silberne Schaumkronen schmückten die Kämme der Wellen, in gleichmäßigem Spiel rollten die breiten Bänder der Wellen heran, schoben sich ans Ufer, verliefen sich im Geröll und Grün des Strandes in gleichförmigem, ruhigem Rauschen. Mittag war vorüber. Alles war Ruhe, die Stunden waren schwer vom Glanze des Sommers.

Wir dehnten und streckten uns im Sand. Manchmal kam eine Welle des Sees heraufgerollt zu uns, übergoß uns die Füße.

Christa lag ruhig, die Hände flach neben sich im Sand. Die Brust hob sich leicht mit dem ruhigen Atem. Es schien, als schliefe sie. Aber ab und zu schlug sie die Augen auf, hob den Blick hinauf ins Blaue, trank in sich hinein, was sie an Glanz und Fülle zu fassen vermochte. Noch lebte sie. Noch war es schön!

Dann legte sie leicht ihre Hand auf die meine, strich mit kosenden Fingern einmal darüber und schien wieder zu versinken in der Ruhe der Stunde.

Es war gut so, es war alles leicht und glänzend wie die Gräser am See, wie die Wolken dort oben, schwerelos, wie die weißen Segel der Boote, die draußen, fern, vorüberzogen.

War es das Glück? War es unsere Erfüllung? Konnte es schöner, konnte es jemals wieder so schön werden?

Der See war weit, die Sonne brannte sich in unsere Leiber, die Wellen spielten und glucksten am Ufer, das Schwanken der Zweige war über uns voll satten Grüns. Tausend Jahre vor uns mochten Menschen so am Ufer des Sees hier gelegen und sich lieb gehabt haben, tausend Jahre nach uns würde es wieder so sein, aber sie könnten nicht glücklicher sein, als wir es nun waren.

Das Zittergras, das ich im Munde hielt, bog sich über meinen Augen auf einmal im Wind, der vom Gebirge her kam. Schatten liefen über den See. Die Wogenkämme wurden höher, die Schaumkronen weiß, die Wellentäler dunkelgrün. Sturm kam.

Wir machten uns auf. Es war später Nachmittag geworden. Wir kamen ins Dorf, als der letzte Dampfer schon fort war. Wir mußten bleiben. Es war uns nicht recht. Sie bat: Laß uns versuchen, heimzukommen – es ist wegen der Freundin, und ich möchte lieber nach Hause.

Jenseits des Sees, im anderen Ort, hielt noch ein Zug, den könnten wir wohl erreichen. Aber der See war noch unruhig, keiner wagte die Überfahrt. Ein alter Fischer war schließlich bereit.

Er löste das Boot und wir stießen hinaus in den kochenden See.

Der Sturm erfaßte es, warf es hin und her, ließ es tanzen über den Kämmen der Wogen, hinunterplatschen in die Täler der Wellen, aufklatschen mit freiem Kiel auf die schwarzen Wirbel der Wasser.

Der Sturm nahm zu, das Boot drohte zu kentern. Wir wären gekehrt, aber wir hatten die Mitte des Sees schon erreicht, wir mußten vollends hinüber.

Alles war Unruhe, der See mit seiner grundlosen Tiefe, der Sturm, das Knirschen der Ruder, das laute Beten des Alten, der hinter mir an den Riemen beim Bug saß, und nun wieder in lauten Flüchen bereute, daß er gefahren. Ruhe nur, in allem Aufruhr, war Christa. Während das Boot sich neigte, klatschend in die Wellen schoß, Wasser nahm über Bug und Bord, saß sie ruhig im Heck, sah ruhig den Bewegungen meines Ruderns zu, unbekümmert darum, ob ihr die Wasser ins Antlitz schlugen, die Kleider übergossen mit dem Schaum des Sees.

Nicht einmal wandte sie den Blick aus dem meinen, vertrauend, glücklich senkte sie ihn in den meinen. Mochten wir untergehen, mochten wir sinken.

Nun klang ihre Stimme. Der Sturm riß ihr die Worte vom Mund, aber ich verstand sie, ich las die Bewegung der Lippen, ich wußte und spürte, was sie mir sagte:

Ich hab dich lieb – du – wie schön das ist – jetzt, hier im Sturm – nimm mich mit hinunter, wenn wir versinken – – glücklich, ich bin so glücklich, du – ich danke dir so.

Wir nahmen viel Wasser, aber das Boot war fest. Nach einer Stunde warf uns eine Woge auf den Strand.

Knirschend lief der Kiel auf. Wir sprangen heraus, rissen das Boot hinauf, ehe die nächste Welle es wieder erfaßte, ich hob Christa heraus und trug sie ans Ufer.

Da standen wir im Garten einer Abtei. Rosen blühten über alten Mauem, die nun wieder eine scheue Sonne beschien, grüner Rasen deckte den Hof. Wir schritten hindurch wie durch einen Traum, schütten hindurch als durch einen der Gärten des Lebens.

Erst gingen wir, als wir aber, da es auch für den Zug schon zu spät wurde, zu eilen begannen, da blieb Christa stehen. Ihr Herz war zu müde, sie konnte nicht laufen, sie mußte sich legen. Wohl versuchte ich, sie zu tragen, und sie lag hingegeben mit geschlossenen Lidern in meinen Armen. Aber es war zu spät, wir würden den Zug nicht mehr erreichen.

Es war uns beiden nicht recht, aber wir mußten uns fügen und bleiben.

Zu der alten Klosterherberge ging es nun, zögernd und mühsam, zurück.

Christas Zimmer lag gegen den Garten. Wir hörten das Schlagen der Wellen ans Ufer.

Dann saßen wir lange noch draußen, lauschten dem Wind in den Zweigen, dem ersten Huschen des Nachtgetiers, hörten das einschlafende Singen der Vögel, sahen den lautlosen Flug der Fledermäuse schattenhaft über uns hin, sahen das letzte Verlöschen des Tages im See, der dunkel wurde und still wie ein großes Geheimnis.

Die ersten Sterne kamen herauf. Wir lehnten aneinander, in Mäntel gehüllt.

Es wurde kalt am See und Christa stand auf, küßte mich und ging in das Haus.

Ich sah das Licht ihres Fensters aufglühen und später verlöschen, ich rührte mich nicht. Ich lauschte dem immer gleichen Klingen der Wellen, das ab und zu unterbrochen wurde vom leisen Stürzen eines losgespülten Steines, sah über den schwarzen Konturen der Blätter und Zweige die Sternbilder wandern, höher, weiter am nachtdunkeln Himmel. Der Mond kam herauf, schob sich über den dunkeln Grund des Himmels träge dahin – der See rauschte, fing sein Licht silbern auf, spielte damit.

Es war spät in der Nacht. Ich erhob mich. – Wir hatten es nicht erwartet und nicht erzwungen. Wir hatten die Flucht vor dieser Nacht vergeblich versucht.

Unsere Zeit war reif geworden und still.

 

Früh war ich drunten am Ufer, schwamm hinaus in den See. Christa kam, frisch wie der Morgen, sie trug das Frühstück selbst in den Garten, heiße Milch, Bauernbrot und Butter.

An den Gräsern perlte der Tau, über dem See dampften die Nebel der Nacht, und drüben, über dem Kamm der Berge, stieg wärmend und segnend die Sonne herauf. Der Tag wurde heiß, und wir gingen dem Ufer entlang, einen Platz zum Rasten zu suchen. Und da, von Büschen umgrenzt, auf sandig weichem Boden, vor uns den blauen See, legten wir uns in die Sonne, warmer Wind fuhr über die braune Haut.

Schattenkringel spielten über Christas Leib, huschten hin wie im Spiel über die schlanke Schönheit der Frau, die edel war und still wie ihr Wesen.

Wir lagen reglos und träumten hinaus über die Weite des Wassers.

Alles war Gegenwart. Es gab keine drohende Zukunft, alles war leicht und licht geworden, alles war Glanz, und noch war alles, alles in und um uns, nur Leben, fröhliches, herrliches Leben. Der Tod war noch weit.

Der Abenddampfer erst trug uns hinunter zur Bahn, flüssiges Gold mischte sich mit dem dunklen Blau der Wellen, brennende Segel blieben zurück.

 

Drei Wochen waren vergangen. Christas Leiden war schlimmer geworden. Als wir in die Bahn stiegen, zusammen zur Klinik zu fahren, da drehten die Leute die Köpfe nach ihr um, so schön war sie geworden. Wie immer trug sie auch zu diesem Gang Blumen, einen Arm voll Kornblumen und Mohn. Sie, die vom Tode Gezeichnete, trat noch durch die Pforte der Klinik als ein Bild des unbesieglichen Lebens, leuchtend vor Farben der Blumen und strahlend vom Reichtum inneren Erlebens.

Auch als ich sie andern Tags besuchte, war sie von feierlicher Fröhlichkeit, und jeder, der sie ansah, nahm eine Fülle des Glücks mit, das über ihr lag.

Als man ihr sagte, man müsse operieren, legte sie nur sehr zart ihre Hand auf die meine und bat: Sorge dich nicht und vergiß nie, wie gut wir es hatten, wie glücklich wir waren, und vergiß nicht, wie sehr ich dir danke!

 

Es war nicht möglich, sie zu täuschen. Sie wußte, es ging auf Leben und Tod. Sie ließ sich die Röntgenbilder zeigen, nickte nur, und als der Arzt kam, ihr Mut zu machen, fand sie ihr seines, über alle Dinge des Lebens so überlegenes Lächeln als einzige Antwort.

Dann war es so weit. Sie bekam in meinem Beisein die Spritze, die ihr den Schlaf brachte.

Und dann fuhren die Schwestern eine weißverhüllte Gestalt hinüber zur Operation.

Ich ging in den Gängen auf und ab, ging durch die nahen Anlagen, stand im Straßengetriebe, dachte nur immer an jenen letzten Tag am See, und wie man sie nun hinübergetragen. Was würde es nützen? Wußten wir nicht beide, wie wenig Hoffnung uns blieb, spürten wir nicht von Anfang an, daß diese einmalige große Gemeinsamkeit vom Tode gezeichnet gewesen, schon ehe wir uns kannten?

So manchen hatte ich neben mir hinsinken sehen, verstümmelt, zerrissen vom feindlichen Feuer, aber dies Warten hier, auf Leben oder Tod der Geliebten, war wie ein Land bei sinkender Nacht, eine Ebene der Fremde, uferlos, dunkel und weit. Es war qualvoll, in Gedanken sie liegen zu sehen, nackt vor den Blicken und Händen der Ärzte.

Immer wieder stand ich bei der Schwester drüben, die mir aus unergründlichem Gesicht nur wiederholen konnte, man operiere noch, es ginge gut.

Und dann, als der Stationsarzt kam und Hoffnung gab! Alles sei gut verlaufen, sie glauben bestimmt, sie bliebe am Leben, natürlich, wenn nicht das Herz, das Herz sei ja nicht gut – aber sonst sei alles in Ordnung!

Jeden Tag hatte ich Blumen gebracht, jeden Tag lag ihre Hand in der meinen. Niemals klagte sie über Schmerzen, niemals war sie unzufrieden mit ihrem Los, acht Tage und acht Nächte.

Sie hatten mich rufen lassen. Die Freundin saß bei ihr. Christa lag bleich in den Kissen. Ihr Antlitz war schöner als je, durchgeistigt, und von einem inneren Leuchten erhellt. Sprechen konnte sie nicht mehr. Sie hielt meine Hand in der ihren, Stunde um Stunde.

Die Qual stand in ihren Augen geschrieben, aber immer wieder, so als müsse sie mich trösten, strich ihre Hand zärtlich über die meine.

Als der Tag verdämmerte, legte sie den Kopf leicht zur Seite, mir zu, senkte noch einmal den Blick ihrer blauen Augen voll inbrünstiger Liebe tief in den meinen, schloß die Lider und lag reglos, bis ihre Hand in der meinen erstarrte und das glückliche Lächeln um ihren Mund erstarb.

Tot.

 

Wie sie es sich damals draußen am See gewünscht hatte, so legte ich in ihre Hände einen Strauß dunkelroter Rosen. Ihre Züge waren entspannt, völlig gelöst. Fast schöner schien sie, als jemals im Leben, göttlich verklärt.

 

Um mich ist Ruhe. Die Sonne liegt über dem Garten des Todes, der keinen Schrecken mehr hat, keine Dunkelheiten. In der Mittagsstille rührt sich kein Halm, nur über mir, dort oben, schwanken die Wipfel ruhig im Wind. Am Stamm eines alten Baumes lehne ich, spüre die rauhe Rinde mit den kernigen Rissen und kantigen Narben.

Licht ist über mir, fällt in meinen Blick, Sonnenlicht liegt über dem frischen Grab. Christa schläft. Über mir singt der Wind im Wipfel des Baumes.

Eine Erinnerung steigt in mir auf: damals, in Frankreich, im Park des Schlößchens, da stand der Freund ebenso am Stamm eines Baumes. Und wenn er gleich nur um den eigenen Tod und nicht um den der Geliebten gewußt, so stehen doch seine Worte vor mir auf, die er damals, als sein Blick sich hinaushob über die Wipfel, zu mir gesprochen:

... dies aber ist es, daß wir unser Schicksal annehmen und glauben, daß es gut ist.

 

... und glauben, daß es gut ist – Schlaf wohl.

 

Vielleicht ist uns Deutschen in besonderem Maße beschieden, die Mauern, aus denen wir das Haus unseres Lebens bauen wollen, wieder, immer wieder einbrechen zu sehen, ehe es uns Schutz und Raum zu geben, ehe es uns eine Stätte der Heimat und des Friedens zu werden vermag. Sicher aber ist uns auch gegeben, immer wieder von neuem zu beginnen, immer wieder das Banner unserer Hoffnung, unserer Zuversicht, auf den Trümmern zu errichten, neu zu beginnen, wo das Schicksal zerschlug, und Stein um Stein neu aufzutragen, bis ein dunkler Tag wiederum niederschlägt, was sich schon über den Boden erhob – immer wieder, bis wir einmal, gläubig der Zukunft, oder müde des Sieges, eintreten in die Ruhe, die uns aufnimmt und birgt.

 

Die Last meines Schmerzes um Christa trug ich in mir, aber obgleich mir erst schien, niemals könne sich mein Leben wieder erheben, die Arbeit zwang mich auf. Und der Gedanke an Ziel und Zukunft war stärker als der Niederbruch einer inneren Welt.

Arbeit, die Trösterin alles Kummers, nahm mich still in ihren Kreis, und so reifte mein Studium seinem Abschluß entgegen. Und die rechtzeitige Erkenntnis, daß auch hier nicht Zufall oder Glück, sondern nur in harter Arbeit erworbenes Wissen wichtig und entscheidend ist, ließ mich die wenigen Wochen der Abschlußprüfungen, die ich mit einigen Gleichgesinnten durchlebte, zur Freude gemeinsamer Leistung werden.

Um den Kopf nach der unmäßigen Anspannung und Aufladung tausendfacher Begriffe sich noch einmal gründlich zuvor ausruhen zu lassen, ritten wir vor der schwersten Station an einem Sonntagmorgen in das von freundlicher Sonne beschienene Land hinein. Gegen Mittag kehrten wir ins Städtchen zurück. Wie aber erschraken wir, als wir plötzlich an dem gefürchteten Examinator, der uns sicher über Büchern wähnte, vorüberkamen; unser Reitergruß mochte ihm mehr männlich als ehrfürchtig erschienen sein.

Mit leisem Bangen und größerer innerer Spannung als sonst sahen wir andern Tags dem Beginn der Prüfung entgegen, besonderer Strenge gewärtig. Jener aber war groß und überlegen und beendigte schließlich seine Fragen, indem er uns herzlich die Hände drückte und uns versicherte, dies habe ihm wohlgetan, wir könnten uns kaum vorstellen, welche Freude es für den Dozenten sei, nach semesterlangem Bemühen, auch einmal Wissen und Widerhall zu finden.

 


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