Albert Schramm
Der innere Kreis
Albert Schramm

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Als wir dann wieder am Operationstisch standen, war es äußerlich wieder das Alte. Manchmal aber, wenn die Sonne in den Operationssaal verstohlene Strahlen warf oder auch in angespannter Arbeit, wenn es um Leben oder Tod eines Kranken ging, dann warf er mir einen Blick zu, und der war voll Güte und war wie ein gemeinsames Geheimnis, war wie das Wissen um die größeren und ewigen Dinge, die uns zwei in den Bergen berührt.

Der Frühling war über dem Land, die Birken und Lärchen bekränzten sich schon, die Buchen begannen zu grünen. Über die Hänge, über das Tal glänzte das Flimmern der Blüten.

Sventha machte Examen. Abends, wenn ich aus der Klinik kam, holte ich sie ab, und dann gingen wir zusammen hinaus in den Wald. Gen, der große Wolfshund, begleitete uns, nahm Wildspur auf, hängte sich gierig ins Koppel. Wir gingen über die Höhen, auf die Berge des Schönbuchs. Zwischen den Bäumen des Hochwalds hing die blaue Dämmerung, über dem Bachgrund stiegen die Schleier des Nebels.

Die Erde ward feucht vom Tau und roch gewürzig und schwer.

Die Schritte verklangen im Moos, wir traten heraus an den Waldrand; unter uns träumte das Kloster. Erste Lichter entbrannten, und fern auf der Straße knarrte ein Wagen, klapperten Eisen der Pferde. Eine Tür wurde unten geschlagen, dann war es still.

Der Hund verharrte, rieb seinen Kopf an Sventhas Knie, legte die Lauscher. Ich hielt ihre Hand. Es war ganz still. Ein Blatt, braun wie die Erde, schwebte hernieder. Es drehte sich leicht und spielerisch um sich selbst, sank lautlos zu Boden. Ich wandte mich Sventha zu, ihr Blick fiel voll in den meinen. In ihren Augen glänzte, aus dem Dämmer ihres warmen und nahen Gesichts, der Widerschein des sinkenden Tags.

Vor dem Tod sind wir alle gleich, auch eine Fürstin. Und doch war es anders als alle Tage, und das große Haus war noch stummer als sonst, und in den Gängen wagte keiner zu sprechen.

Keine gewöhnliche Fürstin sei sie, erzählten wir uns, wie man sich sonst vielleicht Fürstinnen denkt, beladen mit Prunk und Stolz und immer die Macht einer Krone in Händen: still war sie, groß und schlank, hatte lichtblondes Haar, hatte ein entzückendes Söhnchen. Im Kasino sprachen die Ärzte scheu von ihrem Wuchs, ihrer unerhörten Schönheit. Am Rhein lag ihr Schloß, erst ein paar Jahre war sie verheiratet in glücklichster Ehe, kam hierher zu Besuch, und heute früh hatte man sie gebracht wie ein waidwundes Tier, sich krümmend vor Schmerzen. Der Leib war aufgetrieben wie eine Trommel, der Magen würgte heraus, was man ihm gab, die Schmerzen waren mit keiner Spritze zu lindern gewesen: Pankreatitis. Bauchspeicheldrüsen-Entzündung.

Nicht operiert war bis jetzt jeder gestorben, von den Operierten aber von dreien zwei.

Nun lag sie, schöner als jedes andere irdische Weib, mit gebundenen Händen und Gliedern bereit zum Schnitt auf dem Tisch. Die weißen Tücher umhüllten ihre Gestalt wie ein Bildnis von Stein. In goldenen Flechten hing ihr Haar bis zum Boden.

Fast schlief sie schon, da schien sie noch einmal, von weither, die Stimme ihres Kindes zu hören. Langsam, sehr mühsam, hob sie aus dem Dämmer des Schlafs noch einmal die Lider, mit übermenschlicher Anstrengung formte ihr Mund, wie zum Abschied, in unsäglicher Trauer, das Wort: mein Büblein –

Dann sanken die Lider herunter und der Schlaf nahm sie auf.

Man machte auf, und das Messer griff ein, wo weiteres Überlegen und Warten versagt hätte.

Es stimmte, der Magen war frei. Die gelben fleckigen Punkte zeigten, daß die Drüse entzündet und gefährlich verändert war.

Hoffnung war keine. Man hätte die Bauchhöhle sofort wieder schließen können, aber endlich versuchte man doch, einen Tampon zu legen und den Leib nicht wieder ganz zu vernähen, sondern einen Abfluß nach außen zu schaffen. Sie muß sterben, sagte der Privatassistent am andern Morgen, wir bringen sie nicht durch; sie hat ihr Kind, ihren Mann noch erkannt, der sie liebt wie ein Mädchen, aber es ist gemein, der Leichenwagen wird sie holen. Es sind gute Leute, ich bedauere sie.

Und das war viel für einen so schweigsamen Chirurgen.

 

Vor dem Tod sind wir alle gleich, auch eine Fürstin, vor dem Tod gilt auch sie nicht mehr als der Kleinste des Volkes.

Aber nicht weniger auch gilt sie dem Leben, als jede Mutter im Volke.

Die kommenden Tage waren voll Hoffen und Bangen. Auch die Lauten wurden still vor dem größeren Schicksal der Frau. Jeder wünschte ihr Gutes, und wer zu beten vermochte, wer noch den Mut und die Gläubigkeit aufbrachte, Gott anzurufen, schloß sie des Abends ein in die Bitte um Segen. Und als ich in diesen Tagen einmal abends durch den Kindersaal kam, da sprach die Schwester mit den Kleinen das Vaterunser:

»Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit – in Ewigkeit. Amen. Und hilf auch der Fürstin«, sprach leise der Chor der Kleinen.

Einmal kam der Assistent von der Privatstation im zweiten Stock ins Kasino: Im Gang! sie steht wieder auf! sie geht hin und her im Gang. Ich habe sie gesehen. – Da legten wir anderen die Zigaretten und die Zeitungen weg und schauten uns an, als habe einer die ewige Seligkeit verkündet. Und jeder schwieg nur zuerst, denn Worte waren zu schwach, das Schicksal zu preisen. Bis einer, am Fenster, aussprach, was uns alle erfüllte:

Sie lebt! Sie wird leben!

 

Nach Wochen fuhr sie geheilt und still, wie sie lebte, davon in einem großen dunklen Gefährt. Es ist nicht der Leichenwagen gewesen.

Leise fuhr, in schönem Bogen, der Wagen aus dem Hof. Die Schwestern winkten.

Wir sahen ihr nach.

 

Das Rad lief flott und geräuschlos ins Tal. Bewegung war alles, alles war Zukunft, denn aus dem Augenblick der Gegenwart trug mich die schnelle Fahrt hinaus in den Tag, der Geliebten entgegen. Da fuhr ich um eine Kurve des Wegs, sah Sventha, das weiße Hütchen froh auf dem Haupt, und schon prallten die Räder aneinander. Schon sprangen wir ab und umschlangen uns herzlich. Die Wiesen blühten um uns her, über das Tal sang Sensenschwirren und über uns, am Wegrain, stand ein Muttergotteskapellchen. Zwei Linden säumten es ein und beschützten das verwitterte Gemäuer. In ihren Kronen summten die Bienen, über dem Dach der Kapelle war ein winziger Glockenstuhl, eine Glocke hing darin unter spitzigem Dächlein, müde vom vielen Läuten und der Hitze des Mittags.

Wir gingen, Arm in Arm, talaufwärts zurück.

Unter hohen Bäumen war ein Wirtshaus am Wege. Birkenbäumchen und Blumenkränze schmückten das Tor zum Tag des Fronleichnam. Uns aber schien, man hätte ein Fest des Lebens gerichtet.

Wir traten ein in den schattigen Garten. An den Tischen saßen die dunkel gekleideten Bauern und die Weiber in Trachten.

Hühner pickten zwischen den Bänken herum, vor dem Tisch lag ein zottiger Hund.

Wir setzten uns unter den schönsten Baum, Lichtkreise spielten über die groben Bretter des Tischs, alles war echt wie der Boden, der Baum und die Bauern umher.

Ein Mädchen brachte uns Wein und Brot.

Nun saßen wir, genossen der Ruhe nach der Hitze der Fahrt im Schatten des Baumes, der wie ein Freund war und uns schirmte.

Für Worte war es zu schön, so schwiegen wir denn.

Vor mir saß Sventha, und ich spürte wie eine neue, erstmalige Offenbarung, daß ich sie liebte.

Sie nahm den Hut ab mit der geruhsamen Bewegung des Glücks, sah hinauf durch den Baum in die Bläue, senkte den Blick und sah still zu mir her.

Und sie nahm das Brot von dem hölzernen Teller, in dessen Rand die Worte geschnitten waren: Unser täglich Brot gib uns heute! nahm das Brot und brach's, wie das Weib biblischer Zeiten das Brot gebrochen haben mag, mit guten Händen, denen die Dinge sich fügten, und aus denen das Brot zu empfangen schön war und gut.

Wir aßen das mehlige grobgebackene Schwarzbrot, streuten ein weniges Salz darauf und tranken den Wein aus irdenen Krügen. Und draußen rauschten die Felder, und nachher, als wir aufbrachen, klang von der Muttergotteskapelle das Glöckchen.

Dann fuhren wir über den Berg. Das Land lag blau zu unseren Füßen und schlief in den Tag hinein.

Wir fuhren drüben hinunter ins Tal und kauften uns Kirschen und spuckten die Steine quer in den Wind.

In ein Städtchen fuhren wir, das Tore hatte und Mauern, und dessen Häuser Girlanden und Kränze schmückten, und die Türen Birken. Und die Wege waren mit Laub und mit Zweigen und Blüten bestreut.

Uns schien, wir waren weit in der Ferne, oder so tief in der Heimat, wo wir sie gar nicht mehr kannten.

Am Bahnhof gaben wir die Räder auf, um mit dem letzten Zug nach Hause zu fahren.

Nachher, auf einer Haltestelle, wollte ich die Hände waschen, die schwarz waren vom Saft der Kirschen, sprang seitlich über die Gleise, knickte um und zerriß mir den Knöchel. Es knallte, als ob man Leder zerfetzte.

Ich humpelte zurück in den Wagen, und Sventha verband mir den Fuß mit einem nassen roten Bauerntuch.

Das Stoßen des schlecht gefederten Wagens tat weh. Aber sie war bei mir, hielt meine Hand in der ihren.

Das viereckige Stück Himmel im Fenster des Wagens ward mählich rot und grau, und schließlich hingen in den schwarzen Drähten, die sich hoben und senkten in gleichmäßigem Wechsel, die gläsernen Kugeln der Sterne.

 

Nun hatte ich einen Gehgipsverband, war krank und bekam also Ferien.

Denn, so viel er auch der andern Beine behandelt, ein Chirurg ohne Bein ist ein unnützes Wesen.

Die Schmerzen ließen nach, des Liegens war ich müde. Ich humpelte mit meinem Gipsverband schon wieder durchs Zimmer.

So nahmen wir denn eines frühen Morgens das Boot, fuhren hinunter zum Fluß und mit den Wellen hinaus in den Sommer.

Das Rudern war leicht, die Ufer glitten vorüber. Nur das Tragen des Boots über die Wehre war schwer und verursachte Schmerzen. Aber die Fahrt ging weiter, unser Wimpel wehte am Bug.

Einmal rasteten wir in schattigem Uferhain, einmal blieben wir in uraltem Städtchen mit Türmen und Mauern, und ich hörte bis tief in den Traum das fremde Schlagen der Turmuhr, das über den dunklen Platz herüberhallte und an den schlafenden Häusern versummte.

Wir wurden die Nähe des anderen gewohnt, und die Zeit ward uns voll wie eine Schale mit Früchten.

 

Peter war in Kiel, hatte auch sein Examen gemacht und war mit dem Boot hinausgefahren ins Kattegatt, und hinüber nach Stockholm. Tagelang. Er war auf den Planken des Decks gelegen, hatte dem Schlagen der Schoot gelauscht und dem Knarren des Großbaums in brütender Sonne. Oder er hatte, nachts, über die dunklen Segel den Lauf der Sterne besonnen, und das Wasser rauschte am Bug; und das Plätschern der Wellen am Bord war wie ein lange vergessenes Lied und war eine Sehnsucht zum Leben, zu stillerem Leben, das ruhte, und ruhend glitt, wie ein dunkles Boot in der Strömung der Flut.

Und dann schrieb er an Ingrid, und sie schrieben an uns. Wir feierten Sventhas Doktorexamen, da kam ihr Brief, und bald darauf trafen wir uns und fuhren nach Süden, an den Seen vorbei und hinauf in die Berge.

Den Gotthard erklomm unser Zug, durchfuhr ihn dröhnend und glitt hinab ins blühende Tal des Tessin.

Fremd und neu war Lugano, südliche Welt. An Gandria ging es vorüber. Porlezza, Menaggio, hinunter zum tiefblauen See und hinüber ans andere Ufer: Bellagio.

Rote Oleanderblüten schwankten im Mittagswind vor dem tiefen Ultramarinblau des Sees. Über uralte Steinstufen stiegen wir zwei und zwei hinunter, am Kampanello vorüber, – dessen Glocken weitausholend schwangen und grelle Klänge in den Mittag stießen, hinunter zwischen den Reihen der Zypressen zum See. d'Este, Fenara, Orsini – nun waren wir Fürsten geworden. Weit war das Leben wie ein tiefblauer See, wir hörten seine Wogen zu unseren Füßen an die marmorne Mauer des Gartens schlagen, durch den wir niederstiegen.

Weiß und schlank kam der Dampfer zur Brücke und nahm uns mit durch das unwirklich blaue Gewässer.

Da war ein Dorf überm Hang und wir hielten. Flache graue Häuser lagen am Berg, in Jahrhunderten ausgetretene Steinstufen führten in winkligem Zickzack hinauf. Ein Wasserfall rauschte über schwarze Felsen in die schillernde Schlucht. Kinder gafften uns an. Und dort lag ein Albergo.

Über uns reifende Trauben in den Balkon der Pergola hoch überm See, drunten die Häuser, der Strand und die kleinen silbernen Kämme der Wellen. Die Ora, der Mittagswind, jagt sie im Spiel.

Wir wissen die Zeit nicht, wir haben kein Ziel. Wir wissen weder die Sprache des Landes noch die Namen der Gerichte, welche die Wirtin mit sprudelnden Worten uns bringt.

Ein barfüßiger Junge trägt im Krug, irdener Amphora, den Wein.

Er muß an Ingrid und Sventha vorüber, sieht in die Augen der Frauen und stolpert. Gläser und Amphora und duftenden Wein wirft er, einem Opfer gleich, ihnen zu Füßen.

Keiner lacht. Es ist ein Opfer, es ist Schicksal; Scherben, irdene Scherben und Wein. Der Duft des Getränkes steigt wohlig und würzig auf. Über uns liegt die zerfallende Burg mit spitzigen Zinnen, drüben die Berge und drunten der See. Hier wollen wir bleiben, im alten Albergo.

Aber sie hätten nur noch eine Kammer im Haus per i signori, aber weiter oben, unterm Kastell, über der Schlucht läge ein Häuschen, weiß, piccola casa, ma bellisima, vero, per le signorine.

Durch krumme Gäßchen geht es dahin, und da liegt es vor uns.

Das Häuschen, piccola, sehr piccola casa, eine Wohnküche, ein Schlafraum mit zwei Betten. Aber vor den Fenstern ein Balkon über der Schlucht, in die der Bach hinunterrauscht, und eine Weite des Blicks –

Brienno, sagt die Wirtin, zeigt mit klassischer Gebärde der schlanken Hand hinüber zum andern Ufer, wo die Häuser liegen: Brienno, und nickt bedeutungsvoll mit dem Kopf.

Brienno, wiederholen wir, Brienno.

Si si – es ist ein Name, der Name des Dorfes da drüben, aber Brienno bedeutet mehr, es heißt etwa: alle Schönheit der Welt, alles Glück auf Erden, oder: Du – ich hab dich lieb!

Brienno, sagen wir und nicken uns zu.

Der letzte Dampfer zieht tief unten purpurne Streifen ins samtene Abendblau des Sees, die Zinnen des Castello verglühen zu unseren Häupten. Die Nacht gleitet wie ein großer Bussard lautlos über uns hin. Über den Bergen brennen die Lichter Gottes, drüben, überm See, blinken die Lichter der Menschen auf. Brienno – wir sind uns so gut.

Wir sitzen unter der Casa der Mädchen, sehen sie noch einmal über das alte schmiedeeiserne Gitter des kleinen Balkons winken, und warten, bis die kleine Casa, dies kleinste Fürstenschloß, lange schon ruht und wir die Mädchen schlafen wissen. Noch behüten wir ihren Traum, ehe wir hinübergehen zu unserem Albergo, hören das leise stürzende Wasser des Bachs in der Tiefe der Schlucht, schweigen zusammen und sehen hinüber über den See, wo vor der dunkeln Wand des Berges die unzähligen Lichter flimmern und ihren Schein in glühenden Streifen eintauchen in die ruhenden Wasser des Sees.

Vierhundert Meter tief ist der See. Es ist ein großes Gefühl, über der grundlosen Tiefe zu schwimmen, weit hinaus in die blinkenden Wellen hinein, in denen der Morgen sich badet.

Und dann, durch das Kielwasser des Dampfers zurück in die heimliche Bucht. Das Wasser klatscht an die Felsen. Im Wechsel schwimmend und ruhend, lesend und redend, lassen wir es Mittag werden. Die Sonne steigt, sengt unsere Leiber, saugt die Tropfen des Sees von der glühheißen Haut. Die Schatten werden kleiner, der Eßkorb wird geöffnet. Weißes Tuch wird über die Steine gebreitet und darauf Gemüse, Obst, kaltes Fleisch und Brot gelegt, und eine Botiglia Asti spumante, der reihum aus unserem silbernen Becher getrunken wird.

Dann liegen wir satt, rauchend auf den großen, heißen Uferfelsen. Wir hören das Glickern des Wassers an den Steinen, das mit dem Wehen der Ora anschwillt und wieder versinkt in sickerndes Plätschern.

Wir schlafen nicht und sind doch nicht wach. Wir sehen in halbem Traum der Sinne die Eidechsen über die heißen Steine huschen, sehen, wie sie uns aus klugen Augen beobachten, sehen das Pulsieren an ihrem Hals, wenn die Sonne ihr Blut heiß macht unter dem schillernden Panzer, sehen sie gewandt mit den kralligen Füßchen die Felsen erklimmen und die flinke Fahrt mit dem beweglichen Schweif steuern, in erschreckter Flucht, wenn sich einer bewegt. Der Himmel ist wolkenlos und so tief blau, wie es ihn eigentlich gar nicht gibt. Ein Raubvogel kreist mit gespannten Schwingen vor ihm, weite Ringe ziehend. Ich denke an den Bussardflug bei mir im Schönbuch, aber ich habe kein Heimweh. Ich weiß nur, daß alles gut ist.

Die Stunden sind schwer von Licht und beladen mit Glück, beladen wie die malten Frachtboote. Der Mittagswind bläht ihre rotbraunen Segel und sie ziehen vorüber, tauchen den stumpfen Bug tief in die gläserne Scheibe des Wassers.

Dann kommt der Abend, und müde der Sonne und selig des Abends schlendern wir hinauf aus der Bucht, hinauf ins Albergo, speisen in der offenen Pergola, denn die Abende sind mild, und warten, bis der Mond heraufkommt und Schatten der Balken über den Tisch wirft und die dunklen Wasser dort unten aufblinken läßt in flüssigem Silber. Und aus Abend und Morgen wird wieder ein neuer Tag.

Plötzlich aber, keiner weiß warum, sind wir zum Aufbruch entschlossen. Die Zeit hier ist abgelaufen. Wir zahlten mit Staunen die Rechnung. Die schlaue Wirtin hatte uns den Pensionspreis voll, und alles, was wir genossen hatten, besonders berechnet. Das Frühstück, Mittag- und Abendgedeck. Das Zauberwort der Carabinieri war uns damals noch nicht bekannt. So opferten wir unser italienisches Geld und fuhren am andern Morgen, es war ein Sonntag, zum Grab des Torquato Tasso. Gern hätten wir uns auf dieser Reise zum Lago Maggiore ein Essen erstanden, aber niemand war in der Lage, die Scheine der Schweiz zu wechseln. Keine Bank war offen, und so mußten wir den ganzen Tag hungern. Am Grab des besungenen Dichters saßen wir, teilten die letzten Zigaretten und drei Tomaten, die wir uns von ein paar in der Tiefe der Tasche gefundenen Specchioli kauften.

Abends flammten die vielen Lichter am Kai von Pallanza und der Tag schloß in Frieden.

Bald ging es über die Pässe der Alpen wieder zurück.

Die alte deutsche Reichsstadt nahm uns auf, und nun sahen wir, aus der Ferne des Südens, über die Kämme der Alpen heimkehrend, die neubegriffene Schönheit der Heimat. Weich flossen die Linien der Landschaft, die Hügel dehnten sich weit, die Täler von Flüssen durchzogen, die Höhen von Wäldern geschmückt.

Und über den Dörfern schwang Rauch und der Abendsegen der Glocken.

Wir waren zu Hause.

 

Unsere Zeit ging zur Neige, die Semester des Studiums waren für Sventha vorüber.

Abschied.

Wieder einmal verlieren, was man geschätzt, was man liebgewonnen und das zu einem gehörte, als wäre es ein Teil des eigenen Wesens geworden.

Am fünfzehnten August mußte sie am Krankenhaus ihrer Vaterstadt sein, noch am dreizehnten waren wir zusammen.

Wir schritten noch einmal hinauf auf die Höhen über der Stadt, noch einmal begleitete uns der Hund, der alles wußte und begriff, durch die Hallen des Waldes auf die alte Burg dort im Schönbuch. Wir standen am Mauerkranz, hoch überm Tal. Schwarz, scharf gezeichnet wie damals in Frankreich, standen die Pappeln vor dem Rot des Himmels, wie damals, als wir den Sturm von Reims verloren hatten, vor diesem Rot, das hell war und kraß und schmerzte.

Wie kann ein Baum nur so einsam sein!

Hinaus glitten die Blicke über das Land, das wir oftmals durchwandert, das Zeuge und Freund war unserer Liebe. Aus! nicht daran denken. Vorbei. An anderes denken damals in Frankreich – besinn dich – wie war das doch gleich – wie hieß doch das Nest?

Der Hund koste zwischen uns beiden, legte die Vorderpfoten zwischen uns auf die Mauer, tappte unbeholfen nach Sventhas Hand. Sie kraulte ihm den Hals, streichelte noch einmal sein Fell. Aus war es, vorbei. Wir wußten es: wir waren gute Kameraden, wir hatten uns lieb, aber eine Ehe, das wußten wir beide, wagten wir nicht, konnten, durften wir, so wie wir uns kannten, nicht schließen. Dazu waren wir zu verschieden.

Und wir wollten Wort halten. Wir hatten uns versprochen, damals, uns nicht gebunden zu fühlen. Jeder sollte frei sein und bleiben. Jeder sollte seinen Weg für sich gehen – und wenn er wollte und konnte, den andern vergessen, der seine eigene Straße ging.

Eine Krähe flog auf und umkreiste die Pappel. Wir wandten uns schweigend, gingen zurück durch den Wald. Es war unser Abschied.

Unter den Hochstämmen schritten wir schweigend dahin, Geri hängte die Ohren. Alles war qualvoll. Wir kamen gegen den Waldrand, dort unter den hohen Föhren. Dort drüben, dort lag auch einer, den ich geliebt und den ich verloren, den ich mit eigenen Händen dort drüben verscharrt: Harro, mein Hund.

Wir stiegen hinunter zur Stadt. Die Nacht brach herein.

Wir gingen zur Bahn. Sprechen konnten wir kaum, es ward uns beiden zu schwer. Noch einmal stand alles auf: der Winter, die Sternschnuppe – Examenszeit – Bootfahrt mit zerbrochenen Knöcheln – Italien – und damals – wie sie das Brot von dem Holzteller genommen, – und wie die Glocke der Muttergotteskapelle geläutet.

Immer wieder wollte ich sprechen, aber der Schmerz verschlug mir die Rede, und sie ging neben mir her, todernsten Gesichts, die Lippen schmal, die Augen in unsichtbare Fernen gerichtet.

Wir drückten uns die Hand. Kameraden.

Sie stieg ein, der Zug zog an. Ihr Gesicht war grau und fahl unter der Bräune der Haut, aber kein Zeichen, kein Zucken der Mienen, keine Träne verriet ihren Schmerz. So sah ich sie stehen, Herrin über das Schicksal. Noch einmal winkte mir ihre Hand, ihre oftmals geküßte, geliebte Hand.

Der Zug trug sie fort. Ich stand allein auf dem Bahnsteig. Lange sah ich ihr nach.

 

Essen ekelte mich an, schlafen konnte ich nicht, tage-, nächtelang. Immer nur brannte in mir der unbezähmbare Schmerz um ihren Verlust. Warum hatten wir nicht doch gewagt, zusammenzubleiben, warum hatte ich nicht am Schluß noch, am Bahnhof, beim Abschied gesprochen? Warum?

Und dies nun alles anders haben können, auf ihre Nähe nie mehr verzichten zu müssen!

Lohnte es denn nicht, ein Leben aufzubauen mit ihr? Den eigenen Lebenskreis auszufüllen mit ihr und sich so einzufügen in den größeren Rahmen des Volkes?

Auf einmal, als ich dies dachte, wurde alles ruhig in mir. Ich schrieb ihr, ich könnte sie nicht mehr entbehren und ich bäte sie, wiederzukommen. Ich legte Rosen ein und den Ring mit dem roten Stein, den mir die Mutter gegeben, als ich ins Feld ging, der mich geschützt und gesegnet, damals, im größeren Strom der Gemeinschaft des Krieges, den schickte ich ihr.

 

Es war Herbst, es war Winter geworden.

In der Klinik war große Visite, von der Terrasse aus konnte ich sehen, ob in meinem Zimmer zu Hause die gelbe Lampe brannte. Aber alles blieb dunkel, alles Warten war umsonst.

Als wir aber die oberen Säle besuchten, sah ich heimlich durchs Fenster: da grüßte der vertraute Schein über die dunkeln Dächer des Städtchens herüber.

Sventha war wiedergekommen.

Lange saßen wir auf in dieser Nacht. Die Kerzen brannten herunter, und die Stunden waren schwer von der Fülle des Daseins.

Immer enger schloß sich um uns unser Leben. Das Äußere fing an zu versinken, wir traten ein in den Teil, der zu leuchten begann, unser beider Leben ward enger umschlossen, geborgen und still, wir traten ein in den inneren Kreis.

 

Das Land wurde flach, der Abend sank auf unendliche Wiesen. Ebene, uferlos, schmerzlich und flach, und dann – fremde nordische Stadt.

In der Halle lagen Teppiche, dunkle Möbel füllten die Räume, alles ging anderen Gang als bei uns, gemessen und ernster. Aber ich lernte, daß unter der stilleren Decke ebenso herzliche Wärme lag wie bei uns, wenn sie die ihre auch nicht so in offenen Händen trugen und mit fröhlichen Worten zu zeigen vermochten wie wir.

Ein größeres Leben umgab sie als uns in den südlichen Städten.

Aber die Würde bedrückte und die Enge wollte Raum, und so flogen wir andern Tags schon, von Böen geschüttelt, über die breit hinströmende Weser. Sturm und Gewitter umbrausten das Flugzeug. Wir gaben die neue Gemeinschaft in den Willen der Götter. Mochten sie uns vernichten oder erhalten, es war uns ein Urteil über den Schritt, den wir getan.

Nach kurzen Stunden aber setzte das Flugzeug auf, ich sah den Hafen von Hamburg, die Krane der Werften, die Schiffe, die Alster und das Fährhaus, von Booten umschaukelt.

Ich träumte, es war wie ein Märchen.

In der Nacht fuhren wir schweigend zurück.

Das Handwerk, das Kunstgewerbe tat schwer und die Werkstätten wurden zerdrückt von den Ringen der größeren Werke. Gewiß, es lag an der Zeit.

Große Häuser stellten die Zahlungen ein und rissen die Kleinen hinunter. So war es bei uns. Es lag an der Zeit. Doch der Aufsichtsrat einer großen Gesellschaft setzt sich leichter über den Zusammenbruch hinweg, und keiner wagt, den Ruf seiner Mitglieder zu betasten. Uns aber drückte allein schon der Gedanke nieder; uns hätte es ehrenrührige Schande bedeutet.

Immer noch schien es, als ließe sich manches vermeiden, und doch brach dann alles zusammen. Wir waren verloren, das Vermögen dahin, das ein Leben voll Arbeit erworben, und was schlimmer war: es schien, als würde der Name belastet.

Ich stieg meine Treppen hinauf und war allein in meinem Zimmer. Um die Giebel wehte der Wind und die Balken der Decke knackten. Heimliche Unruhe war im Haus. Es spürte die Spannung, es wußte die Not. Ein Haus hat ein Leben wie wir und es spürt unsere Sorgen und es weiß um Gefahr.

Lange saß ich, die Hände gefaltet, verkrampft, bis der Geliebten der Abschied geschrieben. In ihr Leben die Last unsrer Lage, die Not meines Namens bringen durfte und konnte ich nicht. Für sie wollte ich die Bindung lösen, die wir geschlossen.

Schwer war mir, die Last fremder Schuld auf die Schultern zu nehmen, sie zu tragen über die Straßen des eignen Geschicks. Und doch war es leichter, als selber bereuen zu müssen. Und doch wieder sind wir verbunden dem Schicksal der Unsren und also beteiligt, und innere Ursache des, was geschehen.

Der Brief war geschrieben, der Ring lag dabei. Der Schritt war getan.

Verloren, vertan war das Leben.

Und wieder war ich allein und wieder war alles dahin. Nur Geri war bei mir und versuchte zu trösten. Geri, der die Worte des Schmerzes verstand und die Geste des Mitgefühls kannte.

Andern Tags ging ich in die Klinik, tat meinen Dienst wie gewohnt, dann gab ich die Stellung auf, gab den Posten, den ich bekleidet, dem Nächsten. Denn immer sind Nächste, immer sind Andere da, zu erfüllen, wo wir nun fehlen, und weiterzuführen, was wir begonnen.

Trauern Sie nicht, sagte der Oberarzt später. Sie sind in der Praxis Ihr eigener Herr und bleiben ein aufrechter Mann. Es geht in den Kliniken hart an den innersten Kern!

So ließ ich den fröhlich begonnenen Weg, so nahm ich mein Leben in eigene Hände, fern vom Zufall der anderen Bahn, und betrat das Feld meiner eigensten Arbeit.

Noch kam keine Nachricht von Sventha, noch ließ sie mich warten auf die Worte des Abschieds.

Dann bekam ich den Brief. Die Mutter spürte und wußte, hier stand das Urteil des Sohnes geschrieben. Doch die Hand, die ihn brachte, zitterte nicht.

Bereit, anzunehmen, was das Schicksal mir brachte, erbrach ich den Umschlag.

Mehr, als ich hoffte, ward mir gegeben:

Was auch war, und was auch ist, wir halten zusammen.

 


 << zurück weiter >>