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16.

Die Deichselsterne des Heerwagens Sternbild des großen Bären. standen beinahe schon fallrecht zur Erde und deuteten auf die Mitternachtzeit, und das Wettergewölke am Abendhimmel schob sich höher und höher, und Leuchten um Leuchten zuckte durch es. Ab und zu grollte auch schon fernes Toren durch die immer drückender und ängstiger werdende Stille. Und immer noch brachte kein Bote vom Bärnsteiner Torturme die Kunde vom verabredeten Zeichen.

Fiebernde Unrast begann Wolf Kühwolfen zu herrschen. Waren beide Boten, der Tobies und der Magister, nicht hinaufgekommen, oder schickte der Bärnsteiner wirklich keine Hilfe? Was dann? Morgen konnte die gelegene Zeit schon versäumt und vorüber sein, morgen konnten schon so viele der Hussen vor dem Städtlein lagern, daß an einen Ausfall und Angriff mit gesundem Verstande nimmer zu denken war. Was dann? Sollte es da auch so kommen und werden wie in der Stadt draußen und wie vielleicht an hundert anderen Orten? Hilfe von außen war nicht zu verhoffen. Der Kaiser kam überhaupt nicht dazu, irgend jemandem zu Hilfe zu kommen, und der Kurfürst von Bayern war in solchen Stücken nicht viel geschwinder. Allein den Ausfall wagen? Wenn man wüßte? Konnte gelingen und auch nicht. Dann aber waren ihrer soundsoviele nutzlos geopfert. Und an jedem Menschenleben hingen soundsoviel Sorg' und Liebe, Hoffen, Sehnen und Glück ...

Da schnaubte endlich einer daher.

»Ist schon ... ist schon ...« pfauchte er fast außer Atem. »Und hübsch nahe schon. Meinem Schätzen nach am Kreuzbühel oben.«

»Gott sei Dank!« atmete Wolf Kühwolf nun brunnentief auf, und gleich nachher schwang er sich in den Sattel. »Aufsitzen! In Gottes Christes Namen und Schirm!«

In Gottes Christes Namen! ... Schier jeder der Kämpen murmelte dies vor sich hin, da er dem Befehl und Beispiele des Führers folgte, und auch die, so kein Roß zu ersteigen hatten und nachlaufen mußten, faßten ihr Gewaffen kräftig und murmelten denselben Segenswunsch.

Den alten Kühwolfen hatte es nimmer gelitten in der Amtsstube des Stadthauses. Die Zeit rückte heran, und sein Bub ... sein einziger noch ... Hastig war er zum Bräuhause gestolpert durch die nachtfinsteren Gassen, und hastig drängte er sich nun an den Buben heran.

»In Gottes Schutz und Schirm!« wünschte er, da er ihm nochmals die Hand bot.

Dann setzte sich der Zug in Bewegung. Waren doch ihrer hübsch etliche zu Roß und ein guter Haufen hinterdrein zu Fuße. Und wenn die Bärnsteiner noch ...

Die Schlagbrücke knarrte nieder, die Tore öffneten sich ...

Am Toreingange stand Herr Hillebrandt, Schild und Schwert an der linken Seite hängend, in der Rechten die Streitaxt.

»Kommt keiner herein wie ihr wieder,« rief er Wolf Kühwolfen im Vorüberkommen zu.

Dann wuchtete der gewaffnete Haufen vorüber, und ans Tor drängten die Leute, die zur Wache bestimmt waren, immer mehr und mehr, so daß schier das ganze Torgäßlein gedrückt voll war. Kein Wort, kein Laut; in fiebernder Erwartung hielt jeglicher fast den Atem an ... Jetzt mußte der Zusammenprall erfolgen ... jetzt mußte das erste Kampfgerüft und -getöse erschallen ... jetzt ... jetzt ...

Herr Hillebrandt zitterte schier am ganzen Leibe, als ob ihn der Winterfrost schüttelte.

Da hob sich das erste Kampfgerüfte. Wie das Aufheulen wilden Geviehes mutete es schier an. Und gleich darauf das Klirren und Sumsen der Waffenschläge.

Herrn Egyd Kühwolf fiel in seiner Sorge um den Buben ein uralt Sprüchlein ein, und er lispelte es vor sich hin:

»Ich sehe dir nach und sende dir nach
mit meinen fünf Fingern fünfundfünfzig Engel.
Mit Gesund sende dich Gott wieder heim ...«

Immer ärger und grauenhafter wurden Geschrei und Waffengetöse.

Der hinter der Wagenburg verschanzte Hussenhaufen war wirklich überrascht worden, und die vor das Städtel und in die Runde gelegten Wachen hatten von dem Fürnehmen der Städtler nichts bemerkt und geahnt, bis die Schlagbrücke zu knarren angefangen. Nach einigem Laufen aber hatten sie die Reiter schon überholt gehabt. So war die Wagenburg schier im Schlafe überfallen worden.

Alles rannte nun der angegriffenen Seite zu und drängte und schlug mit Spießen, Morgensternen und Schwertern und schrie und fluchte. Daumlange Weile darnach prallten die Bärnsteiner an die andere Wagenseite und brachen die auch bald durch. Aber die sich grimmig und verzweifelt zur Gegenwehr setzenden Hussen waren denn doch gutding fünf- oder gar zehnmal soviel wie die Angreifer, und sie gaben sich nicht.

Herr Hillebrandt wähnte sich in einer glühenden Dornstaude ... Wer weiß, wie es gelang und ausging? Und sie standen hier müßig und untätig, wo sie vielleicht das Zünglein der Wage auf die Seite der Angreifer zwingen könnten, wenn sie ... mittäten. Er, der Stadtrichter, den eigentlich nichts mehr hielt und hinderte, der ... selber alle Brücken zwischen sich und einem halbwegs menschenwürdigen Leben abgebrochen, der nichts mehr zu hoffen hatte wie Trübzeit und Gewissensbisse ... Ja doch: sein Bub! Aber würde der ... nicht einmal eine andere und bessere Meinung kriegen von ihm, wenn er zu vollem Verstande kam und hörte und selber wußte: der Vater hat in großer Zeit der Not ...

Da ersah er den alten Kühwolf. Ein paar Augenblicke starrte er ihn wie völlig von Sinnen an, und dann ging er langsam auf ihn zu.

»Kühwolf! Eine kurze Rede! Ich ... ich halte es da nimmer aus, derweil die Unseren da draußen im Ungewissen ... Ich muß ihnen zu Hilfe kommen; aber ich habe einen Buben daheim ... Wenn mir etwas widerführe ... Wir sind Feinde geworden ...«

»Lasset das! Die Stunde findet keinen Feind innerhalb der Mauern.«

»Mein Bub ... Wenn mir etwas widerführe: nehmt Euch an um ihn!«

»Wie um meinen Einzigen,« versprach Herr Egyd fest und streckte langsam die Hand entgegen. »Eine Mannesrede, Hillebrandt.«

»Was da ist, gehört sein, das Geschäft, der Wieshof, alles, bis auf einen Teil für die Gunde. Und nehmet mir ihn wider ... seine Freunde in Schutz! Ich habe diese Leute kennengelernt.«

»Wie meinen Einzigen«, gelobte der nochmals.

»Fleißig Dank!« Dann wandte er sich jählings um. »Leute, wer geht mit? Die Unseren drüben ... Man weiß nicht ... Und wir stehen da und schauen ...«

Feuerschein lohte wieder empor. Er brach aus der Wagenburg, in die der Magister einen brennenden Pechkranz geworfen, aber die geflüchteten Bauern meinten, es wäre schon wieder einer ihrer Höfe. Die ehezeit am ärgsten gemurrt wider Zehnt und Scharwerk und die Hussen am sehnlichsten herbeigewünscht, schrien und brüllten nun am lautesten auf.

»Hinaus und dran! Zerreißet sie! Schlagt sie tot wie wütige Hunde!« ...

Der Tuchscherer und der braune Mirt nahmen ihre Helmbarten schon über die Schulter und die Beile in die Faust.

»Dran, Stadtrichter, ehe es zu spät ist!«

»Kühwolf! Haltet Ihr derweilen Torwache!« schrie der noch und gleich darauf: »Dran, dran!«

Und wie eine Meute losgelassener Rüden stürmte der Haufen zum Tore hinaus und dem brandumleuchteten Kampfplatze zu. Im Scheine der gierig weiterfressenden Brunst und im Fackeln und Leuchten der Blitze des heranziehenden Wetters gleißten und glitzerten die Helmbarten, Spieße und Äxte, und ein Teil der Hussen, der auch diesen Haufen noch anlaufen sah, gab sich schon auf die Seite zwischen Wehr und Flucht. Etliche richteten überhaupt schon übers Rennen. Wer weiß, wieviel ihrer noch herauskamen aus diesem Neste, in dem ihnen ein Hinterhalt gelegt zu sein schien.

Da tat es mit einem Male einen greulichen Sumser, als ob alle Berge und der Himmel darüber in ihren Grundfesten wären erschüttert worden und mit einem Rucke zusammenstürzten. Die Hussen hatten Donnerbüchsen mit und Pulver, waren aber in der Überrumpelung nicht zum Laden und Schießen gekommen. So ein Pulverfaß nun hatte Feuer gefangen und war losgegangen und zersprungen.

Nun fuhr der Knäuel der Kämpfer auseinander, heißt das, wer noch fahren konnte. Eine Menge der Hussen hatte es zum Nimmeraufstehen hingeworfen wie ein paar Hände voll toter Spreu.

Etliche Wagen rissen sich los und wollten flüchten, aber nach ein paar Wiesbaumlängen fuhren sie nicht mehr. War keiner mehr, der die Gäule antrieb. Und durch die Lücke in der brennenden Wagenburg sah man, daß drinnen auch ihrer nicht mehr zu viel waren. Doch auch diese blieben am Platze.

Wolf Kühwolf traf mit den nachgerannten Städtlern zusammen.

»Ihr da?« wunderte er. »Drum habe ich nicht ergrübeln können, wer auf der dritten Seite angerannt sein möchte. Wer ...?«

»Der Stadtrichter ist ausgebrochen mit uns«, beschied der Mirt.

»Wo ist er?«

»Weiß nicht, aber wird nicht weit sein.«

»Sucht euch alle zusammen und geht nun wieder zurück! Die schwerste Arbeit ist getan. Und haltet gute Wache an den Toren und auf der Mauer! Wir verfolgen nur noch die Flüchtigen, und wenn wir noch einen Hussenhaufen antreffen sollten ...«

Also suchten sie sich zusammen. Wer alles bei dem Schwarme gewesen, wußte keiner; jeder suchte nur die, neben denen er einmal gestanden. Daß aber Herr Hillebrandt bei dem Häuflein war, wußte jeder, sah und fand ihn aber nicht. Erst als sich etliche daranmachten, herrenlos gewordene Hussengäule einzufangen, und so ein Vieh hinter einen aus der Reihe gerissenen Wagen flüchtete, fand man an einem Rade den Stadtrichter lehnen.

War nimmer viel Leben in ihm. Der Bürstenbinder nahm ihn auf eines der eingefangenen Rosse und brachte ihn ins Städtel.

Dort wußte man schon so halbwegs, wie sich die Not gewendet. Wenn ihnen die Wagenburg niederbrannte und das Pulver in die Luft ging, hatten die Hussen eh' schon das kürzere Trumm in der Hand. Solches mutmaßte und kannte jeder, und solche Kunde hatten auch ein paar fürwitziger Buben hereingebracht, die kecklich hinausgelaufen und dem Kampfe von weitem zugesehen.

»Wie steht's?« Das war Herrn Egyd Kühwolfs erste Frage.

»Gott sei gedankt! Etliche flüchten und die anderen sind hin.«

»Und mein Wolf?« Dann erst merkte er den schon mit dem Tode ringenden Stadtrichter.

»Rasch! Rasch!« drängte er, ohne mehr völlig zu hören, was sein Wolf und die anderen noch unternehmen wollten. »Auf ein Lager mit ihm und ... Hilfe! Hilfe!«

Kam aber jedwede zu spät. Der Mann hatte einen Stich durch die Brust, und während man ihm Koller und Wams öffnete, tat er den letzten Seufzer. Ein Leben voll Schaffen und Arbeit, voll Hasten, Drängen und Jagen nach schier unerlangbaren Zielen war verloschen, und eine im Drange und in den Wirrnissen der Welt verirrte Seele hatte heimgefunden. Der Herr mochte in seiner Güte und in seinem Erbarmen Fehl und Willen wägen und ein gnädig Urteil sprechen.

»Der Herrgott geb' ihm die ewige Ruhe!« wünschte und bat der alte Amschel in einem Atem.

»Hat sein Leben eingesetzet für die anderen, und wer in gutem Wirken endet ...«

»Ich fürcht', es werden ihrer mehr so geendet haben,« seufzte Herr Kühwolf unwillkürlich auf. »So ein Kampf frißt Leute hüben und drüben.«

*

In den Häusern und Gassen des Städtels hatte man wohl die neuerliche Brandröte am Himmel gesehen und Geschrei und Kampfgetöse gehört, und wie ein Lauffeuer war die Kunde von Mund zu Ohr geflogen: Die Unseren haben einen Ausfall unternommen und die Feinde überrumpelt, aber sonst wußte man nichts. Die Ungewißheit und fiebernde Unrast wuchsen wie zehrende Flammen und leckten manchem schon am Verstande. Von den Mauern und Tortürmen aus jedoch hatte man schon wahrgenommen, wie sich das Blättlein gewendet, und der Weber, der Baderdikel, hatte seinem Rottmeister gesagt, unten würde er nun wohl notwendiger sein wie oben auf den Wehrgängen. Verletzte würde man nun zurückbringen, und jedem sollte so rasch wie möglich geholfen werden. Der Magister aber und der Tobies wären bei den Bärnsteinern und so sicherlich draußen. Also gebe es innerhalb der Mauern nur ihrer zweie, die solche Sache von Jugend auf und von einem richtigen Bader gelernt hätten: ihn und die Gertraud. Wenn er zu solch notwendigem Helfen abkommen dürfte ...

Aber gewiß. Wäre nur zu wünschen, daß es dieser Arbeit nicht zu viel gäbe.

Also rannte er heim und suchte Gertraud, Verbandszeug und Wolferleikrüglein Flaschen mit Arnika-Auszug. Eines der besten Wundheilmittel. Die Blume hieß ahd. Wolferlei = Wolfsauge., fand jedoch weder Schwester noch Baderzeug. Auf das Gerüfte von Überfall und Kampf hin hatte die Gertraud kurz besonnen etliche Weiber um Beihilfe angegangen und nachher Verbandzeug und Arzneien aus des Tobiesen Baderei fortgetragen und in die Herberge des Magisters gebracht. Der mußte ohnehin auch so Zeug daheim haben, und ... vielleicht würde gar noch all' beides zu wenig werden. In währendem Hasten und Eilen aber hatte sie alle Augenblicke vor sich hingelispelt: »Im Namen unseres Herrn und Heilandes tu' ich Dich bitten: nur keinen von den Unseren! Und wenn es wäre und nicht anders ginge: daß es nicht zu weit fehlet'!«

In des Magisters Herberge, im Hause des Tagdiebs also, fand der Dikel die Gertraud und alle Vorrüste, die in der Eile getroffen werden konnte. Und die Weiber schleppten Waschgeschirr und Linnen zusammen. Mit dieser Botschaft rannte er dann zum Wassertore. Wenn man Verletzte bringen sollte: in die Herberge des Magisters, in's Tagdiebenhaus mit ihnen! Dort wäre alles vorgerichtet zur notwendigsten Hilfe.

Waren aber nur ihrer drei oder viere, die sie vor dem losbrechenden Wetter zurückbrachten als Verletzte, und die eines Verbandes bedurften. Die meisten, die irgendeine Schramme in der Haut oder einen leidlichen Puff und Schlag bekommen, gingen damit kurzerhand heim und ließen sich dort einen oder den anderen Lappen darüber winden. Als jedoch das Wetter vorüber war und das erste Morgendämmern durch die spannlange Mittsommernacht brach, machte man sich wieder auf die Suche nach verletzt Zurückgebliebenen.

Einem der ins Städtel geflüchteten Bauern war ein Fuß abgeschlagen, einem anderen die Schulter entzweigekloben, drei, vier Städtler lagen noch draußen, und von den Bärnsteinern der Razzo, der strohblonde Gesell, der alleweil so wehmütige Liedlein gesungen. Tat keinen Schnaufer mehr.

Von den anderen sah und wußte man nichts.

Um halben Vormittag herum riß Herrn Egyd Kühwolf die Ungeduld. Sollten doch ein etliche auf Kundschaft ausreiten und erforschen, was es mit den anderen wäre. Also machten sich ihrer vier auf und ritten auf Kundschaft.

Er aber ging zuerst heim und nachher in des Hillebrandten Haus, wo allweg noch die Leiche der Frau Susel in der Kammer lag. In der Stube saßen und tuschelten ein paar alte Nachbarsweiber, und Klein-Hänschen weinte untrost und wollte allweg fort und zum Vater, von dem man ihm tröstend und vorbauend gesagt, daß er verletzt wäre.

»Zum Vater will ich,« schrie er den Kühwolfen an. »Warum bringt man ihn nicht her und ins Haus?«

Den ging unwillkürlich die Weichheit an. So ein Haufen Unglück übereinander und das Kind inmitten desselben! Was sollte er sagen, um nicht zu jäh zu kommen? Und einmal mußte es ja doch heraus.

»Mußt ein Männerleut sein, Hänschen!« ging er den Buben von dieser Seiten an. »Nicht einmal alle Weiber flennen in dieser steinharten Zeit. Männerleute müssen noch härter sein wie die harte Zeit, sonst kommen sie nicht hinüber. Die Hussen sind geschlagen und vernichtet; das weiß ich für gewiß, weil ich vom Tore komme. Leider aber haben etliche der Unseren ihr Leben lassen müssen als rechte Helden ...«

»Etwa gar ... der Vater auch?« kirrte der Bub auf.

»Ich kann nicht nein sagen, Hänschen. Er hat den Sieg entschieden und ... ist eben als Held gefallen ...«

»Zum Vater will ich ...«

»Mußt ein Männerleut sein, Hänslein!« wiederholte er nochmals und streichelte dem Buben über den Wirrkopf. »Und verlassen bist du nicht. Ich habe es deinem Vater versprochen, ehe er vor's Tor hinaus ist, daß ... ich mich annehme um dich, wenn ihm etwas widerfahren sollte, und ich ... Wie unseren Einzigen, Hänslein ... wie unser Kind. Schau'! Wir wissen ja im Augenblicke auch noch nichts von unserem Wolfen. Und er ist als Held gefallen ... als Held gefallen ... der den Sieg entschieden hat ...«

»Was ...?« frug eines der Weiber dazwischen und rang die Hände in überwältigendem Mitleide.

»Ein Stich durch die Brust. Lebend aber halbtot haben sie ihn noch hereingebracht, dann ist er verschieden ... Komme mit mir, Hänslein und ... sei gescheit! Es wird alles wieder recht werden. Schau'! Wenn er, der Herr Hillebrandt, die Stadt nicht gerettet hätte, und wenn die Hussen eingedrungen wären und hätten alles niedergemetzelt wie in der Stadt draußen, was wäre erst das für ein Unglück? So hat er allen anderen das Leben gerettet. Und da mußt du ... nun gescheit sein und das Jammern lassen. Helden ehret man, aber man ... man ...«

Er konnte trotz allen Mühens nimmer weiter, und sein fester Sinn rang sich erst wieder empor und durch, als Herr Simon der Föder, der Ungelteinnehmer, daherkam und kurzweg erklärte, nachdem Herr Hillebrandt gefallen, wäre fortab er als der Eidam teils Erbe, teils Vormund und Sachwalter für Klein-Hänslein.

»Herr Hillebrandt hat mir das und jenes ans Herz gelegt als Freundespflicht,« hielt er entgegen. »Und ich ...«

»Wer: Ihr?« brauste der Einnehmer gereizt auf. »Sein größter Feind.«

»Ich halte mich an seine Rede und an mein Versprechen,« trutzte er entgegen, und es fiel ihm ein und auf, was der Hillebrandt von den Freunden gesagt. »Hat auch noch der Rat als Erbgericht zu reden, und derweilen ... halt' eben ich mein Versprechen.«

In den Waldbergen geht ein Sprichwort: Viel Schwäger, viel Hundszagel, viel Gevattern, viel Hühnerschwänz', und das fiel Herrn Egyd über dem Herumwörteln ein. Umsonst mochte der Hillebrandt nicht gebeten haben, er sollte den Buben in Schutz nehmen wider seine Freunde. Und er wollt' es tun ... wollt' es treulich tun. »Ihr habt derweilen gar nichts zu reden,« ließ er ihn kiesrauh an. »Ein Mann in Euren jungen Jahren ... Habt Ihr einen Finger gerühret, wo die gemeine Allgemeine. Not bergehoch vor dem Städtel steht ...? Gestanden, kann man gottlob nun sagen. Alte Männer haben zur Wehr gegriffen, Euer Schwäher ist den Heldentod gestorben ...«

»Muß ich, ein kaiserlicher Beamteter?« hämte der Einnehmer.

»Müssen? Nein. Aber man schätzet den Mann nach der Tat; und wo keine Tat ... Ihr verstehet mich wohl. Und daß ich es nochmals sage: Ich halte mein Versprechen und ... ich nehme den Buben in Schutz wider alles, auch wider seine Freunde, wie mir der Hillebrandt als Vermächtnis aufgetragen ...«

*

Um die Mittagszeit kam vom Walde herüber und des Weges aus dem Flachlande herauf der Zug der Befreier.

Sie kommen! Vom Torturme herunter rief es einer auf die Gasse, und wie Jubeljauchzen scholl es dort weiter und dahin. Sie kommen ... Sie kommen zurück! ... Ein etliche rannten gleich in die Kirche und rissen an allen Glockenstricken, und von allen Mauern und Wehrgängen liefen sie zusammen. Wie Jubeljauchzen hallten die Glockentöne hinaus über die sommerprangenden Gefilde und hinauf in die Waldberge und zur trutzstarrenden Bärnsteiner Feste.

»Sind doch höllenmäßige Wichte, diese zwei, der Magister und der junge Kühwolf,« schmunzelte und nickte Herr Meinrad, der Amtmann, als er das Läuten als Frohbotschaft vernahm. »War ein trefflich Fürnehmen, das mich selber wunderte. Freilich: Fortes fortuna, sagt schon der alte Terenz; mit dem Kühnen ist das Glück. Aber ich meine, das letzte Mal mag es noch nicht gewesen sein, daß wir mit diesen Unmenschen zu schaffen haben.«

»Etwa gelingt es ein ander Mal auch wieder,« verhoffte Herr Gangolf. »Dann aber fahre ich auch darein. Wenn es nur nicht wieder zur Sommerzeit ist, und meinen Bauern die Felder verwüstet werden, auf daß sie nicht zehnten und zinsen können!«

»Dürftet ihnen für dieses Jahr sowieso ein gut Teil erlassen«, klopfte Herr Meinrad zur gelegenen Zeit an den Busch. »Viel wird doch hin sein durch die Flucht schon und dies und jenes. Die Leute haben ohnehin ein kläglich Leben.«

»Wovon aber soll ich leben?« fuhr da Herr Gangolf in die Stränge. »Wovon soll ich meine Leute zahlen? Aber ... gnadenweise auf Eure Fürsprach und denen, die etwa mitgeholfen haben,« willigte er nach einigem Besinnen ein.

»Die haben es auch ehrlich verdient. Und vielleicht kommt es auf andere Weise wieder herein. Immer besser, weniger Zinsungen als gar keine. Und die Härte macht die Leute widerborstig und störrig und treibt sie den Hussen zu. Ich habe mir mein Teil schon zusammengereimet ...«

Jost Helmschmied, der Kantor und Schullehrer, stolperte auch vom Wehrgange der Mauer herab und hastete der Kirche zu, als er das Freudengeläute vernommen, und als die anderen von den Mauern gelaufen. Dort nötigte er den alten Marx, den Nachtwächter, der gerade des Weges kam, daß er für ein daumlang Weilchen den Windbalg der Orgel träte, auf daß er, der Kantor, gleich einen Lobgesang zum Himmel spielen könnte. Nur für ein daumlang Weilchen. Er selber möchte ja zum Einzuge zurechtkommen.

Und in überwallender Freude schlug er auf die Tasten ein und sang in die menschenleere Kirche hinunter und hinein in das Geläute der Glocken:

» Qui habitat in adjutorio altissimi,
in protectione dei coeli commorabitur ...
«

»Die Not und Furcht haben ihm den Verstand angefressen,« murrte der alte Marx, da er mit dem geringen Gewichte seines alten Leibes die Zugbalken niedermühte.

Nachdem Herr Jost sich den Überwall der Freude vom Herzen gesungen, eilte er dem Wassertore zu. Der Magister war wohl bei den Mannen des Stadtfähnleins, weil er nirgends zu sehen und zu finden war, und die kamen jetzt. Also kam er auch mit ihnen ... als Held und Sieger. Sonst hatte und wußte er keinen unter all' den Heimkehrenden, an dem sein Herze so hing, wie an diesem schier gleichgestimmten Menschen. Einen wie Lerchengesang aufsteigenden Hexameter wollte er dem Freunde als Freundesgruß zurufen, doch die wallende Freude ließ seinem Sinnen weder Worte noch schwingenden Versfuß anwachsen. Es fiel ihm nichts ein, und es fiel ihm auch weder aus dem Horaz noch einem anderen alten Lateiner etwas ein, was zu dieser Stunde und in diese Freude taugte. Nur ein leises Fürchten träufelte beständig in diese Freude wie bittere Galle in süßen Met: Wenn sie wiederkommen ... wenn sie wiederkommen ... Schon in der Schrift steht: Dann geht er hin, nimmt noch sieben andere Geister mit sich, die ärger sind als er, und die letzten Dinge werden ärger als die ersten.

Immer näher und näher kam der Zug. Bald konnte man wahrnehmen, daß die Bärnsteiner vorausritten, an der Spitze der lange Krispin mit seinem schlohweißen Gottvaterbarte, ein alter Haudegen, dem Ruhe und Feierweile auf dem Bärnstein Bußzeit waren. Jauchzen und Freudenrufe empfingen ihn schon vor dem Tore.

»Wie steht's?« schrie ihm Herr Egyd Kühwolf über die Köpfe der drängenden Menge zu.

»Alles hin, bis auf ein etliche Hasenfüße alles hin.«

Den Stadtknechten und dem Stadtfähnlein vorauf kam der Badertobies. Herr Egyd erfahlte bis in den Mund hinein. Der Wolf ... sein Bub ...?

»Wo ... ist der ... unsere noch?« stotterte er ganz erkommen heraus. »Was ... ist's ...?«

Der Tobies schwang sich vom Rosse und legte ihm die blut- und schmutzüberzogene Hand auf die Schulter.

»Herr Kühwolf!« suchte er nach einer Reiben und einem Troste. »Unsereiner kommt aus in der Stadt draußen und in jedem Mordgehaue ... unsereiner, an dem nichts verloren ginge, andere ...«

»Wo ist mein Wolf ...?« des Kühwolfen Augen huschten in fiebernder Unrast von einem der zerrauften und zerdroschenen, blutbesudelten und verbundenen Gesellen zum andern. Konnte aber seinen Einzigen nicht erspähen und erlugen.

»Herr Kühwolf ... hintennach fahren etliche Hussenwagen mit ...«

»Etwa gar ... gefallen?« Wie wenn zwei Kiesel aneinander rieben, klang diese Frage.

»Sind ihrer etliche, Herr ... gibt nichts: wen es trifft, den hat es. Geht nicht anders bei ... so einer Arbeit.«

Wie wenn ihm ein jäher Hau die Rückensäule durchschlagen hätte, knickte der Mann zusammen. In seinem erdfahlen Gesichte zuckte und riß es ein etliche Male wie der helle Krampf oder ein andrängend Weinen, und ein paar unverständlicher Gurgler mühten sich aus seinem Munde. Welt und Städtlein schienen um ihn her zu versinken, und glutrotes Dämmern wallte vor seinen Augen.

Gibt nichts ... gibt nichts ... Also ...

Am anderen Arme des Tobiesen begann die Gertraud zu reißen und zu rütteln.

»Wo ist der ... Magister?«

»Der Bader?« machte es der in seinem gewohnten Schelmen- und Galgengleichmute. »Auch hintennach auf einer Hussenfuhre, zerfetzet wie ein Bettelmannswams ...«

»Auch ... tot?« schrie das Dirnlein schier auf in seiner fiebernden Herzensnot. Und der Aufschrei und das schreckensbleiche Gesicht der Schwester verrieten ihm undeutelbar, was da los und ledig war.

»Mir scheint, noch nicht. Ein etliche Schrammen halt, aber ... ich flicke dir ihn schon wieder zusammen, Gertraudlein, wenn er noch lebt. Ich flicke dir ihn schon wieder zusammen.« Und kosend streichelte seine schmutzige Hand über der Schwester Blondköpflein. »Wird schon wieder recht werden. Ein Dunnerskerl, aber ... es hat ihn eben getroffen ... hat ihn böslich getroffen.«

»Bringt ihn gleich in seine Herberg'!« stotterte sie nun mit angstbebender Stimme. »Alle Verwundeten. Dort habe ich alles vorgerichtet ...«

»Du? Ja freilich: ein Badersdirndel ... und wo es not tut ... Aber ich flicke ihn dir schon wieder zusammen, Schwesterlein. Meine ganze Kunst muß da her ...«

Bis die Hussenwagen mit den Toten und Verwundeten kamen, hörte und sah sie beinahe sonst nichts mehr; bis dorthin aber wurde sie ihrer Not soweit Herr, daß sie halbwegs im Zaume zu halten war und keinem anderen sonderlich auffiel. Was ging andere ihr Leid an?

»Weil du nur wieder heil und gesund zurückbist!« freudjauchzte ein sich herzudrängend Weiberleut, die Hanna, die ein Haus in der Gerbergasse hatte und auf den Tobiesen versessen war. »Was ich mich geängstiget habe! Und einen Bittgang habe ich versprochen ...«

»Ist alles recht,« wehrte der Tobies halb erfreut, halb ungeduldig ab. »Möcht' wissen, was unsereinem widerführe? Aber jetzt ... habe ich keine Zeit, Hanna. Verletzte kommen; da muß ein Bader zugreifen ... Wird schon recht werden, Gertraudlein ... Die Verwundeten auf den Seileranger!« rief er gleich darauf den Fuhrleuten zu. »Werden dort richtig verbunden und ... wieder zurechtgeflickt.«

Der Gertraud Hände falteten sich unwillkürlich zu himmelstürmender Bitte.

»Im Namen unseres Herrn und Heilandes tu ich Dich bitten: Nur nicht sterben lassen! Nur nicht sterben lassen! Zusammenheilen will ich mir ihn schon wieder, so du mir ein bissel an die Hand gehst dabei, Herrgöttlein.«

Doch als man auf dem Seileranger und vor dem Hause des Tagdiebs die Verwundeten von den Wagen hob und ins Haus trug, und als man den böslich zugerichteten Magister daherbrachte, übermannten sie doch unwillkürlich wieder Leid, Angst und Liebe, und sie kniete sich vor den wie völlig leblos daliegenden Menschen, streichelte mit all' beiden Händen das todbleiche, blutige Gesicht und wimmerte in ihrer harten Not: »Nur nicht sterben! Nicht sterben! Ich heile dich schon wieder zusammen ...«

Der lange Krispin half einen verwundeten Bärnsteiner hereintragen und sah es. Schüttelte den graubärtigen Kopf und knurrte in seinem Wundern ein paar kiesrauher Troßknechtsbrocken heraus. Mußte sonst ein ganz vernünftig Weibsmensch sein, da es aus eigenem so gute Vorricht getroffen, und nun ... Aber das mochte allweg so sein: Zur Ranzzeit werden Vieh und Menschen zu Narren.

In einer Ecke lehnte leidzitternd Jost Helmschmied, der Schullehrer, und starrte auf den schon mehr tot wie lebendig daliegenden Freund und das leidwimmernde Dirnlein vor ihm. Ein Spruch aus der Schrift schwebte ungedanks durch sein Trübsinnen wie ein schneeweißer Falter über herbstöde Gefilde: Die Liebe hört nimmer auf, auch wenn die Weissagungen aufhören, wenn die Sprachen vergehen und ... alles ein Ende nimmt.

Und wie unter der Zaubergewalt dieser Liebe hoben sich des Magisters Augenlider ein weniges, und die Augen starrten trüb und zerwirrt auf das kniende Dirnlein. Dem aber gellte jählings ein Freudenschrei aus dem Munde.

»Er lebt noch. Tobies, er lebt noch. Rasch! Geschwinde! Es kann noch alles recht werden ...«

*

In des Kühwolfen Stube hatte man den Wolf aufgebahrt, den letzten von all' den Kindern, die der Herr dieser Ehe beschert.

In einer Ecke saß und schluchzte Frau Eva und krampfte hin und wieder die Hände ineinander, daß die Knöchel knackten, am Tische aber lehnte Herr Egyd und stierte wie völlig geistesabwesend vor sich hin. Schwer und wuchtend zogen die Gedanken durch sein Trübsinnen wie die Räder eines überladenen Wagens über knirschenden Schutt und Kies, und hin und wieder zuckte er schier zusammen wie unter deren Wucht ... Wie Gott will, mußte er sagen; der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen. Von so viel Kindern das letzte und ... dies als ein totes auf dem Brette. Er ist den Heldentod gestorben, der Bub, den Tod für Recht und all seine Mitmenschen; aber ... mußte es so kommen? Mußte dieses Ende hergehen? Vorwurf um Vorwurf begann sich in sein Leidsinnen zu mengen. Soviel er wußte, war kein Pfennig unrechten Gutes in all' seinem Besitze, aber ... hatte er sonst nie gefehlt? Der Gerechte selbst fehlt siebenmal des Tages, steht in der Schrift. Hatte es so kommen müssen? Wenn er ... Wer weiß, wäre alles soweit geraten, wenn auch er ...? Die leidigen paar Fingerlein, mit denen der Zwist angefangen, und die unter dem Ärger wegen etlicher Salzsäcke verweigert worden, ein paar ungerader Reden ... Wer weiß, ob der Hillebrandt sonst sein Kind weg und ... in den Tod geschickt hätte? Wer weiß, läge die Frau Susel heute sonst auf dem Brette? Und alles wegen so einer Nichtigkeit! Nun aber war nichts mehr zu ändern; wie es gekommen, so war es. Die zweie, die man mit Gewalt auseinanderreißen gewollt, mochten nun selig vereint vor dem Throne Gottes knien, wo kein Zwist und keine Zwietracht mehr an sie heranreichen konnte, und sie, die zwei Alten ...

Langsam suchten seine Blicke in die Stubenecke, wo der Bub auf dem Brette lag, und wo die durchs Fenster dringende Abendröte über dem totenstarren Gesichte spielte wie der Widerschein der Himmelsherrlichkeit, die den toten Helden im Himmelssaale umfluten mochte, und ein paar Zährlein sickerten aus seinen Augen, zitterten etliche Augenblicke an den Wimpern und kollerten nachher langsam die bleichen, runzeligen Wangen nieder.

Durch das offene Tor der Kirche und durch die offenen Fenster herein drang das Stimmengewirr der Leute, die sich dort zum Dankgebete gesammelt und fürder um Ruh' und Frieden baten:

»So bitten wir den Gottessohn,
daß er von seinem Himmelsthron
sich unser mög' erbarmen,
daß allem Christenvolk hienieden
er schaffen mög' den ew'gen Frieden
und Trost und Heil uns Armen.
Kyrie eleison!«

Herr Egyd fuhr sich mit der Hand über die tränenfeuchten Augen ... Den ewigen Frieden! Verheißen war er ja, der Friede, den die Welt nicht geben kann und ... auch nicht gibt, solange Hussen darinnen leben und ... anderes Menschenvolk auch, aber ... kommen mochte er zu jedem erst, wenn er dort war, wo ... sein Bub jetzt ruhte, sein Wolf, sein einziger noch ... jenseits von Menschenstreben, Menschenirren und Menschenfehlen ...


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