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Der Schwur

Um zwei Uhr ließen Silvio Wolf und der Präfekt sich melden.

Der Amtsgerichtsrat blies ein »Ha!« durch die Nase. »Daniel spaziert in die Löwengrube. Freilich unter behördlicher Bedeckung. Wie hat er nur so schnell herausgekriegt, daß ich da bin?« Ich klärte ihn auf. Seit geraumer Zeit schon wurden die Zu- und Abgänge in Breuschheim fleißig überwacht, ich nahm an, vom Ortspolizisten. »Aha«, sagte er grimmig. »Ein bißchen ungemütlich, was?«

Er saß in einem jener Lehnsessel mit Ohrenklappen, die man Großvaterstühle nennt. Er reckte sich, zupfte die Manschetten etwas aus den Ärmeln, legte eine prüfende Hand auf seine Krawatte: »Achtung! Große Szene ...« Ich sah ihn an. Er heuchelte Bescheidenheit in der Haltung, legte aber die Fäuste auf die Knie. Sie hatten den Umfang der größten Kanonenkugel, die man zu Zeiten Wallensteins verschießen konnte.

Mit jener Hochachtung, die ein Beamter in gehobener Stellung dem andern erweist, begrüßte er den Präfekten. Der Präfekt machte seine Verbeugung in drei Schritten Entfernung. Den Wolf ließ Bieterle auf sich zukommen und schätzte, von seiner Höhe, den Raum ab, den er zwischen sich und den andern legen wollte, und genau am vorgesehenen Punkt machte Silvio halt.

Er überflog den Hünen mit einem Blick, drehte sich in den Hüften, rückte gleichsam seine Gestalt zurecht. In zwei Sekunden gelang es ihm, der schlank, fast zierlich war, die massige Erscheinung Bieteries zu entwerten, indem er sich mit großer, etwas lässiger Grazie vor diesem Hintergrund zur Schau stellte. Er untersuchte, anscheinend mehr mit dem Geruch als dem Gesicht, den Eindruck, den er machte, und begann zu sprechen. Und ich, der ich glaubte, ihn nicht ansehn zu können vor Abscheu, war erst wieder einmal bestrickt von so vollendetem Schein.

Er werde nicht erlauben, sagte er, daß Bieterle Frankreich verlasse, ohne ihm, Wolf, eine Ehrenerklärung abgegeben zu haben. Davon machte er es auch abhängig, ob er die Klage wegen falscher Anschuldigung gegen ihn zurückziehe oder nicht. Eine Ehrenerklärung, aus freien Stücken und aufrichtig abgegeben, würde ihm genügen im Andenken an Fräulein Ruf, die den Amtsgerichtsrat mit ihrer Freundschaft beehrt habe. Aus dem gleichen Grund läge ihm daran, sich vor ihm im Beisein des Herrn Präfekten zu rechtfertigen, da er es nach gründlicher Überlegung nicht für ausgeschlossen halte, daß Bieterle in gutem Glauben gehandelt und in seinem Eifer, gewissermaßen beleidigt durch das Schicksal, daß Maß des Erlaubten überschritten habe. Sowohl im Hinblick auf ihn, Silvio Wolf, als auch auf Fräulein Ruf, die von jemand, den er bisher für einen Ehrenmann gehalten, öffentlich und völlig unberechtigt als seine Geliebte hingestellt worden sei ... Er, Silvio, indes kenne die Welt, er kenne die Liebe. Er kenne den Schmerz. Niemand könne an der Trauer des Herrn, der ihn verleumdet und das Andenken der hochherzigen Frau geschmäht habe, verständnisvoller teilnehmen als er. Wer geliebt habe, kenne die Eifersucht, und wer die Eifersucht kenne, verstehe das Rachebedürfnis und die Verleumdung.

»Erlauben Sie mal!« wollte der Schwabe aufbegehren, aber Silvio brachte ihn mit einer beschwörenden Bewegung der Arme zur Ruhe. »Oh, bitte, nicht so! ... Sie sehn, ich bin gefaßt und sachlich und unterdrücke meine Gefühle, so gut ich kann. Vielleicht darf ich das gleiche von Ihnen erwarten.«

Alles an ihm war neu, der Anzug, die Lackschuhe, die Frisur. Der Blick verweilte sanft und dunkel auf Bieterle, doch mit einem Lichtpunkt darin, der aufleuchtete und erlosch und dabei kalt war wie Eis. Die Sonne Spaniens hatte den Goldschimmer seiner glatten Züge verdunkelt, er schien gealtert und zugleich verjüngt. Und nun begann er mit jener Schilderung der tragischen zwei Minuten, von der Bieterle zum Staatsanwalt in Brest gesagt hatte, daß er sie genau so von ihm erwartet habe ...

Aber seltsam! Die Worte Silvios mochten vom Staatsanwalt getreu wiederholt worden sein, was Bieterle jetzt zu hören und zu sehen bekam, war etwas ganz anderes.

Durch die Nacht strahlte der Scheinwerfer und tauchte die ›Las Palmas‹ in helles Licht, und dieser Scheinwerfer war das einzige Zeichen klarer Vernunft inmitten der Panik. So weit sich der Ozean dehnte und stürmte, seinen ganzen Zorn schien er auf dieses Schiff geworfen zu haben, er zertrümmerte es mit tiefen, langen Schlägen, die erst hart klangen, als würden sie mit einem Eisenbalken geführt, um dann in eine Anzahl kurzer, stoßender, rauhflächiger Stöße und schließlich in einen unfaßbaren Wirbel überzugehn.

Dort an der Reling lagen zwei Menschen am Boden, im Licht des Scheinwerfers tauchten sie auf und nieder, je nachdem, ob die Wogen klotzige Stücke finsteren Meeres über das Schiff gossen oder ob sie gischtend und strudelnd und in allen Farben des Regenbogens sprühend sich vor dem künstlichen Tag zurückzogen. Unweit von ihnen hielt Bieterle sich mit der einen Hand an einem Seil fest – so fest, erinnerte der Schwabe sich plötzlich, daß es ihn im ganzen Leib schmerzte ... Jawohl, daran erinnerte er sich, übrigens zum erstenmal, und mit der andern Hand fuhr er durch die Luft, und – auch dies kehrte ihm ins Gedächtnis zurück: obwohl Silvio und Aggie ihn unmöglich verstehn konnten, schrie er den beiden an der Reling Donnerworte zu.

Donnerworte! Der Wind nahm sie, wie sie kamen, und stopfte ihm damit den Mund. Er wußte, daß er mit aller Kraft schrie, und doch vernahm er seine eigenen Worte nicht im Brüllen des Meeres. Bieterle sah alles leibhaftig vor sich; Aggie, Silvio, sich selbst, das ganze Deck mit allem, was sich darauf befand. Er hatte es nie mehr so deutlich gesehn seit jener Nacht. Und schon dieser Gedanke allein machte ihn ganz benommen. Er glaubte, ärgere Qualen zu leiden als damals, denn jetzt wußte er im voraus, wie es enden werde ...

Auf einmal schien das Schiff wieder flott zu werden, es bewegte sich, unter Krachen und Wimmern warf es sich auf die andre Seite, nicht viel anders, als wenn ein Ringer versucht, sich auf dem Boden dem übermächtig zugreifenden Gewicht des Gegners zu entreißen – und die beiden Menschen, die eben noch an der Reling gekauert hatten, standen! Schief übereinander gebeugt standen sie da, warfen den Oberkörper zurück, das Deck glitt ihnen unter den Füßen weg, heftig hin und her trampelnd suchten die Füße das Gleichgewicht. Aber sie fielen nicht. So tanzte man früher Kakewalk, hatte Bieterle in jenem Augenblick gedacht, und »Kakewalk«, Wort und Bild waren mit lähmendem Schrecken in seine Glieder gefahren, er wußte nicht, warum. Gleich darauf hatte er wieder geschrien, um die beiden auf ein Seil aufmerksam zu machen, an dem sie gerade vorbeischlitterten. Dieses Seil nämlich führte zum Hauptmast, und wer den Mast erreichte, war gerettet. Von dort rutschte man in Säcken hinüber, auf das sichere Land, wo es keine stürmenden, abgründig zusammenbrechenden Berge gab und auch keine Wahnsinnigen, wie sie, halb bekleidet oder so gut wie nackt, an Bord herumkrochen.

Unter solch einem Berg, der heranrollte, bückten sich Silvio und Aggie, unwillkürlich, wie jede Kreatur sich bückt, wenn überwältigende Gefahr droht. Sie hielten jetzt bei der entgegengesetzten Reling, aber zu weit entfernt noch, als daß sie sich hätten festhalten können. Bevor noch die Wassermasse sie traf, drehte Aggie sich um, wollte ihn mit den Armen umschlingen. Silvio griff nach ihr, aus seiner noch halb gebückten Haltung griff er nach ihr, die Arme faßten von selbst nach unten, er bekam sie an den Schenkeln oder an den Knien zu packen. Das alles geschah in weniger als einer Sekunde. Er hob sie auf, preßte sie an sich. Aus Furcht, vornüber aus der Umarmung zu fallen, schnellte Aggie den Oberkörper zurück, und so, in dieser unglückseligen Lage, rutschten sie noch ein Stück weiter und fielen mit aller Wucht auf die Reling. Silvio schlug mit den Schultern auf, und Aggie, Aggie wurde einfach von ihm abgerissen, wie ein Ast vom Baum.

Er glaubte sich aber zu entsinnen, daß er die Arme nach ihr ausgestreckt habe, im triebhaften Gefühl, sie festhalten zu müssen. Er war beim Aufschlagen auf das Geländer betäubt worden, und als er wieder zur Besinnung kam – hatte er nur noch an sich allein zu denken ...

»Ich bin mit meinem Bericht zu Ende«, sagte er schlicht.

Er stand vor dem Amtsgerichtsrat und sah ihn an.

Bieterle, blaß vor Erregung, lehnte im Großvaterstuhl, zu Häupten die beiden vorspringenden Scheuklappen. Auch er war betäubt, und er kam erst zu sich, als Silvio ihm ein Schriftstück überreichte:

»Sehen Sie zu, ob Sie das unterschreiben können! Es ist die Ehrenerklärung.«

Er nahm das Schriftstück, ließ es auf die Knie sinken und starrte Silvio ins Gesicht. Das Gesicht sah ihn an, fahl und verwittert. Die Wimpern stiegen und fielen so schnell, daß sie ein einziges Zittern waren, und schimmerten feucht, vielleicht, dachte Bieterle, von verhaltenen Tränen. Denn er kämpfte selbst mit den Tränen ... »Nun?« sagte Wolf.

»Die reine Wahrheit«, erwiderte Bieterle.

Silvio drehte sich auf dem Absatz um: »Was habe ich Ihnen gesagt, Herr Präfekt? Herr Bieterle hat in gutem Glauben gehandelt. Er ist ein Ehrenmann.« Es klang bescheiden und würdig.

Der Amtsgerichtsrat führte langsam das Schriftstück zu den Augen. Silvio aber – in der Ecke des Zimmers hing das alte florentinische Kreuz. Das Kreuz war aus Silber, die jammervoll schöne Gestalt Christi aus Elfenbein. Die Augen vieler Geschlechter waren dorthin gewandert, um Wahrheit oder wenigstens Trost zu suchen. Nur Aggie hatte keins von beidem in seinem Anblick gefunden ... Unter dieses Kreuz trat Silvio und hob die Hand: »Ich schwöre, daß ich die Wahrheit gesagt habe«, sprach er.

Wortlos stand Bieterle auf, ging mit gewaltigen Schritten zum Schreibtisch und unterschrieb das Papier. Er gab es Silvio und sagte: »Ich bitte um Ihre Hand«, und als er sie hielt: »Ich danke Ihnen.« Auge in Auge standen sie voreinander. Sekundenlang herrschte feierliches Schweigen.

Als Silvio wieder das Wort nahm, war seine Stimme glänzend und oberflächlich, und ich erinnerte mich, daß Aggie von dieser Stimme sagte, sie sei wie das Spiel eines Delphins in einem lauen Meer. Ich konnte sie aber mit dem besten Willen nicht märchenhaft finden. Es war eine Allerweltsstimme, blank und tückisch. Bieterle, der noch ihren tiefen, wahrhaftigen Klang im Ohr hatte, schien ähnliches zu empfinden, geärgert stieß er mit dem Finger ins Ohr und schüttelte.

Der Präfekt verabschiedete sich, ohne Bieterle die Hand zu reichen, in höflichem Abstand und in einer Art, als wäre nun der offizielle Teil der Feier beendet, und ließ uns mit seinem »lieben Abgeordneten« allein.

Bieterle, sichtlich verlegen, aber still, ganz still, bat um ein Glas Wein, und Joseph brachte eine Flasche Champagner.

»Ach, unsre Aggie!« begann Silvio, als wir alle drei um den runden Tisch saßen: »Die Gute lebte im Märchen ... In einem tiefsinnigen Märchen ... Sie konnte wochenlang über einem Menschen fabeln – und auf einmal war es zu Ende. Sie wußte gar keine Geschichten mehr von ihm. ›Er hat sein Gesicht vertauscht‹ sagte sie, ›ich muß mich erst an das neue gewöhnen ... Manchmal hatte einer auch die ganze Gestalt ›verloren‹, nicht nur das Gesicht, und sie meinte: ›ich möchte gern wissen, wer jetzt darin herumläuft‹ ... Sie war überzeugt, daß wir im Leben nicht vorwärtsschreiten, sondern zurück – kaum geboren, schon wieder in den Mutterschoß! Das heißt, so war es, als ich sie kennenlernte ... Ich erinnere mich, wie ich mit ihr vor einer Uhr stand – vor einer Empireuhr in ihrem Nizzaer Hotel. Mitleidig schaute sie die Uhr an: ›Wie sie sich eilt, es hilft ihr ja doch nichts! Wir gehn alle zurück!‹ Wie sie sich irrte, die Gute! Einige kommen überraschend schnell vorwärts.«

Er warf den Kopf zurück und lachte leise gurgelnd – wie eine Quelle, hätte Aggie gesagt. Er blickte verträumt. Die feuchten Wimpern hoben und senkten sich, hastig wie Nachtfalter, die einem Licht zufliegen ... »Ein Spaziergang mit Aggie – nicht wahr, Herr Amtsgerichtsrat? Ein Spaziergang mit Aggie!« Er sang. »Ich könnte ein Buch füllen mit ihren Entdeckungen, die sie zwischen Unterhügeln und Breuschheim machte, und eines Tages tue ich es auch – wenn die Politik mir die Zeit läßt. Sie kannte weder die Namen der Bäume und Sträucher noch der Blumen und Vögel. So fiel ihr die unerschöpfliche Aufgabe zu, die Schöpfung neu zu benennen, und außerdem hieß ein Ding anders, je nachdem, wo, wann und wie sie es sah ... Bald lächelte sie den Bach an und pries ihn als das strömende Gesicht des Geliebten, leer und tief und nur am Rand vom bunten Leben der Ufer berührt, mit einem winzigen, himmelblauen Stückchen Seele, das manchmal an die Oberfläche tanzte, bald floh sie vor seinem ›Haßgemurmel‹, vor seinem Netz, das er tückisch und geduldig abwickelte, um sie darin zu fangen – vor dem fließenden, glitzernden Haufen von Dolchen ...«

In der Mitte des Tisches stand eine fast kugelrunde Azalee. Das Laub verschwand unter einem einzigen Licht, so dicht hielten die großen roten Blüten zusammen. Silvio verfiel in Schweigen und streckte den Arm aus, mir schien, nach der Blume, er griff aber zum Glas.

Er hatte nur daran genippt und es nicht mehr angerührt. Nun hielt er es in der Hand und blickte wehmütig auf den Strauch. »Meine Azalee«, sagte er leise ... Und erhob sich und schüttelte den Wein auf die Wurzeln der Blume.

Nach einem Schweigen, das meine Geduld auf eine schwere Probe stellte, fügte er hinzu: »Nur schreiben konnte sie nicht mehr«, und ein Ausdruck von Genugtuung glitt über seine Züge, eine Ahnung nur, ein Hauch, ein Schein aus der Tiefe, worüber sich das Gesicht gleich wieder schloß. »Das heißt, sie hätte vielleicht gekonnt, sie wollte nur nicht mehr. Mit Angst und Verachtung sprach sie davon. Man lüge soviel, sagte sie, warum es auch noch drucken und einbinden lassen? Merkwürdig!«

Er schaute uns fragend an:

»Ich habe sie nie lügen hören, Sie?«

Die Uhr auf meinem Schreibtisch schlug vier.

Ohne die Antwort abzuwarten, stand er auf und fragte: »Sag mal, Claus, – du weißt? ... Ada kommt nicht zurück? ...« Ich sah ihn nur an ... »Hab' mir's gedacht, daß du gescheiter bist als ich. Nun also.« Er stand auf und machte eine kurze Verbeugung: »Adieu!«

Kaum war er draußen, öffnete sich wieder die Tür, und Joseph führte einen Gendarmen herein, der nach Bieterle fragte und, als der Amtsgerichtsrat seinen Paß vorgezeigt hatte, ihm einen Brief übergab, dessen Empfang er bescheinigen mußte. Darauf grüßte er militärisch und zog sich zurück. Der Brief enthielt einen Ausweisungsbefehl. »Klappt ja famos«, murmelte Bieterle, ohne sich von der Stelle zu rühren.

Ich beschloß, statt erst am anderen Morgen sogleich nach Römerbad aufzubrechen. (Grether Fritz, die Köchin Kathrin, Annette und ihre Pflegerin waren bereits mit der Bahn vorausgefahren.) »Heute und wohl für längere Zeit bin ich hier fertig«, erklärte ich Bieterle. »Wenn Sie wollen, bringe ich Sie über die Grenze nach Freiburg. Dort nehmen Sie den ersten Zug nach Stuttgart, und ich fahre weiter nach Römerbad.« Er stand noch immer am gleichen Platz und blickte, leicht gebeugt, zu Boden. »Einverstanden?« Er nickte. »Ich werde das Kreuz wegnehmen lassen, bevor ich gehe«, sagte ich unvermittelt. Bieterle fuhr in die Höhe: »Wieso? ... Glauben Sie, er hat falsch geschworen?«

»Nein, das glaube ich nicht, er hat richtig geschworen – oder doch beinahe. Seine Schilderung, von außen betrachtet, stimmt wahrscheinlich bis in die geringste Einzelheit.«

»Nicht wahrscheinlich, sondern zweifellos«, unterbrach mich Bieterle ... Heute erst, durch Silvios Schilderung, sei die Unglücksnacht in ihm aufgelebt, bisher sei sie ihm durch seine Voreingenommenheit wie verstellt gewesen, er habe Aggie ganz vergessen gehabt über seiner Rachsucht, und es liege noch immer ein Bann auf ihm, ein Schrecken, als habe er, er sie noch einmal getötet ... Und außerdem habe Silvio Wolf bei all seiner Wahrhaftigkeit und Großmut ihm noch eine besondere Angst eingeflößt, die er sich nicht erklären könne. Die plötzlich veränderte Stimme und Haltung des Herrn nach Unterzeichnung des Schriftstücks – gräßlich! Aber warum gräßlich? Wenn er auf einmal gewissermaßen ein Kostüm abgelegt habe – was für eins, denn? Er habe ja die Wahrheit gesagt! Zweifellos!

»Zweifellos«, gab ich zu. Warum auch nicht? ... Es war wie immer bei Silvio. Was er sagte, mochte an sich wahr sein, aber es genügte, daß er es sagte, damit es falsch wurde ... Und als Bieterle mich traurig und verständnislos ansah, ließ ich mich hinreißen auszusprechen, was ich hatte verschweigen wollen, um ihn nicht zu beunruhigen.

Ich nahm an, daß Aggie in der Sturmnacht versucht hatte, Silvio mit sich über Bord zu ziehn, und um sich zu retten, hatte er sich ihrer mit Gewalt entledigt. Dies zum mindesten ... Sein Eid war demnach beinah wahr. Vielleicht aber waren in jener Sekunde die verzweifelten Absichten der beiden zusammengetroffen, vielleicht hatten sie gleichzeitig nacheinander gegriffen, er, um sie aus dem Wege zu räumen, sie, um mit ihm zu sterben – und er war es sich vielleicht nicht einmal bewußt geworden, daß auch er sie, eine Sekunde lang, habe töten wollen ...

Bieterle, unbeweglich, überlegte lange. Er blickte mir voll ins Gesicht. Endlich beugte er sein mächtiges Haupt und sagte:

»Darüber kann ich nun mein Leben lang grübeln ...«

 

Während der Fahrt durch die Rheinebene dachte Bieterle an all die Wunder, die Aggie ihm versprochen hatte, wenn er zum ersten Male wieder ins Elsaß käme.

An der Grenze sollten ihn die Meisen in Empfang nehmen und an die Buchfinken übergeben, die Buchfinken an die Rotkehlchen, die Rotkehlchen, beim ersten Dorf, an die Schwalben, die Schwalben beim Ausgang des Dorfes an die Grasmücken, die Grasmücken an die Lerchen, und besonders die Lerchen sollten sich über Bieterles Heimkehr freuen und schier vergehn vor verzückten Erkennungsrufen. Die Wälder sollten aufrauschen bei seinem Anblick, mit Millionen Lichthänden winken, die Bäche stillstehn und der Wind schnell ihre Oberfläche glätten, damit er in ihrem Spiegel sein altes Bild erkenne, das Bild des Bieterle, der jung und hier zu Hause war ... »Und der erste französische Gendarm wird mich verhaften«, hatte er lachend geschlossen. Und sie hatte eingestimmt mit ihrem Lachen, das ein Jauchzen war wie verstand sie zu lachen! In Römerbad war es gewesen kaum ein Jahr war seitdem verflossen ...

Nun flohen die Bäche und Wälder vorbei, als gingen sie Bieterle angstvoll aus dem Weg. Es gab kein Lachen mehr auf der Welt. Die Vögel stürzten flatternd ab und erloschen, sobald sein Blick sie traf, und er versank in die Wehmut und Düsternis des großen Abschieds.

Er sah vor sich hin auf die Straße und fühlte, wie sie endgültig französisch wurde, und sie hatte es so eilig, ihm in den Rücken zu kommen, daß sie auf den Wagen losschoß und wie ein Akrobat darunter wegschlüpfte ... Er spürte, wie er minütlich ein Stück Heimat verlor. Sein Schatten wurde länger und länger und zuletzt so dünn, daß er weder Form noch Farbe mehr besaß. Der französische Zöllner schnitt den letzten Faden ab, der ihn mit seinem Herrn verband. Der Schatten blieb im Elsaß liegen, kein menschliches Auge konnte ihn erkennen ...

Darum kam Bieterle sich auch nicht treulos vor, als er, am jenseitigen Ufer angelangt, ohne weiteres zu dem neuen Schatten griff, den der deutsche Zöllner im Verein mit der Abendsonne ihm anbot. Er führte ihn gleich auf den Damm und zeigte ihm den Rhein und das Elsaß. Denn der neue Schatten war ja ein Fremder in jenem Land ... Eine Weile noch standen wir so und blickten zurück.

Die beiden Länder tranken in gleichen Zügen den Abend, der Rhein wälzte den gleichen Himmel in seinen Wogen, alle Glut, alle Milde fuhr in einem einzigen Treiben, und darüber tanzten die gemischten Reigen der Strudel. Auf beiden Ufern warfen die Pappeln denselben Schatten ... Und ich sprach mein »Grenzgebet«, worin ich den Tag herbeiwünschte, den Sonntag Europas, der Deutsche und Franzosen in einer gemeinsamen Aufwallung von Großmut und gläubigem Leichtsinn zu diesen Ufern triebe, damit sie sich als Geschwister bekennten, wie das Schicksal ihnen befahl. Quand – même! Trotz allem!

 

Hochsommer.

Ein Regen fällt leise zur Erde. So kindlich endet der Zug der Sturmwolken, den der Hochblauen aufhielt ...

Von Römerbad herauf bläst der Wind Stücke der Kurmusik, Lautes und Zartes, was ihm gerade gefällt. So fächeln die Kinder hinter Seifenblasen her und lassen sie in die Höhe segeln ...

Mit echten Blumen bekränzt, eilt die Saison hinter meinem Garten vorbei – ich denke mir, zu einer stillen Lichtung im Wald. Sie trägt weder Schirm noch Hut, sie leugnet das schlechte Wetter und ist die Gottheit der Hoteliers. Ihr auf den Fersen folgt ein Mann, ein Kurgast, der hat es aber ebenso eilig unter seinem Schirm.

Auf einmal hört es auf zu regnen. Der Mann vergißt seinen Schirm zu schließen, er bleibt stehn und lugt über den Zaun in den Garten.

Ich verstecke mich. Vorsichtig, ohne die Zweige des Spierstrauches zu bewegen, aus denen der Regen lauter Perlenruten gemacht hat, hole ich das Fernglas aus der Tasche und betrachte ihn, so nah, wie ich ihm niemals im Leben käme. Da habe ich es also mit einem Oberbürgermeister zu tun, denke ich mir, oder einem Ingenieur, einem hervorragenden Kaufmann, einem Bankier, vielleicht gar einem Minister, der die aufsässigen Prätorianer seiner Fraktion im Zaum hält, jedenfalls mit einem Kerl, dem das gischtende Leben sonst bis an die Schultern spritzt ... Jetzt aber wölbt sich sein Mund, mit einem Ausdruck von Nachsicht, als ließe er sich von einem wilden Mohn küssen. Die Stirn ist glatt von leichten Gedanken, wie sie Kindern und Liebenden zufliegen. Da! Über ihm singt ein Rotkehlchen. Schnell schließt er den Schirm, hebt er ein wenig die Schulter, die Seele eines Vogels läßt sich darauf nieder ...

Ich ahne, wie er ist, wenn das gischtende Leben ihm bis an die Schultern spritzt: hart, kalt, ein jagendes Tier, das von seinesgleichen gestellt wird, den furchteinflößenden Kopf vorgestreckt, während das Genick rot anläuft, voller List und Verachtung. Und er verrät mir auch, wie er liebt ... Gern würde ich den Grether Fritz mit einem Blumenstrauß zu ihm schicken, aber ich fürchte, er könnte sich bei mir bedanken wollen. Wie schön sind die Menschen, inwendig voller Unschuld und köstlicher Dinge, solange man sie anschauen darf, ohne daß sie an ihre Rolle im Leben denken – und schweigen ...

 

Einmal beobachtete ich, wie mein Hund versuchte, ein tanzendes Libellenpaar in der Luft zu schnappen. Es wirkte nicht anders, als ahmte er auf plumpe Weise ihren Tanz nach ... So verhält sich die Sprache zu unserm inwendigen Ich.

Ich kenne Menschen, die schöpfen keine Trauer bis auf den Grund aus, entwinden sich der Schwermut wie einer Falle, weil sie liebliche Brüder der Tiere sind. Zu ihnen gehörte Maria Capponi. Sie war ein Schwarzkehlchen. Sie sprach so schnell und melodisch, wie sie dachte. Andre, in ihrer Verschwiegenheit, gleichen dem Wald. Man bemerkt nur die mächtigen Zeichen der Erregung, vom Frühling, der ihn grün färbt und erwärmt, daß die Wipfel bläulich rauchen, bis zum Winter, wo jeder Baum Wache hält neben einem Grab, und dem Vorfrühling, dessen geringster Sonnenstrahl an den Grabsteinen rückt, als sei der Auferstehungstag gekommen bis zum Jubel, zum Jubel des Föhnsturms über der letzten Schneeschmelze, wenn unversehens ein Haufen Bäche den Berg hinabrennt wie Schulkinder beim Ausflug ... Ada gleicht einem Wald.

Die Welt ist viel verschwiegener, als sie scheint. Der Lärm täuscht, am meisten jene, die ihn verursachen. Viele merken es erst, wenn sie verstummen müssen – kurz vor ihrem Tod ...

Und ich? frage ich mich in Gedanken an diese beiden Frauen, die erste und die letzte Freundin meines Lebens ... Ja, manchmal lausche ich mir selbst. Dann wird mir bewußt, daß meine Sprache mich nur umschwebt, wie das Summen des Hochsommers über den Wiesen steht, und wenn ich mich ausdrücklich verständlich machen will, klingt meine Rede mir beiläufig und nichtssagend. In den Augenblicken größter Klarheit sage ich nicht viel mehr von mir und dem Leben aus als der Vogel vom Baum, auf dessen Wipfel er seine kurzen Melodien übt ...

Was das Alter betrifft, halte ich in der Mitte zwischen dem Morgen, den die Panflöte versilbert, und dem Abend, der die Kreuze an den Feldwegen ins Übernatürliche wachsen läßt mit ihren weitgeöffneten Armen. Ein gutes Alter, scheint mir.

Jaquot schreibt nicht oft, auch nicht regelmäßig, doch er schreibt. Sein Ideal besteht jetzt darin, gut Polo zu spielen, ausdauernd zu rudern und Flugblätter der Labour Party zu verteilen. (In seinem Alter hielten wir es mit dem Bonaparte des Staatsstreichs.) Er gleicht dem alten Breuschheim am Eingang des Schlosses, und Gabriele und er, in ihren Lieblingsgedanken, falten voreinander die Hände. Das ist der Morgen, den die Panflöte versilbert. Sie kommen hinter mir den Weg herauf. Vor mir geht keiner mehr.

Jetzt erst lerne ich leben.

 

Als der Kurgast, ein Kerl, dem sonst der Gischt des Lebens bis an die Schultern spritzt, unbehelligt von den Elementen weitergegangen war, sprang die Gartentür auf, und der Doktor Savarin flitzte über den Hof.

Er kam, sagte er, um sich meiner Meinung über das Elsaß zu vergewissern.

Dort ging gerade der Verschwörungsprozeß gegen die Autonomisten seinen Gang, einen Schritt vor, zwei zurück. Silvio Wolf war als Zeuge aufgetreten, mit der ausdrücklichen Absicht, so behauptete er, die Heimat zu verteidigen. Er verlangte kurz und bestimmt Verbesserungen in der Verwaltung und Gesetzgebung. Dann, mit weitem Schwunge ausholend, pries er das Elsaß als die Bastion der Vorsehung gegen den Osten, »jenen Osten, der in seiner Fruchtbarkeit, seinem mystischen Dunkel, seiner Gefährlichkeit einem Urwald gleicht«.

Ferner behauptete er unter Eid, erst die perfiden Wahlmanöver der Heimatrechtler hätten ihm die Augen geöffnet – früh genug, um seinen bisherigen Freunden noch vor der Entscheidung den Rücken zu kehren, indem er angeekelt in ein fernes Land gereist sei und es den Wählern überlassen habe, seine Handlungsweise zu billigen oder nicht. (Das ist kein Meineid, sondern beinah die Wahrheit.) Wenn man ihn frage, was das Elsaß sein solle, hatte er seine Rede geschlossen, so würde er auf den Hartmannsweilerkopf deuten und ausrufen: Eine befestigte Kirche! ... Niemand kann einem Helden so zum Verwechseln ähnlich sehn wie Silvio Wolf.

»Tolles Zeug steht in der Zeitung«, meinte der Doktor.

»Also, bitte, Ihr letztes Wort!«

Derart streng angefragt, mußte ich antworten. »Entweder Europa wird sein. Und dann, Doktor, spielt auch das kleine Trauer- und Satyrspiel zwischen Rhein und Vogesen nicht mehr. Oder Europa wird nicht sein. Dann ist das Elsaß so nebensächlich wie eine Zündholzschachtel in einem brennenden Haus ... Aber dazu kommt es nicht!«

Er schien von meiner Erklärung nur halb befriedigt. Beim Weggehen fragte er:

»Und Sie glauben an Europa? An einen Staatenbund – ja eine Gemeinschaft Europa?«

»Doktor, wie an das Leben! Ich weiß nur nicht, wer sie verwirklichen wird, Paris und Berlin oder Moskau. Wollen Paris und Berlin es sein, so müssen sie sich freilich beeilen ... Doktor, uns fehlt ja nur eins: Mut!«

Grether Fritz geleitete ihn zum Gartentor, der Hund umkreiste sie unter Freudenlauten. Savarin, ganz gegen seine Gewohnheit, beachtete ihn nicht, er stand, den Türgriff in der Hand, und starrte zu den Vogesen hinüber. Dann zuckte er mit dem Hals wie ein Käuzchen und sauste davon ... Der Prozeß endete mit der Verurteilung der Angeklagten durch die sorgfältig gesiebten Geschworenen. Die Volksvertreter unter ihnen wurden ihres Mandats beraubt.

 

Die kleine Annette steht im Garten und schaut durch die Finger in die Sonne. Das Geschenk Maxime-Simons, das Glas, das die Sonne verdunkelt, so daß man sie anschauen kann, ohne geblendet zu werden – hat sie längst weggeworfen. Sie guckt lieber durch die geschlossenen Finger. Wenn sie auch auf die Weise die Sonne nicht erblicken kann, so sieht sie doch den echten roten Blutschein in der Haut, und das ist viel schöner.

 

Ada sagte, ich solle sie rufen, wenn der Berg tief würde unter dem grünlodernden Laub der Buchen ...

Ich habe ihr geschrieben und sie gebeten zu kommen.

 

 

Ende des dritten Romans Ende der Trilogie ›Das Erbe am Rhein‹

 

Der erste Roman der Trilogie ›Das Erbe am Rhein‹ trägt den Titel ›Maria Capponi‹, der zweite den Titel ›Blick auf die Vogesen‹


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