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Dritter Teil

Die Stadt des Friedens

Jacquot hatte sich besondere Ferien ausgedacht. Erwünschte, vor seiner »glückhaften Deponierung nach England« der Versammlung des Völkerbundes in Genf beizuwohnen. Wahrscheinlich verfiel er darauf, weil sein Onkel, Lord Berrick, der englischen Delegation angehörte. Berrick wurde angefragt. Er telegraphierte: »Her mit den Kindern!«

Anfang September fuhren wir los und nahmen Gabriele mit. Ich hatte den Auftrag sie irgendwo bei Genf in einem »Heim für vornehme Töchter« abzuliefern, das schon ihre jüngere Schwester beherbergte. Silvio, den »dringende Geschäfte« zurückhielten, sollte nachkommen, ob mit oder ohne Ada, blieb unentschieden.

»Natürlich ohne sie«, meinte Gabriele, als wir im Zug saßen. »Glück habe ich mit meinen Papas! Sie verbieten meiner Mutter, mich gern zu haben, meine Papas. Sie sperren uns sorgsam voreinander ab, meine Papas.«

»Halte dich an den meinen«, unterbrach Jacquot, denn sie war sichtlich im Begriff, in eine Litanei von den Papas zu verfallen. Sie nickte gehorsam und küßte mir den einzigen Finger, den sie von meiner Hand erwischen konnte.

Die Grenze kam. Der Anblick der Schweizer Eisenbahnwagen versetzte mich um Jahre zurück ... Es war mitten im Krieg, man hatte begonnen, Kriegsgefangene im Austausch nach der Schweiz zu entlassen, und ich befand mich eine halbe Stunde hinter der Grenze auf der Landstraße, als die ersten Züge mit Franzosen vorbeibrausten. »Vive la Suisse!« schrien die Soldaten. »Vive la Suisse« – mit solcher Besessenheit, daß ein Schweizer Bauer, der die Feldarbeit unterbrochen hatte, um ihr Winken zu erwidern, die Befürchtung aussprach, den Leuten müsse gleich der Kehlkopf aus dem Halse fliegen! Es wurde ihm ordentlich unheimlich zumut bei diesem Überschwang, er winkte nicht mehr, stand nur noch da, ganz bleich und schüttelte den Kopf. Wie Teufel, die der Hölle entschlüpft sind und nun ihre unterweltliche Wildheit abschütteln, ließen die Soldaten sich von der Freude hinreißen, fuchtelten, quetschten sich, schlugen einander lachend auf die Köpfe, schüttelten einander an den Haaren und winkten, winkten, winkten, der ganze Zug bestand aus entfesselten Armen, die sich reckten, und roten Köpfen, die jeden Menschen auf der Straße, jede Station, jedes Dorf anbrüllten.

In Wirklichkeit brüllten sie die wiedergefundene Erde an. Denn auch nachts hörte man sie, geisterhaft, im hallenden Rollen der Wagen in der Ebene, hörte sie bis auf die Berge, bis unter die Sterne toben. Obwohl niemand da war, ihren Gruß zu erwidern, hingen sie aus den Fenstern, warfen sich weiterfahrend (und gern wären sie ewig so weitergefahren) mit ihren Bauerngesichtern ins duftende Heu, lehnten sich wohlig zurück, wenn ein Wald, süßer Kinderschreck, sie umtanzte, hoben die Arme zu den Sternen und spreizten die Finger, daß die Freiheit, die vom Himmel fließt, an ihren Händen und Armen entlangströme auf ihren Leib. Sie atmeten die runden, mütterlichen Formen der Landschaft, sie fühlten den Schein des Mondes auf dem Grund ihrer Augen. Kühl war der Mond und golden. Und sie lebten. Es war Sommer. Sie liebten. Sie liebten die Schweiz.

»Vive la Suisse!«

Ich erzählte Jacquot und Gabriele von jenen Paradiestagen der Schweiz, und der Nachmittag, durch den wir jetzt fuhren, war so klar mit seinem Blau und Gold, so still hielten die Seen unter den Girlanden der Weinberge, daß wir bis zum Ende der Reise in kindlicher Andacht eingesponnen blieben. Draußen auf den Wiesen und Wäldern des Spätsommers glänzte das Wort Friede mit dem Feuer eines Edelsteins – eines Steins, der vorzüglich in diesem Lande gefunden wird, wie früher die Smaragde in Indien. Es dämmerte, und durch die Dämmerung tröpfelte die Mondnacht durch ein Sieb ... Wir kamen so schnell nach Genf, daß wir enttäuscht waren, schon am Ziel zu sein.

Lord Berrick und Lady Pia empfingen uns und brachten uns in ihr Hotel. Als erstes berichteten unsre Freunde, daß auch der Führer der französischen Delegation, der Minister Maxime-Simon, mit uns unter demselben Dach wohnen werde, man erwarte heute nacht seine Ankunft. Auch vom englischen Premierminister war die Rede. Er weilte in einem nahen Badeort zur Kur, ohne sich um den Kongreß zu kümmern. »Immerhin, du hast ihn zur Hand«, meinte Pia. Es klang anzüglich, und ihr Lächeln war voller Geheimnis.

So fühlte ich mich gleich bei der Ankunft von jenem Schleier der Maja gestreift, den ich bald als die eigentliche Fahne des Völkerbunds erkennen sollte. –

Sie flatterte magisch und wechselte die Farbe. Übrigens hörte ich kaum, was gesprochen wurde, derart bestrickte mich die Ähnlichkeit der beiden Schwestern Pia und Doris ...

Liebliche Pia! ... Doch nach kurzer Zeit schon vermißte ich die früher so ausgesprochene Gleichmäßigkeit ihres Wesens. Zehn Jahre »society« und Repräsentation hatten der »blauen Blume« (wie die Pariser sie in Erinnerung an die deutsche Romantik einst nannten) viel von ihrer natürlichen Farbe geraubt und ihr ein fieberisches Aussehn verliehn ... Berricks Lächeln kam uns entgegen, als habe es die ganze Zeit auf uns gewartet. Der Blick des einen Auges, dessen Pupille verhärtet war, glitt schief auf mich nieder mit einem Ausdruck von Klugheit und Güte, und dieser Ausdruck, gleichsam ein »zweites Gesicht«, schwankte wie etwas Blühendes, Windbewegtes in den scharf geschnittenen Zügen einer Maske, die in gewissen Augenblicken schon seine Totenmaske zu sein schien ...

Im Hotel fanden wir unsre Zimmer voll Blumen, und Gabriele entdeckte auf ihrem Nachttisch eine Schale aus rauchigem Glas und in der Schale Pralinen. Die Pralinen, groß und buntgekleidet, waren die ersten, die Gabriele geschenkt bekam. Jacquot, der längst alle Schokolade verabscheute, steckte dafür seine erste Zigarette an und trat mit ernstem Gesicht auf den Balkon. Eine altertümliche silberne Schnupfdose auf seinem Tisch hatte sich bei näherem Zusehn als Zigarettenbehälter erwiesen.

Der Junge rauchte und schaute sich um. Dort floß mit dunkeln und hellen Strähnen ein Wasser, vermutlich die Rhône, außerdem drehte sich darin der Widerschein der Laternen, wie lange Dochte von Nachtlichtern, die auf dem Grund des Wassers festgemacht waren. Bogenlampen schwebten an Schnüren über die Straße, die Bäume, die sie beleuchteten, waren entzückte Geschöpfe, die der Herr aus der Schar der andern vor sein Angesicht gerufen, und am Himmel weidete der Mond seine Lämmerherde. In einer breiten, wollzerzausten Reihe, die Köpfe im Blau vergraben, trieben die Tiere dahin. Jenseits der Stadt lag ein Berg schwarz auf Händen und Knien. Die Straße vor dem Hotel war menschenleer ... Drei Schatten radelten lautlos über den Asphalt, und der jüngste Breuschheim hatte seine erste Zigarette zu Ende geraucht.

»Die Stadt des Friedens«, dachte Jacquot, er fühlte, wie der Gedanke aufstieg, sich dehnte, sah ihn vor sich in der Luft, sah ihn wachsen und im Unendlichen vergehn, es erinnerte ihn an den Segen, den ein Priester der Menge erteilt. Ein Gefühl, feierlich und weltfroh zugleich ...

Prächtig in ihrem blausilbernen Abendkleid, Schultern, Arme und einen schmalen Teil des Rückens entblößt, trat Pia ins Zimmer. Ihr folgte eine jüngere, bis an die Sohlen rosafarbene Unbekannte, das war Gabriele. Auf dem Gang warteten im schwarzen Anzug Berrick und ich, alle fünf lachten wir hellauf, und wäre (nicht nur an diesem Abend, sondern während unseres ganzen Aufenthaltes) unter den Gästen abgestimmt worden, wer die heiterste Gesellschaft im Hotel sei, wir hätten bestimmt gesiegt. Dafür sorgten die Kinder mit ihrem Beschluß, sich während der Feiertage, die ja auch ihr Abschiedsfest waren, »festlich zu halten« und dann »aufrecht auseinanderzugehn«.

Wir saßen beim Nachtisch, die Musik machte gerade eine Pause, als eine Art Stille eintrat. Es kam so plötzlich, daß einige Tische, die nicht gleich davon ergriffen wurden, mit ihrem Streifen und Klingeln von Messer und Gabel gegen Porzellan, ihrem Gläserklirren und einigen jähen, halbgeschrienen Gesprächslauten aus der Menge aufzutauchen und an unsichtbaren Seilen zur Decke zu schweben schienen. Dann rissen die Seile vom Ruck eines einzigen Schrecks, und man fiel lautlos unter die verstummte Menge zurück.

»Le voilà«, hörte ich ausrufen, und neben uns erhob sich ein Herr und eilte durch ein Spalier von Köpfen und Schultern, die alle in dieselbe Richtung gedreht waren, auf die weit geöffnete Saaltür zu.

Dort hielt ein Mann in dunklem Anzug, eher klein als groß, vom Aussehn eines abgerackerten Pianisten, das schwere, langhaarige Haupt ein wenig gebeugt, so daß der Blick schräg in den Saal flog, ein geschleuderter, stark glitzernder Lichttropfen, von der Bläue eines geschliffenen Steines. Der gleiche Name kräuselte alle Lippen im Saal, ohne daß man ihn hörte ... Dick im Gesicht saß dem Mann ein Schnurrbart, der große Bruder zweier ausschweifender Brauen, der sich zur Ruhe gesetzt hatte ... Der Mann hob die Arme in den Ellenbogen und entschloß sich, fast unwillig, auszuschreiten ... So schien es wenigstens, in Wirklichkeit hatte er kaum zwei Sekunden auf der Schwelle gezögert und sicherlich keinerlei Unwillen empfunden. Zwei Herren folgten ihm, mit dem Schwung und Gewicht von Trabanten, selbsttätig schloß sich hinter ihnen die Tür.

»L'astre du congrès, Monsieur Maxime-Simon qui fait son entrée«, verkündete leise Lord Berrick.

Leider war aber da von dem Gestirn wenig mehr zu sehn, Jacquot entdeckte noch eine Strähne angegrauten Haares, Gabriele nur ein Stück Schnurrbart.

Indessen ging der Mann immer tiefer im Menschengewühl unter, das ihn umströmte, von überall rannten sie herbei und drängten sich mit schon halb ausgestreckter Hand durch ihre Vorläufer, langsam rückte und wuchs die Gruppe in den Saal, und nachdem sie ihre größte Dichtigkeit erreicht hatte, nahm sie ebenso schnell wieder ab ... Und da brach die Musik los, die Marseillaise, und ritt, Blechbläser und große Trommel an der Spitze, den Saal in den Staub, und im Staub wirbelten die lichten Federchen und Sonnenkörner des Ruhms.

Zuerst standen die Engländer auf, alle zusammen, wie sie im Saal verstreut waren – offenbar hatte jemand auf den Knopf einer Leitung gedrückt, die sie untereinander verband. Es folgten, ein wenig überstürzt, die Angehörigen von zwanzig Nationen, die nicht über die gleiche Einrichtung verfügten.

Nach der Beendigung der Nationalhymne war alles wie zuvor. Nur, daß jetzt der Minister mit seinen beiden Herren an einer langen Tafel saß und uns den Rücken zukehrte. An allen Tischen begannen die ersten Kritiken zu erscheinen. Auch an dem unsern.

Das Ausdrucksvollste an ihm, fand Gabriele, sei der Schnurrbart.

Nein, der Buckel, widersprach Jacquot, der den Rücken des großen Mannes vor Augen hatte ... Halt, mein Junge! Ein richtiger Buckel war es nicht – Pia lehnte den Ausdruck ab –, nur ein stark gewölbter Rücken, und übrigens, Buckel oder nicht, gehörte gerade diese Wölbung zu den Reizen Maxime-Simons, bildete sie einen wesentlichen Bestandteil seiner Anmut, sogar in körperlicher Hinsicht, wenn man es sich auch nicht recht erklären konnte. Buckel oder nicht, das Ding bestimmte Gang und Haltung des Ministers, seine Art zu blicken, zu sprechen alles.

Berrick versuchte eine Erklärung des Phänomens:

»Schönheit und Würde, meine Liebe, sind Geschwister. Auf seinem Rücken trägt Maxime-Simon das Kindlein des Weltfriedens. Das ist der wichtigste, repräsentative Teil seines Körpers, darin gipfelt die Gestalt, genau wie beim heiligen Christopherus, der sicher von Geburt auch nicht bucklig war, sondern den Buckel erst durch Berufung und besondere Mission erhielt.«

»Du hörst, Jacquot«, sagte Pia mit ernster Miene, »der Buckel des Herrn Maxime-Simon ist eine Standesgnade.«

Von da an nannten die jungen Leute den Führer der französischen Delegation: Christopherus.

Wir blieben etwas länger bei Tisch, um Maxime-Simon Zeit zu lassen, seinen ersten Hunger zu stillen, worauf Berrick sich erhob und den Franzosen ebenfalls bewillkommnete. Maxime-Simon stand auf, sprach einige Worte, dann blickte er gemeinsam mit Berrick zu uns herüber, ergriff den widerstrebenden Lord, der ihn wohl bat, erst die Mahlzeit zu beenden, energisch am Arm und näherte sich uns mit trippelnden Schritten. Er begrüßte Pia, seine Stimme klang tief, etwas rauh, manchmal gequetscht, und verbreitete eine prickelnde Wärme. Pia wurde gleichsam porös, lächelnd hielt sie still und ließ sich von den Artigkeiten des Franzosen durchtränken.

Auch über uns andre legte sich die Stimme, uns alle umgab sie, höflich und bestimmt. Mit einem leisen, rauhen Lied war sie um uns, und da sie sich unserm eigenen Tonfall anpaßte, ohne ihre so bestimmte Linie zu ändern, blieb sie obenauf und führte geschmeidig das kleine Konzert der Unterhaltung. Dann erst kam man auf die Seemannsaugen zurück, die man weither hatte leuchten sehn, entdeckte die breit herabhängenden Backen und ihre rosige Frische, wie man sie oft an alten Leuten bemerkt. Ansatz und Fall der Haare wirkten frauenhaft, ein Eindruck, dem das Zeugnis gallischer Urwüchsigkeit, der Schnauzbart, kräftig widersprach.

Das hieß ein Schnauzbart! Ein schwerer, struppiger, abwärtsgebogener, ein richtiger Schnauzbart, wie ihn seit Vercingetorix zahllose gallische Räuberhauptleute und Piraten geführt hatten, auch noch die Bastillenstürmer und Krieger der Revolution und des Kaiserreichs, bis er mit der alten Garde beinah ausgestorben war. Hier, bei Maxime-Simon, konnte man ihn noch einmal in all seiner kraftvollen Natürlichkeit beobachten.

Was aber stellte der Schnauzbart mit dem Mund an? War der Schnauzbart für den Mund da oder der Mund für den Schnauzbart? Hatte sich das bei den Piraten und Bastillenstürmern ebenso verhalten? Bald verbarg der Schnauzbart den Mund, der sich beim Sprechen heftig krümmte, bald legte er eine Höhle bloß, in deren Dunkel eine Drachensaat aufging. Zweifellos sprach aus dem Mund, der so viel Wohllaut entließ, nebenbei auch die Tierheit einer sonst musischen Gestalt. Es war gut, ihn nicht zu deutlich zu sehn.

Während ich in Ruhe diese Beobachtungen anstellte, hatte Jacquot allerhand Prüfungen zu bestehn. In seiner Begeisterung für den »Mann des Friedens« hatte er diesem voreilig die Hand gereicht, statt abzuwarten, daß sie ihm gereicht würde. Errötend fuhr er mit der Hand hinter den Rücken. Aber Maxime-Simon lockte sie mit freundlichen Worten aus ihrem Versteck und schüttelte sie zwischen seinen beiden Händen. Eine zweite Blutwelle ergoß sich über das Gesicht des jungen Mannes, er wagte nicht, die Augen von den kurzen, graubehaarten Pranken zu heben, die ihn freundschaftlich gefangen hielten. Es waren kräftige, feine und trotz der Behaarung makellos schöne Hände. Jacquot tat sich Gewalt an und warf den Kopf zurück. Mit dankbarem und selbstbewußtem Lächeln blickte er voll in das Licht, in ein helles und doch dunkles, blaues Menschenlicht, und sagte: »Merci, Monsieur le ministre.«

So verlief unsre erste Begegnung mit dem Fixstern des Kongresses.

»Er mag mich«, sagte Pia, »obwohl er natürlich weiß, daß ich Deutsche bin.«

Beim Verlassen des Saales nahm sie Jacquots Arm und erklärte ihm, einen früheren Ministerpräsidenten rede man immer mit »Herr Präsident« an, auch wenn er nur noch Minister, auch wenn er gar nichts mehr sei. Der Junge dankte für die Belehrung, die erste dieser Art, der noch zahllose andre folgen sollten.

In der Halle stritten sich Jacquot und Gabriele, ob Christopherus hellblaue oder dunkelblaue Augen habe, und mit Hilfe Pias einigten sie sich, daß man solche Augen bei einem blonden Menschen als dunkel, bei einem so dunkeln Menschen aber unbedingt als hell bezeichnen müsse. Darauf beschäftigten wir uns mit den Händen des Ministers. Ich verglich sie mit den Händen eines Pianisten, wozu Berrick leichthin anmerkte: in aller Welt gäbe es keine »Klavierhände« mit einem so gefährlichen Ausdruck. Pia fand dies in der Ordnung, sogar für einen Pianisten. »Hände, die so seltsam zugreifen«, fragte der Lord ungläubig, »die festhalten, als gälte es das Leben? Angefüllt bis in die Widerhaken der grauen Haare mit einer Gewalttätigkeit, die ... die ...«

»Schnurrt«, rief Pia in plötzlicher Erleuchtung. »So schnurrt daheim unsere Katze, wenn sie mir an den Beinen entlangstreicht.«

Über eine Gewalttätigkeit, die schnurrt, hatte Gabriele im Augenblick keine Meinung, dagegen äußerte sie mit Bestimmtheit, die Knurr- und Quetschtöne seien bei Maxime-Simon nichts andres als eine Koketterie der Stimme. »Ungefähr so«, erklärte sie, »wie wenn Lady Pia ihre Brauen rasiert, um ein strengeres Gesicht zu bekommen.« Sie stieß Jacquot an (was bei Pia ein Stirnrunzeln hervorrief) und verkündete: »Friede durch Christophorus!« Erschrocken hielt sie die Hand vor den Mund: »Herrje, da ist er und sucht jemand! Vielleicht unsern Lord?«

Christophorus, eine Zigarette im Mundwinkel, stand auf der Treppe.

Pia wußte Bescheid:

»Nein, seine Herren sind ihm abhanden gekommen, und er möchte pokern. Natürlich, wenn er sie mal braucht ... Da sind sie!«

Ha, wie die Trabanten in Schwung kamen! Seite an Seite rollten sie die Treppe hinauf, wo auf halber Höhe ihr Gestirn hielt. Wie sie sich entschuldigten und, von der wiedergefundenen Schwerkraft in Abstand gehalten und emporgehoben, hinter dem großartigen Buckel die Treppe hinauf schwebten! Tapfere Trabanten.

Pia klärte uns auf, daß der Minister jetzt noch eine Stunde Poker spiele (»eine Erholung für Diplomaten«, antwortete sie Jacquot, der fragte, was das sei, – »eine Übung für Roßtäuscher«, verbesserte Berrick), und um zehn herum liege der Minister im Bett. Sie schloß:

»So erhält er sich jung und frisch. Ich habe aber die letzte Nacht bis drei Uhr getanzt. Gehn wir schlafen!«

Die Kinder bekamen die Erlaubnis, noch einen Spaziergang zum See zu machen, »der doch hier irgendwo sein müsse«, und wir wünschten uns eine gute Nacht.

Draußen, Jacquot erkannte es gleich, hatte sich alles verändert. Ein Auto stieß hinter dem andern her, dazwischen gaukelten, klingelnd und rufend, ganze Ketten von Radfahrern, denen es nicht einfiel, ihr Tempo zu mäßigen, ganz gleich, was die Chauffeure von ihnen dachten. Die einzigen, die einen versöhnlichen Ton in das Getriebe brachten, waren die Spaziergänger auf dem Fußsteig. Die konnten nicht langsam genug vorwärts kommen, alle paar Schritte blieben sie stehn. Und auch am Himmel war ein überraschender Umschwung eingetreten, seitdem Jacquot ihn vom Balkon aus betrachtet hatte. Schwarze Wolken bevölkerten ihn, die Wölfe waren gekommen, die Wölfe, und sie fraßen die Lämmerherde auf. Dann machten sie sich an den Mond. Ein ganzes Rudel knabberte an ihm. Es dauerte nicht lange, und kein Fleckchen war mehr von ihm übrig. Auf einmal wurde es kalt.

»Brr!« schüttelte sich Gabriele.

Sie gingen schneller, kamen an den Hafen, über dessen dunkel bewegtes Wasser Motorboote glitten, gleich darauf war der Platz um sie menschenleer.

Jacquot sagte:

»Du, Gabriele, ist das nicht der See? Das schwarze Loch da muß der See sein ...«

Sie standen Arm an Arm, vom kalten Wind, der hier draußen wehte, aneinandergedrückt. Sie standen, als stürzte dicht vor ihren Füßen die Nacht ab in den noch dunkleren See.

Auf einmal erhob sich in Gabriele ein unbändiges Verlangen, Jacquot zu Boden zu werfen und mit ihm in das dunkle Loch hinabzurollen. Deutlich sah sie es vor sich, wie sie umschlungen in die Finsternis stürzten, indes ihre Hände in großer Verwirrung über seinen Körper tasteten, das einzig Lebendige im kalten Dunkel. Bevor sie aber beim Wasser anlangten, das hier sein mußte, spreizte sie die Beine, um zu bremsen, still lag sie über ihm, und dann küßten sie sich auf den Rand der ängstlich verzogenen Lippen ... In diesem Augenblick rief Jacquot neben ihr aufmunternd:

»Hallo! Gabriele?«

Er hatte gefühlt, wie sie anfing zu zittern.

»Ja«, antwortete sie aufgeschreckt.

Nach langen Herzschlägen ergriff er ihre Hand, knetete sie mit allen seinen Fingern, drehte sie um, hob die ausgebreitete Fläche und beugte den Mund, und seine Lippen gingen weidend darüber.

Gabriele streckte sich:

»Ich habe Angst gehabt«, stieß sie hervor ...

Eine Weile standen sie wieder voreinander und regten sich nicht. Dann wurde Jacquots Hand vorsichtig, als wäre sie zerbrechlich, an seinen Körper zurückgelegt, und ebenso vorsichtig zog sich das Knie Gabrieles zurück, das bei der jähen Bewegung, als er ihre Hand ergriffen hatte, an sein Bein geraten war.

Als sie kehrtmachten, flatterte die Hand die er geküßt hatte, triumphierend in die Höhe, und sie lachte auf, mit einem winzigen, schluchzenden Laut, der nicht aus der Kehle herausfand. Nach weiteren fünf Schritten flutete es mächtig in ihr, bald darauf strömte es ihr auch von den Lippen. Sie schwätzte selig daher, und auch er sprach lauter Worte, die nichts besagten, aber deren geringstes einen Keim enthielt, schwellend von künftiger Ernte.

»Ich werde herrlich schlafen«, sagte Gabriele vor ihrem Zimmer, und im leidenschaftlichen Anfordern des Schlafens warf sie den Kopf mit halbgeschlossenen Augen weit in den Nacken. Ihr Hals war lang und sonnverbrannt und von zwei starken Sehnen gestrafft.

»Ich auch«, versicherte Jacquot.

Auf den Fußspitzen betrat jeder von ihnen sein Zimmer.

Kaum in ihren Betten, warfen sie sich mit einem tiefen Seufzer dem Schlaf in die Arme. Er fuhr ihnen ein einziges Mal übers Gesicht, da waren sie seinem bunten, schnell dunkelnden Strudel verfallen, von dem sie mit wunderbarer Bestimmtheit wußten, er werde sie nach wenigen Stunden dem Tage wiedergeben und seiner unermeßlichen Weite.

 

Das Zimmermädchen stellt das Tablett mit dem Frühstück auf den Nachttisch, gurrt ein »guten Morgen«, schleicht zum Fenster. In einer Aufwärtsbewegung von mächtiger Gelassenheit (wie bei Aufnahmen mit der Zeitlupe Pferde über eine Hürde springen) schwebt ihr Schatten am Vorhang hinauf, sie sucht die Kordel. Während die Abwärtsbewegung des Körpers folgt, verschwindet unter Rascheln und Klirren die nächtliche Erscheinung des Vorhangs. Dämmerung tritt ein. Demütig hat sie sich an ihr Werk gemacht, nun reißt ein gewalttätiger Griff das Fenster auf, mit plötzlich entflammter Mähne bäumt sie sich in das hereinstürzende Licht, die weiße Haube gleißt wie ein Helm ... Als Nonne ist sie ans Fenster getreten, als Walküre kehrt sie zurück. Und trägt das Drama ihrer Verwandlung ins nächste Zimmer.

Ich bin wach und weiß nun, was ich brauche, um gewappnet aus der Nacht zu springen, statt wie sonst mühsam aus rinnendem Sand an den Tag zu krauchen. Die Darstellungskraft eines Schweizer Zimmermädchens brauche ich, weiter nichts! Wenn ich in Breuschheim ein Schweizer Zimmermädchen einstelle, gewinnt sie mir täglich eine Stunde Leben, so wie die Holländer dem Zuidersee täglich ein Stück Erde abgewinnen. Ich liege und rechne, wieviel Quadratmeter Leben im Monat, im Jahr dabei herauskämen. Und gebe die Rechnerei auf, um darüber nachzudenken, wie mystisch ein paar tägliche Handgriffe wirken, deren Sinn man nicht sofort begreift, und daß Blinde und Taube in jenem Walde leben müssen, worin die alten Götter wohnen.

Eine kurze Zeit vergeht, da höre ich ein Klopfen. Irgendwo klopft es an die Wand.

»Gabriele, kann ich kommen?« ruft Jacquot ...

Demnach haben die jungen Leute verabredet, gemeinsam zu frühstücken, und zwar bei der Dame. Plumps! ist der Herr aus dem Bett. Er wäscht sich ab, daß ich es spritzen und klatschen höre, im nächsten Augenblick quietscht seine Tür. Der Schlingel zieht sich nicht erst an, er geht in Pyjama und Schlafrock zum Frühstück ... Übrigens: mehr hat er auch sonst nicht an ... Aber was hätte Balthasar Breuschheim gesagt, wenn ich so in das Schlafzimmer Maria Capponis gewandert wäre? Nichts hätte er gesagt, denn es wäre versteckterweise geschehn, meinem Vater wäre nicht das geringste Räuchlein in die Augen gestiegen, wir wußten unser Feuerchen zu hüten ... Die Jungen haben gewonnen, stelle ich fest, die Eltern auch. Es ist weniger Lüsternheit in der Welt ... Und weil die Lüsternheit am Anfang aller Sünde steht (Evas Baum schwingt seine Äste im Wind, und die Äste malen tolle Figuren auf die Erde), bedauern raffinierte Feinschmecker die Entgiftung der Freude, schelten das Leben ein würzloses Gericht und Liebe ohne Sündenschwüle ein mechanisches Klavier.

Plötzlich zuckte ich zusammen, als fiele mir etwas auf den Kopf. Im Badezimmer des Ehepaares Berrick zu meiner Rechten, dicht neben meinem Bett, knallt, dröhnt und rasselt die Dusche. Da, nun wird sie abgestellt, Berrick schreit: »Hallo?‹ ... Yes«, er schreit es wiederholt, und dazwischen ringelt sich und schlängelt eine Frauenstimme und rückt auf ihren Goldschuppen näher. Sie läßt sich von den »Hallo, yes«, die ihr den Weg verbauen, nicht verführen, schneller oder langsamer vorzudringen, mit Gelassenheit rückt sie näher. Dabei ist das Rufen und Keuchen des Mannes furchterregend.

»Hallo?«

Über diesem letzten »Hallo« hebt Pias Stimme nah und deutlich das Schellenköpfchen. Ich verstehe die Worte »order of the day«. Sie fragt, was heute los sei. Liebliche Pia! In der Vorstellung, die ich seit einer Minute von ihr habe, dünkt sie mich zart und schutzbedürftig. »Yes«, schreit noch einmal der Mann, der Kannibale, der Kerl aus dem Busch, und wieder platzt die Dusche und dröhnt, der tiefe Baß in den Zuleitungsröhren läßt die Wände erzittern ... Alter Berrick, du stehst noch immer deinen Mann, ganz wie dein altes England! ... Ein großes Volk, denke ich mir weiter, erkennt man daran, daß es zwar die Masse so ziemlich im Elend beläßt, die Satten aber weit über ihr Verdienst erhöht, und diese sind es, die seinen mächtigen Namen auf der Stirn tragen wie die Inder das Zeichen ihrer Kaste. Man könnte versucht sein, von einem Denk-mal, einem Zeichen des Geistes zu sprechen, weil es seinen Sitz auf der Stirn hat und, obwohl nicht im eigentlichen Sinne sichtbar, dennoch selbst vom Auge eines Wilden erkannt wird. Uns in Breuschheim fehlt natürlich das Merkmal völkischer Größe. Wir sind von einer rührenden Harmlosigkeit ...

Wir in Breuschheim sind jetzt schon drei Stunden auf dem Feld. Die kleine Annette frühstückt, fertig angezogen, mit der Kathrin. Die Kathrin erzählt ihr, Vater und Bruder und die Gabriele seien bei den mächtigsten Leuten der Welt – beim Völkerbund!

Ich setze aus dem Bett und überschreite den Quadratmeter Leben, den das Schweizer Zimmermädchen für mich dem Tode abgerungen hat, und laufe unter die Dusche. Es dröhnt wie ein Wald im Sturm, aber keine Schlange hebt das goldene Schellenköpfchen ...

 

Inzwischen hatte Jacquot eine betrübliche Entdeckung gemacht. Als er mit seinem Frühstückstablett auf dem Arm in Gabrieles Zimmer trat, war sie nicht, wie erwartet, in Pyjama, Kimono und quastengeschmückten Pantoffeln damit beschäftigt den Tisch für das Frühstück herzurichten oder, wie Frauen sonst taten, durch das Zimmer zu schweben und hier einen Gegenstand zu verrücken, dort frisches Wasser in die Blumenvase zu gießen (sie hätte das Zahnglas dazu benützen können), vielmehr lag sie im Bett, das Tablett auf den Knien, das Nachthemd von einem gehäkelten, weißen Schal bedeckt. Den Schal hatte sie über die Schulter gelegt und mit einer schwarzen Sicherheitsnadel befestigt. Das Zeug mußte ihr Kathrin gehäkelt haben, damit sich das Mädchen frühmorgens und abends nicht »verkühle« ...

Die Tochter Adas, die Enkelin des üppigen Charles Hartmann, besaß weder Pyjama, noch Kimono, noch Pantoffel!

Zum erstenmal stieß Jacquot persönlich auf die »soziale Frage«.

Flingot, der Kinder achtete, wie sie waren, hatte sie ihm mehr durch die Blume des Scherzes beizubringen gesucht, und den Jungen interessierte der Kampf gegen die Schule mehr als der Kampf gegen den Kapitalismus, von dem er sich keine rechte Vorstellung machte. Denn Flingot verwarf ausdrücklich jede gefühlsmäßige Betrachtungsweise, indem er (weiß Gott, wo er das herhatte!) vom Kapitalismus als dem Uranus sprach, der seine ungleichen Kinder auffressen werde, auffressen müsse, weil sein Appetit aus Gründen seiner Körperbeschaffenheit immer weiter zunähme. »Soll er aufhören zu fressen!« versetzte Jacquot. – »Er kann nicht«, beteuerte Flingot ... Und auf Jacquots Frage, ob er Marx und Lenin lesen solle, hatte ich geantwortet: »Bleibe lieber noch ein bißchen bei Karl May. Wenn du Karl May studiert hast, kannst du, wie in Deutschland die Juristen, jede beliebige Laufbahn einschlagen.«

Jetzt also fragte er Gabriele, ob sie wisse, was ein Schlafanzug sei. (Hierin kannte er sich aus.) O ja, sagte sie, die Weinhändlerswitwe Graeßlin habe immer eine Sammlung der schönsten Pariser Modelle gehabt. Und Pantoffel? Ein Paar Pantoffel besaß sie gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester, und sie hoffte, die Dingerchen im »Heim für vornehme Töchter« wiederzufinden. Nach einem Morgenrock wagte er daraufhin nicht mehr zu fragen. Statt dessen schritt er zum Schrank:

»Darf ich öffnen?«

»Bitte.«

Im Schrank hing das rosa Seidenfähnchen von gestern abend über den rosa Schuhen und daneben, genau über einem Paar schwarzer Schuhe, das gelbe Leinenkleid, das sie seit ihrer Ankunft in Unterhügeln trug und worin sie auch gereist war. Außerdem lag in der Ecke ein ungeöffnetes Paket mit dem Aufdruck eines Straßburger Konfektionshauses.

»Ein Kleid, das meine Mutter mir noch schnell gekauft hat«, teilte sie mit. Warum es nicht ausgepackt sei, wollte er wissen. Es kam heraus, daß sie es ihrer Schwester schenken wollte, weil sie annahm, sie laufe in alten Fetzen herum. Auf die entrüstete Frage, ob ein »Heim für vornehme Töchter« sich mit einer derartigen Garderobe begnüge, erhielt er zur Antwort, sie müsse es wohl annehmen, denn Silvio habe am Tag vor der Abreise den Prospekt noch einmal durchgelesen und erklärt, die Sache sei in Ordnung. Da rief er, und er stolperte nicht die Spur über die Lüge:

»Was tätest du, wenn nicht Ada meinem Vater Geld zugesteckt hätte, um dich hier anständig auszustatten – wie?«

Das Mädchen, im Begriff, eine Semmel mit Butter zu bestreichen, hob erschrocken das Messer in die Luft. Ganz bleich wurde sie und glotzte ihn an.

»Was tätest du?« wiederholte er, drohend aufgerichtet in seinem Schlafrock.

Sie biß in die Semmel, und als sie mit dem Kauen fertig war:

»Die vornehmen Töchter auslachen. Ich meine für den Fall, daß sie sich besser halten, weil sie mehr Kleider haben als deine Freundin.«

Verdutzt wie er war, haschte er zu spät nach ihrem Blick, dem Blick, der das Wort »Freundin« auf einem Lichtstrahl in die Welt gesandt hatte ... Er schaute sich um, ob es noch irgendwo im Zimmer zu finden wäre ... Nichts.

»Rück den Tisch heran«, befahl sie. »So. Nun frühstücken wir zusammen ...«

Ich band mir gerade mit ferienhafter Umständlichkeit einen alten Schlips um, da kam Jacquot herein und schilderte anschaulich den weißen Großmutterschal mit der schwarzen Sicherheitsnadel, den Schrank mit den zwei einsamen, schmal und streng herabhängenden Kleidern und den Schuhen darunter – »wie in der Turnstunde ausgerichtet« ... Ich gab ihm Geld, und er begab sich mit Gabriele in die Stadt.

Erst musterten sie alle Läden der Rue du Rhône ab. Dann bestimmten sie eine Auswahl der Geschäfte und die Reihenfolge, in der sie besucht werden sollten. Und weil sie um Mittag noch nicht fertig waren und ihr Hotel zehn Minuten entfernt lag, beschlossen sie, in der Stadt zu essen. Als Getränk bestellten sie das teuerste Mineralwasser, das zu haben war. Darauf gingen sie an die Arbeit.

Sie kauften Abendkleider, die Gabriele knapp bis unter die Knie reichten, passende Strümpfe dazu und Schuhe, die Schuhe konnten gar nicht hübsch genug sein, denn wahrlich, die Beine der jungen Dame waren schmal und lang, als wäre sie unter einem wilden Jägervolk aufgewachsen, und von den Füßen war »sogar« die Verkäuferin entzückt. Zu den Straßenkleidern mußten die Hüte gesucht werden, und dies nahm die meiste Zeit in Anspruch. Im Vorübergehn spießten sie einen neuartigen Metallgürtel, eine Brosche, ein Halsband aus schönen falschen Perlen auf. Apachenschals, ein buntes Umhängetuch. Zuletzt kauften sie den Schlafanzug, den Morgenrock, die Pantoffel.

Im Hotel begannen die Sendungen der Geschäfte einzulaufen. Als Pia um die Teezeit einen Blick in Gabrieles Zimmer warf, stand der Tisch gehäuft voll mit Paketen, Umschlägen, Schachteln in Pack- und Seidenpapier, und der Boy, der sie heraufbrachte, hatte angefangen, den Diwan zu belegen ... Am Abend hielt Maxime-Simon, von den Trabanten begleitet, seinen Einzug in das Speisezimmer wie tags zuvor, ohne besondere Aufmerksamkeit zu erregen. Die jungen Leute allein zeigten sich beunruhigt, und Gabriele, die Jacquot anstieß, rief laut:

»Du – wir haben den ganzen Tag nicht an Christopherus gedacht!«

»Pst!« machte Pia, und dem Warnungspfiff ließ sie die Belehrung folgen: »Gabriele, eine Dame stößt nicht einen Herrn an.«

Gabriele fragte erstaunt, ob sie jemand angestoßen habe, und klagte, nie im Leben könne sie ihre Unarten loswerden, denn ihr allein fielen sie nicht auf – wie ein andrer farbenblind, so sei sie blind für ihre schlechten Gewohnheiten.

Dabei pirschte ihre Hand, mit leise trommelnden Fingern, über das Tischtuch zu Pia hinüber und bettelte brav um Verzeihung, was sich aber wiederum als eine Unart erwies. Ausnahmsweise wurde die Hand angenommen, freilich unter der Bedingung, daß Gabriele sich viel gerader halte, auch im Nacken, besonders im Nacken, daran erkenne man die Dame, und in der Halle die Beine nicht übereinanderschlage. Das Mädchen nickte höflich und blieb ernst, obwohl Jacquot, der ihr gegenübersaß, stark blinkende, ironische Lichter aufsteckte. In Wahrheit galt ihr Ernst dem neuen Abendkleid, sie fühlte sich unverwundbar. Als ahne er etwas, nahm Maxime-Simon den Weg an unserm Tisch vorbei und machte Gabriele ein rasches Kompliment über das Kleid. Unerbittlich behauptete nachher Pia:

»Das kommt nur, weil Sie sich bereits besser halten ...« Gabriele war es zufrieden.

Zum erstenmal in ihrem Leben fühlte sie sich bewußt einem Kreis von Menschen zugehörig, fast einer Familie, fühlte sie sich wohlgelitten, betreut, vielleicht sogar geliebt.


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