Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Streit von Tourette

Als Gurdons Chauffeur auf der Terrasse den Frühstückskorb auspackte, hörten die Weiber am Brunnen auf zu waschen, setzten sich die Männer in Bewegung, die Kinder liefen als Boten in alle vier Richtungen voraus, dann erst schlug eine Uhr hastig Mittag, die Gespensterstunde des Südens. Gurdon schaute sich vergebens nach ihr um, er konnte nicht erraten, in welchem der tauenden Türme sich dies angstvolle Herz verbarg.

Vor dem Wirtshaus traf er mit Aggie Ruf und Bieterle zusammen, die ihrem Taxameter entstiegen. »Ada! Endlich werden wir es warm haben im Leben«, rief die Dichterin zur Terrasse hinauf. Sie begrüßte Gurdon mit lustiger Schwärmerei, wozu sie errötete und mit den Schultern tänzelte, die noch immer die zerbrechlichen Schultern einer Fünfzehnjährigen waren.

»Oh, le fond de l'air est frais«, kam Antwort von Ada, was ungefähr hieß: bis auf den Grund der Augen dringe die Sonne nicht oder: selbst glühende Zeichen können trügen oder: der schmelzende Schnee noch kühle den Mittag. Jedenfalls bezog es Aggie auf Silvio, von dem Bieterle gerade behauptet hatte, er sei ein rasierter und ausgebügelter Landsknecht (»schlechte Instinkte, guter Schneider«), was aber leider nicht hindere, daß die Augen der Gräfin Breisach erschreckend ausdrucksvoll würden, sobald er mit schlenkernden Armen auftrete, und sie gedachte, dem strebsamen Herren »eine Lektion zu erteilen«, indem sie ihm die Hand über die Achsel reichte. Damit sollte er auf den gebührenden Platz gewiesen sein, den Platz hinter Sir Ronald, den Platz hinter ihnen allen. Ja, sie wollte die vermeintliche »abkühlende Wirkung« des Herrn ausdrücklich bekräftigen, der nun einmal kein »Monsieur« war nach ihren Begriffen, sondern nur in alle Ewigkeit der mißglückte Versuch Sir Ronalds, »auf einen Kommis einen Edelmann zu pfropfen«.

Silvio Wolf (»schlau wie alle Teufel«, sagte sie sich auf der Stelle) begriff den Zusammenhang. Er hielt ihre Hand fest und trat vor sie hin.

»Sie erraten viel wie alle Dichter, Fräulein Ruf. Jedoch wie alle Dichter raten sie manchmal falsch, weil die Phantasie eines Dichters so viel Möglichkeiten findet, sich zu entfalten, wie die Dinge Zeichen enthalten.« Wort und Haltung waren aus einem Guß, stolz und demütig zugleich. Er hatte herrliche braune Augen. Alles an ihm, sie erkannte es ohne Widerwillen, sollte ihr schmeicheln. »Ich habe mich selbst gelegentlich geübt, in der Phantasie, in der Dichtung. Eine Jugendgeschichte aus dem Balkan ist mir leidlich gelungen.«

»Aus dem Balkan?« fragte Aggie.

Er stieß ein übermütiges Knabenlachen aus.

»Offen gestanden, ich habe einmal den Balkan bereist, Fräulein Ruf. Es ist lange her, ich reiste für eine deutsche Fabrik von Sterilisierapparaten. Meine Leute zu Hause hatten mich aufs trockene gesetzt. Es war sehr trocken.« Er bot ihr den Platz neben sich an, so daß er nun während der Mahlzeit zwischen ihr und Ada saß. Bieterle setzte sich mit einer Amtsmiene an das Ende des Tisches.

»Damals kam ich zum ersten Mal mit Diplomaten zusammen.«

»Als Geschäftsreisender auf dem Balkan?«

»Sie sagen es selbst: auf dem Balkan! Es gibt da gewisse verschwiegene, hochkultivierte Hotels ...«

»Ach so!« unterbrach sie ihn und ließ tief errötend den Blick über den leeren Marktplatz schweifen. Der Portier ihres Hotels fiel ihr ein, die Hochzeitsreisenden, die Keller der G.P.U. Sie war verstimmt und neugierig.

Doch je mehr er sich ihr widmete, um so deutlicher fühlte sie das Einverständnis Adas mit seinen Bemühungen. Was konnte das bedeuten? Bisher hatte er sie zu Gunsten der Freundin vernachlässigt, und diese war es zufrieden gewesen. Es konnte das Wichtigste bedeuten oder eine Laune. Ada ist müde, dachte sie schließlich, und freut sich, daß ich ihr den Kavalier abnehme.

Von Politik schien er übrigens einiges zu verstehn, und zwar gerade von der Art Politik, die sie wie einen Leckerbissen zu schätzen wußte. Da wimmelte es von Rittern und schönen Damen, von Liebes- und Geldgeschichten, von Intrigen, die Staatsmännern und Botschaftern den Schlaf raubten, es gab Abenteuer zwischen zwei Betten, über die man nachsichtig urteilen mußte, weil sie Kriege verhüteten oder einen hochherzigen Kardinal vor Schande bewahrten. Diese ganze Welt kam hoch zu Roß daher, und bei jeder Anekdote sah man einen halben Spion und einen halben Snob vom Pferde sinken. Auf dem Boden angelangt, fügten sie sich wieder zu einem vorzeitig pensionierten Botschaftsrat zusammen. Die Weltpolitik erschien als ein einziger Salon, und der dramatische Fasching seiner »Habitués« dauerte elf Monate, wie der Karneval in der Spätzeit der venezianischen Republik.

Ohne ihr Urteil über den Herrn, der kein Monsieur war, zu ändern, klärte Aggie den Amtsgerichtsrat durch einen Augenwink dahin auf, daß zumindest der Politiker im Landsknecht unterschätzt worden sei, und flüchtig beneidete sie Ada um die Plauderstunden, die sie mit ihm allein verbrachte. Wer weiß, ihr erzählte er vielleicht Näheres von den verschwiegenen, hochkultivierten Hotels, unheimliche Dinge, die er aber so diskret vorbrachte, daß eine Dame sie anhören konnte.

Da trat auch Bieterle aus seinem Schmollwinkel und begann den »Landsmann« Wolf über die elsässische Politik der Nachkriegszeit aufzuklären. Der Landsmann scherte sich den Teufel um die Belehrungen des Dicken. Ihm lag viel daran, so versicherte er Aggie gedämpften Tones, daß gerade sie im Bilde sei, im richtigen Bild, dem Bild dieses strahlenden Mittags, unter dem der Schnee weglaufe wie die Sünde. Als Marias Fuß auf die Schlange trat, Aggie Ruf, da war es ein Mittag wie heute! Und von der Kühle der Schlangenhaut allein sollte vorhin die Rede Ada Breisachs etwas andeuten, von einem Rest des Gemeinen. Le fond de l'air est frais ... In einem ihrer Bücher habe Aggie unvergleichlich geschildert, wie bei großen Gelegenheiten das Böse in der Welt sich auflöse, sich verflüchtige unter dem unbekümmerten Schritt des Guten ... Aggie glaubte an Gut und Böse – Silvio auch. An das Gute, das Böse in sich und den andern ... Sie wünschte, alles Gute solle zusammenhalten gegen das Böse in aller Welt. Silvio auch. Sir Ronald spreche in solchen Fällen vom Kampfe Vischnus, des Erhalters, gegen den zerstörenden Schiwa ... Sir Ronald hielt es mit Vischnu. Seine Dampfjacht, die im Hafen von Villefranche unter Dampf lag, hieß Vischnu. Während des Krieges hatte sie dazu gedient, nach deutschen Minen zu suchen ...

Spitzbübisch schielte er über die Schulter zu Aggie.

»Ob Vischnu recht tat, am Kriege teilzunehmen – wenn auch nur als Minensucher? Es schmeckt ein wenig nach Heuchelei, wie? ... Sonst aber«, fuhr er mit erhobener Stimme fort, »waren wir immer gegen den Krieg, Sir Ronald und meine Wenigkeit. Fast ebenso wie Sie, Fräulein Ruf. Deshalb wurde Mr. Gurdon auch nach dem Kriege geadelt. Er muß es verdient haben, meinen Sie nicht auch?«

Hier aber wollte der Amtsgerichtsrat unbedingt einen Traum erzählen, mit erhobener Stimme bestand er darauf – einen Traum, den er in der Nacht nach seiner Ausweisung gehabt hatte. Zwar stellte Silvio fest, daß niemand sich im geringsten für Träume interessiere, Aggie jedoch gebot ihm Schweigen: »Mein Freund Bieterle hat das Wort. Mich interessieren Träume, ich lebe nämlich gewissermaßen davon. Also los, Bieterle!«

Ich stand an einem Fenster des Rohanschlosses in Straßburg, begann sogleich der Schwabe, stand und blickte gespannt auf das Münster ... Im Traum, versteht sich ... Vor dem Südportal warteten Touristen, daß es Mittag würde und sie Zutritt zur astronomischen Uhr bekämen ... Dies war es aber nicht, versicherte Bieterle, worauf er an seinem Fenster spannte, die Touristen gingen ihn nichts an – was dann konnte es sein, was ihn so erwartungsvoll bewegte? Das Portal öffnete sich, die Touristen verschwanden im Innern. Eine Weile blieb die Türöffnung leer. Als aber die Münsterglocke Mittag läutete, trat ein Zug steifer Gestalten aus dem Dunkel und bewegte sich die Treppe hinab über den leeren, sonnigen Platz. Alle trugen Krone, Reichsapfel und Zepter. Alle schienen von innen erleuchtet, genau so, wie sie auf den Glasfenstern des Münsters geleuchtet hatten, ihren Lichtgräbern und feurigen Thronen, von denen sie herabgestiegen waren. Ja, Aggie, sie waren es – sie, die Großen ... Die Edelsteine, mit denen die Gewänder übersät waren, und das Gold der Kronen und Zepter und Schwerter verbreiteten einen dichten, bunt durchblitzten Glanz, und der Zug schritt in einem Odem von Macht und Schönheit daher. So verließen die achtundzwanzig deutschen Kaiser und Könige Straßburg, Münster und Stadt. Und Bieterle behauptete, jeden von ihnen deutlich erkannt zu haben.

Nun konnte er, fuhr er fort, von seinem Platz nur die südliche Fassade des Münsters überblicken. Doch als er nach Westen sah, stand da ohne weiteres die Tornische mit den klugen und törichten Jungfrauen vor ihm – als habe das ganze Münster sich gedreht ... Die Törinnen befanden sich in großer Erregung. Sie hatten die Lampen fallen lassen und drehten die Hüften und geilten mit Augen und Mund zum »Fürsten der Welt«, der den Paradiesapfel in seiner erhobenen Hand rollte, und auf einmal ließ er ihn einer der Jungfrauen in die ausgestreckte Hand springen. Sie berührte die Frucht mit den Lippen, drückte sie an die Brust und warf sie einer ihrer Schwestern zu, und diese tat das gleiche, und so weiter, und der Fürst der Welt klatschte mit den Händen den Takt zu dem Tanz des Apfels. Da – stiegen die klugen Schwestern gegenüber von den Postamenten und verließen in einem Zug wie die Kaiser, doch still in ihrer Scham und ohne Glanz Straßburg, Münster und Stadt.

Noch einmal drehte sich das Münster, und der Blick des Betrachters suchte und fand das Zeichen eines künftigen Tages: den Adler im Steinfries, der seine Jungen lehrt, in die Sonne zu blicken, dem einen legte er vorsorglich die Kralle in den Rücken, damit er sich steif halte im Ansturm des großen Feuers. Der rote Sandstein zuckte von Leben, im nächsten Augenblick mußten sie auffliegen, der Alte und die Jungen, im leichten Spiel ihrer Kräfte ... »Entschuldigen Sie das Pathos«, schloß er, »ich bin jedesmal außer mir, wenn ich den Traum erzähle. Ein Traum, der ein Leben wert ist, ich kann mir nicht helfen!«

Aggie nickte:

»Der Traum eines vertriebenen Deutschen – ich hoffe nur, Bieterle, Sie haben sich nicht in der Nationalität Ihrer Adler getäuscht. Und, sagen Sie, ist es denn nicht ein Pelikan, der seine Brut mit seinem Herzblut nährt, und gar kein Adler, wie Sie glaubten? Erinnern Sie sich an den Fries, Herr Wolf?«

Silvio schüttelte nur den Kopf. Seine Gedanken marschierten anderswo. Während Bieterles Erzählung hatte sich mit eins das schwüle Dickicht dieser Stunde gelichtet, eine Straße hatte geblendet, ein Wind war aufgekommen. Silvio sah seinen Weg, seinen neuen Weg.

Elsaß! Politik! Abgeordneter! Minister!

Das war der Weg, der Weg hinauf.

Rot und weiß, in den Landesfarben geflaggt.

Er hatte nicht geglaubt, daß er Bieterle zuhörte, als der von der politischen Lage im Elsaß sprach, und doch hatte er von ihm das Stichwort empfangen. »Im Elsaß werden nur noch Autonomisten gewählt«, hatte der Schwabe gesagt. Das war es. Um so besser, wenn nicht für das Elsaß, dann für ihn! Es hatte wildere Revolutionäre gegeben, die über Nacht Minister wurden – nicht einen Augenblick zweifelte Wolf an der Richtigkeit seiner Eingebung. Schön hatte Gott die Welt geschaffen, schön und vernünftig ... Alter Gurdon, nun bist du besiegt!

Einmal sah er die Straße feucht in der Ebene schimmern, zwischen üppigen Wiesen, an einem Weinberg, dann, als sie stieg, wurde es trocken und rauh, ein zweites Stück von ihr, mit einer Telegraphenstange und verschwärmt leuchtenden Kupferdrähten, hing hoch über dem Münstertal, seiner Heimat, zuletzt fuhr er im Auto durch den Straßentunnel der »Schlucht«, der Paßhöhe über dem Münstertal, mitten in den französischen Himmel. War nicht in Frankreich ein Abgeordneter etwas wie ein Prokonsul? ... Und los von Gurdon und seinen tiefgeschliffenen Brillengläsern, heute oder nie – also heute! ...

Tiere, die lange lauern, springen um so heftiger zu. Glatt und hell trotz der schwarzen Haare hing er mit den Augen an Gurdons Zügen, einem aufgewühlten, ackerhaft irdischen Gesicht, das feierlich ernst blieb und ein wenig traurig, das lebendige Bild seines Schweigens. Er hängte sich daran, als müsse er vor dem Angriff noch einmal das Gelände erforschen, er schien abwechselnd zu bitten und zu drohen, und dann gab er sich einen Ruck und fragte, ob Sir Ronald sich des Tages erinnere, da der lange Weg nach Tipperary unwahrscheinlicherweise sein Ende gefunden:

»Ja, nicht wahr, Sir Ronald? Wir brauchten nicht von Adlern zu träumen wie die Deutschen, wir hatten es saftig, wir waren die Adler, die Sieger! Und kehrtum, alle waffentragenden Männer des Vereinigten Königreichs marschieren singend in die Arme ihrer Frauen. Und auch die Gefangenen erhalten die Freiheit zurück. Nur Silvio Wolf nicht! Er nicht. Denn er ist ja nur der Gefangene des Friedens, nicht des Krieges ... Der mächtige R. P. Gurdon hatte dafür gesorgt, daß er nicht in den Krieg mußte ... So, verehrte Ladies und Gentlemen, hingen die Dinge zusammen. Man sagte, überall sagte man, der Sieg habe dem Land und jedem Engländer die Freiheit wiedergegeben. Jeder Engländer, hieß es, könne jetzt wieder machen, was er wolle, auf den Inseln und draußen in der Welt ... Und die Toten? fragte ich. Ach so! Alle Toten der Alliierten waren im Himmel. Es ging ihnen gut. R. P. Gurdon wurden vom König geadelt ...«

»Und Sie? Wo standen Sie mit ihrem Herzen während des Krieges?« fragte Aggie.

»Mein Herz stand in Diensten R. P. Gurdons.« Er lachte hellauf: »Wo sonst hätte es stehen sollen?« (Und dachte: Sicher wird er mich für meine Treue entschädigen, acht Jahre nur Taschengeld, sicherlich – was auch geschehe!) »Im Parlament ging es drunter und drüber, Frau Gräfin, die guten, alten soliden Parteien waren nicht wiederzuerkennen. Die Sozialisten kämpften für das Vaterland, die Konservativen wurden international, man hörte von Generälen, die ein verständiges Wort für die Deutschen einlegten, die Pastoren aber, denen die Liebe Sir Ronalds gehörte, die Männer, die für Herstellung und Unterhaltung des Seelenfriedens bezahlt werden, nicht zuletzt von Sir Ronald, die zeigten sich verstockter als ein montenegrinischer Esel. Fuhren fort, mit der Bibel nach den Hunnen zu werfen, im Ausweis der Bank von England entdeckten sie Gottes Hand ... Denn, verehrte Ladies und Gentlemen, das schöne Geld war auch nicht mehr, was es gewesen. Man hatte, so schien es, doch nicht genug Deutsche gekillt. Auf dem Kontinent ging das Geld vollends zum Teufel. Die Soldaten der Mittelmächte, darüber konnte kein Zweifel bestehen, hatten bestimmt nicht fleißig genug gearbeitet. Man erkannte es an ihrem schlechten Geld ... Statt Briefmarken sammelten die englischen Kinder deutsche Millionen, Milliarden, Billionen. Schließlich verkauften die Lumpenhändler von Whitechapel das deutsche Geld sackweise. Einige Stücke nahm ihnen Sir Ronald ab und erwarb damit ein paar Kleinigkeiten in Deutschland, allerhand, was nicht aus Notenpapier gemacht war.«

Gurdon rührte sich nicht. Aggie starrte ihn an, er wurde doch – wurde er nicht hier dauernd in unflätig tückischer Weise beleidigt? Oder bildete sie sich das nur ein?

»Ich will wissen, wo Herr Wolf stand«, rief sie, und ohne eine Antwort abzuwarten, brach sie aus: »Ich nahm von 1917 an fanatisch Partei für Deutschland. Vorher mußte ich mein Herz teilen, ich mußte, und ich hatte mir etwas ausgedacht, wie sie beide siegen könnten. Deutschland und Frankreich. Während sie einander zerfleischten, zitterte ich, sie könnten sich auf ewig verfeinden. So dumm war ich.«

»So treu waren Sie«, sprach Gurdon, »herzhaft treu.«

Es war sein erstes Wort.

»Als ich aber die Tiefe des Abgrundes ermessen konnte, in den Deutschland stürzte«, wollte Aggie fortfahren, da geriet sie ins Stammeln. Jemand hatte ihr das größte Kompliment gemacht, man beachtete es nicht. Herr Wolf und Ada zeigten gelb und blau bebrillte Masken her, fast hätte sie es selbst nicht bemerkt, wie jemand etwas zu ihr sagte, was wie ein Segen klang über die Zeit ihrer Verdammnis. »Sir Ronald!« Schnell hob sie sich ein wenig vom Stuhl, drückte seine Hand.

Und schon schämte sie sich, errötete, fühlte es, errötete doppelt, suchte nach einer scherzhaften Wendung, einem Rettungsseil, fand nichts. »Keiner will Sie hier reden lassen, Sir Ronald!« rief sie clownhaft blöde, mit verängstigter Miene, komisch verdrehtem Mund, so daß ihr Unternehmen zuletzt doch glückte und Herr Wolf und Ada in Gelächter ausbrachen. Endlich wurde einmal gelacht!

Sogar Gurdon lachte kurz auf, und in seinem Gesicht dauerte das vergnügte Durcheinander noch eine Weile an, ein Durcheinander wie von einem verzwickten Feuerwerk, das von den tiefgeschliffenen Brillengläsern ausging.

»So habe ich Sir Ronald nur ein einziges Mal lachen sehn!« behauptete Silvio.

Auch er schien entwaffnet.

Arglos begann er die Erstürmung eines französischen Dorfes durch ein Bataillon Amerikaner zu schildern, der Gurdon und er bei ihrem einzigen Besuch des Kriegsschauplatzes beigewohnt hatten. Der Sturm setzte ein, als ein Mädchen über die Straße lief und in einem der niedrigen Bauernhäuser verschwand. In diesem Augenblick fiel den Amerikanern, die im Dampf von Schweiß und Alkohol durch die Sonnenhitze marschierten, und zwar allen zugleich, etwas ein. Man hatte ihnen zu Hause erzählt, in Frankreich könnten sie alle Frauen haben, das fiel ihnen ein, in der Wolke von Schweiß und Alkohol, worin sie marschierten, und die Nächsten stürzten wie auf ein Zeichen hinter der verschwundenen Erscheinung her, während die andern sich stürmender Hand auf die übrigen Häuser verteilten.

Sei es, daß die alten Männer, Greisinnen und Kinder, aus denen die Bevölkerung des Dorfes bestand, sich tapfer genug zur Wehr setzten oder daß die Masse der Eindringenden Türen und Gänge verstopfte und sich selbst in die Haare geriet, jedenfalls war noch kein einziger vom ganzen Bataillon an das Ziel seiner Wünsche gelangt, als ein Kraftwagen mit einem Häuflein amerikanischer Heerespolizisten in rasender Fahrt herankam. Herrschaften, welch ein Anblick! Im Nu waren die paar Polizisten über dem Dorf und arbeiteten paarweise mit Gummiknüppeln. Dabei war die Unsumme Hiebe, die in kürzester Zeit fielen, weniger erstaunlich als die Selbstverständlichkeit, mit der die Soldaten sie einsteckten. Nicht ein einziger setzte sich zur Wehr. Zwei oder drei Verwundete wurden auf das Auto gehoben, das Bataillon marschierte weiter, argwöhnisch gefolgt von dem Wagen der kurz angebundenen Feuerwehr. Es standen nämlich noch mehr bewohnte Dörfer auf dem Wege zur Front.

»Sir Ronald lachte herzhaft«, wiederholte Wolf. »Das ist das Wort: herzhaft. So wie eben. Wahrscheinlich erheiterte es ihn zu sehen, wie freie Bürger der USA, die außerdem bis an die Zähne bewaffnet waren, sich widerstandslos abseifen ließen.«

»Ich entsinne mich nicht, gelacht zu haben – wirklich nicht«, sagte Gurdon bedauernd.

Silvio ließ eine Pause eintreten und schlug die Augen nieder. Dann hob er sie langsam und betrachtete Gurdon mit der Aufmerksamkeit eines Hundes.

»Aber an die Prügel erinnern Sie sich?« fragte er.

»Gewiß, mein Freund.«

Der Mund Silvios gaukelte mit einem Lächeln ...

Aggie war unheimlich zumut. Für sie gab es keinen Zweifel, daß Wolf log, und zwar absichtlich log, wenn er behauptete, der ernste, strenge Mann da habe zu jenem Schauspiel gelacht. Worauf aber zielte die Absicht? Sie fühlte, »der Landsknecht halte mit einem Messer hinter dem Rücken«, er bedrohe den alten Herrn – ohne daß es ihr gelingen wollte, die Art und die Umstände der Grausamkeit zu erfassen. Sie erkannte, wie auch Ada von Unruhe befallen wurde, und beschloß bereits, die Unterhaltung an sich zu reißen, um dem Ränkespiel ein Ende zu machen, als Wolf, die Wimpern schimmernd vor Freude, mit feuchten, weißen Zähnen, mit Händen, die Luft webten und darüber hinstrichen, unvermittelt anfing, seinem Herrn Erinnerungen aus der ersten Zeit ihres Zusammenlebens darzureichen. Es war, als nähme sein Gemüt die Farbe Gurdons an und erhelle sie bis zum Leuchten, als umhüllte er ihn mit einer Zärtlichkeit, die er gleichsam aus einem Untergrund von Wehmut ans Licht zog. Eine Artigkeit gebar die andere, jede köstlicher als die vorhergegangene.

Halb entsetzt, halb hingerissen, folgte Aggie dem blendenden Spiel der Anmut. Keine Frau hätte ihn übertroffen. Ihr fiel das Wort ein, womit die Franzosen eine besonders feine Art von weiblicher Handarbeit bezeichnen: »Frivolitäten!« ... Gleich danach jedoch sah sie: nichts war ausgesprochen weiblich an ihm, keine Bewegung, kein Blick, nicht die Stimme, so glatt und hell sie klang, er war und blieb ein Mann. Nur hatte sich der Mann in jenes Alter zurückbegeben, in dem frühmorgens ein Knabe aus einem Walde treten und, die zweieinige Gottheit der Fruchtbarkeit in Person, zwischen den aufstrebenden Gräsern vor der Sonne tanzen kann, indem er einfach seines Weges geht ...

Aggie verschlang diesen Anblick, sie nahm ihn auf in ihr zuerst nur gelockertes, dann unmerklich geöffnetes Wesen, er drang bis in ihre Tiefe, und bald begann dort ein Strahlen. Und plötzlich schrak sie auf, daß es ihr durch den ganzen Körper fuhr.

»Seien Sie still«, rief sie.

Vier köpfe schauten zu ihr hin, teils unwillig, teils verblüfft, aber Gurdon sagte:

»Ja, Silvio, seien Sie still ... Wie alt muß unsere Freundschaft geworden sein, daß Sie nur noch von ihrer Kindheit erzählen!«

Nachdenklich wiederholte Wolf, den Blick noch immer auf Aggie gerichtet:

»Kindheit ... Ja, nun bin ich auch beim Tag angelangt, als ein weißseidener Diener mich durch den Garten dem Haus meines Wohltäters zuführte. Ich sah es weiß und breit hinter den Bäumen liegen. Der Diener trug meinen Koffer. Auf dem nackten Rasen sprangen vier Kinder, zwei Buben, zwei Mädel. Sie waren schön.«

Was nun folgte, das nannten sie später mit absichtlich milderndem Ausdruck den »Streit von Tourette«. Er entschied über das Schicksal aller Beteiligten und umfaßte daneben einen seelischen Totschlag. Von der Schwere des Verbrechens machten sich allerdings nur zwei den rechten Begriff, Silvio, der es beging, und Gurdon, das Opfer. Es war das Werk weniger Sekunden.

Silvio, der immer mehr in ein seltsames Flattern und Funkeln geriet, obwohl er nicht ein einziges Mal das Glas mit dem dunkelroten, beinahe schwarzen Landwein berührte, Silvio lehnte sich über den Tisch, ergriff die Tatze Bieterles, ähnlich wie Aggie es mit Gurdon getan hatte, und versicherte ihm: jetzt, wo »der Junge hinten aus dem Münstertal« ein Mann geworden und im Begriff sei heimzukehren, solle sich bald einiges im »Ländle« ändern. »Und im Ländle halten wir die Wage Europas. Es liegt gut, unser Ländle!«

»Sie wollen Froschkönig bei uns werden?« fragte Aggie, erfreut, daß man bei einem harmlosen Thema angelangt war. »Wie töricht! Warum nicht Member of Parliament? Gouverneur einer englischen Kolonie? Sie brauchen doch nur ein Wörtlein mit Sir Ronald zu reden!«

Sie meinte es ernst und wandte sich Beifall heischend an Gurdon. Dem sprang ein Lächeln von den festgeschlossenen Lippen und blieb schon im Mundwinkel stecken, ein recht mühsames Lächeln, das sich denn auch nicht als lebensfähig erwies. Doch er nickte, wiederholt nickte er, und dabei ließ er seinen Sekretär nicht aus den Augen.

»Nein, Fräulein Ruf, so was ginge frühestens bei meinem Sohn. Und für einen Sohn von mir interessiert sich mein Wohltäter«, er verbeugte sich vor Sir Ronald, »nicht im geringsten. Für mich langt es keinesfalls. Betrachten Sie, bitte, Sir Ronalds mächtiges und allwissendes Antlitz, da steht es geschrieben: Bei mir reicht es höchstens zum Froschkönig im Elsaß. Da steht: Gaukler wie ich verstehen sich nur auf die kleinen Kartenkunststücke, wie sie im Familienkreise geübt werden. Ich bin ein Parasit, und ein Parasit bedarf bekanntlich eines andern, um sich zu ernähren – ein harmloses Tier, wenn es in einem Format auftritt, ein Räuber, nicht größer als ein Stecknadelkopf ... Etwas wie der Kautschuktrust wäre mir zum Beispiel nie und nimmer gelungen.«

Gurdon zog die Uhr und sagte freundlich:

»In drei Stunden fährt unser Schiff. Sie wissen, mein Lieber, wir müssen noch auf einen Sprung ins Hotel. Wenn die Damen erlauben, brechen wir auf.«

Er gab dem Chauffeur einen Wink.

Niemand erhob sich. Alle verblieben, während die Tafel abgeräumt wurde, in einer bedrückten, ja ängstlichen Haltung, als erwarteten sie ein Urteil, das einzig und allein hier an diesem Tisch gefällt werden konnte ... Von wem? Fragend blickten sie von einem zum andern. Ada allein verharrte in ihrer Unbeweglichkeit.

Sie allein auch hatte während der Mahlzeit die Sonnenbrille nicht abgelegt. Und so, von außen betrachtet, spielte sich der »Streit von Tourette« lange Zeit zwischen den harten, blitzenden, überhellen, breithin sprühenden Brillengläsern Gurdons und den Blicken Silvios ab. Mit dem Eigensinn einer Wespe vor der Scheibe wirbelten seine Blicke gegen die Gläser des andern, stießen sich, fielen ab und schossen wieder darauf los.

Endlich war der Chauffeur fertig, er hatte auch den Wein und das Brot bezahlt, sich bei der Wirtin bedankt und stieg nun, den Frühstückskorb an der Hand, steif und ernst »in der Livree des Mittags« die Treppe hinab.

»Lieber, guter Sir Ronald«, begann Aggie, als er außer Hörweite war. Sie wußte noch immer nicht, was vorging, spürte die Bedrückung wie eine wachsende Last und wollte sich beim Stärksten unter ihnen Rat holen. Nein, sie erhoffte mehr. Der alte Mann sollte sie alle hier von dem gespenstischen Alp befreien, jedem seine Natur wiedergeben, die Schafe von den Böcken trennen mit seinem weisen und mächtigen Wort, er sollte zeigen, wer er war! Warum zögerten immer gerade die Guten, ihre Macht zu gebrauchen?

»Ich glaube, Silvio wartet, daß die Damen sich erheben«, äußerte Gurdon.

Da öffnete Wolf den Mund. Eine glasige Stille war um sein Gesicht. Wie von den Lippen eines Mediums fielen die Worte:

» Lieber Sir Ronald!« sagen Sie? ... Er hat die Kinder gepeitscht, die schönsten der Welt, zwei Buben, zwei Mädel. Und schauen Sie nur, mit seinen dicken Gläsern spuckt er mir ins Gesicht.«

Ada Breisach senkte die Stirn, ihr Atem ging hörbar über den Tisch zu Gurdon hinüber, hart und schnell. Aggie und Bieterle waren sprachlos.

Nach einer Pause stand der alte Mann auf. Aggie folgte ihm sofort, als habe sie nur darauf gewartet, um in Lebensgröße Partei zu ergreifen. Hinter ihr schob Bieterle seine Hünengestalt in die schwirrende Luft.

Silvio und Ada rührten sich nicht.

»Unnötig, Silvio«, sagte Gurdon, und er streckte ihm die Hand über den Tisch hin.

Zu der Hand sprach Silvio, sprach wie im Schlaf:

»Mich schlägst du nicht, mich nicht.«

»Niemals«, sagte leise Gurdon.

Es war eine große, weiß behaarte Hand. Alle blickten auf sie, die große, weiß behaarte Hand.

Sie zuckte ein einziges Mal.

»Leben Sie wohl, mein Lieber«, sagte der Greis.

Silvio antwortete:

»Auf immer. O bitte, Sir Ronald, auf immer!«

»Auf immer, Silvio.«

Die Furchen in dem erdhaften Antlitz waren ein einziges Grab von Schatten, schauerlich umflossen vom Glanz des Tages. Grau und aufgewühlt hing es in der Luft, diesem Hauch der Himmelsbläue, darin der lichte Schweiß der Erde perlte. Es war die schwere, die tödliche Wunde und später das Grab. Es war, für einen Augenblick, jetzt schon beides zugleich – tief und dunkel, von feindlichem Glanz umflossen.

»Kommen Sie, Sir Ronald«, drängte Aggie. »Ich fahre mit Ihnen. Bieterle und ich fahren mit Ihnen.«

Sie beugte sich vor, um ihm ins Gesicht zu schauen, ein Gesicht, wie ihr noch keines begegnet war – »noch keines auf Erden«, formten ehrfürchtig ihre lautlos bebenden Lippen. Er wandte ein wenig den Kopf zu ihr:

»Ich muß ihm danken, bevor ich gehe.« Darauf blickte er zum letztenmal auf Silvio.

Über die Furchen seiner Stirn flutete Licht. In Strömen kam es daher. Unaufhaltsam stieg es herab, aus dem Innern quellend und füllte seine Züge und vermählte sich mit dem Licht von außen, dem Hauch der Bläue, darin der Schweiß der Erde perlte, bis keine Spur mehr blieb von einem Schatten. Alles Licht stand atmend im Acker des Gesichtes, und der klare Strahl der Augen schien in diesem Augenblick vom Himmel gestiegen.

Dann sah Silvio Wolf ihn zwischen Aggie und dem Schwaben, gleichsam unter Ehrengeleit, den nackten, von der Sonne erschlagenen Platz überqueren.

 

»Hier, Herr Wolf. Dies soll ich Ihnen in seinem Auftrag einhändigen.«

Aggie hatte sich in der Hotelhalle von einem Sessel erhoben und war Silvio entgegengetreten, der Schwung, mit dem sie es tat, veranlaßte ihn, sie unter seiner Verbeugung als die »lieblichste aller Rachegöttinnen« zu begrüßen.

»Es wird ein Scheck sein«, meinte er und öffnete, von Aggie zu Ada, von Ada zu Aggie lächelnd, den Brief.

Der Brief enthielt einen Scheck, sonst nichts.

Er warf einen Blick darauf, murmelte: »8000 Pfund« und zerriß ihn, während er weiter lächelte von Ada zu Aggie, von Aggie zu Ada, riß das Papier in kleine Stücke und ließ die Schnitzel auf eine Azalee niederschneien.

Die Azalee blühte rot.

Er schüttelte sie ein wenig, damit die Papierschnitzel im Laub verschwänden: »Der letzte Schnee im Jahr ...«

Ein vollendeter Kommödiant sagte sich Aggie, wie eine Magnetnadel schwankend zwischen Bewunderung und Haß. Sie hatte ausgerechnet, daß 8000 Pfund 160 000 Mark waren.

Er nahm Ada vertraulich am Arm und sagte zur andern: »Ich muß ihm winken, wenn die Dampfjacht ›Vischnu‹ sich auflöst, sich verflüchtigt unter dem himmelweiten Schritt des Bösen, liebe Aggie.« Er lächelte noch immer. Er küßte ihr die Hand. Strich mit dem Zeigefinger hart und doch zärtlich über das Gelenk, nahm es zwischen Daumen und Zeigefinger und drückte es, prüfte seine Stärke, bis sie es ihm entzog.

»Und du, Ada?« fragte sie.

»Ich habe ihm versprochen, dabei zu sein.«

»Dabei zu sein?« Und sie betonte »dabei«, denn, nicht wahr, es war doch eine Schmach für eine Frau wie Ada, einem so offenbaren und auch noch durch Hohn erhöhten Triumph des Bösen ihre Gegenwart zu schenken ...

Flammenden Hauptes zwang sie sich, das Paar bis zum Windfang zu begleiten, und sah hinter den Scheiben, wie es davonfuhr.

»Ihm« ... wiederholte sie: »einfach ›ihm‹ ... hat sie es versprochen! Es gibt keinen Herrn Wolf mehr, es gibt nur noch ihn.«

Bieterle stand schon eine Weile neben ihr, sie tat, als bemerkte sie es nicht. Mit geschlossenen Augen nahm sie sich zusammen, drehte sich traumhaft wie um sich selbst, entschlüpfte sich, floh, floh. Jetzt war sie im Freien, aber sie nahm ihre Umgebung nicht wahr. Sie wandelte, halb fremd, halb vertraut, wandelte geschwisterlich in weiter Ferne ... Gleich darauf wurde alles deutlicher. Sie sah sich lachen, laut und hell, herzhaft sah sie sich lachen, ihr helles Haar lachte, die Schultern bebten wie im Tanz, und der Fürst der Welt warf ihr den Apfel zu. Lachend fing sie ihn auf, biß hinein, daß der warme Saft an ihren Mundwinkeln herabfloß, und gab ihn Ada, die ebenfalls hineinbiß und dann zurückwarf. So aßen sie beide den Apfel, lachend, im Tanz, und noch nie war die Schöne so schön, die Lockende so verlockend gewesen. Unaufhörlich sank Fieberröte und schmolz auf dem Marmorschein ihres Körpers, den Aggie durch eine Öffnung im Bademantel erblickte ...

Als ein heftiger Schmerz sie weckte, fand sie sich wieder, wie sie auf dem Sofa ihres Hotelzimmers hockte. Bieterle war unten an der Tür stehengeblieben. Mit der vollen Wucht des Körpers quetschte sie sich die Hand, die Silvio mit Mund und Finger liebkosend berührt hatte. Sie bog sie im Gelenk und lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen und haßte die Hand. War nicht das Gelenk die Stelle, wo man früher einmal Törinnen die Hand abhackte – und sie ins Feuer warf, weil Feuer allein den unersättlichen Fraß und Schmutz der Vergiftung tilgen konnte?

Aggie haßte. Die Magnetnadel stand still.

Heiß und wirr sann sie auf Rache. Und konnte keinen Ausweg finden, nicht die geringste Möglichkeit, den Schleier von Anmut und Zuversicht zu zerreißen, von dem sie annahm, daß Ada ihn über Silvio Wolf gebreitet halte durch ihre eigene, entzündete Schönheit, und worin er nur schreiten und walten konnte, frei und alles auf seinem Wege erhellend, das Gute, das Böse, wie früher jene Knaben, die ein Gott geküßt hatte. Aggie selbst blieb, dumpf und geblendet, im Schleier gefangen! Aufstöhnend packte sie das blaue Notizbuch in die Tasche. Sie schleppte sich über die Promenade, an deren Ende ihr Arbeitsplatz lag: das »Dancing« des Hotelpalastes Negresco.

Unbemerkt folgte der Amtsgerichtsrat.

Er fand sie prachtvoll, wie sie mit dem starren Kopf eines Denkmals, von all den Schultern und Hüften geschoben, die sich suchten oder mieden und im ganzen bekriegten, in die Hotelhalle geschleudert wurde und nun königlichen Ganges, den Schirm diebisch in die Rockfalten gedrückt, an den Garderobefrauen vorbei in den Tanzsaal schritt.

Er selbst nahm an einem entfernten Tischchen Platz, wo er ein Auge auf sie haben konnte. Ohne sie hätte er es keine zwei Minuten ausgehalten. Der Saal war ein einziger Hexensabbat, mit Blocksbergmusik, und obwohl alles frisch und gepflegt schien, besonders die Frauen und Blumen, roch es süßlich nach Fäulnis. Das kam von der Hitze, die jede Pore auspreßte ... Jedoch, sollte sich wundern, wer wollte: aus solchem Hexensabbat, aus solcher Blocksbergmusik stiegen die Gestalten der Dichterin, und siehe, es waren einfache, keusche Wesen, deren Leben sich so fern hielt von den Gästen eines »Palace«, wie Aggie ihren Zimmernachbarn in den Luxushotels fremd blieb – wo sie dennoch abstieg, nicht gerade in den teuersten, und auch in den »zweitklassigen« nahm sie nur ein Nordzimmer, aber ein Kirmeshotel mußte es sein, bunt und weitläufig. Zum Arbeiten aber suchte sie unweigerlich das beste Hotel auf, sie behauptete: die beste Musik.

Mochte sie auch oft eine traurige Figur auf dem Jahrmarkt abgeben, ihr war es gleich – ja, Bieterle meinte, sie suche die Demütigung auf, sie müsse sich immer wieder tief bücken, nicht anders wußte er es zu erklären, tief bücken, sich auslöschen, wie arme Verwandte bei der Hochzeit des Reichen, um so dazustehn, wenn der Genius ihr Schiff auf die hohe See hinaustrieb. Sie selbst glaubte, es täte ihr weh und koste sie eine ungeheure Selbstüberwindung, und in der Tat litt sie oft bis über ihre Kraft. Bieterle wußte es, obwohl ihre Leidensfähigkeit, ihr Trotz, die Zähigkeit ihres Willens sogar ein ungewöhnliches Maß überstiegen. Aber vielleicht rührten ihre Schmerzen von ganz etwas anderm her als von dem vermeintlichen Zwang, mit der Verdorbenheit zu hausen und im Schwarm mitzujagen, der tagaus, tagein und in allen Zonen hinter einem sagenhaften Wild hersetzte. Vielleicht doch warum in solchen Vermutungen wühlen, solange niemand wortwörtlich wissen konnte, wie nun eigentlich die Peitsche hieß, die den Menschenkreisel Aggie Ruf an den Türen von so viel Schlafzimmern, Sterbekammern und Festsälen vorbeitrieb! Er sang, er tönte und sang, und Bieterle hätte alles hingegeben, nur um in geziemender Entfernung, so wie jetzt, dies immer glühende und erblassende Leben zu teilen, dies Leben am Rande des Traumes, der in Sturzwellen herüberschlug, dies irrlichternde Leben am Rande des Todes.

 

Währenddessen lehnten Silvio und Ada über einem blauen Abgrund. Der blaue Abgrund war ein Land mit Städten, Straßen, Felsen, Meer und Himmel. In seiner spiegelnden Tiefe glänzte ein Ding, ein Spielzeug von einem Schiffchen, die Dampfjacht ›Vischnu‹. Die leere Bucht von Villefranche und der Himmel darüber umschlossen das Schiff wie ein Block von Bläue, es schien in der Luft vereist, und nur der Rauchfaden aus dem Schornstein zeigte an, daß man am Werke war, das Insekt aus der durchsichtigen Umklammerung zu lösen.

Auf dem Höhen weg über Villefranche angelangt, hatte Silvio Ada gebeten, ihren Wagen, einen weißen, lautlosen Amerikaner, zu entlassen, ohne den Heimweg nach Nizza zu bedenken, oder vielmehr er dachte daran, wie an etwas, was jenseits dieses Lebens lag, das noch klopft und bangt, an etwas unendlich Fremdes, das ergreifend wäre wie die Rückkehr in das Land seiner Kindheit. Jener Weg war in den Sternen vorgezeichnet, doch erst mußten die Sterne am Himmel erscheinen, bevor der Weg auf Erden deutlich würde! Bis dahin, bis zur Gewißheit – herrschten Hoffart des Abenteuers und verstecktes Leid. Langsam verließ ihn der Überschwang und bald auch sein Selbstbewußtsein. Warum hatte er nicht den Scheck auf seinem Zimmer verwahrt, um dann bei der Rückkehr in die Halle zu erklären, er habe ihn zerrissen? Und das viele Geld im Rücken behalten, für den Fall –. Er war Adas gar nicht mehr sicher. Zum hundertstenmal fühlte er die abweisende Fremdheit dieser Frau, die ihm scheinbar so willig folgte. Was nützte es ihm, wenn er sich ein Land unterwarf, und er konnte es nicht in seiner Macht behalten? Alles, was er von ihr wußte und ahnte, konnte ihm höchstens ihre Liebe versprechen ... Es war zu wenig! Er schwor sich, sie unter keinen Umständen zu seiner Geliebten zu machen – er brauchte sie zur Frau. Hätte er nur nicht den Scheck zerrissen! Hoffart des Abenteuers und verstecktes Leid ...

Von der Straße waren sie eine kleine Treppe hinabgestiegen und standen, nebeneinander auf eine Mauer gestützt, in einem Garten. Er enthielt nichts als das verrostete Eisengerüst einer Weinlaube, von den Knoten alter Rebstöcke umschlungen, und zwei Steinbänke. Wahrscheinlich gehörte der Garten zu einem weiter unten liegenden Haus, das ebenfalls im Verfall war. Rote und weiße Federnelken hatten sich ausgesät, sie blühten auf der Mauer, zwischen den Treppenstufen, sogar in den Fugen der Steinbänke. Aller Schnee war fort. Hätte er nur den Scheck nicht zerrissen! Aber – was tat zum Beispiel jemand, der einen Scheck verlor oder irrtümlich vernichtete? Da konnte doch das Geld nicht verloren sein, es war ja da, man mußte auch in diesem Fall an das Geld herankönnen. Er beschloß, den Scheck bei Gurdons Bank als irrtümlich vernichtet anzumelden, und atmete auf ...

Hier wird er mich küssen, dachte Ada und schaute sich um, als suchte sie in der Runde die heimlichen Zeichen einer Verschwörung. Er wird mich an sich reißen. Ich werde mich nicht wehren. Er wird mich küssen, soviel er mag. Ich werde die Augen schließen und kein Wort hervorbringen. Und nachher, wenn er mich losläßt, werde ich ihn um nichts mehr lieben als vorher. Vielleicht bin ich dann verlobt, und wir heiraten schnell, damit es keinen Aufschub gibt in seiner Laufbahn als elsässischer Notabler und Politiker. Seitdem er in Tourette vom »Ländle« sprach, weiß ich Bescheid. Ich werde Claus Breuschheim das Schloß Unterhügeln abkaufen und es ihm schenken ...

»Jetzt bin ich wieder so frei und arm wie damals, als Sir Ronald mich auflas«, hörte sie ihn sagen. Sie hörte auch, wie er die Qual einer mehr als zehnjährigen Gefangenschaft schilderte, er sprach kühn, ein wenig hitzig. Nichts mehr von Hohn, er sprach von Gurdon wie von einem Toten. »Ich hab's gewagt, Ada, ich hab's gewagt.« Wahrlich, meinte er, kein Wanderfalke, der nur gegen den Wind fliegt, hätte sich in seiner Luxusvoliere unglücklicher fühlen können als er in dieser Freundschaft. Es war ein Vogelhaus von edelstem Material, die Jahreszeiten färbten es mit ihrer Pracht. Und in seinem Innern kochte die Hölle. Eine Frau wäre vielleicht selig gewesen, er nicht. Er war ein Raubtier, er wollte jagen, kämpfen, rauben, wie ein Falke brauchte er Gegenwind, um zu fliegen! ...

Das Bild vom Falken gab ihr zu denken. Ohne daß sie seiner Erzählung besondere Aufmerksamkeit schenkte, drängte sich ihrem Gefühl ein Tonfall, ein Bild auf, und ihre Phantasie spielte darauf weiter ... War es nicht so, daß ihr wacher, kühler Geist verfinstert wurde, sobald sie diesen Mann berührte? Bekam dann nicht ihr Geist eine purpurne Haube übergezogen? Kaum aber verliefen sich Strömung und Strudel, wie seine Berührung sie zutiefst in ihr aufrührten, da flog ihr Geist auf, so klar, so kühl wie je, und nichts blieb zurück als Neugier und etwas wie Dankbarkeit für die Macht seines Körpers über den ihren.

Im Anfang hatte die Übereinstimmung ihrer Nerven bei den ersten, unwillkürlichen Berührungen sie überrascht, wie man durch den Schlag aus einem elektrischen Kontakt überrascht wird. Dem Schlag war ein Wohlgefühl gefolgt, Sättigung, worin neue Begierde sich regte, freilich mit Angst vermischt, Angst wohl vor irgendwelchem Überschwang des Gemüts, das sich, einen Augenblick, zu allem bereit zeigte. Jedesmal geschah ein Anlauf zu einem Sprung ins Dunkel. Es gab eine fremde Macht in ihr, die sich der Aufsicht entzog, die, wenn man sie völlig sich selbst überließ, einen Menschen entwurzeln und ihn sich selbst entfremden konnte und mit ihm umging wie der Sturm mit dem Wald.

Ada hatte ihren Gatten geliebt und ihm zwei Kinder geboren, und doch war ihre Sinnlichkeit verschwiegen und eigensinnig geblieben wie die eines jungen Mädchens. Nun genügte offenbar schon eine Berührung, um einen Mann in sie einbrechen zu lassen bis dorthin, wo sie immer allein gewesen, und die verborgene, Quelle wurde zum Strom, der sie nahm und forttrug, und sie erschauerte unter dem überwältigenden Ausblick auf die Gewalt des Lebens. Um zu wissen, wie weit sie ihren Sinnen trauen sollte, führte sie selbst solche Berührungen herbei, und schließlich verlangte sie danach wie nach dem täglichen Brot, während die wachsende Scham sie vor jedem weiteren Versuch zurückhielt. Da begann ihre Einbildungskraft von Silvio Besitz zu ergreifen. In der Art, wie ein Baum dastand, schlank aufsteigend, alle Äste um sich gesammelt im Dunkel seines Laubes, das von einem einzigen, grell beleuchteten Zweig erglühte, in der Biegung einer Straße, im zurückgeworfenen, schäumenden Kamm einer Meereswelle sah sie ihn, in allem, was sich ihrem erstaunten und entzückten Blick darbot, und in der stillen Rührung ihrer Eingeweide vernahm sie den schon nicht mehr körperlichen Nachhall seiner Stimme ... Ihr Verstand blieb unberührt. Sie hielt den Geliebten nicht für besser, als er war – eher, glaubte sie, für schlechter. Und es bereitete ihr eine gleichsam mütterliche Genugtuung, jemand zu lieben, der weder innerlich noch äußerlich ihrer Welt angehörte, der, wie Aggie sagte, nicht einmal ein »Monsieur« war und im Grund hilflos ihr gegenüber wie ein Kind.

Hier wird er mich küssen, wiederholte sie und fühlte, wie er ihr näher und näher kam, obwohl sie still nebeneinander auf die Mauer gestützt blieben und die Bucht von Villefranche beobachteten. Er hatte schein lange aufgehört zu sprechen.

Da sagte er: »Ich sehe mein ganzes Leben.«

Sie antwortete: »Ich auch ... Nicht sehr erfreulich, wie?«

Jetzt aber setzte sich drunten in der Bucht Gurdons Jacht lautlos in Bewegung. Es war, als ob ein in blauem Gletschereis eingeschlossenes Insekt plötzlich ins Laufen käme. Das Schiff hinterließ eine weiße Spur, und dieser Schaumstreifen verharrte, gleichsam gefroren, in dem unerbittlichen Block von Bläue, auch als Silvio und Ada die Jacht nicht mehr unterscheiden konnten. Es war herzbeklemmend, ein Gewitter von Stille stieg aus der reglosen Bucht, zerrte an ihnen und drückte glashell auf ihre Schultern. Sie wagten nicht, den Blick zu wenden, aus Angst vor einer Entladung.

Langsam wurde es dunkel vor ihren Augen, die Bläue überwältigte sie, mit großen, dunklen Trichtern wuchs sie bei noch hellem Tag in die Höhe, bis alles vor ihnen fast schwarz war, und die Fahrrinne des Schiffes glomm darin wie die Lichtspur eines im Meere wandelnden Mondes.

Im Gefühl des Bedrohtseins lehnten sie die Schultern aneinander und auch, um nicht getrennt zu sein, jeder auf sich selbst gestellt, wenn die Gefahr endlich vorbei wäre. Wie hätten sie sonst je wieder zueinander gefunden! ... Die Sonne ging unter, flach und rund wie eine Mitternachtssonne. Es dämmerte. Und erst aus der Nacht kam wieder Licht zu ihnen. Vorsichtig wandten sie den Kopf und blickten sich in das schimmernde Gesicht.

Da, plötzlich, schlug Ada den Arm um seinen Hals: »Silvio!« rief sie. Da, plötzlich, hielten sie sich umschlungen und taumelten, gewaltsam emporgehoben und auf diesen Platz gegeneinandergeschleudert. Sie sahn sich an, suchten sich deutlicher zu erkennen, indem sie ihre Blicke von ihren verwirrenden Gesichtern abschweifen ließen, sie auf Kundschaft schickten nach einem Knoten des alten Weinstocks, einem Busch Nelken auf der Mauer und alles wiederfanden, wie es vorhin gewesen, die Hänge mit den Häusern, die mit ihren aufgesteckten Lichtern in die Nacht eingingen, und endlich das Meer – das Meer, das über die ganze Haut erzitterte, weil es den Strahl des Abendsterns empfing.

»Ada«, sagte er kleinlaut.

Ada rief in die Nacht hinaus. »Sir Ronald!« rief sie, »Sir Ronald ...« Auf Silvios Wange glänzte eine Träne. Vielleicht war es nur ein Tropfen vom Schweiß des Tages, der auf seiner Wange zurückgeblieben war, seine Augen blickten heiß und trocken, vielleicht nur der Nachttau, Speise der erschöpften Erde. Dennoch war es das lebenswahre Abbild einer Träne, ein Schatz, und Ada rief den verratenen, alten Mann zum Zeugen an für diese einzige Träne, sie zeigte ihm die Kostbarkeit über Zeit und Raum hinweg. Langsam hob sie sich auf den Fußspitzen und betrachtete die Träne, wie eine Mutter ein Kind betrachtet, bevor sie es in einem Ansturm von Zärtlichkeit an ihr Herz drückt. Sie hielt den Atem an und nahm den Tropfen zwischen die Lippen. Er schmeckte salzig, wie echte Tränen schmecken. Mit seinem Geschmack netzte sie ihren Gaumen, ihre Kehle.

Der Geliebte küßte sie nicht. Riß sie nicht in seine Arme. Als ihr Kopf an seine Schulter sank, ergriff er ihre Hand:

»Ich will Sie nicht überrumpeln, Ada, nicht Ihrem Gefühl Gewalt antun.«

»Ich habe dich zuerst geküßt«, sagte sie.

»Schauen Sie mich an. Ada! So. Ja, so. Ihr Vater hieß einmal der ungekrönte König des Elsaß, wir wußten es schon auf der Schule. Offen gestanden, ich will sein Nachfolger werden.« Er versuchte zu lächeln. »Ist es da nicht natürlich, wenn ich seine Tochter zur Frau nehme?«

»Auch das«, antwortete sie lachend. »Die Legitimität hat ihre Reize.«

Die Ironie ärgerte ihn, sie war zu stark betont.

»Und ihre Vorteile«, überbot er. Und dann drückte er sie an sich, preßte sie in sich hinein und sah sie dabei unverwandt an. Ihre Augen entließen eine Fülle silbergrauen Lichtes, er trocknete sie aus mit seinem Blick, er wartete, daß sie starr wurden unter seinem Blick, wartete, bis ihr Lächeln in den nach unten geritzten Winkeln ihres Mundes, der breit und sehr hochmütig war, gleichsam gefror, er legte ihr die Hand auf die Stirn, bog ihren Kopf zurück, es fiel ihm auf, daß die Oberlippe in der Mitte wie in einer natürlichen Schwellung ein wenig nach oben verlief. Dorthin, wo der Mund zu rot war in dem nachtblassen Gesicht, als sei ihr das Herz auf die Lippen getreten, dorthin küßte er sie.

Als sie den Heimweg antraten, wehte ein goldener und blauer Mondschein und beflügelte die Erde. Sie schritten schnell, sehr schnell, indem sie sich suchten und mieden. Wenn sie vor einem Auto auf die Seite der Straße traten, nahmen sie sich bei der Hand. Silvio blickte in das Licht des Scheinwerfers, sie hielt abgewandt den Kopf über seine Schulter.

»Ich bin eine Jungfrau«, sagte sie, leise in sich hineinlachend. »Ich bin eine Braut ... Ich frage mich, wo ich meine Kinder herhabe ... Wahrscheinlich, Silvio, von dir!«

Ihn jedoch drängte es, auf der Stelle zu erfahren, warum sie nach der Scheidung den Titel ihres Mannes beibehalten habe, eine Hartmann sei doch in Frankreich viel mehr als eine Gräfin Breisach ... Weil sie denselben Namen tragen wollte wie ihre beiden Mädchen, klärte sie ihn auf, doch damit – damit war es ja nun vorbei:

»Ich werde Frau Silvio Wolf heißen!«

In Adas Freude noch strömte es dunkel. Der Name Silvio Wolf erhielt einen Klang von Sage und Ferne. Ihr Geflüster bewegte sich weiter um seinen Namen, breit dahinwogend wie ein Strom in der Nacht und wankend vor Glück – ein Strom in der Nacht, den die kleinste Wolke in einen Abgrund von Schwermut verwandeln kann. Immer wieder berührten sich die Worte »Frau Silvio Wolf« mit einem Knistern von Licht und Wasser, wie wenn zwei, drei Wellen über einem Mondstrahl zusammenschlagen ... Dann begann es in ihren Worten zu tagen, die Sonne ging auf und überschüttete die himmlische Küste mit dem Feuer seines Namens:

»Frau Silvio Wolf! Und ... ich werde mit allem vermählt sein, den Bäumen, dem Meer, dem Wind, den steilen Hügeln und den Wegen an den Hügeln, die alle, Silvio, alle aus deinen Rippen geschnitten sind ... Warum sagst du nichts?«

Ja, warum sagt er nichts! Er geht mit verzagtem Lächeln neben ihr und sieht sich vergeblich nach einem Wort um, das ihr gewachsen wäre. Ihre Liebe macht ihn schwach, er fühlt sich leer. Er ist auf keinen Widerstand gestoßen – man hat ihn um die Siegespalme betrogen. Zwar versucht er, am Anblick ihres Mundes zu wachsen, der solche Gebete formt, er will sich in ihrem geflügelten Schritt bewundern, seine Macht spiegeln in ihrer hohen Gestalt, er will sie mit einem Wort, einer Gebärde unterwerfen ... Sie bleibt unangreifbar. Vorher schon war sie größer als er, nun ragt ihr Haupt in die Sterne. »Silvio!« ruft sie, er antwortet: »Ada!« Sie bleibt unerreichbar.

So vollzieht sich der Heimweg nach Nizza anders, als er ihn sich ausgemalt. Es ist ein Sternenweg für Ada. Er wandelt ihn als der Knecht seines Ehrgeizes, der an sein Glück noch nicht glauben kann ...

In der Halle des Hotels verläßt er sie.

Bisher hat er sie unbedenklich bis auf ihr Zimmer begleitet. Seitdem er aber mit der Tochter Charles Hartmanns verlobt ist, legt er (schon unterwegs, im Dunkel!) eine Förmlichkeit an den Tag, die Ada insgeheim belustigt: ach, das wichtigtuerische Gebaren eines Kindes! Zuletzt bittet er sie, die Verlobung vor Aggie vorläufig noch geheim zu halten, er müsse Zeit haben, die »einflußreiche Person« für »ihre« Sache zu gewinnen.

»Unsere Sache?« fragte sie.

Er antwortet:

»Das Elsaß.«

Sie steht im Lift hinter dem Gitter. Er verneigt sich, sie hebt die Hand: »Es lebe Seine Majestät der König aller Frösche zwischen Rhein und Vogesen!«

Der Lift saust in die Höhe.

Silvio Wolf beißt sich auf die Lippe.


 << zurück weiter >>