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Zweiter Teil

Zwischen Feuer und Licht

Es ist nicht mehr Winter, noch nicht Frühling, und der Badearzt Savarin zeigt sich manchmal am gleichen Tag im Wintermantel und im Frühlingspaletot, mit langen und mit kurzen Hosen. Ein einziger Sonnenstrahl über Mittag entreißt ihm Hut und Mantel, dann fliegt er blond, dünn und mit blitzendem Kneifer, ein Sonnenstrahl fast selbst, über den Platz zwischen seinem Haus und dem Hotel Vogesenblick oder die Straße entlang, an der die andern Gasthäuser liegen, und kennt nur den einen Wunsch: auf seinem Eilgang zum Stelldichein mit dem Frühling von keinem Menschen aufgehalten zu werden. Wird er dennoch angesprochen, bleibt er stehn, wie verdammt, die Stupsnase wittert, der Blick wandert vom Zifferblatt der Kirchenuhr in den Himmel und wieder zur Kirchenuhr, als zeigte der Himmel eine höhere Zeit an, von der die Uhr noch nichts weiß ... Die Beine halten ihn nicht mehr an der Erde, den Doktor Savarin!

»Seelenmörderisches Wetter«, murmelt er.

Um diese Zeit, man weiß es, ist aus ihm mehr nicht herauszubringen. Umgänglich wird der Doktor erst, wenn der Flieder Knospen ansetzt und der Schnee ihn nicht mehr hindert, in fünfundsechzig Minuten den Hochblauen zu stürmen. Wo er steht und geht, sieht er in seiner Sehnsucht den zartgerundeten Berg, der hoch und blau ist, wie sein Name besagt, und dem die wichtige Aufgabe zufällt, den Kurort Römerbad gegen den Ostwind zu schützen. Dafür ehrt ihn der Badearzt mit rasenden Wallfahrten auf den Gipfel, zweimal in der Woche, sobald, mit Anemonen, Veilchen, Schlüsselblumen bekränzt, die Saison beginnt.

Für jemand wie den Doktor, der mit dem Himmel lebt, dem der Begriff ›Wetter‹ den Inhalt eines unwiederbringlichen Stück Lebens bedeutet, in Freude oder Not verbracht, für ihn wäre jetzt eine spannende Zeit, wenn nicht die Wechseldusche, wie er es nennt, seinen Nerven zusetzte. Ihm ist zumute, als gewänne er an einem Tag das Große Los, um am andern Morgen zu erfahren, es sei ein Druckfehler in der Gewinnliste gewesen. Jeder Baum schaut täglich anders drein, und jedesmal mit entschiedenem Ausdruck, und immer bleibt es unentschieden, ist es noch Winter oder schon Frühling.

Über die Rheinebene gehn Wolkenwanderungen, lange Lichtstreifen heben dies und jenes Stück der Niederung hervor, zuweilen auch den blonden Hang der Vogesen, Lagen aus Licht und Luft wechseln unaufhörlich.

Plötzlich schneit es.

Der Doktor, der an allen Volksvergnügungen teilnimmt, zieht den Rodel im Bergsteigerschritt die Blauenstraße hinauf und saust in seinem ein wenig zu neuen Sportanzug bis vor das Tor des Hotels Vogesenblick. Bei der letzten Kurve, die ihn den Augen des Hotels preisgibt, rückt er mit einer Hand den Kneifer zurecht, er hält sich gerade auf seinem Schneeroß, und nun tut sich die beste aller Welten weit vor ihm auf: als er am Tor anlangt, tritt eine Patientin hervor, ganz von selbst ruft sie: »Nein, sind Sie das, Herr Doktor?!« Er ist es.

Abends, auf seinem ärztlichen Rundgang durch das Hotel, nimmt er von den Fenstern des oberen Stockwerks das Erröten des Hochblauen entgegen. »Fast zu süß«, bemerkt er, »das macht das Rosa auf dem Schneestaub der Bäume, dazu das Tannengrün, das überall durchkommt und die große Fläche auflöst, verzärtelt, sie in zuviel Grübchen lächeln läßt. Immerhin – der Hochblauen!« – Nichts verordnet er lieber als Spaziergänge auf diesem Berg. Herzkranke fassen deshalb leicht Argwohn gegen ihn.

Und wiederum stellen Sonne, Wärme, fast Hitze sich ein. Der Doktor kleidet sich um, rüstet Brille und Bergstock und das Plakat: ›Auf dem Blauen. Zurück in 106 Minuten‹, worunter eine gemalte Uhr mit Pappzeigern die genaue Zeit des Starts anzeigt ... Eine Stunde später steht ein Wind auf, packt die Sonne, rollt sie in Wolken wie eine brennende Frau, das Licht erstickt. Nebel dichtet die Wolken ab, alle Türen schlagen zu. Der Doktor grollt: »Was würde aus meiner Praxis, wenn ich mich ebenso launisch benähme!«

Endlich tauchen Weidenkätzchen und Knospenbüschel aus dem Schattenreich, unter den Bäumen rücken unruhig die Wiesen, die nackte Erde sprudelt Licht hervor, alle Wege blitzen, der kleinste Pfad auf dem Rebberg vollführt muntere Sprünge, endlich leuchtet Gewißheit. In der Ebene segeln die Züge, ihr Rauch verweilt, läßt sich nieder. Die Nacht erbebt vom dunkeln Frohlocken der Käuzchen. »Juchhu! Juchhuhuhu!« Um die elfte Stunde tritt das Kreuz des Südens in den Himmel über Römerbad, nicht jenes der Sternkarte, sondern das private des Doktors.

Sich allein hat er es dort oben aufgerichtet, im ersten Jahr, als er aus dem Norden hierherkam, ein sternwandelndes Ex voto, Dank für Edelkastanie, Weinrebe und Pfirsich und alles, was ihm, erfüllter Traum, als der Reichtum des Südens erschien. Er hatte noch keine Wohnung, da ging es schon, ein wirkliches Kreuz, niemand konnte es leugnen, über seinem Haupte auf im blumigen Himmel. Es war sein erster und letzter Eingriff in die Sternkarte ... Im übrigen blieb er, ein Liebhaber des Firmaments, der ebenso neugierige wie folgsame Schüler der Astronomen, schon allein, weil er als Deutscher, trotz seiner mißtrauischen Natur, jedes Fachgebiet für das unverletzbare Reservat der dort angesiedelten Pioniere ansah. Als Arzt durfte er es sich gestatten, über die ärztliche Wissenschaft skeptisch zu denken. Die gleiche Zweifelsucht wäre bei einem Laien eine Unanständigkeit gewesen.

»Römerbad sehn und sterben!« begrüßte er die neuen Patienten, den Kollegen aber, die ihm eine solche, im Munde eines Badearztes immerhin zweideutige Aufmunterung verargen wollten, erwiderte er: »Wenn Sie wollen, daß Ihre Kranken leben, so schicken Sie sie zu mir!«

Und lacht und zuckt mit dem Hals wie ein Käuzchen.

 

In Römerbad wird es lebhaft.

Mit Anemonen, Veilchen und Schlüsselblumen bekränzt, steht die Saison hinter den Hoteldienern am Bahnhof und empfängt die Züge voller Kurgäste. Sausend und pfeifend eilen die Wagen den Berg herauf. Früher paffte hier eine Kinderlokomotive, der die Wagen gewissermaßen nur aus Gewohnheit folgten, jetzt fahren sie elektrisch.

Der Doktor Savarin verdient endlich Geld. Es ist nicht mehr wie im Winter, wo er die meisten Leute umsonst behandelt (wenn er sie behandelt!) und von den andern, die sich gegen seine Großmut sperren, als Honorar eine Tasse Tee und ein Butterbrot annimmt. Im Winter betrachten ihn die Römerbadener mit Unbehagen, er ist ihnen zu sonderlich, hinter seinem scheuen Wesen wittern sie Menschenverachtung. Jeden Hund auf der Straße spricht er an und plaudert mit ihm, die Katzen kommen von selbst gelaufen, wenn sie ihn sehn, er nimmt sie auf den Arm und eilt, kaum daß er es verlassen, gleich wieder in das Doktorhaus und schaut geduldig zu, wie ihre rosa Zungen in der Milch plätschern.

Auch bei Mädchen, die sich gern verschiedene Väter für ihre Kinder aussuchen, bleibt er stehn (im Winter), leiht den Trunkenbolden sein Ohr, wenn sie, von Ahnungen erschüttert, schwanken im Schnee unsrer kaltherzigen Zeit und mit zürnendem Arm den Propheten des Alten Bundes nacheifern. Aber vor Bürgern, die weit über die Bannmeile hinaus geachtet sind, saust er ängstlich davon. Immerhin, ist es erst so weit, daß die Bäume ausschlagen, macht er auch bei ihnen halt und gibt nur undeutlich zu verstehn, daß sie ihn langweilen ...

Savarin hat auf dem Hochblauen dem ersten Gewitter des Jahres beigewohnt, es lag über Basel und hämmerte auf die Stadt ein, als wäre dort der Winter verschanzt und gälte es, ihn finstern Gesichts zu zermalmen. Es gelang nicht, hingegen schien der Sieg des Frühlings im freien Feld gesichert.

Doch Glück muß geprüft sein, und darum fällt bald danach wieder Schnee. Schnee fällt auf Schlüsselblume, Veilchen, Anemone, auf das blaue Schaumkraut in den Wiesen und das gelbe Pfennigkraut in den Reben, auf den Huflattich, der nach Honig duftet, auf die gurrenden Tauben und den Specht, der mitten in seinem Wirbel verstummt, um dann höhnisch aufzulachen: »Hihihi!« Und eines Nachmittags, es hat für eine Weile aufgehört zu schneien, die Sonne wuselt kristallen, eines Nachmittags beginnt der Schnee auf dem Boden zu wandern.

Eine Schafherde auf eiligem Rückzug in die wärmere Ebene kommt durch Römerbad. Mit einem Gedonner von Watte, das die, vielen hundert trampelnden Hufe hervorrufen, zieht sie zwischen Hotel und Doktorhaus vorbei.

Savarin steht auf seiner Veranda und klatscht in die Hände.

Im Hotel werden Fenster aufgerissen und bunte Kinder über die Brüstung geschoben, der Hirt grüßt hinauf.

In diesem Augenblick bemerkte Savarin drüben einen dicken Herrn, der ihm Zeichen machte: den Mund sperrte er auf, deutete auf seinen Hals, und schon wollte Savarin zurückwinken und nach seiner Gewohnheit kurzerhand über die Brüstung der Veranda setzen, um durch den Vorgarten hinüberzulaufen, da unterdrückte er gerade noch rechtzeitig die Bewegung – nein, er hatte nichts gesehen! Kaum war nämlich die Schafherde vorbei, als sich die Luft verfinsterte, es schneite wieder, hartnäckig sank das unehrliche Dunkel zur Erde, im Hotel wurden schnell alle Fenster geschlossen. Der Doktor murmelte: »Schon wieder ein Aufstoßen der freudigen Weihnachtszeit«, und trat in das Zimmer. Da es überheizt war, ließ er die Verandatür offen und verbarrikadierte sich mit schweren Vorhängen – Wintergardinen, Flattermatratzen oder Vogelscheuchen, die auch die Gewandung riesiger Götter hätten sein können, verbarrikadierte sich ingrimmigen Gemütes gegen die Außenwelt. Ohne Licht zu machen, warf er sich auf den Diwan und versuchte die Zeittotschlägerei, die er ein »Schopenhauerschläfchen« nannte.

Eine Zeit verging.

Stöhnend wälzte sich der Doktor auf die andre Seite.

Aus seinem verdunkelten Körper stieg ein Schrei auf, langsam wachsend, gleich einem Glockenschlag in der Nacht, ein Schrei nach Hilfe, und während der dicke Herr, der ihm vom Hotelfenster gewinkt hatte, betrunken oder wahnsinnig durch die Traumtür in Savarins Zimmer taumelte, flammte an der Decke das Licht auf, und Savarin, halb geblendet, erblickte ein Mädchen. Ein echtes Mädchen, ein Mädchen aus Fleisch und Blut, ein Mädchen, das knallgelb war und einen Schneeregen um sich versprühte. »Salut, mon vieux!« rief sie ihm zu, dabei legte sie den kurzen, orangefarbenen Ledermantel ab.

Aufatmend sprach Savarin

»Gabriele.«

Er sprang hoch, schnippte ihr zwei Schneeflocken, die nicht zergehen wollten, aus dem gelben Haar, stand vor ihr, hüstelte und schaute sich um. Ein Zucken des Halses, und er vergrub die Hände in den Hosentaschen. Ein Schauer schüttelte ihn vom Kopf zu den Füßen.

»Aha«, sagte das Mädchen.

Sie eilte zur Verandatür, schloß zu, zog die Vorhänge auseinander, bückte sich über den Diwan und kam mit dem Kneifer zurück, den sie ihm vorsichtig mit zwei Fingern auf die Nase schob.

»So«, sagte Gabriele.

Der Doktor aber zeigte auf die Glastür, die der Abend mit tiefen Farben bemalte. Ein kupferroter Strahl fiel bis zu seinen Füßen und leckte ihm zart die Schuhe. »Es schneit doch, Gabriele?« Er hob einen Finger, denselben, mit dem er seine Patienten abklopfte, tupfte auf das nasse Haar des Mädchens, schaute wieder zum bunten Abendfenster. »Es schneit doch – oder nicht?«

»Kaum ein bißchen noch, hör zu, Doktor! Großvater Hartmann schickt mich, er sagt, er habe dir schon vor einer Stunde Zeichen gemacht, Zeichen voll Demut und Angst, sagt er.« »So? Hat er? Denk nur, Kind, als du vorhin hereinkamst, dachte ich, es sei dein dicker Großvater, und er wolle mich ermorden. Im Schlaf – so eine Gemeinheit! Zum Glück hast du ihn vertrieben, ich sah ihn gerade noch durch die Tür torkeln. Im Traum, natürlich.« Sie machte einen Tanzschritt. »Also doch!«

»Was heißt: also doch?«

»Schon gut, Doktor, bei uns gibt es keinen Verrat. Du hattest bloß keine Lust hinüberzugehn.« Er wurde verlegen. »Das nicht, Gabriele, oder um genau zu sein: was ich sah, war mir zu unklar, der Mann konnte sich ja auch über den schönen Schnee freuen, tatsächlich, er fuchtelte in der Luft herum wie ein Sänger, und es gibt wirklich Leute, die Schnee schön finden. Na, was ist denn mit seinem Hals?«

»Kratzen.« – »Weiter!« – »Spucken.« – »Was noch?« –

»Husten.«

»Genug, Kind. Das kommt, weil er seit acht Tagen deinen Vater anschreit.«

Da befahl Gabriele mit wichtiger Miene:

»Setzen wir uns.«

»Einen Tee, mein Junge?« – Sie nickte. »Ich bin kein Junge oder bin es wenigstens nicht mehr, volle fünfzehn Jahre bin ich jetzt alt, mein Lieber, und habe herausgefunden, daß ich weiblichen Geschlechtes bin, ob du es mir nun glaubst oder nicht.«

Sie wartete, bis das herbeigeklingelte Hausmädchen das Zimmer verlassen hatte, fragte: »Sagst du zu dem neuen, hübschen Fräulein auch ›Mein Junge‹?«, und fuhr, ohne eine Antwort abzuwarten, fort: »Also, unter uns Junggesellen, hör zu ... Der Graf Breisach will seine Töchter nicht herausgeben. Die Mutter ist vom Grafen geschieden und also unwürdig, die Töchter zu erziehen.«

»Du sprichst von deinen Eltern«, stellte Savarin fest.

»Ich spreche, als ob es nicht meine Eltern wären und als ob die ganze Geschichte mich nicht anginge. Wir gelten nicht für sentimental. Und du – waren die Berliner Hugenotten, von denen du abstammst, sentimental? Kaum waren sie dem König von Frankreich durchgegangen, traten sie auch schon in den Dienst des Königs von Preußen. Heute, denke ich mir, würde so was Landesverrat heißen. Jeder Zeitungsjunge würde sie anspucken, solche Vorfahren hast du! Wenn du aber willst, daß deine stadt- und landbekannte Neugier befriedigt wird, so darfst du mich nicht unterbrechen ... Von einer Herausgabe der Kinder will der Graf also nichts wissen. Durchbrennen können wir nicht, weil er uns sonst durch die Polizei zurückholen läßt.«

»Übrigens, mein Kind, daß ich's nicht vergesse. Heute schreien die Zeitungen wieder Zeter und Mordio. Im ganzen Kreise sollen die Kriegerdenkmäler geschändet worden sein.«

Gabriele sprang auf. »›Geschändet‹? Wunderbar. ›Geschändet.‹«

»Ja, natürlich, Kind. Im Krieg brachte man es nur fertig, Frauen zu schänden, ihr hingegen, mitten im Frieden, schändet Granitsäulen, Bronzeadler, gußeiserne Löwen.«

»Ich frage dich, Doktor, was haben Raubtiere auf Gräbern oder Denksäulen für arme Soldaten zu suchen? Du mußt wissen, Doktor, wir haben uns strengstens darauf beschränkt, das Raubtier von den Denkmälern zu beseitigen, leider erst in drei Ortschaften, die zusammen nicht mehr als achthundert Seelen zählen – bei jedem braven Misthaufen muß nämlich so ein Adler stehen und gefährlich die Halsfedern sträuben ... Es ist der Anfang. Eine Übung. Nous nous faisons la main, sagen die Franzosen.«

»Gott sei Dank, daß der Feldzug gegen die Raubtiere drüben im Elsaß losging und nicht bei uns. Sonst würde euer Spaß bestimmt –«

»Spaß? Du redest von Spaß? Seitdem die Welt steht, sind wir, wir, die Weißen Scharen, die ersten, die Ernst machen. Dafür haben wir uns ja zusammengetan! Wir machen Ernst und zeigen es den Alten, wie wir über die Verherrlichung des Massenmordes denken – wir, die wir uns nach der freundlichen Anweisung der Greise für den nächsten Waffengang bereit halten sollen! Ja, und weil die Jungens in der Mehrzahl zu blöde sind und nichts andres im Kopf halben als Poussieren und Strammstehn, so müssen wir Mädels und werden wir Mädels, wenn nicht Verrat uns vorzeitig –«

In der Tür erschien das neue, hübsche Fräulein mit dem Teebrett und verhinderte, daß Gabriele dem Doktor die Aufgabe der heutigen Mädchen auseinandersetzte. Er kannte sie ohnehin.

»Ich weiß nicht, ob gerade Zuchthaus darauf steht«, äußerte er laut und ernst, »aber sicher Gefängnis und Ersatzansprüche in Geld oder zumindest Besserungsanstalt.« Gabriele, die hinter dem Fräulein stand, deutete mit dem Zeigefinger auf deren Rücken und dann auf ihre Stirn, sie war rot vor Entrüstung über die Unvorsichtigkeit des Doktors. Plötzlich raffte sie sich zusammen und sagte: »Die Leute können mir leid tun.« Dabei blickte sie der Spionin ins Gesicht. Die Spionin lächelte fast unmerklich, Gabriele entging es nicht, sie entdeckte eine Fülle von Falschheit darin.

Die Hagelwolke, die nur auf den Abgang des Hausmädchens wartete, um auf den Doktor niederzubrausen, schoß dieser mit der Bemerkung auseinander, das Fräulein sei aus der Schweiz, und das heiße in diesem Falle so gut wie taubstumm oder zumindest neutral, was Gabriele nach einigem Zögern auch zugab. Und, fügte er hinzu, er warte ungeduldig auf das Eintreffen der Gräfin Breisach, um mit ihr, das Einverständnis Gabrieles vorausgesetzt, über Theorie und Praxis der Weißen Scharen zu sprechen, »die nämlich zweierlei« seien. Gegen die Theorie fand er nichts einzuwenden, die Weißen Scharen spielten Friede und Friedenskämpfer, wie man zu seiner Zeit Krieg und Soldaten spielte (hier lächelte Gabriele überlegen), ihre Praxis aber behagte ihm gar nicht.

»Über die Praxis läßt sich vielleicht reden«, sagte sie versöhnlich. »Nur wirst du so bald keine Gelegenheit haben, meine Mutter zu sehn.«

»Sie kommt nicht? Ja, aber wenn doch Hartmann es nicht fertigbringt, euch Kinder loszueisen?«

»Er bringt es nicht fertig und hat es auch gestern abend meiner Mutter nach Nizza telephoniert. Du mußt jetzt zu ihm hinüber, Doktor. Er will heute reisen.«

»Heim?«

»Über Mülhausen nach Paris. Du sollst ihm nur schnell in den Hals gucken, ob er es wagen darf. Du weißt, in zwei Jahren ist er aufgegangen wie eine Dampfnudel, und nun platzt er vor Argwohn gegen seinen Körper, den Hals einbegriffen.«

»Und? Wird die Belagerung von Schloß Breisach aufgehoben?«

Gabriele belebte sich. Sie zupfte den Sweater zurecht und sprang schnell einmal zum Spiegel. »Nein. Sie schicken Aggie Ruf, Doktor! So, wie du mich hier siehst, werde ich Aggie Ruf erleben! Du hast uns einmal ihre Gedichte geliehen, und die haben uns erweckt, uns alle von den Weißen Scharen. Ich finde sie herrlich! Du auch? Freut mich. Das Buch war unaufgeschnitten – unter uns Junggesellen gesagt.«

Der Doktor blies vergnügt in die Faust:

»Aggie Ruf kommt?! Das wird lustig! Ich meine, wenn sie nichts erreicht, gibt es wenigstens ein lustiges Buch.«

»Erlaube! Aggie Ruf schreibt keine lustigen Bücher!«

»Kind, was weißt du, was lustig ist!«

Er hielt die Faust unter das Kinn und lachte, daß der Kneifer auf der Stupsnase tanzte.

»Natürlich, das wissen wiederum nur die Alten.«

»Wer denn sonst, Gabriele? Ihr habt doch keine Zeit, so was herauszufinden.«

Vor dem Haus schüttelten sie sich die Hände. Es schneite nicht mehr, zwischen den Wolken zeigten sich Stücke abendlich klaren Himmels.

»Jetzt muß ich hinauf und mir von Madame Graeßlin die Suppe verabreichen lassen. Verstehst du eigentlich, Doktor, warum sie mich nicht vergiftet?«

»Weil Weinhändlerswitwen viel zu großen Respekt vor Komtessen haben, mein Junge.«

»So wird es sein, gnädigste Frau Doktor! Geruhsame Nacht, alte Jungfer. Von Großvater Hartmann habe ich mich bereits verabschiedet, aber du kannst ihn von mir grüßen. Ein famoser Mann.« Sie rief ihm nach: »Und – du, Doktor, der Großvater hat gesagt, bei uns sei mit Kriegen nichts mehr zu verdienen. Prüfe ihn mal, am Ende gehört er zu uns.« Savarins Kneifer blitzte. »Am Ende bezahlt er noch den Raubtierschaden«, rief er herüber.

»Friede durch die Jugend!« schallte es zurück. Gabriele hatte einen raschen Blick um sich geworfen, außer ihnen beiden befand sich niemand auf dem Platz ...

Eine Viertelstunde später fuhr das Auto Hartmanns vor das Hotel. Savarin gab dem jetzt auch körperlich mächtig gewordenen Mann das Geleit und nickte in den Wagen, von wo Hartmann ihm noch zuredete: »Und falls die Dichterin wirklich kommt und den Grafen plattdrücken will, was mir Dampfwalze von einem Menschen mißlungen ist, so stehn Sie ihr ein wenig mit Rat bei, lieber Doktor, wenn es auch nicht viel hilft, nur, damit sie sich nicht zu dumm vorkommt. Meine Tochter scheint zu glauben, Dichterinnen seien unwiderstehlich.«

Savarin schaute dem Wagen nach und dann auf die Armbanduhr und dann auf den Kirchturm. Und dann zog er den Hut. Mit seinen goldenen Zeigern und allen Goldziffern, bis auf eine, überragte der Turm gerade das Doktorhaus. Die Sechs verbarg der Helm des Schornsteins. Und das war ein sehr freundliches Entgegenkommen von Seiten des Schicksals, denn die Sechs war Savarins Unglückszahl. Gerade jetzt war er besonders guter Laune. Der Besitzer des ›Vogesenblicks‹, Herr John Muser, hatte eine blühende Magnolie aus dem Treibhaus in die Halle bringen lassen, eine kleinwüchsige Art aus Japan. Sie sah aus wie eine weißgekleidete Puppe und duftete, wie Puppen duften (wenn sie es tun), etwas zu stark für ihre Größe. Der Doktor hatte vor ihr gestanden und gelächelt und mit dem Hals gezuckt wie ein Käuzchen und beim Weggehn beschlossen, sich »auch ein wenig vortreiben zu lassen«.

Er wurde in seinem Vorsatz bestärkt durch die Kirchenuhr, die der Nauener Zeit, wie er sie auf seiner Armbanduhr festhielt, mit einem tollen Sprung, nämlich um ganze vier Minuten, davongelaufen war.

Es dauerte nicht lange, und das Land am Oberrhein nahm das unzweifelhafte Gesicht des Frühlings an.

Gabriele ging den Schloßberg hinab.

In den Reben knackten die Scheren, das abgebundene Stroh raschelte, weiße Kopftücher tauchten zwischen den Pfählen auf und nieder. Die Triebe wurden von ihren Strohfesseln befreit und geschnitten. Zwei blieben stehn, ein langer und ein kurzer. Die streckten sich frei am Pfahl. Zu Büscheln gehäuft lag das Abfallholz die Reihen der Pfähle entlang oder aufgeschichtet am Rand des Rebstücks. Es hatte eine warme braune Farbe, die Schnittflächen schimmerten wie Zähne in einem leicht geöffneten Mund. Gabriele sah es und leckte sich die Lippen. Die Stille machte den Berg schallend, jeder Ruf wurde zu einem Wesen. Seelenruhig brannten kleine Feuer, Ranken, Gestrüpp, Unkraut zogen in einem blauen Rauch davon. Sie brannten atemlos, die Sonne trank die Flamme ...

Was soll aus der Menschheit werden? Sie liegt da, aufs Haupt geschlagen, und über ihrem Märtyrerleib kämpfen sie weiter, die Engel mit den Teufeln. Mein Vater sagt, alle Welt rüste für einen neuen Krieg. Wir aber, die Jungen, wir wollen keinen Krieg. Wenn Teufel mit Engeln kämpfen, entscheidet dann auch die Zahl? ... Gabriele war im Tal angelangt und lehnte sich über den Wildbach, in dem alles Leben der Berge kochte, die schlagflüssige Altmännerwut des Winters und der Leichtsinn des Frühlings, das Krachen der Bäume und ihre verwunderte Stille und die bohrende Freude des Waldbodens. Alles das strömte und strudelte unter ihr durch die Brücke. Über ihr aber wiederholte sich großartig derselbe Zug. Die Wälder stiegen gegen die Rheinebene herab, und als eine höhere Macht sie festhielt, löste sich ein ganzes Volk Obstbäume von ihnen und wanderte weiter. Hoch oben auf den Hängen marschierten sie, andre am Ufer des Baches, und mittewegs zwischen Ebene und Gebirge, dort, wo das Mädchen schaute, wurden sie von den Abgesandten des Rheins, den Pappeln, erwartet. Steif und würdig standen sie da und flüsterten untereinander, wie eben Gesandte stehn und flüstern. Hier hatte sie einmal Jacquot Breuschheim und seine Mannen empfangen ... Er hatte drüben, sie hüben die Weißen Scharen gesammelt. Früher, als Kinder, in Römerbad, waren sie einander fremd geblieben – das hatte sich geändert! Leider begegneten sie sich viel zu selten und immer nur als Häuptlinge.

Es überkam sie ein heftiges Verlangen, wenn es erst wärmer wäre, allein mit ihm über den Rhein zu schwimmen oder stundenlang, von den andern getrennt, durch die Wälder zu streifen. Sie machte sich klar, daß dies die wahre Bestimmung der Wälder sei, und auch der Rhein wechselte in ihren Gedanken das Gesicht. Hatte sie ihn von je streng und launisch gefunden, wie einen alten Geschichtslehrer, so lächelte er sie jetzt einladend an. Herrlich mußte es sein, in seiner Mitte mit Jacquot zu schwimmen, dort war es so einsam wie im Meer. Das Mädchen schüttelte sich, als fühle sie das kalte Wasser an ihrem Leib. Darauf überschlug sie ihre Fertigkeiten, die sich auf das Festland bezogen. Sie konnte einen in Lehm gepackten Igel im Feuer braten und gleichzeitig rechts und links davon Kartoffeln am Spieß, vielmehr an zwei Spießen, und das Ganze war eine Spezialität von ihr. Keiner verstand es wie sie, in eine unbewohnte Berghütte einzubrechen, ohne den geringsten Schaden anzurichten, und sie beim Abzug der Weißen Scharen innen und außen so zu hinterlassen, wie sie sie vorgefunden hatte. Dazu genügten ein paar selbstgemachte Drahthaken und ein wenig Hausfrauentalent, und sie besaß beides. Außerdem lief sie so schnell wie ein Junge und war ausdauernder und jedenfalls kühner als die meisten von ihnen. Kurz, sie war ein Kamerad, der etwas mitbrachte, wenn man loszog. Mit sich zufrieden, setzte Gabriele ihren Weg fort.

Jenseits der Brücke ging es gleich steil hinauf, es war der richtige große Rebberg, den sie jetzt erstieg. Bei einer Biegung des Pfades wäre sie beinah in einen Haufen Knaben geraten, weil die Bande stumm und trübselig unter Aufsicht eines Lehrers marschierte. Sie blieb stehen, bis die Letzten um die Ecke waren, dann steckte sie zwei Finger in den Mund und pfiff. Nach zwei Minuten sah sie zwei Köpfe oberhalb des Weges durch die Reben lugen, die Köpfe drehten sich erst noch einmal forschend um, und mit großen Sprüngen setzten zwei Knaben über die Stützmauer und kamen den Weg herabgelaufen.

»Friede durch die Jugend!« grüßte Gabriele. Etwas außer Atem antworteten sie: »Friede durch die Jugend!« Vor ihr angelangt, standen sie stramm wie in der Turnstunde, und sie fragte, was es Neues gäbe.

»Der Kahn ist ausgebessert«, versetzte der eine im Dialekt. »Er liegt unterhalb der Rheinbrücke im Schilf«, ergänzte überflüssigerweise der andre, der hochdeutsch sprach. Dort lag nämlich der Kahn immer.

»Sobald Breuschheim fertig ist, kann es losgehn.«

»Diesmal müssen wir bis in die Stadt kommen«, meinte sie.

»Sicher!« riefen beide, der eine hochdeutsch, der andre im Dialekt. Der mit dem Dialekt war gewitzter, dafür hielt sich der andre besser.

»In einer Nacht nach Colmar und zurück«, gab sie zu bedenken.

»Mit dem Auto!«

»Gut. Ich schreibe heute noch an Breuschheim. Friede durch die Jugend!«

Die Knaben hoben die Hand über den Kopf: »Friede durch die Jugend!«, und rannten davon. (Bei dem Gruß mußte man darauf achten, nicht an die Faschisten zu erinnern, die wie ein Signalmast grüßen, der freie Fahrt anzeigt – wogegen die Weißen Scharen mit dem Arm lerchenhaft in die Höhe schossen. So hatte Gabriele es ihnen beigebracht.)

An ihrem Weg blühten Nesseln, mit kleinen lila Dochten, und andre winzige, gelbe Blümchen, ein Miniaturlöwenzahn, von denen manche schon den Hut gewechselt und an Stelle des gelben Käppis eine weiße Parademütze, ihr Samenbüschel, aufgesetzt hatten. Blaue Katzenaugen, denen man auf den hellen Grund sah, wimmelten aus zierlichem saftfeuchten Blattwerk ... Warum haßt mein Vater so furchtbar? Er ist gelähmt und lebt im Rollstuhl. Und haßt. Der Mann haßt. Er haßt meine Mutter, er haßt Frankreich, er haßt die deutsche Republik, er haßt die Arbeiter, er haßt sogar seine Geliebte, die Weinhändlerswitwe Graeßlin, die mir meine Suppe verabreicht. Ich weiß nie genau, wann es plötzlich losgeht. Mit dem Rollstuhl hat es nichts zu tun, so haßte er schon vor dem Schlaganfall. Wie verhöhnt er Aggie Ruf! Sagte er nicht, eine Kugel sei zu schade für sie, man solle es mit Rattengift versuchen? Rattengift für Aggie Ruf! ... Es gibt schrecklich böse und verdorbene Menschen, und stark sind sie, stark und zäh und gescheit, selbst wenn sie im Rollstuhl gefahren werden, und traurig wie der Gorilla im Basler Zoologischen Garten. Ich habe kein Mitleid mit ihnen. Vielleicht müßte man die Menschen lüften wie die Reben, wenigstens einmal im Frühling. Jacquot und ich werden es tun, wir werden sie lüften.

Auf der Höhe des Rebbergs schritt sie beschwingt, als flöge sie mit einer Last dem Walde zu, der unter jungen Eichen und Buchen hier begann und, dichter und dunkler werdend mit jeder höheren Erdwelle, meilenweit in den Himmel wuchs. Am Waldrand machte sie kehrt. Römerbad lag jenseits des Tales, in derselben Höhe gerade gegenüber. Zu ihrer Rechten dehnte sich die Ebene. Als sie den ersten Schritt abwärts tat, drehte sie den Kopf, und siehe, jenseits des Rheins hing eine große rote Sonne am Rande der Vogesen. Gabriele blickte über sich, da stand ein großer, weißer Mond ... Ein Barbarenfürst (zu Ende ging es mit ihm, er versank in einem Meer von Blut) stierte immer noch drohend auf seine Gemahlin. Sie verweilte im blauen Zenit, ganz schon Königinwitwe. Ungerührt stand sie und wartete, daß es zu Ende sei. Und Gabriele wartete mit ihr. Da! Kopfüber stürzte die blutige Leiche hinter die Vogesen, es war zu Ende. Und man erkannte sogleich, daß nunmehr die weiße Königin gebot. Alles auf Erden war verwandelt. In den Reben geisterten freundliche Wesen, drunten im Bach hatten die Silberfische Oberwasser und stießen mit dem Rücken in die Luft, als ziehe der Mond sie an.

Und wie Gabriele hinter ihrem hauchdünnen Mondschatten zu Tal stieg, da erreichte das Regiment am Himmel auch sie und berührte sie mit leiser Hand. Tiefruhig schwebte sie dahin, den einen Berg hinunter, den andern hinauf.

Am selben Abend teilte sie Jacquot mit, daß die deutsche Sektion der Weißen Scharen bereit sei, sich an dem Unternehmen gegen Colmar zu beteiligen. Der letzte Ausdruck kam ihr nachträglich etwas militärisch vor, aber sie fand nicht die Zeit, ihn zu ändern. Der Gong von Schloß Breisach rief zur Suppe der Weinhändlerswitwe Graeßlin.


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