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Himmelschlüssel

Welch ein Nebel!, sagte Aggie am Fenster ihres Zimmers, Silvios Brief in der Hand ... Und jetzt ist es natürlich bei ihm hell. Sie brütete und: Ich brauche dich nicht!, warf sie hin, ein wenig den Kopf wendend, als stände er hinter ihr im Zimmer.

Er schrieb ihr wie einem liebenden Mädchen, das man beruhigt, um ungestört eine andere zu heiraten, obwohl man sie noch immer liebt. Obwohl man sie heimlich am meisten liebt. Schön schrieb er, mit Zurückhaltung und Zartheit, und das Schlimme war, er kannte die Worte und Wendungen, die auf sie wirkten. Auch von einem ›geistigen Bündnis fürs Leben‹ sprach er, und wie sie, nur sie ihm helfen könne, das Elsaß zu befrieden, Deutschland und Frankreich zu versöhnen. Folgten drei Seiten über elsässische Politik ... Von der Revolution kein Wort.

Das Elsaß. Es schien Aggie kein Opfer wert. Und wenn je Deutschland und Frankreich einen Treuhänder wählen sollten, um zwischen ihnen zu vermitteln, ein Elsässer würde es bestimmt nicht sein. Diese Schelme, die zwei große Völker mit ›Hü‹ und ›Hott‹ nach ihrem Gutdünken zu führen beanspruchten, hatte man zu sehr erprobt, man war sie satt, zu beiden Seiten des Rheins. Zur Strafe sollte man ihnen die verlangte Selbständigkeit geben – um die Republik der Frösche an der Arbeit zu sehn.

»Ist Ihnen das Elsaß denn gleichgültig geworden?« fragte er in seinem Brief ... Gleichgültig? Nein. Sie wandte sich von ihrer Heimat ab, weil sie in ihren Augen bereits die Züge dieses Mannes trug ... Und dann! Sollten Rheinbrücken, die gleichzeitig Grenzen waren, der geeignete Ort sein, Bruderküsse zu tauschen? Solche Brücken standen selbst im Frieden unter Geschützfeuer.

Sie lehnte die Stirn an die Scheibe. Die Straße schien ein Ende zu gehn und es dann aufzugeben, weil die Steigung zu stark war. Ihr sollte geholfen werden! Aggie würde sie auf den Trab bringen, diese faule Straße, sie mit den Füßen vor sich her aufrollen, hinauf oder hinunter, hierhin oder dorthin, wie es ihr paßte. Schon lief sie aus dem Hotel. Die Straße wartete nicht ab, bis ihr Gewalt geschah, sie wickelte sich von selbst auf, genauso hurtig, wie Aggie hinter ihr hersetzte. Sobald aber die Jägerin stehn blieb, machte auch die Straße halt. Ein langweiliges Spiel. Aggie schlug sich in den Wald.

Der Wald war naß und roch, als hätte man vor kurzem einen Brand gelöscht. Nach wenigen Schritten war sie selbst eingeräuchert, durchnäßt, mit einem brenzligen Geschmack im Mund. Das war sein Nebel. Der Nebel, der mit ihm in ihr Leben getreten war. Er indes fuhr in einem weißen Rolls Royce durch die Sonne.

In ihr Zimmer zurückgekehrt, legte sie sich zu Bett, sie fühlte sich elend und verabscheute Silvio. Sie schlief ein ...

Jemand hatte sich an ihr Bett gesetzt, davon erwachte sie, aber es dauerte eine Weile, bis sie Gabriele erkannte. Sie hatte geträumt, wunderbar geträumt.

Das Mädchen erschrak nicht weniger vor dem Schlangenblick, der, grau und gelblich zitternd, sich zwischen den halbgeschlossenen Lidern verzehrte. Sie sprang auf und streckte die Hand nach der Tür aus, aber weiter kam sie nicht. Sie starrte in den Blick des Bösen, ihr Kopf sank ihm entgegen.

»Setz dich, du Gans!« herrschte Aggie sie an und schloß die Augen.

Durch das vertraute Wort war von Gabriele der Bann genommen und alle Angst, sie konnte sich wieder mühelos bewegen, lächelnd setzte sie sich hin, und es war still.

Der Traum aber kam nicht wieder. Nur ein Schein, nah und doch ungreifbar, war von ihm übriggeblieben, Aggie hob sich mit allen Fiebern ihm entgegen, sie machte sich tief und lautlos, damit er nochmals Gestalt gewänne – umsonst.

»Kind«, stöhnte sie, »du hast mich um mein Glück gebracht. Ach, wie bin ich betrogen!«

»So schauen Sie doch her, gnädiges Fräulein«, sagte Gabriele. Ihre Stimme hatte etwas Befehlendes, Aggie mußte erstaunt gehorchen.

Da wurde es hell im Zimmer. Die Decke des Bettes leuchtete von Schlüsselblumen. Die Blumen strömten einen Honigduft aus. Und Aggie legte ihre bloßen Arme in die Blumen, lachte Gabriele an, lachte mit allen Zähnen und bis in ihre Brüste und beugte sich vornüber, daß ihr Gesicht die Blumen berührte.

»Ich habe sie frisch gepflückt, gnädiges Fräulein.« – »Und die Pralinen?« erinnerte sich Aggie. Das Mädchen blickte zur Seite. »Liegen noch auf der Straße?« Gabriele schüttelte den Kopf: »Ich habe einen Jungen geholt und sie ihm geschenkt, frisch von der Straße weg.« Aggie war entzückt. »Nein? Du, Gabriele, guck mich mal an!«

Das Mädchen setzte die Schultern in ihrer ganzen Breite an, als drehe sie sich in einem Schraubstock. Langsam kam der Kopf herüber ... Wie dünn und rund die Schultern, sah Aggie, ein wenig hart, doch federnd, alles an ihr schwang leise vor Unruhe, man mußte den Hals in die Hände nehmen, wollte man das Kind in Ruhe betrachten! Die Augen waren blau, mit einem hellen Weiß, und über der Stirn saßen kleine Widerhaken, die fast zu blond, beinahe gelb waren und es nie ganz finster werden ließen auf dem Gesicht.

»Gabriele, willst du? Sage Aggie zu mir und du.«

Das Mädchen nickte. Errötend griff sie nach den Blumen und begann mit gerunzelter Stirn an den Blüten zu zupfen. Sie war sehr verlegen – was ihr selten geschah. »Aggie«, sagte sie nach einem Schweigen. »Hast du das schon gesehn, Aggie? Siehst du, hier sitzen fünf Blütenblätter auf einer langen, dünnen Röhre. Zwei davon nehme ich mit der Linken und drei ... mit der andern Hand, und jetzt ziehe ich sie auseinander. Da hast du die ganze Röhre!« Sie las von den Augen Aggies ab, daß ihr das neu war, und so sprach sie weiter wie zu einer Kinderschule, und ihre Verlegenheit schwand mit jedem Satz mehr. »Hier, tief unter den richtigen Blütenblättern, in der Mitte der Röhre, sitzen noch einmal winzige Blättchen, es sind fünf, wie die großen, aber die hast du sicher noch nie gesehn. Es sind die Staubblätter mit dem feinen Fruchtstaub darauf. Du kannst dir denken, daß er schnell verflogen wäre, wenn der Wind in die Röhre hineinbliese.« Sie machte sich Aggie zuliebe viel kleiner, als sie war, und kicherte. »Jawohl, das kann er aber nicht, der Wind, die großen Blütenblätter machen eine Tüte, und ganz unten, wo sie zusammengedreht ist, da sitzen die staubigen Jungen und warten.«

»Worauf warten sie denn?« fragte Aggie.

»Ich habe gewußt, daß du so fragst. Ja, sie warten auf die Hummeln und Falter, die in die Tüte gekrochen kommen und den Rüssel in die Röhre hineinstecken, um den Honig zu saugen. Sie müssen lange Rüssel haben, denn der Honig liegt ganz zuunterst, und hier, siehst du, ist ein kleiner Kopf auf einer Nadel, fast so lang wie die ganze Röhre.«

Ihre Schläfe lag an Aggies Wange.

»Der Kopf auf der Nadel, Aggie, ist die Narbe, und wenn Fruchtstaub auf die Narbe kommt, so ist die Blume befruchtet. Kannst du dir eine Hummel vorstellen, wie sie hier drin sitzt, mit dem Kopf voran? Der Rüssel, der Rüssel muß die Staubblätter wegschieben, wenn er den Honig auf dem Boden schnappen will. Da aber hat sich das Tierchen auch schon mit Staub verschmiert, und so fliegt es zur nächsten Blüte, kriecht wiederum in die Tüte. Bitte um ein wenig Geduld, ich muß erst die richtige Blüte heraussuchen. Hier schau mal, bitte, hinein!« Sie hielt Aggie eine entfaltete Blüte unter die Augen. »Merkst du was? Bei dieser Blüte, siehst du, Aggie, ragt die Nadel nicht so hoch wie bei der andern, ihr Kopf steht fast an derselben Stelle, wo dort die Kleinchen, die Staubblätter, waren, die Staubblätter siehst du an der Stelle, wo dort die Narbe war, ganz vorn, am Eingang des Ladens. Jetzt aber aufgepaßt! Die Hummel steckt den Kopf in die Staubblätter, Leib und Flügel folgen ein Stückchen, und der Rüssel, den die Kleinchen in der andern Blume fein vollgeschmiert haben, berührt hier die Narbe bums, ist die Blume befruchtet! Was sagst du! So treiben die's! Die Hummeln und die Falter und die Bienen mit den Himmelschlüsseln! Einmal geraten sie an Blüten mit hohen, das andre Mal an solche mit niedrigen Nadeln. Und jeden Frühling sind die Wiesen voll von neuen Himmelschlüsseln.«

Sie sang: »Mach auf das Tor, mach auf das Tor –« und fiel Aggie um den Hals.

»Wie dumm du dreinschaust«, rief sie, von der eigenen Keckheit hingerissen.

»Woher weißt du denn das alles, Gabriele?«

»Das lernt man doch in der Schule, Aggie! Aber dir sieht man es an, daß du nichts gelernt hast.«

»Um Gottes willen, wieso denn?!«

»Weil du immer an andere Dinge denkst ... An Krieg und Frieden ... Hier gibt's alleweil nur Hochzeit.«

»Hör mal, Gabriele ... Du mußt entschuldigen, seitdem ich in Römerbad bin, werde ich täglich dümmer, es muß an der Luft liegen ... Wie kommt es, daß die Tiere abwechseln zwischen hohen Nadeln und niedrigen Nadeln, von außen ist doch nichts zu sehn?«

»Du lieber Gott! Sie brauchen ja nur herumzufliegen und fest zu naschen, verstehst du, dann haben sie Blütenstaub überall, am Leib und am Rüssel, von oben bis unten, damit können sie alle Blumen befruchten, ohne überhaupt hinzuschauen.«

»Oder meinst du nicht?« fügte sie mit einem Anflug von Spott hinzu. – »Doch, doch«, beeilte sich Aggie zu beteuern. »Aber, Kind, was dann?« – »Was dann?«

»Ich meine, wie kommt dann eine neue Blume zur Welt?« Das Mädchen machte ein ernstes Gesicht. »Ach so, das meinst du? Ja, dann geht es ungefähr wie bei den Menschen.« Aggies Wangen flammten, die Augen lagen plötzlich wie ausgetrocknet in den Höhlen. Mit offenem Mund starrte sie Gabriele an. »Wie bei den Menschen?!«

»Nun ja, Aggie, was ist denn dabei? Erinnerst du dich an das Staubkörnchen, das die Hummel auf die Narbe gebracht hat? Dort wird es festgehalten, von winzigen Härchen, die Narbe schwitzt ein bißchen, verstehst du, da wird das Körnchen genäßt und aufgeweicht, und es bekommt einen langen Trieb, wie die Kartoffel im Keller, das hast du doch sicher schon gesehn, aber natürlich nicht so lang und nur einen Trieb. Der wächst durch die Nadel, bis auf den Boden. Der Boden, das habe ich vergessen, dir zu sagen, heißt der Fruchtknoten, da hinein wächst der Trieb und vermählt sich mit einer Samenknospe.«

»Vermählt sich?« – Gabriele lächelte jetzt fast wie eine Dame. »Ja, sie werden eins, und da ist auch schon das Kindchen fertig. Bis wir so weit sind, ist freilich von der Pflanze nur die Fruchtkapsel übriggeblieben. Hier liegt das Kindchen wohlverwahrt gegen Wind und Wetter in der Wiege, und dann kommt es in die Schule.« In ihre Miene trat ein strenger Zug.– »In die Schule? ... Du erzählst aber Geschichten!« – Gabriele lachte. »Nun, so genau meine ich's nicht. Paß auf, Aggie, ich will dir erklären, wie's weitergeht.« Sie legte die Hände in Form eines runden Gefäßes zusammen: »Der fertige Same liegt in der Kapsel, die Kapsel hat oben«, sie wackelte mit den gestreckten Daumen und zog sie wieder ein, »runde Fensterluken, und die kann sie zuschließen, wenn es regnet. Bei trockenem Wetter stehn sie auf.« Sie streckte wieder die Daumen in die Höhe. »Kommt dann ein Windstoß, so gibt es einen Ruck im Häuschen, als ob es stolperte, und ein paar von den Bewohnern fliegen in weitem Schwung zu dem Fensterchen hinaus auf den Boden. Das mit dem Stups und dem Schwung haben wir so eingerichtet, damit wir nicht zu dicht nebeneinander in den Boden kommen und uns Luft und Nahrung wegnehmen.«

»Da sind sie aber klüger als die Menschen«, rief Aggie. Sie heftete die Blicke an die Zimmerdecke und dachte nach. Ein schönes Wort: »Himmelschlüssel!« ... Auf einmal glaubte sie alles zu verstehn. Beglückt schloß sie Gabrieles Hals in ihre Hände: »Und was wird weiter aus den Blumenkindern?«

Das Mädchen löste die Hände von ihrem Hals und legte sie, fest in den ihren verwahrt, auf das Bett.

»Der Same, Aggie, ist schon eine richtige Blume, nur im kleinen, ich sage dir ja, es ist wie bei den Menschen und den Tieren. Die Samenkörner sitzen da, in den warmen Boden gepackt, und brauchen sich nicht vor dem Winter zu fürchten. Und im Frühjahr blühen sie zu Scharen. Hu, der Winter! Ich verabscheue den Winter. Du auch? Bravo! ... Jetzt gehe ich. Morgen um dieselbe Zeit komme ich wieder, wenn es dir recht ist. Wir haben Wichtiges miteinander zu bereden. Mein Vater weiß schon, daß du hier bist. Er hat überall seine Spione. Wir selbstverständlich auch! ... Ich schicke dir den Doktor Savarin. Lebe wohl, Aggie.«

»Auf morgen, Gabriele, auf morgen!« ...

Kaum hatte sich die Türe hinter Gabriele geschlossen, als eine Springflut von Angst auf Aggie losstürzte. Voll Entsetzen warf sie sich herum und drückte die Augen in die Kissen. Steif, die Arme weit ausgestreckt, gleichsam mit Leib und Gesicht an ihr Bett gekreuzigt, blieb sie liegen und zitterte.

Plötzlich schrie sie auf:

»Silvio, du bist es! Du schickst mir diese Einsamkeit. Du strafst mich!«

Sie sprang aus dem Bett, schüttelte die erhobenen Arme: »Du strafst mich – wofür?« Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und sagte leise: »Weil ich dich liebe ... Weil ich dich ... zu meiner Schande ... liebe ...«

 

Ein Tag um den andern verstrich, und der Gedanke an Silvio blieb ein Pfahl in ihrem Fleisch. Bei der leisesten Regung stieß sie sich wund. Es half ihr wenig, daß sie sich auf das eindringlichste vorhielt: was sollte ich mit ihm anfangen, wenn er mich liebte! Ich kann ihn mir ja gar nicht denken ohne Ada! Gibt es etwas Törichteres auf der Welt als Liebe, die nicht erwidert werden will! Ein Stoff für ein Lustspiel ... Jeden Morgen rebellierte sie gegen den Lustspielstoff und nahm sich vor, ernstlich zu handeln. ›Handeln‹ hieß, dem Grafen Breisach Adas Kinder entreißen. Sie ertrug es nicht mehr, stellte sie fest, ausschließlich für den alemannischen Johannes dazusein, der mit überlangem Zeigefinger auf ihr Herz zeigte. Sie suchte nach einer andern, würdigeren Aufgabe. ›Handeln‹ wäre ein Schritt von Silvio weg zu Ada.

Ein- oder zweimal traf sie auch wirklich Vorbereitungen zum Marsch auf Schloß Breisach. Sie bestanden hauptsächlich in Besprechungen mit Savarin, der ein prächtiger Mensch war, freilich etwas launenhaft und empfindlich. Ihr tat er wohl, er brauchte nur ins Zimmer zu treten, damit sie sich gleich richtig krank und damit beruhigt fühlte ... Im Notfall gibt er mir Gift, dachte sie unter einem freudigen Schauer.

Von der Nächstbeteiligten, ihrer jungen Verehrerin Gabriele, ließ sie sich belustigen und zerstreuen, ohne aber auf die kühnen Vorschläge des Mädchens einzugehn. Gabriele hatte längst alle Schüchternheit verloren und entwarf einen Kriegsplan nach dem andern zu ihrer Befreiung. »Sehr gut«, sagte Aggie überzeugt und schob einen nach dem andern beiseite. Sie las wieder viel, unterhielt einen ausgedehnten Briefwechsel, abonnierte auf elsässische und französische Zeitungen und außerdem bei einem Büro für Zeitungsausschnitte auf alles, was die Weltpresse über Elsaß-Lothringen brachte. Während sie an Ada schrieb, ohne Silvio mit einer Silbe zu erwähnen, nur noch an Ada, stellte sie aus ihren Lesefrüchten Material für ihn zusammen mit einem Sach- und einem Namenregister. Und der Marsch auf Schloß Breisach wurde immer wieder vertagt. Sie erforschte des öftern ihr Gewissen, was sie wohl davon zurückhalte, fand es nicht heraus. Sie konnte es auch nicht finden, denn sie wähnte sich Ada zugetan wie in den ersten Wochen ihres Nizzaer Beisammenseins, als die Vermählung von Schnee und Sonne das Bild der Freundin selbst war, und glaubte sich nach wie vor ›zu jedem Opfer für sie bereit‹. Warum, was sie tun sollte, ein Opfer für sie bedeutete, machte sie sich nicht klar.

Savarin saß an ihrem Lager und erzählte teils die Chronik von Römerbad, teils das Neueste aus Kunst und Wissenschaft. Manchmal schlief sie darüber ein, der Doktor löschte das Licht und verschwand lautlos. Er stellte sich, als sei sie pflegebedürftig, und behandelte sie auf eine geheimnisvolle Krankheit. Tatsächlich hatte sie Fieber. »Das viele Lesen überanstrengt Sie, ruhen Sie sich aus«, erklärte er eines Tages. Sie hatte gerade dasselbe gedacht. Von da an verließ sie nicht mehr das Bett.

Die Briefe Silvios, die Briefe Adas wurden ungelesen zerrissen. Aus Breuschheim erfuhr sie, Schloß Unterhügeln sei von Ada für ihn angekauft worden, die Hochzeit des Schloßherrn stehe dicht bevor ... Sie kicherte in sich hinein: Hihi, das wird in den zerrissenen Briefen gestanden habe. Feine Nase, daß ich sie nicht las ... Nun schrieb sie gar keine Briefe mehr und ließ alle, die sie erhielt, in die unterste Schublade der Kommode zu der gebrauchten Wäsche werfen. Sie erinnerte sich nicht, jemals so krank gewesen zu sein.

»Wir deichseln schon alles für dich«, tröstete Gabriele die große Freundin, und sie murmelte etwas von einem Rechtsanwalt, bei dem sie gewesen sei. »Brauchst dir keine Sorgen zu machen. Sobald du hergestellt bist, liebe Aggie, reise ich einfach mit dir ab. Der Herr Graf wird keine Hand rühren, ich habe mir was zurechtgelegt, damit er uns in Ruhe läßt. Und meine kleine Schwester befreien wir eigenhändig aus dem Pensionat, in das er sie gesteckt hat. Weißt du das eigentlich? Weiß das meine Mutter? Auf Befehl der Witwe Graeßlin hat er sie da hineingesteckt, weil die Kleine sich nicht an die neuen Sitten und Gebräuche im Haus gewöhnen konnte. Verstehst du? Muff! Die neuesten Pariser Modelle und dahinter ein Muff –!«

»Offenbar auch eine elegante Erscheinung«, murmelte Aggie, halb abwesend.

»Ja, unsre Suppenschüssel. Aber sie ist aus garantiert echtem Gold. Sie ernährt Haus und Hof.«

»So ist es bei uns wieder nicht«, meinte Aggie. »Bei uns ...«

Sie raffte sich auf und starrte das Mädchen aus erschrockenen Augen an. »Gabriele, ich verliere den Verstand. Mein bißchen Verstand läuft mir weg wie Schweiß ... Ja, nimm das Tuch da ... Du siehst, du mußt ihn mir abtrocknen ... Es war das letzte, was ich besaß ...« Sie fiel auf das Kissen zurück. »Was bin ich noch? ... So gut wie gestorben. ›Erledigt‹, sagten sie im Krieg ... Niemand will etwas von mir wissen.«

Gabriele rief entrüstet: »Niemand will etwas von dir wissen? Du hast die Weißen Scharen ins Leben gerufen! Ist dir das klar? Du allein mit nichts als deinen Gedichten. Wir sind die Jugend! Uns gehört die Zukunft, ich meine die Weißen Scharen. Die andern sind Simpel und Streber.«

»Pst«, machte Aggie.

Da beugte sich Gabriele über sie und begann mit leiser Stimme ein Gedicht Aggie Rufs aufzusagen, das vor wenigen Jahren Millionen Menschen in vielen Sprachen geläufig gewesen war, das aber Aggie selbst inzwischen fast vergessen hatte. Erst fuhr sie zusammen, weil sie dachte, die Kleine spreche feierlich ein Totengebet. Darauf lauschte sie erstaunt und in steigendem Maße beunruhigt einem Bekenntnis zum Leben, zum Menschen, einem Glauben an die Fähigkeit des Menschen, zu lieben und Gutes zu tun, einer Hoffnung, sein gewaltloses Reich verwirklicht zu sehn, Lebensmut, wie er größer und unbedingter nicht gedacht werden konnte ... Gabriele sprach ein zweites Gedicht. Die Stimme sang sich in Aggie hinein, zeigte die Zähne, wurde bitter, wühlte und wühlte. Eine Anklage gegen den Krieg. Aus der Tiefe von Aggies Wesen aber drang der Widerhall einer einzigen, langen, furchtbaren Anklage gegen sie. Und sie widersprach nicht. Sie verstand, daß ihr in gewaltiger Weise recht geschah. Langsam hob sich ein Schleier, das singende Mädchen zeigte der Fiebernden die Schätze, die sie einst besaß, das fernher schimmernde Königreich ihrer Seele strahlte einen Augenblick auf und erlosch in dem einfallenden Dunkel. Und im Dunkel ging der Wolf um, der Wolf mit den blitzenden Zähnen und den Samtaugen, die funkeln konnten. Schön und seidig, sie spürte es auf ihrer Haut, und duftbeladen wie im Frühsommer der Abendwind. Ihr Wolf, der Wolf, der ihr angemessen war. Vielleicht hatten die meisten Menschen ihren Wolf? An Stelle ihres verlorengegangenen Schutzengels?

Gabriele verstummte und hob mit mütterlicher Gebärde den Kopf der Freundin von den Kissen und küßte ihr die Schläfe, an denen die kleinen Locken festklebten.

»Das bist du!« flüsterte sie. »In Ewigkeit du.«

Aggie schloß die Augen und machte sich steif. Nur das Kinn schwang unter der Gewalt der zusammengebissenen Zähne. Leise schlich das Kind auf die andere Seite des Zimmers.

 

Als Aggie die Sprache wiederfand, sagte sie:

»Bleib dort, Kind, und hör, was ich dir sage. Pazifisten (plötzlich empfand sie einen erschreckenden Widerwillen gegen das Wort, sie mußte schlucken vor Ekel), Pazifisten sind wieder dieselbe Kuriosität wie vor dem Krieg. Niemand nimmt sie ernst, und sie verdienen es auch nicht. Wem sollten ihre Predigten und Gesänge auch nützen? Der Krieg kommt, ob sofort als Bürgerkrieg oder erst als sein Vorläufer, wissen wir nicht. Aber er kommt. Und man muß sich entscheiden, auf welche Seite man gehört. Alles in meinen Gedichten stimmt nicht. Der Mensch ist nicht vertrauenswürdig.«

Sie wartete auf Antwort. Es kam aber keine. Gabriele hatte sich von ihrem Stuhl erhoben und spähte im Halbdunkel des Zimmers zu Aggie hinüber. Sie leuchtete vor Blässe. Endlich schüttelte sie, ein einziges Mal, den Kopf. Und dieses Kopfschütteln hatte einen Ausdruck von Gewißheit, zugleich sprach es so viel Verwunderung und Mitleid aus, daß auch Aggie erblaßte. Erst fühlte sie sich in ihrer Scham verletzt, als habe sie, sich unbewußt, gleichsam in Hypnose, jemand ihre Liebe erklärt, um im Augenblick des Erwachens gerade noch zu bemerken, wie man sie abwies. Darauf hatte sie die Empfindung, sie habe das Vertrauen dieses starken, selbstbewußten Mädchens mißbraucht und versucht, ihr die Unschuld zu rauben. Mit einer tiefen, leidvollen Stimme, die Gabriele zum ersten Male hörte, sagte sie:

»Kind, glaube mir nicht! So sprechen die Alten, die nichts gelernt haben. Und die Alten richten natürlich ihre Jungen ab, damit sie ihnen gleich werden an Ruhm und Verstand. Und die Hartherzigen sprechen so, die nichts zu verlieren haben, aber einiges zu gewinnen hoffen. Sie umwerben das Bild der Revolution wie früher die Höflinge einen Thronfolger. Sie fürchten weder Trümmer noch Blut, sie fürchten nichts auf der Welt, als bei der Verteilung der Beute zu spät zu kommen ... Lebe du für den Frieden, Gabriele, stirb dafür, wenn es sein muß, nur dafür, es ist die unscheinbarste Barrikade, die sich denken läßt – möglich, daß Blut ihre Anziehungskraft erhöhen würde. Seltener noch als die Kriegshetzer tragen die Revolutionshetzer – unbegreiflich selten tragen die ihre Haut zu Markte, Gabriele, ich weiß das alles und noch viel mehr ...«

Ruhigen Schrittes näherte sich Gabriele. Vor dem Bett blieb sie stehen.

»Aggie, du fürchtest dich ... Das macht dich krank ... Du brauchst dich aber nicht zu fürchten, du selbst sagst es in deinem Gedicht, hast du so schlecht zugehört? Es werden wieder die Ritter und Sänger kommen, sagst du, und mit neuen Losungen und Reimen die alte Hymne singen an Baal und gebieterisch nach Blut verlangen als Preis für die Erlösung des Menschen.« Sie senkte die Stimme: »Hütet euch vor ihnen«, sagte sie wie eine Schülerin auf, »in ihren falschen Augen leuchtet die Wahrheit. Alle Wahrheit verliert ihre Seele, wenn sie einkehrt in die Wohnung des Verbrechens! Hütet euch vor dem Glanz der Gewalt. Und fürchtet euch nicht.«

Aggie verlor die Geduld.

»Ja, gewiß, bleibe so, Gabriele, bleibe du mir wenigstens treu.«

»So wahr ich lebe!«

»Bitte geh jetzt, Gabriele. Und schick mir den Doktor.«

Der Doktor stand bereits vor der Tür.

Er brachte die Heiterkeit eines Gemütes mit, das der Politik zugunsten des guten Wetters entsagt hat.

»Was es Neues gibt? Herrliches Wetter. Und völlig unbeherrschtes Liebesleben in der Natur, Fräulein Ruf! Droben«, er zeigte zur Zimmerdecke, »hat die Venus abends wieder Ausgang. Sie verläßt das Sternbild der Fische, die bekanntlich Kaltblüter sind, und läuft dem Jupiter nach. Jupiter steht im Sternbild des Stieres. Bald wird sie ihn am Zipfel haben. Der Merkur drückt sich eifersüchtig in ihrer Nähe herum. Unten bei uns sind alle Vögel da, Kuckuck, Kuckuck ruft's aus dem Wald. Als ich heute früh auf den Hochblauen stieg, trieben sie's wie toll, und beim Heruntergehn sah ich zwei Bussarde – leider kann ich es Ihnen nicht beschreiben, sie waren sehr miteinander beschäftigt. Die Fische laichen. Der Laubfrosch legt tausend Eier auf einen Sitz, natürlich platzt er vor Stolz. Die Vierfüßer sind schon weiter, sie kriegen massenhaft Junge, die Eichhörnchen und Wiesel, Fuchs, Marder, Fledermaus und Igel. Der Hase ist schon zum zweitenmal dabei. Die Schmetterlinge segeln in ihren funkelnagelneuen Frühjahrstoiletten, dicht vor mir stiegen zwei Weißlinge in senkrechtem Hochzeitsfluge auf. Herrgott! Welch ein Wetter für gesunde Dichterinnen. Oder sagt Ihnen das alles nichts?«

»Und der Hirschi?« fragte Aggie etwas verlegen. »Ich sehe ihn gar nicht mehr.«

»Auf seine Art steht auch der Hirschi in Blüte. Wer kommt und geht, wird von seinem Lächeln überschüttet. In diesen Tagen übertrifft er sich selbst. Bildschön und butterweich.« Er schüttelte das Thermometer.

»Ach, Doktor, Sie haben es gut. Sie brauchen nur den Menschen zu helfen, statt der Menschheit. Es ist leichter und bringt mehr Befriedigurig.« Das Thermometer blieb der zuletzt besuchten Patientin treu, es ging nicht herunter. Der Doktor schüttelte.

»Gewiß, Fräulein Ruf, darin haben wir es besser als Sie. Wir übernehmen uns nur ungern.« Endlich war das Thermometer für Fräulein Ruf bereit, er reichte es ihr und zuckte mit dem Hals. Man merke ihm an, meinte sie mit einem Seitenblick, daß er von einem Hochzeitsflug oder etwas Ähnlichem käme ... Er unterhielt sie weiter, unterbrach sie aber, als sie selbst das Wort ergreifen wollte.

»Sie können sich nicht still genug halten, Fräulein Ruf. Sie lesen und schreiben nicht mehr. Gut. Ich bitte um eine weitere Anstrengung. Sie sollten weder sprechen noch denken. Besonders das Denken ist gesundheitswidrig. Je weniger Sie denken, um so mehr erlaube ich Ihnen zu sprechen ... Geben Sie her!« Er trat mit dem Thermometer ans Fenster, beklopfte es mit der Nagelspitze, beguckte es von allen Seiten und knurrte. »Sie schlafen schlecht, was? Machen sich Gedanken? Regen sich auf? Wieso? Warum?«

Er sagte kalt und entschlossen:

»Ich werde Ihnen was zur Beruhigung geben.«

Aggie hatte sich gerade dasselbe gewünscht.

 

Die nächste Zeit hielt Savarin die geheimnisvolle Kranke unter leichten Schlafmitteln. Gegen Abend phantasierte sie ein wenig, matt und rosig wie ein Kind. Es war die Stunde, die Gabriele bei ihr verbrachte.

»Ja, Gabriele, ich fürchte mich«, sagte sie wiederholt. »Ich fürchte mich, ich weiß bloß nicht, wovor ...«

Wenn der Doktor mit seinen Besuchen fertig war, kam er zu ihr und blieb bis tief in die Nacht. »Nicht reden, nicht denken, Fräulein Ruf. Besorge ich alles für Sie, dafür bin ich da.«

In ihrem Dämmerzustand hörte sie, wie Savarin ihr eine ›Welteislehre‹ auseinandersetzte. Er behauptete nicht, die Lehre sei ganz und gar richtig, er nannte sie nur ein großartiges, in manchem recht aufschlußreiches Bilderbuch vom Leben des Weltraums ... Die Worte ›Leben‹ und ›Weltraum‹ tönten in ihr ... Sie sah den Weltraum als ein ungeheures Bilderbuch, und der Doktor blätterte darin mit einer Hand, die wie der Schwanz eines Kometen hin und her schwankte. Das Buch war angefüllt mit brennenden und erloschenen Sternen, an Umfang übertrafen sie nicht nur die Sonne, die Sonne Aggies, sondern das ganze Sonnensystem, die weiteste Welt Aggies, und alle ›flohen‹ nach einem unbekannten Ziel! Das heißt, sie gingen nicht einer Schwerkraft nach, wie Aggie bisher angenommen hatte, vielmehr blieben sie ›ewig‹ in die ihnen einmal erteilte Flugbahn verstrickt, und sooft auch der Doktor umblätterte, immer sah man sie fliegen, fliegen – fliehn. So bewegte sich die Sonne, die Sonne Aggies, die Sonne aller Menschen, nach dem Sternbild der Leier und des Herkules hin, niemand wußte, warum. Und immer tobte eine riesige Hochzeit da oben. Der Doktor zeigte auf einen Stern, er brannte lichterloh, in strahlender Gier stürmte er durch den Raum. Auf einmal blinzelte er, nur eine Sekunde! Was war geschehn? Der Doktor blätterte um: die Sonne war einem dunklen eisigen Weltkörper auf die Spur gekommen, hatte ihn eingefangen, einen aus jener andern, eisig und dunkel schweifenden Herde, die sich zwischen den Strahlengeschöpfen herumtrieb ... Auf der nächsten Seite sah Aggie, wie der gefangene Weltkörper sich in seinem Wasser oder Welteis erhitzte, bis eine Entladung erfolgte, die ein trichterförmiges Stück aus der Masse der Sonne riß und es wie ein Riesengeschoß, in Wasserdampf gehüllt, in den Raum hinausschoß. Ein neuer Stern war geboren. Eine neue Flucht begann ...

Das ›Fliehen‹ der Weltkörper durch den Raum verstand Aggie gut, ja, sie konnte es ihnen ›nachfühlen‹, wie sie, in das eigene Schicksal verstrickt, vor einer größeren Kraft flohen, die sie nur einfing, um sie wieder auszustoßen, und halb getröstet entdeckte sie in ihrer Begegnung mit Silvio das Abbild jener höheren, erbarmungslosen Gewalt.

Als der Doktor von chemischen Vorgängen sprach, die sich dabei abspielten, konnte sie nicht folgen. Erst die Schilderung der Sintflut ließ sie wieder aufhorchen. Ein Mond – früher einmal war ein Mond gewesen, ein Eismeer, dem heutigen Monde gleich, den hatte die Erde in sich hineingezogen und völlig verschluckt. Je näher dieser Mond der Erde kam, desto mehr dehnte er sich zu einem Spiralring, einer weiten, kalten Masse, im lauen Atem der Erde löste er sich in Wasser auf, und das Wasser stürzte ununterbrochen herunter. Nach dem Eis trat der feste Kern des Mondes an die Oberfläche, worauf erst Schlamm, dann riesige Staubwolken des Gesteins über die Erdoberfläche brausten. Die Anziehungskraft ließ die Erdmeere rund um den Äquator zu ungeheuerer Flut anschwellen, dann, als die Verdauungsarbeit beendet war, zu den beiden Polen hin verlaufen und alles Land überschwemmen. Dazu kamen durch den veränderten Luftdruck Wetterkatastrophen und Erdbeben ... Es dauerte eine Weile, und die Erde wurde wieder still und grün ...

»Also bin ich im Begriff, meinen Mond zu verdauen?« äußerte Aggie zu Savarins Verblüffung. »Nachher werde ich wieder grünen und mich an der Sonne drehn?«

Wie gut und behütet kam ihr die Erde vor, wie liebenswürdig der befriedete Mensch! Ja, das sei wahr, die Erde sei jetzt gut gehütet, bestätigte der Doktor, indem er ein neues Blatt des Bilderbuches aufschlug. Aggie sah den Planeten Mars stehen und – Wache halten. Im Ernst, der Mars war eine richtige Schildwache, die jene aus der Eismilchstraße ausbrechenden Weltkörper einfach nicht passieren ließ. Einen nach dem andern, wie sie daherkamen, verwandelte er vor sich in eine Sintflut. Deshalb stand der brave Kerl auch, dauernd unter Wasser.

Aggie suchte nach jemand, der eine ähnliche Schildwache abgäbe, und stieß auf Bieterle. Ja, Bieterle. Bieterle hatte auch die Statur von Mars. Auf ihn konnte sie bauen.

Nun ließ sich in ihren Visionen der gute, tapfere Gott Bieterle häuslich nieder. Sobald sie hinsah, war er da und fing mit der Degenspitze die Spiralringe der drohend heranschleichenden Monde auf. Ihre Schwermut wich einer kindlichen Vertrauensseligkeit. Sie konnte sogar hin und wieder den Clown machen, wobei sie Augen und Mund verdrehte und mit verblödetem Ausdruck Albernheiten sagte. Denn Bieterle stand Wache.

 

Eines Abends wurde aus Unterhügeln telephoniert, die Vermählung Silvios mit Ada finde am Ende der Woche statt. Ada selbst war am Telephon und sprach lange mit ihrer Tochter. Hand über dem Kopf (›Friede durch die Jugend‹), betrat Gabriele das Zimmer.

»Aggie, wenn du schnell gesund wirst, kommen wir noch für die Hochzeit zurecht.«

Die Kranke gab keine Antwort. Sie sah den wackelköpfigen Greis hinter der Dame im Glockenkleid über die Promenade des Anglais stelzen und sagte sich, so ende und verderbe die Liebe ... Wäre nicht ihr richtiger Platz an der andern Seite des Gespenstes gewesen? ... Bald darauf hörte sie, daß die Dame im Glockenkleid Agnes Maienstock hieß. Die war also auch verdorben. Gabriele saß am Bett und gab beruhigende Antworten.

Der Doktor hatte einem Patienten gegenüber, dem Redakteur einer großen Zeitung, ein Wort von Aggie Rufs Erkrankung fallen lassen. Der Mann ließ seine Karte mit guten Wünschen bei ihr abgeben. »Er wird doch nichts in die Zeitung setzen?« fragte sie ängstlich. »Ich habe nämlich noch nie einen Nekrolog gelesen, Doktor, aus Angst, ich könnte plötzlich merken, daß von mir die Rede sei ...« Am Hochzeitstage maß der Doktor achtunddreißig Grad Fieber. Tags darauf waren es neununddreißig. Er knurrte, schüttelte den Kopf, klopfte mit der Nagelspitze gegen das Thermometer und erwog, ob er nicht angesichts des immer rätselhafteren Falles ein Konsilium abhalten solle ...

Als er die Türe hinter sich geschlossen hatte, schnellte Aggie aus dem Bett und kleidete sich an.

Rasch, an Hirschi vorbei, der besorgt hinter ihr herschaute, verließ sie das Hotel, bog in den Kurpark ein.

Der Pfad, den sie zufällig einschlug, stieg auf einmal steil an.

Sie verfiel in ruhigere Gangart.

Was sie hier suchte? Nichts ... Nichts als die Aggie, die sie wiederum geworden war, die alte, grünende, gehütete Aggie von einst. Sie ging auf die Jagd und spähte nach einem Wort aus, einem Zeichen, das ihr erlaubte, sich fraglos wiederzuerkennen.

Als sie auf dem Gipfel des Hügels hielt und den Blick erhob, sprang das Wort aus dem Himmel, das Zeichen geschah.

»Ah!« machte sie, und offenen Mundes, die Augen aufgerissen, starrte sie auf einen Baum, dessen Äste über und über mit Blütenkätzchen bedeckt waren, großen, weichen Kätzchen mit dichtem goldgelben Pelz.

Aber die Kätzchen saßen nicht still, sie flogen, das heißt: vielleicht waren es die Bienen, die flogen, und die Kätzchen hielten still, oder aber Kätzchen und Bienen wechselten ab, und einmal flogen die Bienen, dann die Kätzchen, kurz, es war nicht zu unterscheiden, weil die durchsichtigen Flügel der Bienen genau so gelb schillerten wie die Kätzchen, und weil es ebensoviel Kätzchen gab wie Bienen und ebensoviel Bienen wie Kätzchen, und weil der summende Flug im geballten Licht des Baumes nie stillstand, und auch, weil die Sonne gerade darüber hing. Da hing die Sonne, darunter der weiße Baum voll gelber Kätzchen und gelber Bienen, drum herum, ganz tief, der Himmel. Und das summte wie ein Kreisel und stand doch still. Und das stieg höher und blieb doch unten.

Als ob sie wirklich auf sich selbst gestoßen wäre, so lächelte Aggie in maßloser Selbstliebe. Als ob sie sich zauberhaft verfallen wäre auf ewig, so nahm sie das Schicksal an, in grenzenloser Demut. Der lebende Weidenbaum ward in sie eingerammt, mitten durch ihr Wesen, und sie stand angewurzelt. Sie versank in sich, ohne Lärm, ohne Leid, ohne Trotz. Nichts weiter begehrte sie, als so zu bleiben, zu dauern, dazusein, warm, rund, in die Höhe gehoben, vereinigt in sich selbst zu einem einzigen, atmenden Klang.

Ich verlange nichts von dir, sagte sie ernst ... Ich fordere nichts, erwarte nichts. Ich will für dich dasein, Silvio. Meine Begabung und mein Lebensmut sollen dir gehören. Das Beste, was ich habe. Nichts will ich mehr sein als deine Hand und nicht zittern, was du auch tust.

 

Nach diesem Schwur wandte sie sich zum Gehn und – Bieterle stand vor ihr. Statt die Monde abzufangen, hatte er sein Schilderhäuschen verlassen und war auf die neuergrünte Erde herabgestiegen ...

»Ja, Bieterle, wo kommen denn Sie her?« Beide Hände ausgestreckt, lief sie auf ihn zu, guckte lächelnd an ihm hinauf und erkannte den Mars ihrer Fieberträume.

»Aus der Zeitung, Aggie –«

»Aus der Zeitung?«

Er freute sich, sie so munter zu finden: »Ich habe mir gedacht, wenn Sie nicht tot sind, müssen Sie schon wieder gesund sein ... Sie sind viel zu ungeduldig, keine Krankheit kann mit Ihnen Schritt halten.«

Wie er gerade hierherkam? In der Halle des Hotels ist sie an ihm vorbeigeflitzt, ohne ihn zu beachten, da hat er sich achtungsvoll an ihre Fersen geheftet. Ja, und sie sieht besser aus denn je!

»Bieterle«, rief sie, »ich habe Vorschuß bekommen, eine Unmasse Geld – wollen wir eine kleine Reise machen? Ich lade Sie ein.«

»Wie schade, verehrte Aggie!« Stockend, jedes Wort wägend, erklärte er, daß er jetzt auf keinen Fall Urlaub bekäme, das Ministerium betrachte ihn mit mißgünstigem Interesse, schließlich fragte er, ob sich nicht die Reise verschieben lasse, etwa auf den Herbst. Im Herbst nämlich pflegte sich bei Bieterle ein Anfall von Gicht einzustellen. Einmal im Herbst, einmal im Frühling. Zunächst also wieder im Herbst. »Abgemacht, Bieterle. Im Herbst.« Und sie verabredeten auf der Stelle eine Reise durch das Elsaß. Seit seiner Ausweisung hatte der Amtsgerichtsrat das Ländle nicht mehr betreten.

»Die Wälder werden aufrauschen«, versicherte Aggie. »Die Bäche werden stillstehn und ihren Spiegel glätten, damit Sie sich rasieren können, lieber Bieterle. (Daran fehlt's, mein Lieber!) Die Vögel werden Sie an der Grenze in Empfang nehmen und an andere Vögel weiter abgeben, die mehr im Innern des Landes Bescheid wissen.« Immer breiter, immer genauer malte sie den Triumphzug Bieteries durch die elsässische Landschaft, bis er sie lachend unterbrach:

»Und der erste französische Gendarm wird mich verhaften ...«

Bei der Abendvisite fand Savarin die Dichterin nach langem Suchen im Speisesaal. Ohne Hirschi wäre er gar nicht darauf gekommen, dort nachzusehen. Eher hätte er sie auf dem Dach gesucht. Ihr gegenüber saß ein blonder Hüne, und neben ihnen steckte eine Sektflasche den Stanniolkragen aus dem Eiskübel. Als Bieterle sich vom Stuhl erhob, um den Doktor zu begrüßen, reckten die Gäste den Hals und staunten. Er setzte sich, angeregt aßen sie weiter.

Die Aufforderung des Doktors, sofort ihr Bett aufzusuchen und Fieber zu messen, lehnte Aggie ab, sie machte statt dessen den Clown. Nach einigem Widerstreben ließ sie sich das Thermometer reichen und schob es unauffällig durch die Bluse unter den Arm, worauf sie sich über den Gänsebraten hermachte.

»So«, sagte sie zuversichtlich, als die Zeit abgelaufen war. Das Thermometer zeigte siebenunddreißig Grad. Der Doktor betrachtete es, bald durch den Kneifer, bald mit bloßem Auge, schüttelte sich wie ein Käuzchen, das von Singvögeln Prügel bekommt, und schielte abwechselnd auf Aggie und auf Bieterle.

»Das ist so bei den Elsässern«, versicherte ihm der Amtsgerichtsrat. »Sie kriegen Fieber, wann sie wollen, und sobald sie genug haben, hört es von selbst auf.« Und zum Beweis, daß drüben noch ganz andere Wunder im Schwang seien, erzählte er dem Doktor den Auszug der Kaiser und der klugen Jungfrauen aus Straßburg, Münster und Stadt. Als Savarin sich verabschiedete, befand er sich in denkbar schlechter Laune. Er hatte den sogenannten Amtsgerichtsrat im Verdacht, ein Aggie Ruf befreundeter Kollege zu sein, der ihr Pyramidon verabreicht habe, um ihn an der Nase zu zupfen. Mit andern Worten, der Kollege stand noch dort, wo Savarin zu Beginn der Krankheit gestanden hatte, als er den Fall noch nicht ernst nahm. Lachend sahen sie seinen mißvergnügten Rücken in der Tür verschwinden. Dann setzten sie mit Eifer und Umsicht die Mahlzeit fort.

»Herr Wolf ist also verheiratet«, platzte Bieterle heraus und musterte Aggie mit einer Amtsmiene, die sie belustigt wahrnahm. Kaum hatte er aber gesprochen, da verließ ihn seine Kühnheit, und er fügte kleinlaut hinzu: »Ich habe eine Vermählungsanzeige erhalten.«

»Ich auch, Bieterle, ich auch!«

Sie hob das Glas und stieß mit ihm an.

»Alles in Ordnung, mein Guter«, sagte sie. »Ich habe meinen Mond geschluckt – und verdaut.«

»Ihren Mond?«

»Einen eiskalten Mond.«

Er verstand nicht, und sie klärte ihn auch nicht auf.

»Entschuldigen Sie, Bieterle, es ist eine zu lange Geschichte!«

Immerhin glaubte er genug zu verstehn, um sich zum Beweis seiner Zufriedenheit nochmals vom Nachtisch reichen zu lassen ...

Der Schnellzug mit Bieterle rauschte nordwärts durch die Rheinebene. Das Rauschen drang durch Aggies offenes Fenster. Das Zimmermädchen, im Sturm herbeigeklingelt und über das seltsame Geräusch befragt, gab dem Kurgast auf schonende Weise zu verstehn, es bedeute Föhn und baldigen Regen. Dann saß der blonde Irrwisch wieder in seinem Bett und schrieb einen Brief um den andern. Von Zeit zu Zeit trat im Doktorhaus Savarin auf die Terrasse, um sich zu vergewissern, ob die Fenster seiner Patientin noch erleuchtet seien. Bei Aggie flatterten die lila Bogen über den Teppich, huschten aus dem Lampenschein ins Dunkel. Sie mußte sie aus immer größerer Höhe entlassen, damit sie sich nicht mit ihrem tintigen Blütenstaub streiften.

Um zwei Uhr wurde das Licht gelöscht.

Der Doktor stellte es fest und ging beleidigt schlafen.

»Bist du reisefertig?« fragte Gabriele.

»Ja, Kind, ich muß nur noch mit deinem Vater sprechen.«

»Nicht nötig, laß mich nur machen ... Ist es dir recht, wenn ich Hirschi bitte, nach Unterhügeln zu telephonieren und das Auto auf fünf zu bestellen?«

»Bestelle den Breuschheimer Wagen, ich wohne lieber bei Claus.«

»Gut, wir werden bequem vor Dunkelheit dort sein. Ich hole dich ab. Du mußt nur unbedingt warten, bis ich komme.«

»Du bist heute so blaß, Gabriele«, sagte Aggie.

Das Mädchen stand in der Tür. Über den hochmütigen Mund, den Mund ihrer Mutter, lief ein Frösteln, wie wenn der Wind über eine Wasserfläche fährt. Aggie eilte zu ihr und nahm sie in die Arme.

Mit geschlossenen Augen dachte sie an die Morgenstunden in Nizza. Ada, in ihren Bademantel gehüllt, ließ sich von ihr umarmen, Ada, mit der kurzen, weißen Haarmähne, worin einige Wassertropfen glänzten, das Gesicht ein wenig feucht noch und rosig, ein leise atmendes Bild der Morgenfrische, und Aggie durchtränkte sich mit dem Geruch ihrer Schönheit, mit dem Licht ihres Stolzes, daß der Duft nicht verging bis zum Abend ... Es kam ihr vor, als habe damals die Sonne jeden Morgen Adas Zimmer beleuchtet, als habe die Sonne im hellen Zimmer von ihrem gemeinsamen Lachen geschwirrt, als habe sie noch unter den Lampen des Dancings in einem Sonnenstrahl gesessen – er strömte ihr mitten durch die Brust ... Jetzt beteuerte sie sich zwar, daß sie Ada nach wie vor liebe, aber Adas Schönheit, ihre Güte, ihre Freundschaft sahen ihr von weitem nach und waren kalt wie der Mond. Und zwischen ihren fernen Augen stand überdeutlich hart die Falte, die ihr den gefährlichen Ausdruck verlieh, eine Drohung für sie wie die andern, an jener Stelle war sie vom Schicksal gezeichnet ... Vorsichtig löste Aggie sich aus den Armen Gabrieles.

Das Mädchen verließ das Hotel und blieb vor dem Doktorhaus stehn. Sie überlegte, ob sie Savarin um Unterstützung bitten solle bei dem, was bevorstand, und beschloß, es allein abzumachen. Aber da war noch für etwas anderes vorzusorgen. Sie ging ins Hotel zurück und telephonierte an einen Jungen von den Weißen Scharen. Dann stieg sie bedächtig die Straße hinauf. Wo die Straße in den Wald einbog, verweilte sie und blickte ins Elsaß, ihre künftige Heimat. Das Land lag unter dem bewölkten Himmel graublau und grenzenlos wie ein Meer.

Sie hatte die Knaben auf Viertel nach fünf an den Rhein bestellt, um sich im Kahn übersetzen zu lassen (sie besaß keinen Paß), und sagte sich: da ihre Führerin nun im Elsaß wohnen werde, müßte die deutsche Sektion der Weißen Scharen später allein hinüberfinden, wenn sie sich an dem wegen Aggies Krankheit verschobenen Unternehmen gegen Colmar beteiligen wollte ... In solchen Gedanken, die ihre Hauptsorge mieden, folgte sie der Waldstraße. Als das Parktor von Schloß Breisach auftauchte, schlug sie sich seitwärts in den Wald und schlich weiter, bis sie an einen Stacheldrahtzaun kam. An einer Stelle, wo der Zaun schadhaft war, schlüpfte sie in den Park. Die Hunde schlugen nicht an. Zwei Minuten später klopfte sie im Schloß an eine Tür.

Es war die Stunde, wo die Weinhändlerswitwe Graeßlin ihr Mittagsschläfchen hielt und niemand im Haus sich rühren durfte. Deshalb klopfte sie stark und wiederholt. Endlich öffnete sich die Tür. Frau Graeßlin, eine rundliche Dame mit Spuren einstiger Schönheit, hielt ihr Kimono an sich gedrückt und herrschte Gabriele aus verschlafenen Augen an. Bald wich der Ausdruck des Unwillens in ihren Zügen der Neugier, dann der Angst, und sie fragte:

»Was ist los? Was guckst du mich so an?«

Gabriele trat etwas zurück:

»Gnädige Frau, ich möchte Ihnen raten, nachzuschauen, was mein Vater mit Ihrer Tochter Anna treibt, während Sie schlafen.«

Frau Graeßlin sperrte den Mund auf und hüllte sich in den Kimono, als ob sie friere.

»Was sagst du?«

»Haben Sie nicht Anna schon einmal erwischt, wie sie – wie sie nackt vor meinem Vater kniete? Sie haben es ihm oft vorgehalten bei Ihren Zänkereien. Ich habe es gehört. Man hört alles im Schloß, alles – wenn man nicht gerade schläft.«

»Kniete?« sagte die Frau verstört. Sie nahm sich zusammen. »Ja, gewiß, Anna ist nicht ganz –« Ohne den Kimono loszulassen, deutete sie auf die Stirn. Da hob Gabriele die Hand, zeigte den Gang hinunter und schrie: »Gehen Sie! Sofort!« Im Nu war die Frau an ihr vorbei, und auch Gabriele begann zu laufen. Sie schlug die entgegengesetzte Richtung ein, durchquerte einige Zimmer, und das letzte betrat sie im Augenblick, als Anna aus der gegenüberliegenden Tür schlüpfte. Sie war nackt und hielt einen Schlüssel in der Hand.

»Ja, schließ ab«, befahl Gabriele halblaut. »Sie könnte dich sonst erwürgen.« Sie sah zu, wie Anna den Schlüssel lautlos umdrehte, und hörte, wie hinter der Tür ihr Vater sich räusperte, wohl um sich Mut zu machen, und dabei mußte sie mit aller Gewalt an sich halten, um nicht auf das Mädchen loszustürzen und sie mit der Faust ins Gesicht zu schlagen. Sie riß einen Kaschmirschal vom Tisch und warf ihn Anna zu: »Nimm das um!« Dann schloß sie die Tür ab, durch die sie eingetreten war.

Das Zimmer des Grafen war erfüllt vom Gekreisch der Frau Graeßlin, sie polterte mit den Stühlen, und wenn sie zwischendurch aus plötzlichem Schweigen aufschluchzte, klang es, fand Gabriele, wie das Wiehern einer Stute. Inzwischen lehnte Anna, in den Schal gewickelt, lässig an der Tür. Ihre blonden Haare schienen aschgrau, so blaß war ihr Gesicht. An den Füßen, die unter dem Tuch hervorsahen, krümmten sich die Zehen. »Ich fürchte mich nicht«, lächelte sie.

»Hattet ihr denn nicht abgeschlossen?« fragte Gabriele.

»Ja. Aber wir mußten aufmachen, ich glaube, sie rannte mit dem Kopf gegen die Tür. Während er im Rollstuhl hinfuhr, um zu öffnen, kam ich hier heraus«, erklärte sie mit kindlicher Wichtigkeit.

Gabriele sagte so ruhig wie möglich:

»Und jetzt sollst du wissen, Anna, ich habe euch die Madame auf den Hals geschickt. Aus ihr machen wir uns beide nichts, denke ich. Aber er – Ich will heute fort, zu meiner Mutter, und damit er mich nicht verfolgt und mich durch die Polizei zurückholen läßt, deshalb, verstehst du, habe ich das gemacht. Wenn nötig, werden wir die Madame zum Eide laden lassen. Verstehst du? Damit sich herausstellt, wer würdiger ist, uns zu erziehen, er oder meine Mutter. Merk es dir! Schreib es dir hinter die Ohren. Ich habe dich oft genug gebeten, mir zu helfen, von hier wegzukommen, und du hast nie gewollt.«

»Nein. Ich tue nichts gegen seinen Willen. Nichts, mit keinem Gedanken, ich bin sein Geschöpf, er ist mir heilig.«

Gabriele trat näher, bis dicht vor sie, jedes der Mädchen spürte den Atem des andern auf seinem Gesicht. Die Augen zuckten einigemal, dann vermischten sich ihre Blicke. »Anna«, sagte Gabriele leise ... »Was ist mit euch?« Das Geschrei und Gepolter im Nebenzimmer begann von neuem. »Was mit uns ist? ... Was mit uns ist, Gabriele?«

Anna bog den Kopf zurück und stemmte ihn gegen die Tür, daß der Körper abstand, und ihr Blick löste sich von Gabriele, löste sich von ihr und verlor sich in die Ferne.

»Es ist so, Gabriele, daß er und ich verdammt sind und nur zusammen Erlösung finden«, antwortete sie leise. »Niemand kann etwas daran ändern, auch meine arme Mutter nicht. Du glaubst, die Menschen seien gut oder böse, Gabriele, und du meinst, er ist böse. Er ist es auch, abgründig böse, wie ich, o nein, noch viel mehr, aber auf andere Art, als du meinst ... Was soll ein böser Mensch tun, der voll Liebe ist? Immer böser werden! So sagt er selbst ... Seit Jahren wartet er, daß die Jungen, die Hellen, wie er sie nennt, angelaufen kommen, um ihn zu erschlagen. Deine Mutter, sagt er, mit ihrer kleinen Falte zwischen den Augen, wird ihn festhalten, und ihr Bruder Marcus wird die Streiche führen ... Deine Mutter war schon einmal da ... Du weißt, seitdem ist er gelähmt ... Er hat an Marcus geschrieben. Marcus war sein einziger Freund. Marcus hat ihm geantwortet, er wolle ihn nicht wiedersehn ... Jetzt bist du ja angelaufen gekommen, Gabriele, du bist jung, du bist hell ...«

»Ja, Anna, jetzt bin ich angelaufen gekommen.«

»Aber die Menschen sind beides, Gabriele, gut und böse, alle sagen es, und damit das Gute in ihnen überhandnehmen kann, müssen andre alles Böse in der Welt aufsaugen, das wissen aber die wenigsten. Wie ein Schwamm sind sie, Gabriele, sie essen und trinken das Böse, Augen und Herz füllen sie damit, bis ihr Blut stockt und sie wie tot sind. Dann, Gabriele, atmest du auf und fühlst dich fähig, gut zu sein, du und andere. Ihr seid die Nutznießer des Bösen, das wir erleiden. Das weiß ich alles von ihm. Auch du hast es oft von deinem Vater gehört, aber du willst nicht glauben! Ich bin nicht so klug wie du, doch das verstehe ich, daß man sündigen muß, um sich zu heiligen, hassen, um zu lieben, unrecht tun, um –«

»Halt den Schnabel!« befahl Gabriele. »Halt den Schnabel, sage ich!« Und wieder empfand sie ein heißes Verlangen, auf das Mädchen loszuschlagen. Anna hob ein wenig die Stimme:

»Töten, um zu leben!«

Gabriele wich zurück, ihre Lippen waren blaß und ganz schmal geworden und zitterten ununterbrochen. Sie machte eine Bewegung, als wolle sie ausholen zum Schlag: »Halt den –«

»Du wirst mich nicht schlagen«, sagte Anna ... Und nach einer Pause: »Merke es dir, Gabriele, je schwerer du in der Sünde liegst, um so höher –« Sie unterbrach sich und horchte hinter sich in das Zimmer, wo es auf einmal still geworden war. Sie strich sich mit der Hand traurig über die Stirn und fuhr fort, als hätte sie es auswendig gelernt: »Einmal wird alles in Licht getaucht sein, dort wo die Würmer und die Schlangen wohnen.«

»Ruhig«, flüsterte Gabriele. »Da drinnen –«

»Oh!« sagte Anna. »Sie hat meine Kleider gefunden.«

Gleich darauf hörten sie einen Schrei.

»Gabriele, sie hat ihn geschlagen!«

Mit saugenden Augen beugte sie sich vor. Die Stimme schwebte ihr auf den Lippen und bebte wie Luft: »Wenn du wüßtest, Gabriele, wie süß die Erniedrigung ist und die Sünde ...« Ein Schauer überlief sie bis in die Zehen, die sich langsam streckten, und sie ließ schamhaft das Tuch über die Füße fallen und blickte zu Boden. »Du willst ja auch den Krieg aus der Welt schaffen, Gabriele.« Sie lachte leise: »Oh, das geht nicht ... Eines Tages wird Deutschland alles Böse der Welt in sich aufgenommen haben, während die andern noch nicht wissen, wie ihnen geschieht, und ein heiliger Kaiser wird sein Volk über die Grenzen führen ... So sagt er, Gabriele, und ich glaube ihm.«

Auf einmal zuckte sie zusammen. Sie sank fast in die Knie, fuhr aber schnell wieder hoch. Ihre Mutter pochte mit der Faust gegen die Tür und schrie:

»Anna, bist du da?«

Es war Gabriele, die antwortete:

»Ich bin da, gnädige Frau – Gabriele. Ich habe alles gehört.« Die Mädchen vernahmen heftige Schritte, eine Tür schmetterte ins Schloß.

Anna sagte gelassen:

»Jetzt sammelt sie ihre übrigen Kinder und die Dienstboten und verläßt das Schloß ... Sie ist reich, und wir sind arm. Wie gut! ... Du fürchtest dich vor der Polizei, Gabriele, er wird sie dir nicht schicken. Aber sie wird sie uns schicken ... Da wir bereit sind, miteinander zu sterben, was kann uns geschehen? ... Ich frage dich?«

Ohne ein Wort stürzte Gabriele hinaus.

Sie ging auf ihr Zimmer und machte sich zur Reise fertig. Lieber Gott, betete sie, lieber Gott, hilf ihm! Du bist am Kreuz gestorben, auch für ihn. Hilf ihm! Ich kann es nicht ...

Sie wusch sich, zog sich um, den Blick fest auf den Spiegel gerichtet, um herauszufinden, ob sie ein Scheusal sei oder nicht. Sie ließ alles zurück, was sie außer ihrem Kleid besaß, das Kleid war fast so gelb wie ihr Haar.

Das Haus lag in furchtsamen Schweigen. Nur die Hunde, die sie einen Augenblick am Fenster gesehen hatten, winselten und rissen bellend an der Kette.

Als sie über die Terrasse schritt, hörte sie aus dem Zimmer ihres Vaters die ruhige sanfte Stimme Annas. Um nicht am Fenster vorbei zu müssen, machte sie kehrt und nahm den Weg um das Haus.

Das Parktor stand auf. Sollte die Witwe Graeßlin bereits abgezogen sein? ... Sie ließ es, wie es war, mit weit geöffneten Flügeln, und pfiff zum Abschied den Hunden zu, die mit einem Aufheulen antworteten.

Bei der Straßenkreuzung am Waldrand bemerkte sie, daß die zart umwölkte Sonne sich bereits den Vogesen näherte, und begann zu laufen.

 

Vor dem deutschen Zollgebäude ließ Gabriele den Wagen halten, stieg aus und erreichte, während Aggie über die Schiffbrücke fuhr, auf einem Umweg durch Gestrüpp den Rhein. In einer Bucht warteten die beiden Knaben mit einem Fischerkahn.

»Friede durch die Jugend!« grüßten sie.

Da der Rhein hier eine Schleife machte, konnten sie von der Schiffbrücke nicht gesehen werden, und so ruderten die Jungen ihre schweigsame Führerin unbehelligt an das französische Ufer. »Ich schreibe euch, wann ihr herüberkommen sollt«, rief sie ihnen vom Saumweg zu. Sie warf die Hand über den Kopf: »Friede durch die Jugend!« Die Knaben im Kahn standen stramm, ihre Hand stieg, schnell flatternd, zum Himmel.

Gabriele folgte dem Dammweg stromaufwärts, bis das französische Zollgebäude in Sicht kam, schlug dann einen Pfad durch die Dschungeln ein und betrat zweihundert Meter hinter der Brücke wieder die Straße. Den Arm voll blühender Zweige, lächelte sie einer Radfahrpatrouille französischer Zollwächter entgegen, die gemächlich die Straße heraufkam. Einer der Männer streckte im Vorbeifahren die Hand aus, sie reichte ihm einen Zweig. Eine kleine gelbe Wolke von Blütenstaub stieg in die Luft. Dann bummelte sie auf das Auto zu und setzte sich neben Aggie.

»Du siehst, Aggie, es geht auch ohne Paß.«

»En avant!« befahl sie dem Chauffeur ...

In Breuschheim angelangt, es dunkelte schon, wurde Gabriele von Joseph in das Schloß geführt und Aggie von Grether Fritz in den Pavillon.

Ada saß bei mir (Silvio war ›geschäftlich verhindert‹), wir warteten seit einer Stunde auf den Wagen aus Römerbad. Da ging die Tür auf, Gabriele stürzte herein. In der Mitte des Zimmers machte sie halt. Sie rang die Hände, nickte hilflos, versuchte zu lächeln. Sie trug ein ärmelloses Kleid aus gelbem Leinen, die Haare hingen ihr zerzaust um die Wangen, sie fuhr zwei-, dreimal mit der Hand in die Strähnen, um sie aus dem Gesicht zu schieben.

Ada stieß einen dumpfen Laut aus. Sie wollte aufstehn. Sie breitete die Arme. Doch Gabriele fiel vor ihr nieder, wühlte den Kopf in ihren Schoß und schrie. Es war eine Folge verzweifelter Schreie, mehr als ein Weinen. Ihre Arme hielten die Beine der Mutter umklammert. Adas große Gestalt bebte vom Schluchzen des Kindes.

Ich ließ sie allein und ging in den Pavillon. Dort fand ich Aggie Ruf, wie sie prüfend von einem Fenster zum andern schritt. »Kann man hier leicht einbrechen?« fragte sie. Ich deutete auf die Eisengitter an den Fenstern.

»Ja, aber die Tür in den Garten«, meinte sie.

Ich zeigte ihr die Riegel der schweren Tür, sie untersuchte sie sorgfältig, dann sprach sie gleichsam über mich hinweg:

»Danke, Claus, darf ich mich etwas ausruhen?« Ich sagte: »Silvio Wolf hat bestellen lassen, daß er Sie in Unterhügeln erwarte.«

Etwas in meinem Tonfall weckte ihren Argwohn, sie warf rasch einen prüfenden Blick auf mich.

»Danke, Claus, ich kenne den Weg nach Unterhügeln.«

Mit schlecht verhehltem Ärger versetzte ich:

»Und er kennt den Weg hierher.«

»Das ist seine Sache, Claus.«

 

Kurz bevor Gabriele mit ihrer Mutter nach Unterhügeln fuhr, traf sie auf Jacquot, der draußen auf ihr Erscheinen wartete. Das erste, was sie ihm anvertraute, war:

»Du, unsere Aggie ist gar nicht mehr die, die wir aus ihren Gedichten kennen. Sie war krank vor Angst. Sie fürchtet sich schrecklich.«

»Wovor denn?« fragte Jacquot mit aufgerissenen Augen. Doch das konnte ihm Gabriele in der Eile nicht erklären.


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