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Mit Trommeln und Pfeifen

Zwischen dem Angelus der Frühe und dem Angelus des Abends ging in Aggie so viel vor, daß sie sich zu keiner Stunde wiedererkannte. Jedesmal war sie eine andre. Im ganzen konnte es nach ihrer Meinung keinen Menschen unter der Sonne geben, der ihr so fremd gewesen wäre wie sie selbst, niemals hatte sie sich so einsam gefühlt wie in der fiebernden Menge ihrer Gedanken. Als Silvio kam, wurde sie, beim bloßen Nennen seines Namens durch das Mädchen, aus einer Wildnis von Gesichtern zu sich zurückgeführt.

Er kam, ein fordernder Geliebter, und sein »Du«, als er sie bestürmte, war wie ein gezücktes Messer ... An diesem Tag konnte sie sich seiner noch erwehren. Er hatte keine Zeit, sie mußten fort »auf die Tour«, in schneller Fahrt von einer Wahlversammlung zur andern.

Es dauerte nicht lange, da erfuhr sie zu ihrer maßlosen Verblüffung, daß die Frau auch in Kleidern nicht sicher ist vor dem Mann. Jemand, der sich überzeugte, daß der Mensch ebensogut auf den Händen gehn könne als auf den Füßen, würde nicht überraschter sein. Das erstemal, da er sie so nahm, merkte sie es viel zu spät, als daß sie sich gegen das Äußerste hätte wehren können. Übrigens hielt sie diese Art von Umarmung nicht für schlimmer als die andre, im Gegenteil, sie fand, ihr Schamgefühl werde so mehr geschont. Es war ähnlich wie früher, nur in einer näheren, gefährlicheren Lage, als sie sich von der geahnten Roheit seines Wesens wie von einem Wetterleuchten hatte entzücken lassen, und zwar um so mutiger, je versteckter die Drohung blieb, je flüchtiger der Anlaß, sich ihrer Neugier zu schämen. Ganz wie im Märchen fürchtete sie den Wolf und fürchtete ihn wieder nicht, sie wäre sehr enttäuscht gewesen, wenn sie es nicht mit einem richtigen Wolf zu tun gehabt hätte, besser aber war doch, er blieb im Schatten ... Alle Frauen sind so, sagte sie sich, warum sollte ich anders sein? Ich will nicht anders sein! Geschieht nicht alles nur, damit ich werde wie sie?

Ich will, ich will nicht weiter als ein Ungeheuer leben, das die Wirklichkeit leugnet und vor einem Beet roter Blümchen zurückschaudert, weil es an Blut erinnert, das ich auf einem Wäschestück sah. In einem Strom von Blut kommen wir zur Welt, wir alle, auch die Helden, auch die Heiligen.

Ich will wirklich sein, ich will da sein, ein Teil, schmerzhaft oder nicht, vom Ganzen, eine Frau, eine Frau wie alle, er soll mit mir machen, was er will, in der Liebe – ich habe nur einfach Geliebte zu sein, wie sie es alle sind, in der Liebe. Ich kann nicht zurück, also vorwärts ... Aggie erzog sich zum Zynismus, wie andre ihr tägliches Gesundheitsturnen betreiben. Sie hielt sich für außerordentlich anstellig.

»Du«, sagte nun auch sie, wenn sie nach solch einer flüchtigen Umarmung die Landstraße im Auto entlangrasten. Manchmal war auch Ada im Wagen. Dann hob sie vorsichtig den Mund bis an sein Ohr und flüsterte: »Du.«

Er nahm sie an Gartenzäunen in Dörfern und Vororten, in einem dunkeln Raum des Hauses, wo die Versammlung stattfand, im heimfahrenden Wagen, in Aggies Zimmer.

»Du«, scherzte sie, »jetzt begreife ich den stupiden Hochmut des Hahns – die demütige Verwirrung des Huhns, die Trennung der Welt durch zwei Vokale im gleichen Wort, ich glaube, ich begreife jetzt überhaupt jede Gemeinheit. Alles kommt mir malerisch vor in der Liebe.

»Großartig!« stimmte er bei. »Dem Reinen ist alles rein ...« Und auf einmal, mit bebender Stimme: »Du bist eine süße Geliebte, Aggie! Wer hätte das gedacht!«

Er sang, die Augen in ihre Augen versenkt. Immer schöner sang er, je heller die Begierde ihn erleuchtete, bis er allmählich Küsse und Worte fand, über die er selbst staunte und die Aggie erschütterten, so wahr blühten sie und einfach und starben, so ergeben auf ihrem Mund, wie der, der sie ihr schenkte, unmöglich sein konnte ... Sobald sie sich dessen bewußt wurde, was sie als tiefsten Betrug empfand, setzte sie sich zur Wehr und stritt mit der gleichen Erbitterung wie das erstemal. Zu allem glaubte sie sich bereit, nur nicht, sich von ihm betrügen zu lassen. Ada ließ sich auch nicht betrügen.

»Ermorde mich«, stöhnte sie, »anders wirst du mich nicht mehr los! Du mußt mich zerstören bis zum Ende ...« War es vorbei, lag sie zitternd in seinen Armen, von innen heraus zerschlagen, und bettelte um ein gütiges Wort.

Beim Einsetzen ihres Widerstandes war Silvio erst einmal fassungslos, er nahm verwundert, beleidigt die Hände von ihr, schmähte sie unter höflichen Worten (einmal freilich schrie er sie an: »Spielst du mir dieselbe Komödie wie Ada!«), um sich dann ingrimmig auf sie zu stürzen. Das Ringen, stumm und verbissen, endete jedesmal mit ihrer Unterwerfung. An deren Echtheit zweifelte er nicht, nein, ihr, Aggie, glaubte er, wenn sie, jeden Widerstand aufgebend, mit allen Zeichen der Ergebung in seine Umarmung hinüberglitt, einem Kinde gleich, das sich ohne Rückhalt einem Mächtigen anvertraut – ihr glaubte er, und dafür begann er sie zu lieben.

Die fliegende Eile ihrer Umarmungen erhielt einen Schein von Rechtfertigung, wenigstens in den Augen Aggies, durch die Hast und die Wildheit, worin sie beide seit Beginn des Wahlkampfes lebten. Täglich warfen sie sich in das Handgemenge der Parteien, drangen tief in den Menschenbrodem ein, täglich wurden sie mehr gehaßt und geliebt. »Ein Massaker!« konnte Aggie fröhlich ausrufen. »Ein wahres Massaker! ...« Hinter dem Wort Massaker taucht unfehlbar das Bild des Hartmannsweilerkopfes auf. Die Kreuze unter dem jungen Wald, die Gräben, die Unterstände voll dunkler Fäulnis, das rötliche Steingeröll des Gipfels, die Marterhölzer, die nie mehr auflebten, obwohl selbst der vom Strauch geschnittene Zweig, den man in den Boden steckt, wieder Knospen treibt, das Kreuz auf der höchsten Stelle, daneben die Trikolore – beim Wort Massaker war es da, sie konnte es nicht hindern. Unwillig wandte sie sich ab.

Sie rasten von Versammlung zu Versammlung, das Geräusch des Motors kündete Kampf, die von Menschen belebten Straßen wogten in Aufruhr, sie betraten die schwülen Säle, als stellten sie sich einem aufziehenden Gewitter. Zuweilen schlug schon der erste Zwischenruf wie ein Blitz ein, er zündete oder zündete nicht, doch warteten alle stockenden Atems, Schweiß auf der Stirn, daß der große Brand ausbräche, in dem es sie gelüstete mitzubrennen, sich zu läutern, hauptsächlich aber zu vernichten. Es wuchs der Haß, es wuchs auch etwas wie Liebe – ein maßloser, blind eifernder Wille zu sich selbst und dem, was sie »ihre Sache« nannten.

Neben ihm sitzend, auf seiner andern Seite saß Ada, stieß sie mit einem dumpfen, heftigen »Du« nach ihm. Ihre Lippen formten die Silbe, wenn er oben am Rednerpult stand, und hielten sie fest, bis sein rascher Blick sie ihr von den Lippen nahm, worauf sie sich erleichtert in die Schultern zurücksinken ließ.

Der leere Platz zwischen Ada und Aggie trennte die beiden völlig. Erst wenn Silvio wieder da war, nahmen sie Kenntnis voneinander. Mit Silvio zwischen sich und Ada konnte Aggie Zärtlichkeit für die einstige Freundin empfinden, Bewunderung, Demut und Geborgenheit, bittende Reue und auch dies: ein leidenschaftliches Verlangen, sich zu töten oder Silvio zu beseitigen und die Welt wieder herzustellen, wie sie gewesen, bevor er mit seinen gefräßigen Zähnen aufgetreten war.

 

Er aber liebt sie. Er liebt sie, wie er Ada nicht, wie er keinen Menschen geliebt hat. Und wenn es nicht genug sein sollte, mehr kann er nicht lieben ... Und es ist nicht jene rührende Selbsttäuschung der Liebenden, die unter Mißachtung der vielen hübschen, geringeren Gestirne ihre Liebe allemal als Hauptpunkt und Drehscheibe des Sonnensystems anmelden. Es ist die Wahrheit selbst, vielleicht die erste seines Lebens, er liebt den kleinen blonden Irrwisch, wie er niemals geliebt hat, mehr kann er nicht lieben, so wenig wie ein Fluß größeres Wasser führen kann, als ihm zufließt. Jedenfalls ist seine Liebe stark genug, daß er in ihr wächst und glüht.

Wie eine Flut kommt sie über ihn, die ein dürres Gestade unversehens unter die Blütenfarben des Himmels setzt. Er jauchzt, wenn eine Welle ihn emporwirft und er eine Unendlichkeit von leidenschaftlicher Bewegung übersieht, die ihm gilt, dem herrischen, leichtherzigen Schwimmer, er schauert vor Lust, wenn der nächste Wasserberg ihn begräbt und dann die Tiefe an ihm saugt bis ins Mark.

Angesichts von so viel unberechenbarer Wildheit lernt er das Gruseln ... Silvio Wolf ertappt sich auf der Flucht vor dem verzweifelten Lamm, das nichts tut als mit seinem grünlich schillernden Blick in seine Augen zu tauchen ... Zu gleicher Zeit errät er, wie wahr die Worte der Dichter sind, wenn sie mit einschüchterndem Tonfall von der Liebe sprechen, er denkt nachsichtig über Leute, die sich und alles außer ihrer Liebe vergessen und haarsträubende Torheiten begehn ... Hatte er gemeint, die Welt zu kennen, so erklärt er: jetzt erst beginne er sie zu kennen. Denn auch das ist die Welt, auch das, hauptsächlich sogar das, man muß begeistert sein, um Großes zu vollbringen – gehört dazu nicht Liebe? Liebe hat ihm gefehlt, sonst nichts, er fühlt sich gewachsen, weiser, leichtsinniger allem Großen zugewandt, er glüht, er ist aufgenommen in die Gemeinschaft der Glühenden, er ist gekrönt.

Mächtig schreitet er dahin, von Versammlung zu Versammlung, von einer Zeitung zur andern, Tausende von Menschen klatschen und rufen ihm zu, sobald er unter ihnen erscheint, es wächst der Schlachtenlärm, die Rotationsmaschinen donnern, Trommeln und Pfeifen rasen, ein Riesenheer setzt sich in Marsch, und ein kleiner, blonder Irrwisch tanzt über der Menge ... Vor lauter Ergriffenheit faltet Silvio manchmal die Hände: »Wer hätte es gedacht!«

»Die Liebe ist erhebend gleich einem Traum, worin die festen Grenzen schmelzen, der Atem des Göttlichen hat sie angehaucht«, murmelt er halb unbewußt, indes er die Stufen zum Rednerpult hinaufsteigt. »Selbst ein Sturz in den Abgrund erfüllt den Mund mit einem Geschmack voll Süße ...« Mitten in seiner Rede, während der Pause, die der Beifall erzwingt, beendet er den Satz: »Aus einem Traum wacht man auf, und wäre er noch so erhebend, und je heftiger er blendet, um so jäher, und dann findet man niemand lieber beim Frühstück als eine Tochter Charles Hartmanns.«

Dabei blickt er in den Saal und auf Ada und Aggie, nicht anders als das Auge Bonapartes auf Josephine Beauharnais gefallen wäre, wenn sie in verdoppelter Gestalt an der Brücke von Arcole gesessen hätte, zur einen Hälfte ein Sinnbild des Abenteuers, zur andern ein Sinnbild der gefestigten Macht.

Er fürchtet nicht Ada, Ada ist ein vernunftbegabtes Wesen, sie kennt ihn, kennt die Welt. Er fürchtet Aggie. Der Irrwisch hat ihn das Gruseln gelehrt – mit ihrem plötzlichen Züngeln und Schillern in den Unschuldsaugen. Außerdem leugnet sie die Wirklichkeit, ihre Füße sind viel zu klein, um richtig darauf zu gehn, sie fliegt – Gott weiß, wohin. Er fürchtet nur Aggie ... Will sie ihn nicht plötzlich für sich allein haben? Sie übersieht die Wirklichkeit, leugnet einfach seine Ehe. »Je te veux, je te veux à moi«, antwortet sie auf seine Gesänge ... Was kann es anders bedeuten, als daß er sich scheiden lassen soll? ... Der Irrwisch nämlich, wer hätte es gedacht, verfügt über echte Klauen und naturwahre Zähne und versteht es, die Waffen zu führen. Silvio muß sich Mut zusprechen, nicht zuletzt, wenn er sie in den Armen hält und sie an ihm bebt wie eine aufgerichtete Schlange ... Erst wieder den Kopf freihaben, dann findet sich der Ausweg, wahrscheinlich von selbst!

Jemand, der schon als Kind in den Ozean geflogen ist oder doch in einen ganz respektabeln See, ohne zu ertrinken, der wird doch wohl dem Leben gewachsen sein. Und steht nicht sein Glück in den Sternen geschrieben? Ein Sternbild nach dem andern hat ihn emporgezogen. Als Ronald Gurdon unterging, stand Ada Breisach schon am Himmel ...

Nicht als ob Silvio gerade zu jeder Stunde die Vergänglichkeit einer Leidenschaft bedächte. Von ihr überschwemmt, erscheint sie ihm unendlich, nicht zu ermessen mit den Werkzeugen des Verstandes, erscheint sie ihm als der kostbarste Schatz, den er noch im Schlafe hütet und wachend verschwendet wie ein Geiziger, der auf einmal entdeckt hat, daß er das Geld nur auszustreuen braucht, damit es tausendfach vermehrt zu ihm zurückkehre. Ein Zustand, seiner Natur so fremd wie sagenhafte Inseln, wo selbst der Schmerz in buntem Gefieder raschelt, ein frohlockendes Gurgeln in der Kehle – Inseln, die er nie gewillt gewesen wäre, zu bewohnen, gefährliche Inseln! Denn nie ist ein Abenteurer (wenn man ihn so nennen darf) vorsichtiger zu Werke gegangen als Silvio.

Nein, er denkt nicht zu jeder Stunde an das Morgen, aber natürlich gibt es im unendlichen Traum Augenblicke des Erwachens, ziemlich nüchterne Vorläufer und Ankündiger jenes Morgens, die ungerufen aus dem Boden steigen und ebenso wieder verschwinden unter Hinterlassung der Botschaft, daß die Zeit nicht stillstehe, daß man haushalten müsse, daß gewisse Inseln mit dem Ausbruch der Vulkane kommen und gehn – die Weisheit selbst.

Indessen schreitet er, ein wahrer Rebell, durch die Versammlungen, der Schlachtenlärm wächst, vom Trommler- und Pfeiferkorps der Presse begleitet, es tanzt der süße Irrwisch über der Menge ... Wann wurde je im Land eine Sprache gehört, wie Silvio Wolf sie führt? Er brüllt in den Saal und steht aufrecht im tosenden Meere des Beifalls, aus seinem hübschen Lausbubengesicht wird unversehens der Kopf eines Denkmals: »Warum erklären wir uns nicht schlicht als deutsche Partei, als die deutsche Partei in Frankreich?«

»Aus Angst vor dem Käfig«, ruft einer dazwischen. – Glänzend vor Zuversicht schreit er Antwort: »Gefängnisse? Gefängnisse sind Treibhäuser für die politische Saat! Da wächst sie zehnmal so schnell wie im Freien! ... In der Tschechoslowakei, liebe Landsleute, gibt es das, eine deutsche Partei, dort sitzt sie nicht einmal im Käfig, sie sitzt in der Regierung!« Brausender Beifall belohnt ihn. Der Polizeikommissar auf dem Podium, der die Versammlung überwacht, erhebt sich drohend von seinem Stuhl. Er wird niedergelacht, niedergepfiffen, mit Lachen und Pfeifen und ironischem Applaus hinuntergedrückt auf seinen Stuhl, wo er denn auch bald wieder friedlich anlangt.

Silvio kann auch schön von Frankreich reden: dem großen unsterblichen Frankreich der Revolution und der Menschenrechte, das den Freiheitsbaum in seinen Boden pflanzte, eine damals noch unbekannte Baumart, und durch Stecklinge fleißig über den Kontinent verbreitete ... Dem Frankreich des verwegenen Fortschritts und der Tradition, die an allen guten Geschenken des Lebens festhält und sich wählerisch bereichert, ohne Altes leichter Hand zu verwerfen, dem Frankreich der besinnlichen Schönheit, der Hochburg der abendländischen Kultur ... Es ist eine seiner vorzüglichsten Arien. Einmal, auf dem Höhepunkt einer autonomistischen Brandrede, erstürmte ein Mann, eine kleine Trikolore schwingend, das Podium, das ausschließlich mit den rotweißen Landesfarben ausgeschmückt war, und droben angelangt, machte er Front und kreischte: »Vive la France!« Silvio ging auf ihn zu. Er nahm ihm freundlich das blauweißrote Fähnchen aus der Hand und hielt es begeistert in die Höhe ... Damals fand er seine Frankreich-Arie. Sie erntete nicht weniger Beifall als seine rotweißen Donnerwetter, darauf gab er sie noch oft unaufgefordert da capo. Den Mann mit der Trikolore, er zweifelte keinen Augenblick, hatte die Polizei auf das Podium geschickt. Solange Silvio lebte, war der Polizei nichts Besseres eingefallen, wenigstens im Hinblick auf ihn! Der Tag sollte nicht vergehn, ohne daß er ein Danktelegramm an den Präfekten absandte. Am Morgen wußten alle Postbeamten davon, und das Prachtstück dessen, was das Volk für eine Satire hielt, machte die Runde durch das Land, überflog die Grenze und kam bis nach Berlin ...

Für gewöhnlich sehen Silvios Zuhörer nicht recht, wo er hinauswill, auch die gewiegtesten nicht. Dennoch, bis auf einige unverbesserliche Nörgler, schwören sie darauf, er sei ein Kerl, ein ganzer Kerl, und es lohne sich, ihm zu folgen. Denn eines scheint gewiß: der Bursche hat keine Angst vor der Regierung, ob er sie nun mit seinem blauweißroten Fähnchen einwickelt oder ihr auf den Kopf haut. Und Geld hat er wie Heu und könnte einen langen Hartmannschen Arm spielen lassen, um es bequem zu haben, und dabei arbeitet der Mann gegen die Sippe und schleudert Zorn und Hohn gegen die Politik der reichen Leute ... Wenn er den Namen des Ministerpräsidenten Sarcarot ausspricht, grinst er nur, aber es wirkt verheerend. Fünf Kerle wie er im Land, und die Franzosen verkröchen sich ins zentrale Mauseloch, sowie sie nur einen auf elsässisch hüsteln hörten vor der Tür! ...

»Vive le loup«, schreien sie, wenn er in den Versammlungen erscheint. Ein Kosename, vom Volke verliehen, die höchste Auszeichnung nicht nur für einen Heimatrechtler! Silvio Wolf, Lupescu, englisch Wolf, Le Loup – »Wolf in allen Sprachen«, prophezeite Hubert Adam ...

 

Zu alledem verzieht Ada keine Miene, ob der Beifall ihn umbraust oder ob die Gegner ihn einen Schwindler und deutschen Agenten nennen, der zwar vermutlich nicht für Geld, aber aus Haß gegen Frankreich sein Vaterland verrate.

Sie sitzt in der ersten Reihe.

Sie hört nicht, was gesprochen wird.

Sie kann sich nicht sattsehn an ihm. Es sind ihre einzigen Liebesstunden.

Seit der Nacht, als er zu Aggie ging, hat sie sich ihm versagt, und mit ihr kann er nicht kämpfen, dazu ist sie ihrer und seiner selbst viel zu sicher, viel zu gesammelt und übrigens auch körperlich zu stark ... Als er an jenem Morgen in sein Zimmer schlich, hatte sie plötzlich vor ihm gestanden, sie hob die Arme wie zur Versöhnung, dann plötzlich faßte sie ihn scharf ins Auge, erstaunt erst, allmählich aber mit einer Aufmerksamkeit, die immer gespannter wurde – worauf sie sich, ohne ein Wort gesprochen zu haben, in ihr Zimmer einschloß. Die nächsten Tage war er von einer ganz ungewohnten Gleichmäßigkeit der Laune, er machte ihr den Hof, wie an den wolkenlosesten Tagen ihrer Nizzaer Zeit, und wenn die Rede auf Aggie kam, äußerte er sich in ironischem oder herablassendem Ton. Er nahm sich nicht einmal die Zeit, in der Art, wie er von ihr sprach, etwas wie eine Schonfrist zu beachten oder sonstwie die Übergänge zu wahren. Er war zu plump, und Ada sorgte dafür, daß er schon bald seine Fragen und Vermutungen, seine bald lächelnden, bald heftigen Versicherungen abstellte, – von denen er schließlich auch einsah, daß sie ihn immer peinlicher in die unmöglich gewordene Lüge verstrickten ... Er wurde muffig, zerstreut, er strafte seine Frau, indem er sich den Anschein gab, sie nicht zu beachten. Der Zweifel, ob sie in seine Arme zurückkehren werde, prallte an seinem Wissen von der Ordnung der Welt ab. War sie nicht ein vernunftbegabtes Wesen? Kannte sie nicht die Wirklichkeit so gut wie er? Saß sie überdies nicht nach wie vor zu seinen Füßen, wenn er öffentlich sprach, und stieg nicht ihre Bewunderung wie Weihrauch zu ihm auf? ... Silvio wartete auf den Mondwechsel oder ein ähnliches Naturereignis, um mit Ada Frieden zu schließen. Von Zeit zu Zeit schwang er sich auf und gab versuchsweise eine private Galavorstellung. Er glänzte, sprühte, er war schön, er lachte wie ein Knabe, er begeisterte sich bis zur Ekstase. Das Publikum, nämlich Ada, zeigte sich abwesend und stumm.

Aber in den öffentlichen Versammlungen ist sie da. Sie sitzt in der ersten Reihe. Sie hört nicht, was gesprochen wird. Sie kann sich nicht sattsehn an ihm. Manchmal nimmt sie sich vor, später, wenn sie geschieden sein wird, in die Kammer zu gehn und ihn ungesehn zu beobachten. Sie sitzt vor der Bühne und kann sich nicht sattsehn an ihm, es sind ihre letzten Liebesstunden.

Nach der Versammlung wird er eine Komiteesitzung vorschützen oder das Lesen von Korrekturen aus einer Druckerei (sie wartet gespannt auf die Lüge, untröstlich, daß er außer diesen beiden nie eine andre findet) und sie mit gnädigen Worten nach Hause schicken. Und etwas später mit Aggie nachfahren.

Wie muß er Aggie lieben, sagt sie sich voll unwillkürlicher Rührung, daß er so leichtsinnig etwas aufs Spiel setzt, was er keinesfalls verlieren will: Ada, ihre Familie, die gesicherte Zukunft. Was er heute schon an Vermögen und Macht besitzt, kann ihm doch nicht genügen! ... Und sie beneidet Aggie um so viel selbstvergessene Liebe. Und welch ein Verbrechen, denkt sie wiederum, zwei Menschen wie Aggie und sie für immer zu trennen, aus verletzter Eitelkeit, aus Laune, aus kindischem Trotz, und zumindest die eine von ihnen tödlich zu verderben! ... Das leise Weinen der Rührung, das ihr Leid auflösen wollte wie Regen die hartgebrannte Erde, erstickt in Zorn und Verachtung. Doch Zorn und Verachtung, Rührung, Trauer und Mitleid (für Aggie empfindet sie nur Mitleid und Trauer) sind bei Ada kreatürliche Zustände, über die sie sich kaum Rechenschaft ablegt. Sie lebt ihre Gefühle in einer Weise, daß sie mit all ihrer Vernunft sich selbst ohnmächtig gegenübersteht.

 

Aggie dagegen ist sich völlig klar über ihre Lage. Wie lange kann es dauern, bis Silvio sie über Bord wirft? Er wartet nur auf einen Wink seiner Frau, um sie, die Geliebte, die nur einfach Geliebte sein will wie alle andern, sonst nichts, endlich nichts andres mehr – an den Hüften zu packen, wie damals, als er sie zum Diwan trug, deutlich sieht sie es vor sich, um sie hochzuheben, er hebt sie hoch, diesmal aber, um sie wegzuwerfen, und sie sieht auch, wie sie im Dunkel verschwindet. Sie fällt, fällt, und die Leere schließt sich über ihr, sie ist ausgelöscht von der Erde ... Sie weiß, nie wird der Wink erfolgen. Niemals.

Am Tag, da er sie fallen läßt, verliert er auch Ada, vielleicht keinen Tag früher, dann aber sicher. So lange hält Ada aus, ihr Stolz versteht es nicht anders. Stolz ist ihre größte Leidenschaft, wer ihn ernstlich verletzt, der trifft ihre Sinne, der trifft sie ins Herz, sie wird zu Stein, Aggie fühlt es ihr nach, als wäre sie selbst so beschaffen – Ada erkaltet, gleichsam über Nacht, wird hart wie Stein, verliert Erinnerung und Bewußtsein dessen, was sie begehrt, entfernt sich gleichsam aus sich selbst und geht davon, oh, Aggie versteht das so gut ...

Sie versteht es so gut, als erinnere sie sich, gleiches erlebt zu haben, aber das Verständnis dauert nicht länger als der Schein eines Blitzes, der über den Wald huscht. Sie kann nichts mehr festhalten ... Ihre Gedanken sind wie Wild, das sie aufspürt und endlos verfolgt, sie kennt keine Ruhe mehr, es sei denn, man nenne Ruhe ein erschöpftes Hinstarren auf eine Jagd, die auch ohne den Jäger weitergeht. Früher waren es die Gestalten ihrer Dichtungen, die sie derart mitnahmen. Das Leben, das »wirkliche« Leben ruhte sie aus! Wie soll man das erklären? ...

Verhält es sich am Ende so, daß Aggie zwischen Wirklichkeit und Phantasie nicht mehr unterscheidet und ihr, in »Wirklichkeit« geringfügiges Abenteuer ihre ganze Einbildungskraft, alle ihre Fähigkeiten in Anspruch nimmt, die sonst ihrem Werk zuströmten – und sie aufpeitscht und dauernd in Gang hält, ohne ihr die Abendruhe und Genugtuung des Fertigen, Gestalteten, Hinausgestellten, Übersehbaren zu gewähren, das Erholung ist und zugleich Wegweiser für den nächsten Tag? Treibt es sie immer tiefer in die Wirrnis all dessen, was sie als Wirklichkeit entdeckt zu haben meint, weil sie hofft, auf eine Gewißheit, welcher Art auch immer, zu stoßen und damit eine Atempause zu finden, vielleicht ein Ende – jedenfalls Frieden?

Sie arbeitet von morgens bis abends, erledigt die Korrespondenz des Kandidaten, Silvio hat das ganze »Geschäft« vertrauensvoll in ihre Hände gelegt. Sie schreibt Briefe, schreibt Notizen und Aufsätze, sammelt Zeitungsausschnitte, ordnet sie ein, schreibt, schreibt, bis Silvio sie im Auto abholt.

Und die Dichtung, ihr bestes Leben, ihr echter Glanz, ihr echtes Elend, liegt brach. Ihr Wortschatz schrumpft zusammen und erinnert allmählich etwa an einen Suppenteller mit zehn Murmeln, der rasend im Kreise gedreht wird. Es ist ein Jammer, Aggies Ruf büßt ihre Sprache ein, ohne eine andre dafür zu gewinnen. Jeder Mensch darf auf zwei und mehr Sprachen leben, nur nicht der Dichter. Die Sprache des Dichters vermittelt nicht Gedachtes allein, sie stellt, in einmaliger Form, einen Menschen dar, sie ist sein Bild, an die Wand einer bestimmten Sprache geworfen ...

Als ich ihr nahelegte, über dem Karneval der Rheingaskogner ihre Lebensarbeit nicht zu vernachlässigen und die abgebrochene Erzählung wieder vorzunehmen, antwortete sie mit einem Zynismus, der bei ihr erschütternd wirkte:

»Lieber Claus, lassen Sie mich sein wie andre Frauen auch, und wenn Sie mehr von mir verlangen, dann nur die Wahrheit! ... Seit Nizza halte ich an einer Stelle in meinem Buch, wo die Heldin, ein keusches, einfaches Mädchen, von einer Art Kretin angefallen wird. Er schlägt ihr die Hände auf die Brüste, atmet sie tierisch an, sie aber bändigt ihn, wie hergebrachterweise Heilige die Tiere bändigen, mit ihrer Sanftmut ... Glauben Sie das? ... Gibt es das? Ich bin überzeugt, er ließ ihr gar nicht die Zeit, Sanftmut zu zeigen, er warf sie hin und riß ihr die Beine auseinander. Wie soll ich da weiterschreiben? Ich muß lachen, wenn ich denke, was für eine verlogene Geschichte ich mir zurechtgelegt hatte.«

Sie sah meine Betroffenheit und lenkte rasch das Gespräch ab ...

Nur noch selten kam sie »auf einen Hürdensprung« zu uns herüber, die Hindernisse waren wohl zu hoch, zu unübersichtlich geworden, als daß man dem besten Freund eine Hilfeleistung hätte zumuten können ... Zu Annettes Kummer schlug sie auch keine langen Purzelbäume mehr, bei denen man die Hose sieht, es blieb bei vorsichtigen, beinah prüden Skizzen, die das Kind wenig befriedigten, so daß Annette es vorzog, sich der großen Freundin lieber nur noch von ihrer gesitteten Seite zu zeigen, und nach Austausch einiger Artigkeiten das Zimmer verließ. (Das erstemal, vermute ich, tat sie es, um festzustellen, ob Aggie sie zurückhalten werde. Als es unterblieb, war das Kind um eine Lebenserfahrung – ärmer.) Ich mußte es mir wiederholt und ausdrücklich vorhalten, um mich daran zu gewöhnen: Aggie hat ihre Harmlosigkeit eingebüßt, die überhelle, durchscheinende Aggie war kompakt und düster geworden. Zwar machte sie Anstrengungen genug, über ihren Schatten zu springen, aber wenn sie sich auch nur andeutungsweise fröhlich gab, war es immer, als ahme sie mit Anstrengung nach, wie sie früher von innen heraus sein konnte, und ihr Gesicht veränderte sich von einer Sekunde zur andern.

 

»Unser Rüfchen zittert wie ein abgespielter Film«, tuschelten die Gäste ihres Salons ... Aggie dagegen belegte die geselligen Veranstaltungen im Pavillon mit dem Namen »Bürgerpest«, und da die von der Pest befallenen Bürger zufällig Franzosen waren, kehrte sich ihre Feindseligkeit gegen alles Französische. Wer die Summe ihrer vergleichenden Völkerkunde zog, konnte leicht zu dem Schluß kommen, daß es für Frankreich höchste Zeit sei, deutsch zu werden, widrigenfalls es dem Marasmus verfiele.

Aggie wollte es mir nie glauben, so oft ich es ihr versicherte: das französische Bürgertum ist das solideste der Welt. Der Bürger in Frankreich leidet nicht an schlechtem Gewissen, ob er nun nach oben guckt, wo der Adel sein Altenteil absitzt, oder nach unten, auf das Proletariat. Im Adel sieht er ruinierte Ahnen, im Arbeiter einen manchmal noch nicht ganz entpuppten Kleinbürger. Er schwört: »Ich bin ein Bürger, die Blüte der Nation, man hat noch nichts Besseres gefunden. Und Geld ist Geld!« Und verteidigt seine Stellung gegen wen es sei, wobei seine hohe Gesittung ihm nicht nur zum Schmuck dient, sondern als Waffe ... Ich gestand Aggie, daß mir die Haltung respektabler vorkam als die jener nach oben wie nach unten schlotternden Standesgenossen in andern, angeblich fortgeschrittenen Ländern.

Freilich war Aggie sich ihrer Anmaßung nur beiläufig bewußt, sie glaubte, sie »trumpfe« nur »mit Deutschland auf«, damit die Herrschaften einmal achtgäben auf das blöde Spiel, bei dem die französische Karte unweigerlich die deutsche sticht – vermutlich, weil die Vorsehung (die in Frankreich nur noch für die Nation gilt) die Karten gezinkt hat ... Aber gerade das Auftrumpfen schreckte ab, die Herrschaften wollten nicht achtgeben, sie zuckten die Achsel über den pfäffischen Eifer und sprachen von Fräulein Rufs »Heidenmission«. Man fand sie unausstehlich, und wenn man dennoch wiederkam, so geschah es aus Rücksicht auf den Präfekten, dessen staatsmännische Geduld keine Grenzen kannte, und auch aus Interesse für gewisse andre, verschwiegenere Vorgänge.

Es war noch gar nicht so lange her, da hatte man beobachten können, wie die beiden Frauen beim Eintreten Adas zögernd, doch wie unter einem Bann aufeinander zuglitten. Sie küßten sich und bekundeten auch sonst auf lebhafte welsche Weise ihre Freundschaft, und wer Glück hatte, überraschte zuweilen eine Hand, wie sie auf dem Rücken der umarmten Freundin die Finger von sich streckte, als würde sie von einem unbezwinglichen Widerwillen erfaßt. Worauf sich die Damen, mit ein ganz klein wenig verschobenen Zügen um Nase und Mund, besonders fröhlich den Gästen zuwandten ... Dann trat eine Verschärfung der Lage ein. Vor den Augen der Gäste wurde Aggie müde und blaß, die arme Kleine verfiel zusehends, und ihre Unruhe war derart, daß man allmählich nicht mehr aus der Spannung herauskam. Warum erging sie sich mit wahrer Erbitterung in der Schilderung spanischer Städte und Landschaften, die doch alle bequem mit der Eisenbahn zu erreichen waren? »Reisen«, rief sie aus, »reisen!«, und hob die Arme wie ein Storch, der von einer Wiese auffliegen will, und wie ein Storch hielt sie dabei den Kopf schief, aber der Storch flog nicht, die Bequemlichkeiten des Expreßzuges blieben ungenützt ... Fräulein Ruf war nicht glücklich, sie hätte reisen wollen – ob allein, stand nicht fest ... Nach einigen Wochen, sieh da, war Aggie gerade mit dem Wegräumen von Zeitungen beschäftigt, als Ada eintrat, und bis die Reihe der Begrüßung an sie kam, hatte sich die Freude des Wiedersehns wohl schon gelegt, und die beiden Frauen vergaßen lächelnd, sich zu umarmen. Das heißt, sie erklärten laut, sie gaben gleichsam zu Protokoll: »Wir haben uns schon begrüßt.« Wann? Wo? Vor acht Tagen? ...

Aggie war sich im klaren über die Spannung, mit der ihre Gäste darauf warteten, sie über Bord fliegen zu sehn. Ja, aber ich fliege nicht allein, versetzte sie im stillen ... Mag Ada eine Bürgerin sein, im Vergleich mit euch handelt sie wie ein Condottiere ... Säße sie sonst hier?

 

Eines Nachts, als sie zu zweit nach Hause fuhren, vom Chauffeur durch Glaswand und Vorhang getrennt, und Silvio mit Liebkosungen und Lobgesängen anhob, flog ihr durch den Sinn, es könne gar nicht anders sein, als daß er sein Geschick für ungestüm flüchtige Umarmungen im Verkehr mit Dienstmädchen erworben habe, wie sie ihm früher zwischen Tür und Angel zur Verfügung gestanden haben mochten.

Nun schätzte Aggie zwar die unteren Stände und wollte ihnen durch die Revolution zu jeder Art Gleichberechtigung verhelfen, aber im Eigensten, etwa in der Liebe, war sie und blieb eine Bürgerin, auch noch in voller Empörung. Ihr Einfall brachte sie auf, und Silvio erlitt seine erste Niederlage.

Sie verlangte, von seiner Liebe heimgesucht zu werden, wie und wann andre Frauen ihre Geliebten empfingen, nämlich, so meinte sie, nachts und im Bett. Es kostete sie eine schreckliche Überwindung, im Verlauf der Auseinandersetzung auf ihrer Forderung zu bestehn, denn sie sah voraus, daß sie neue, nur halb geahnte Feuer- und Wasserproben zu bestehn haben werde. Die Aussicht, mit einem Mann ein Bett zu teilen, ja schon der Gedanke an das Vorspiel der gemeinsamen Entkleidung genügte, um alle zwischen Tür und Angel mißbrauchten Dienstmädchen wieder in ihre menschliche Würde und Gleichberechtigung einzusetzen. Er aber nahm sie beim Wort. Hätte er es unterlassen, wäre sie selbst nach kurzer Zeit darauf zurückgekommen. Einmal mußte es doch sein, sie mußte »mit ihm schlafen«, rundum nackt wie ein geschorener Pudel, stundenlang, vielleicht eine ganze Nacht. Sie mußte auch das hinter sich bringen, die meisten Frauen, meinte sie, fingen damit an, man nannte es die Hochzeitsnacht ...

Im Vergleich zum erstenmal verlief es glimpflich. Sie zog nur unwillkürlich die Beine unter der Decke hoch, als er, über und über schwarz behaart, durch das Zimmer auf sie losging ... Nackte Männer sind häßlich, stellte sie fest. Männer tragen ihre Verkleidung unter den Kleidern, man kennt sie erst nicht wieder. So erhöhen sie den Eindruck der Furchtbarkeit wie die Wilden mit ihrer Kriegsbemalung. Der greifbare Rest von der Jugend des Urmenschen, darauf stieß man erst, wenn sie sich auszogen, und eigentlich sollten Männer mehr Grund haben, sich ihrer Blöße zu schämen als Frauen ... Das Wort »sauber« bekam ein neues Gesicht für sie. Jedenfalls war es weiblich.


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