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Vierter Teil

Die Wirklichkeit

Es gab etwas in Ada, dessen Silvio nicht Herr werden konnte, obgleich sein Zusammenleben mit ihr im Grunde nichts andres war als der ständige Versuch, diesen Widerstand zu brechen. Er nannte es ganz richtig: ihre verliebte Geringschätzung ... Noch in ihren Umarmungen spürte er sie. »Du gibst sie mir mit deinen Küssen zu trinken«, warf er ihr ehrlich verzweifelt vor ... Er konnte ihr zusetzen, wie er wollte, niemals antwortete sie auf den Vorwurf, es sei denn, indem sie ihn wortlos in die Arme schloß. Dies war der Punkt, wo ihre Stummheit am undurchdringlichsten war, ihre Härte starr wie eine Mauer.

Nach solch einem Auftritt kam er eines Nachts, geradewegs aus den Armen Adas, zum Pavillon. Er wählte die Gartenseite des Hauses.

Aggie erwachte sofort, als sie ihn rufen hörte. Ihr Schlafzimmer lag im ausgebauten Mansardenstock, man konnte von draußen nicht hineinsehn. Dennoch schloß sie erst die Fenster, bevor sie Licht machte, sehr ernst war ihr zumute, beinah feierlich. Gleich darauf packte sie die Angst, und was sie völlig in Verwirrung stürzte: diese Angst packte zu, als wollte sie Aggie schütteln und zwingen, zu jubeln ...

Schnell zog sie einen Kimono über das Hemd, nicht den alten, der auf dem Bett lag, sondern einen neuen, gelbseidenen, im Flug holte sie ihn aus dem Schrank, eilte die Treppe hinab.

»Was ist geschehn?« rief sie, während sie eilig hinter ihm die Tür verriegelte. »So sprechen Sie doch!«

Sie führte ihn wie einen Blinden in die Mitte des Zimmers. Er war kläglich anzusehn, barhäuptig, schlotternd vor Kälte, obgleich es eine laue Aprilnacht war, auf der Stirn stand ihm der Schweiß.

»Ein Unglück?« fragte sie möglichst ruhig, als sie unter dem Kronleuchter angelangt waren, sie hielt seine Hände. Er schüttelte den Kopf. »Ich bin gelaufen«, sagte er ... Die schönen, feuchten Wimpern flatterten. So blieben sie wiederum eine Weile, im vollen Licht, ohne zu sprechen. Beide zitterten im gleichen Takt und überflogen einander mit ratlosen Blicken. Dann wischte ein Lächeln über sein Gesicht: »Der hübsche Schlafrock. Sie – Sie leuchten, Aggie! Und wie nackt ihre Schläfen sind, heute nacht! ...«

Sie fühlte ihr Erröten, den plötzlichen Argwohn in ihrem Blick ... Einen Herzschlag lang hielt sie noch seine Hände. Sie ließ sie los, sah sie fallen, neigte den Kopf ... Langsam trocknete er sich die Stirn.

Über Aggies Schläfen hingen zwei Locken und zeichneten zwei ungleiche Schatten auf die Haut. Er tippte mit dem Finger darauf, sagte scherzend: »Sichel und Hammer.« Wie abwesend ließ sie es geschehn ... Sie schämte sich ihrer Schläfen, sie schämte sich dunkel der Unruhe, die sie beim Aufstehn angefallen hatte und die jetzt wie Fesseln um sie lag. Sie schämte sich ihrer ganzen Person – in verschwiegener Nacktheit stand sie vor ihm.

Er hatte Mitleid mit ihr. Vorsichtig strich er über die Haare, bis in den Nacken, langsam, ganz zart beugte er sich und nahm sie auf die Arme. Sie waren noch immer unter dem Kronleuchter, das Licht stach ihr in die Augen, sie drehte ein wenig den Kopf, da lag sie mit Augen und Stirn an seiner Schulter.

»Man meint, es sei bloß ein kleiner blonder Irrwisch«, flüsterte er, »und wenn man zugreift, hält man eine Frau im Arm ...«

War es wirklich das erstemal, daß er zärtlich zu ihr sprach? ... Mit angehaltenem Atem dachte sie nach. Gleichsam außer sich lauschte sie ...

»Wo darf ich Sie absetzen?« fragte er, als nähme er sie in seinem Auto mit ... Ja, es war das erstemal, und sie fand es unglaublich, daß er bis dahin niemals zärtlich zu ihr gewesen war, noch erstaunlicher, daß sie seine Zärtlichkeit nicht vermißt hatte ... Warum auch? Sie war zärtlich mit Kindern und Frauen und Tieren, die Männer – die Männer schafften sich schon selbst heran, was sie brauchten. Mit Schmerz dachte sie, daß sie ihre beste, ihre einzige Freundin, daß sie Ada nie auf den Mund geküßt hatte ... Der Schulter des Mannes entstieg ein herber Wohlgeruch, irgendein Männerparfüm, sie kannte sich darin nicht aus, und dieser Geruch strömte, strömte unter der Haut bis zu den Beinen, die über seinem Arm herabhingen. An der Stelle der Knie war ein Wehr, und dort brodelte wieder die gleiche Unrast, nur noch stärker, wie vorhin im Schlafzimmer – Angst, die etwas ganz anderes war wie Angst, und Freude, die ebensowenig der Freude glich.

Als keine Antwort erfolgte, fuhr das Auto, aus dem sie abgesetzt werden sollte, langsam an, stieß eine Tür auf, eine zweite, und sie fühlte, wie sie erstarrte. Er begriff sofort: die Tür, die er geöffnet hatte, führte in den Hausflur und von dort zu den Mansarden, zu ihrem Schlafzimmer ... Er kehrte um, ihre Glieder lösten sich – gerührt von so viel Unschuld, bettete er sie auf einen Diwan. Es war ihr Arbeitszimmer.

Der Diwan stand neben einem Kachelofen. Der Ofen war weiß und hoch und in der Mitte gewölbt. Sie schlug die Augen auf und sah als erstes diesen Ofen, sah ihn wie zum erstenmal. Er hatte das bißchen Helligkeit im Raum auf seinem Bauch versammelt. Die vermutlich dazu gehörenden, auf dem Bauch gefalteten Hände konnte sie nicht entdecken, dafür aber eine Art Zipfelmütze auf seinem Kopf. Und als Leibgurt trug er ein Kupferband, das blitzte von männlicher Arglist ... Sie lachte schallend hinaus. Und unter dem Schutz dieses Lachens und in der Gewißheit, wieder sichern Boden unter sich zu haben, rutschte sie schnell in den äußersten Winkel des Diwans, zwischen Kopfende und Wand. Jetzt konnte es ihr beinahe gleich sein, was er tun würde ...

Er saß am andern Ende beim Ofen und schaute sie verständnislos an.

»Warum lachen Sie?« flüsterte er.

»Oh, hier können Sie ruhig laut sprechen, Silvio!« Sie zeigte auf den Ofen: »Genius loci! Ein feiner Herr, wie? Der beste Mann meines Salons!« Inzwischen ordnete sie unter unmerklichem Wiegen und Rücken des Körpers ihr Gewand, bis es ihr auf allen Seiten fest anlag, und versorgte es schließlich ebenfalls mit einem Leibgurt: um die hochgezogenen Knie schlang sie die Arme. Die breiten Ärmel hingen bis auf die Füße, die Füße staken in weißledernen Pantoffeln. Nachdem sie so eine genügende Festigkeit erlangt zu haben meinte, wurde sie streng. »Machen Sie Licht!« befahl sie. Er drehte eine Stehlampe an und ging ins Nebenzimmer, um den Kronleuchter zu löschen. »Lassen Sie ihn brennen«, rief sie – »und hier bitte die Deckenbeleuchtung!«

Er gehorchte, mit einem ganz neuartigen Ausdruck von Demut, nahm einen Stuhl und setzte sich. Nun war es aber so hell, daß sie sich schnell durchsichtig werden fühlte, und er mußte wieder aufstehn, um die Deckenbeleuchtung auszuschalten. In milderem Ton fragte sie: »Was war denn, Silvio? Was fehlte Ihnen?« Sie fragte unwillkürlich »war« und »fehlte«. So deutlich erschien es ihr, daß der Umstand, der ihn hergetrieben, wenn nicht schon vergessen, so doch in seiner Dringlichkeit weit zurückgesetzt war. Er antwortete leise: »Nichts ... Nichts Neues.«

Mehr beabsichtigte er offenbar nicht zu sagen, und auch sie verlangte nicht nach mehr. Sonst würde bestimmt der Name Ada fallen, und das war das einzige, was sie nicht wollte ... Sie hielt sich mit ihm allein für ausreichend beschäftigt, ihre Neugier fand Nahrung genug. Silvio nämlich war im Begriff, genau das zu tun, was sie sich als Kind vorstellte, wenn sie hörte, ein Mann bete eine Frau an! Er starrte zu ihr hin, als wäre sie eine Erscheinung, und bewegte leise die Lippen ... Maßlos erstaunt wartete sie, ob er sich nicht auch bekreuzigen werde, aber er unterließ es – vielleicht, weil er kein Ende fand.

»Silvio!« rief sie. »Hallo!«

»Bitte?« fragte er leise.

»Sie können wirklich laut sprechen – nicht gerade schreien, weil sonst das Mädchen glauben könnte, es seien Mörder im Haus ... Mörder, die mit mir verhandeln und mich zu überzeugen suchen, daß es mit Rücksicht auf sie selbst und die Polizei anständiger von mir wäre, Selbstmord zu begehn, statt fremde Leute zu bemühn. Denn, nicht wahr, Silvio, warum sollten Mörder sonst wohl nachts in einem Hause schreien? ... Laut sprechen wäre gut! Wenn Sie flüstern, sind Sie unheimlich. Übrigens, da fällt mir ein, Sie waren doch schon einmal zärtlich zu mir, damals in Nizza, beim roten Azaleenstrauch, als sie Gurdons Scheck zerrissen. Nein, fuhr mir das in die Glieder – einen Scheck über achttausend Pfund graziös in lauter kleine Schnitzel gerissen und in eine Azalee gestreut! ... Silvio, mein Lieber, Hand aufs Herz: Sie haben sich den Betrag dann doch auszahlen lassen, wie? Etwas später, indem Sie erklärten, Sie hätten den Scheck verloren oder sonst was?«

Er antwortete etwas bedrückt:

»Ja, Gurdon war so gut –« Aggie war begeistert. Er leugnete nicht, er log nicht. »Großartig! ... Der Gedanke kam mir eben erst angeflogen, und siehe, es war der Geist der Erleuchtung. Sie müssen wissen, Silvio, mit der Zeit finden so alle guten Gedanken zu mir. Wie Brieftauben, die sich bei Sturm und Wetter verirrt haben. Ihr Ziel verfehlen sie nicht. Ach, Silvio, mein Leben leidet an ewiger Verspätung ... Sie aber, Silvio, sind ganz verändert.« Schon wollte sie sich dem Staunen über die Verwandlung eines Menschen hingeben, als sie den krassen Schimmer seines Lächelns erkannte. So heftig drang er zu ihr ins Halbdunkel, daß sie augenblicklich den Glauben an den neuen Adam verlor. Seltsamerweise war es ihr nicht einmal unangenehm.

»Erzählen Sie etwas«, bat er leise.

»Bitte lauter! Ich verstehe nicht.«

»Erzählen Sie etwas«, wiederholte er mit erhobener Stimme.

»Gut so ... Ja, wenn Sie unterhalten sein wollen, lieber Freund – gern! Die ganze Nacht, wenn Sie nicht darüber einschlafen! Ich klingle dem Mädchen und lasse einen Mokka machen. Einverstanden?« Sie hob den Arm, um die Klingelschnur hinter ihrem Kopf zu ergreifen. Dabei fiel ihr der Ärmel bis auf die Schulter, er sah das Glitzern von hellblonden Haaren in der Achselhöhle. Sie fing den Blick auf und sagte unbefangen: »Im Winter rasiere ich mich nicht.« Er lachte sein leises, rundes Lachen: »Warum nicht?«

»Weil ich lange Ärmel trage, Sie Knabe!«

»Richtig. Sogar abends ... Warum auch abends, Aggie?«

»Weil es Winter ist – auch abends.«

Aggie mußte noch einmal Sturm läuten, bis das Mädchen, ebenfalls in einem Kimono, erschien. Beim Anblick Silvios blieb es an der Tür stehn und nahm halb versteckt die Aufträge entgegen.

»Was soll ich Ihnen also erzählen, mein Lieber?« fragte sie, fügte aber gleich hinzu: »Übrigens war es unanständig, wie Sie zu dem Mädchen hinüberschielten.«

Er blieb geduldig und sanft und antwortete:

»Etwas aus Ihrer Kindheit.«

»Silvio! Unsere Gedanken funken nur so zwischen uns hin und her. Wissen Sie das? ... Zum Beispiel ist mir völlig klar, warum Sie hier sind. Aber, nein, das meinte ich nicht, ich hatte gerade daran gedacht, wie ich einmal zu Hause mit meinem Vater beim Frühstück saß. Außer uns beiden war noch eine junge Dame da. Sie mußte ein dringliches Leiden haben – wie hätte Sie sonst gewagt, den Doktor so früh zu überfallen? Er kam mit ihr herein und bat sie in seiner ironisch höflichen Art, an unserm Frühstück teilzunehmen, obgleich sie wohl schon zu Hause gefrühstückt habe – eine Einladung, der sie mit auffallendem Appetit nachkam. Die Dame erzählte von jemand, der eine Frau anbetete ... Anbetet? fragte zweifelnd mein Vater. Gibt es das von Mensch zu Mensch? Daran zweifelte ich so wenig wie die Dame, nur bekam ihr die mir vertraute Art meines Vaters schlecht, sie regte sich auf und nannte ihn vor mir einen Wüstling – französisch natürlich: ›libertin‹, was nicht ganz so gefährlich klingt. Sie geriet richtig in Hitze, ohne deshalb ihr Frühstück zu vernachlässigen. Mein Vater sah mich eine halbe Sekunde aus den Augenwinkeln an, und ich machte mich aus dem Staub. Es war auch Zeit, zur Schule zu gehn.«

»Und was weiter, Aggie? Sie ließen das Paar beim Frühstückstisch zurück und gingen zur Schule. Was dachten Sie sich unterwegs?«

»Gar nichts. Ich guckte! Mit fünfzehn Jahren guckt man ... An dem Tag traf ich, als ich gerade in die Brandgasse einbiegen wollte, einen Kollegen meines Vaters, der aufs Land hinausmußte, und der nahm mich in seinem Auto mit.«

»Das heißt, Sie schwänzten die Schule?«

»Jawohl, Silvio, ich schwänzte. Mit dem besten Gewissen. Es war ein Frühlingstag wie gestern ... Erinnern Sie sich, was gestern für ein Tag war? An solchen Morgen zittert die Rheinebene unter einem einzigen Schimmer, man glaubt in der Luft den Herzschlag der Landschaft zu spüren ... Ach, Silvio, wie schade, daß Sie keinen Sinn dafür haben! Ich bin gewiß, wenn ich die Augen vor unsrer Erde schließe, werde ich zuallerletzt diesen Schimmer um mich haben, und wenn ich sie für die Ewigkeit aufschlage, in diesem Licht werde ich mich aufrichten.«

»Glauben Sie, daß Sie einmal die Augen in der Ewigkeit aufschlagen, Aggie?« Sie antwortete zögernd: »Gewiß doch. Sie nicht?«

»Ich will mir's überlegen ... Aber was ist das für ein Schimmer, Aggie, ich habe ihn noch nie gesehn?«

»Noch nie gesehn? Gestern früh hätten Sie es sehn können, angenommen, Sie haben Augen für anständige Dinge, nicht später als gestern, und vielleicht auch morgen früh – in einigen Stunden, wenn Sie bis dahin noch leben«, sagte sie lustig. Jener Schimmer, das war ein Ton wie von Silber, das in einem langsamen Feuer vergoldet wird ... Man fühlte das Feuer, ohne es zu sehn, es floß in der Höhe und nahm etwas von der Farbe des unsichtbaren Himmels an, der nicht anders sein konnte als strahlend blau, es taute in der Tiefe, eine Unsumme von Schweißtropfen, es blieb unfaßlich, es war lauter Luft, flüssige Luft, körperlich fast, es war der Atem der Erde selbst, der jene Verwandlung von Silber in Gold erfuhr ... Aber eine Stelle gab es, da wurde alles deutlicher. Es war die Stelle, wo man die Esse der geheimnisvollen Goldschmiede zu suchen hatte, nämlich die mit fließenden und stehenden Gewässern aller Art gegürtete Stadt Straßburg. Was Aggie die Esse nannte in der luftigen Werkstatt, das konnte wiederum nur der Illfluß sein, der die innere Stadt umschloß. Auch hier brannte es, ohne daß man ein Feuer sah, aber hier war das Feuer wenigstens insofern erkennbar, als Dampf aufstieg, Dampf wie aus einem Kranz von grünen Zweigen – einem Kranz von gewaltigem Ausmaß, denn er hing um die ganze Altstadt. Wenn man nun nicht locker ließ in der Ergründung des Geheimnisses, so konnte man allmählich ein Feuer- und Wasserspiel in drei Stufen entdecken. Zutiefst, noch zwischen den Häusern, lag der dampfende Kranz, darüber, wo das Licht eintrat, ein Licht ohne Sonne, schwebte eine riesige Luftkrone, flimmernd in Gold und Silber, und zuletzt, schon über den Dächern, stockte ein Golfstrom blühenden Lichtes, der Himmel und Sonne ahnen ließ ... Dann, dann stand Straßburg wie eine verschleierte Monstranz in der Rheinebene ... Wer zu der Stadt von den Vogesen oder vom Schwarzwald hinabsah, nahm von dem kunstvollen Gebilde nur das oberste Stück wahr, den Helm des Münsters, in satter Höhe überragte er den schillernden, zitternden Dunst. So empfand freilich nur jemand, der wußte, das ist die Münsterspitze. Ein andrer hätte geradesogut glauben können, aus mystischer Gartenerde wachse strotzend der Trieb einer Pflanze, deren Blüte für ein Leben im Zenit des blauen Tages bestimmt sei ... Für die in der Stadt schienen die Mauern durchlässig wie Hecken, die Häuser schmolzen ineinander, sie schwebten, angezogen von einem höheren Licht, und die Vögel sangen inbrünstig aus versunkenen Gärten.

»Ach, Silvio«, klagte sie, »warum haben Sie so wenig Sinn für schöne Dinge, für ewig schöne Dinge? Sogar unterm Nordlicht wollten Sie nur erfahren, ob es hell genug sei, im Freien die Zeitung zu lesen. Das heißt, ob es hell genug sei, damit ich Ihnen, der Sie ingrimmig in der Hängematte lagen, die elsässischen Heimatblätter vorlesen könnte ... Es war hell genug. Zum Verzweifeln hell ... Kehren wir von dem verfluchten Land, wohin ich als Schreibtisch gereist bin, nach Straßburg und zu meinen fünfzehn Jahren zurück!«

Jedoch kaum war Aggie glücklich in die Brandgasse eingebogen (nicht an jenem Ausnahmetag, sondern wie an allen anderen Tagen, an denen sie nicht schwänzte), da öffnete sich die Tür, und herein trat das Mädchen mit dem Mokka und den Likören. Und diesmal stellte sie sich fertig angezogen vor bis zu der weißen Stirnhaube. Nachdem sie entlassen war, bemerkte Silvio in auflebend guter Laune: »Die weiß, was sich schickt.«

»Obwohl Sie darin sachverständig sind, vergessen Sie die Hauptsache«, versetzte Aggie, die an die Dienstmädchen des Balkans dachte, mit denen der junge Silvio Erlebnisse gehabt hatte. »Sie ist eine Schönheit von einem Dienstmädchen! Aber«, fügte sie hinzu und gab sich einen Stoß und nannte die Dinge beim Namen, »aber ich vermute, sie schläft mit dem Grether Fritz.« Sie strahlte, als sei sie, ohne anzuhaken, über eine Hecke gesprungen, und sprach rasch weiter. »Wo stand ich gleich in der Brandgasse?«

Ach ja, vor dem großen, braunen Hoftor steht sie – gegenüber liegt der Garten des bischöflichen Palastes. Das Tor hat eine kleine Tür, die stößt sie auf und betritt den Schulhof. Es ist eine Privatschule für Mädchen und so vornehm, daß es nicht einmal eine Schulglocke gibt. Zwei Minuten nach der vollen Stunde betritt der Lehrer oder die Lehrerin das Klassenzimmer, wer zu spät kommt, muß, wie bei festlichen Gelegenheiten im Theater, warten, bis der Akt zu Ende ist ... Die Mädchen werden teils in französischer, teils in deutscher Sprache unterrichtet, gemäß einer Abmachung zwischen der Schule und der deutschen Verwaltung, hinter der die Mädchen die verzwicktesten Absichten vermuten. Geschichte und Geographie lernen sie in deutscher Sprache, sie singen, beten und zeichnen französisch. Mathematik und Physik sind deutsch, die Umgangssprache und die offiziellen Kundgebungen der Schule französisch. An Kaisers' Geburtstag hält ein fremder Herr, der bald von dieser, bald von jener Schule entliehen wird, eine deutsche Festrede, aber die Darbietungen der Schüler in Vers und Prosa sind wiederum französisch. Die Vorsteherin der Schule nennt das einen gerechten Friedensschluß zwischen Siegern und Besiegten ... Vom Münster schlägt es acht Uhr. Erste Stunde: Römische Geschichte. Der Lehrer ruft Aggie auf: »Sagen Sie mir, Fräulein Ruf, was Ihnen von der Geschichte des Spartacus den stärksten Eindruck gemacht hat.« Ohne zu zögern antwortet sie: »Die Grausamkeit« und errötet herausfordernd bis hinter die Ohren. (Damals schon, Silvio!) »Welche Grausamkeit?« will der alte Herr wissen.

»Unsere Grausamkeit! Die Grausamkeit von uns allen!«

Mehr ist aus ihr nicht herauszubringen, obwohl die Klasse kichert und der alte Herr die Augenbrauen hochzieht. Er schwärmt für die römische Republik und verachtet die Sklaven. Von seinen Schülerinnen ist Aggie die einzige, die seine Behauptung, die Marseillaise sei ein »nachgeborenes Kind der römischen Republik«, lächerlich findet. (Keine der Schülerinnen kennt mehr als die erste Strophe.) Er bekommt Tränen in die Augen, wenn er die geflügelten Römerworte unter die Klasse schleudert.

»Oh, das Pathos der Römer«, ruft er aus, »die Sprache der Helden!«

Die Mädchen möchten alle gern Helden heiraten, aber Aggie findet, Helden sollten etwas freundlicher sprechen als Unteroffiziere und Gendarmen an hohen Feiertagen. So nämlich, findet sie, sprachen die Alten. Und ihr Vater sagte von ihnen, er hätte mit keinem verkehren mögen, die größten seien Halunken gewesen. Halte dich an die Griechen, mein Kind, ermahnt er sie, an die Griechen! Das Christentum verdankt sein Bestes den Griechen. Die Römer sind die Parvenüs der alten Geschichte. Studiere die Napoleonische Zeit, die ist uns nah genug, wir können noch halbwegs das Wahre herauskratzen. Dann weißt du, was das großsprecherische Gesindel von Straßenräubern und Soldaten, Senatus Populusque Romanus, taugte ... Fehlgeschossen! Auf Napoleon läßt Aggie nichts kommen. Trotz seiner bombastischen Redeweise würde sie ihn auf der Stelle heiraten, ihn und vielleicht noch zwei oder drei seiner Generäle. In der Schule hält sie es also mit den Sklaven gegen Rom, zu Hause aber verteidigt sie die Römer. Denn ihr Vater, Silvio hat es gehört, ist ein Libertiner. Helden sind ihm einfach unbequem. Sie hält es gegen ihn mit den Helden. Es ist für sie die einzig mögliche Art, ihm ihre Mißbilligung bekanntzugeben ... Und davon behielt sie dann doch eine durch Ironie gedämpfte Vorliebe für Konsuln, Prätoren, Legionen, Senatus Populusque Romanus, Adler, Liktorenbündel, Kapitol und Tarpejischen Felsen und die andern Requisiten des prunkvollen Raub- und Festzuges. Und jetzt, jetzt ist sie völlig zu den Helden heimgekehrt. Ohne Ironie. Für die Menschheit zählen nur sie, alles andre ist Kroppzeug ... Ja, Silvio, sie glaubt wieder an Helden. Sie brauchen nicht einmal immer rot zu sein. Freilich, ein bißchen kommt es auf die Farbe an. Helden in Orange oder Preußischblau zum Beispiel würde sie zurückweisen ...

So sprach sie lange weiter, bald elegisch, bald witzig nach ihrer Weise, und glaubte zu handeln wie eine Krankenschwester, die dem Patienten über eine kummervolle Stunde hinweghilft. Sie hielt sich für selbstbewußt und überlegen ...

»Ich bin müde, Aggie«, sagte er endlich, »abgekämpft und glücklich. Glücklich müde ... Ich fühle mich wohl bei Ihnen, wie ich mich zu Hause fühlen würde, wenn ich je ein Zuhause gehabt hätte.«

»Nur nicht weinen!« neckte sie. – »Weinen? Im Gegenteil! ... Es ist wie bei einer Krankheit, wenn die Schmerzen von einem ablassen. Obwohl man weiß, sie kommen wieder, ist es die reine Seligkeit.«

»Ich sehe Ihre Zähne, mein Lieber! Bald können Sie wieder beißen.«

»Noch nicht, Aggie. Aber, offen gestanden, ich spüre sie wachsen!«

Er sah auf die Uhr. »Gute Nacht«, sagte sie. – »Gute Nacht, Aggie. Und vielen Dank für Ihre Güte ...« Er küßte ihr die Hand ... Ohne ihn zu sehn, hörte sie ihn aus dem Nebenzimmer fragen: »Darf ich wiederkommen?« Sie nickte.

Nach einer Weile schienen die durch ihr Nicken hervorgerufenen Luftwellen ihn erreicht zu haben.

»Danke«, sagte er und setzte seinen Weg fort. Sie hörte ihn die Tür öffnen, durch die er gekommen war, und erriet, daß er versuchte, sie so gut wie möglich von außen zu schließen. Sie wartete auf seinen Schritt (Schritte im Kies knirschen, als habe man Sand zwischen den Zähnen) und verzog den Mund. Es blieb still ... Sie dachte: Man hört nicht den Tritt des Wolfes in der Nacht.

Als sie fror, sprang sie auf, um die Tür zu verriegeln, vergaß es aber wieder in der neuen Blüte ihres Mutes oder Leichtsinns, zündete eine Zigarette an und wanderte rauchend durch die Zimmer. Immer noch eins wurde erleuchtet und an den Paradeplatz angeschlossen, auf dem ihre Gedanken sich entwickelten. Wenn eine Zigarette zu Ende war, zündete sie eine neue an. Sie trank einen Benediktiner, und weil er ihr zu fad schmeckte, gleich darauf einen Kirsch. Der Kirsch wirkte wie eine heiße Dusche in ihrem Innern. Sie trank einen zweiten.

»Noch einige solche Nachtbesuche, und ich werde zur Säuferin«, stellte sie fest. Die Kastenuhr im Salon schlug zwei. Sie wanderte durch die Zimmer. »Es ist wie bei einer Krankheit«, wiederholte sie Silvios Worte. »Die reine Seligkeit ...«

Aggie raffte sich zu dem Entschluß auf, ins Bett zu gehn. Sie öffnete die Tür, um den Rauch hinauszulassen.

Draußen, kaum einen Schritt von ihr entfernt, stand in der Finsternis ein Mann.

Ihre gebreiteten Arme hielten noch die Flügel der Tür, die sie in einer überschwenglichen Gebärde geöffnet hatte, und sie wäre vor Schrecken umgesunken, hätten sie nicht ihre Hände wie selbsttätige Klammern um die Türleiste geschlossen. Aus dem aufgerissenen Mund drang ein Röcheln. Einige Augenblicke war sie ohne Besinnung. Mehr hängend als stehend, starrte sie auf die dunkle Gestalt, die sich langsam nach ihr umdrehte. Die Gestalt streckte die Arme aus, eine Hand glitt in den Lichtschein. Sie erkannte ihn.

Ihre Glieder lösten sich, sie schwankte vornüber, gleichzeitig stürzte Silvio an sie, schwere Arme fuhren unter das Seidengewand, und er hielt sie umfaßt, Leib an Leib, und küßte sie. Verzweifelt warf sie die Arme zurück, und wie hellhörig geworden, vernahm sie das leise Rascheln, mit dem der Kimono hinter ihr zu Boden fiel. Er küßte sie, jetzt begriff sie es, er hatte seinen Mund in ihre fest geschlossenen Lippen geschlagen und wühlte sie auf. Dann hob er sie senkrecht in die Höhe, umschlang ihre Hüften. So brachte er sie, eng an sich gedrückt, in das Zimmer, wo sie vorhin gesessen hatten, und dort fiel er mit ihr auf den Diwan.

Aggie wollte schreien, aber schon war er wieder über ihrem Mund, sie kämpfte aus Leibeskräften, um unter ihm loszukommen, und fühlte zu ihrem Entsetzen, wie ihr Mund groß und weich wurde und sich verlor und nicht mehr zu ihr gehörte, ein fremdes Wesen, heiß und tief, das sich selbst genügte ... Sie empfand nicht Schmerz, nicht Lust, nur, daß ein Teil von ihr in eine namenlose Ferne gerückt war und ihr nicht mehr gehorchte.

Als sie seine Hand an ihrem Leib spürte, riß sie mit letzter Kraft ihr Gesicht von ihm: »Silvio, ich schreie! ... Das Mädchen!« Ächzend schleuderte sie sich zur Seite, da begrub er sie wieder unter seinem Mund. Seine Hände wanderten über ihren Körper, überall tauchten sie auf, kalt, gleich darauf heiß, verbreiteten ein Beben und zitterten selbst mit, als gehörten sie zu ihr und litten und stritten mit ihr, und jedesmal, wenn sie eine neue Stelle berührten, krümmte sich Aggie, schnellte hoch und schöpfte neue Kraft aus der Bedrohung ... Ewig ginge dieser Kampf so weiter, dachte sie, furchtlos und entschlossen. Niemals würde er sie überwältigen.

Als er eine gewaltig ausholende Bewegung machte, um sich aus der Umklammerung ihrer Arme zu lösen, gelang es ihr zu entschlüpfen. Mit einem Satz war sie in der Ecke, zwischen Kopfende und Wand. Sie kauerte sich hin, die Füße in den Diwan gebohrt, ordnete mit raschen Griffen Hemd, Haare und Gesicht, befestigte sich gewissermaßen, und auf die Füße warf sie ein Kissen.

Silvio setzte sich auf den Rand des Diwans und sah sie an. Beiden zitterten die Knie, beiden flogen mit dem Atem Schultern und Brust. Ihre Augen ruhten aufeinander, still und traurig, mit einem Flackern im Hintergrund, wo bald der Widerschein einer dunkeltiefen Güte, bald die Stichflamme hellichten Hasses vorbeiglitt. Sie waren verschwisterte Geschöpfe der gleichen Niederlage.

»Verzeihen Sie, Aggie«, sprach er mit gebrochener Stimme, »ich habe Sie lieb.«

Sie antwortete nicht, ihre Züge veränderten sich nicht.

Nach einem langen Schweigen geschah etwas gleich Unbegreifliches für sie wie für ihn. Sie seufzte: »Todmüde« und ließ sich aus ihrer befestigten Ecke auf das Lager gleiten, und es kümmerte sie nicht im geringsten, daß sie sich dabei entblößte. Auch als er sein plötzlich verwandeltes Gesicht über sie beugte, sah sie ihn nur aus stillen, klaren Augen an und schüttelte den Kopf. Er streckte sich neben sie aus, da sagte sie:

»Silvio, bitte, nicht wieder anfangen. Ich hätte nicht mehr die Kraft. Sie werden doch nicht eine Wehrlose –«

Ihre Stimme, kalt und hochmütig, erregte ihn plötzlich bis zur Wut. Er warf sich über sie, als müßte er sie züchtigen, als habe sie ihm aus höherer Einsicht unvermutet ihre Liebe entzogen und als Preis für die wiedererlangte Freiheit ihren Körper ausgeliefert, einen Körper so namenlos wie eine Wolke.

»Ach, du willst dich salvieren?« knirschte er höhnisch ... Doch er fand keinen Widerstand. Sie ließ sich nehmen, als läge sie in künstlichem Schlaf.

Ein jäher Wechsel trat ein, als er ihr weh tat. Sie stöhnte auf und warf die Arme, die sie unter dem Nacken verschränkt hielt, wie ein erschrecktes Kind um seinen Hals ... Schmerz! Sie erkannte ihn sofort, den dunkeln Helfer in der Not, und klammerte sich an ihn, glücklich, daß endlich etwas so Eindeutiges und Starkes wie Schmerz in sie einkehrte. Den Schmerz wollte eine Welle heißer Freude hinwegschwemmen. In einer Aufwallung von Scham schleuderte sie die Arme zurück und machte sie steif, als könnte sie auf die Weise Silvio von sich fernhalten. Und während sie zuweilen in unwillkürlich kreatürlichem Gehorsam auf die Gewalt seiner Umarmung antwortete, blieb sie mit gestreckten Gliedern liegen, bis er von ihr abließ. Und dann war sie auf einmal wieder die fünfzehnjährige Aggie, von der sie vorhin erzählt hatte, und lief ungeduldig durch den väterlichen Garten, in Erwartung einer älteren Freundin, die ihr versprochen hatte, sie vor dem nächtlichen Aufbruch zur Hochzeitsreise zu besuchen, um von ihr Abschied zu nehmen. Der Garten schwamm in weißem und dunkelm Flieder, Goldregen und Schneeball, rosa Deuzien und Magnolien, oh, es war eine herrliche Zeit, Hochzeit zu machen. Die weißen Rosen zeigten den Weg an zu den gelben und roten, die jetzt stärker dufteten als bei Tag, und doch mußte man sie fast mit dem Gesicht berühren, um ihr leises Wort zu vernehmen unter dem Rauschen der Windwolken von Jasmin aus dem Nachbargarten ...

Dies alles erlosch unaufhaltsam wie die Lichter und Klänge eines Festes, das auf einem Schiff in die Nacht hinausfährt. Die Freundin kam nicht. Sie schickte nicht einmal Botschaft. War ein Unglück geschehn? ... Die erwartete Freundin hieß nicht Ada, sie hatte Ada erst in der Pension kennengelernt. Doch jetzt, jetzt war es Ada. Wer sonst hätte es sein sollen?

Vom Münster schlug es zehn, und das Zehnuhrläuten, das klangvoll gebrummelte Schlaflied des Straßburger Stadtengels, strich über die Stadt. Aggie eilte, wie sie war, zum Hause der Freundin und erfuhr, daß sie schon lange abgereist sei. Langsam kehrte sie, die Staden entlang, wo die großen Kastanienbäume Nacht und Geheimnis um die Liebespaare häuften, nach Hause zurück. Sie holte eine Decke und schlief auf einem Liegestuhl im Garten. Niemand suchte sie. Als sie in der Dämmerung erwachte und, die Decke hinter sich herschleppend, ins Haus ging, stieß sie mit ihrem Vater zusammen, der eben heimkam. Er hörte, daß sie im Garten geschlafen habe, und gab ihr, wahrscheinlich um die drohende Lungenentzündung niederzuschlagen, eine Ohrfeige die einzige ihres Lebens.

»Darf ich dich ins Bett bringen?« fragte Silvio.

Sie schüttelte heftig den Kopf.

Mehr noch als alles Vorangegangene erschreckte und beleidigte sie dieses »Du«, das in selbstverständlicher Nacktheit nachgehinkt kam und den Anspruch erhob, einen Zustand grausamer Vertraulichkeit zu verewigen.

»Was dann?« fragte er. Er schien auf einmal ungeduldig wegzukommen. Sie gab keine Antwort. Er stand auf und kam mit der Tischdecke aus dem Eßzimmer und dem Kimono zurück. In die Decke wickelte er sie ein, den Kimono legte er ihr auf die Füße, worauf er sich über sie beugte. »Lieb bist du«, murmelte er. »Lieb. Ich kann es nur nicht so sagen ...«

Er küßte sie auf Augen und Schläfen und schlich auf den Fußspitzen hinaus. Diesmal hörte sie seine Schritte auf dem Kies ... Er hatte auch nicht versucht, die Türe hinter sich zu schließen.

Aggie ging von Zimmer zu Zimmer, riß alle Fenster auf, löschte das Licht und legte sich mit einem Tauchnitzband zu Bett. Allen Räubern der Welt sollte ihr Haus weit geöffnet sein, wenigstens für diese Nacht, die keine Furcht mehr kannte!

Aber was sie las, das konnte sie trotz aller Aufmerksamkeit nicht verstehn. Es hatte nicht den geringsten Zusammenhang mit der Wirklichkeit, es erzählte von Menschen und Ländern, die es nicht gab, es stolperte über die Worte wie über ebensoviel Verlegenheitslügen. Merkwürdig war das ... Warum merkwürdig? Die Wirklichkeit war eben keineswegs elegant, wie diese Herren und Damen mitsamt ihren Gefühlen! Sie war nicht einmal sauber. Man konnte sie unmöglich beim Namen nennen! Die Menschen lebten nicht anders als Kröten und Vipern! ... Sie löschte die Lampe und lag eine Zeit im farblosen Dämmerlicht, den Blick zur Decke gerichtet. Der »Rest von der Jugend des Urmenschen« gab ihr kein Rätsel mehr auf ... Adas Geheimnis lag verraten an ihrer Brust. Ada war ein Mensch, eine Frau wie sie und ihr Glanz dahin.

Aggie fiel etwas ein. Sie sprang aus dem Bett, streifte das Hemd ab, ging ins Badezimmer, wusch sich nochmals umständlich mit kaltem Wasser, frottierte sich, bis sie frisch und biegsam war und die freundliche Wärme des Blutes spürte. Während das Wasser für das gewohnte Morgenbad in die Wanne lief, huschte sie zum Ankleidezimmer und stellte sich dort vor dem Spiegel auf.

Erst sah sie nur eine graublaue Himmelswüste und mitten darin eine schwarze Gestalt. Als sie aber den Leuchter am Spiegel entzündete, stob der Hintergrund rot und golden auseinander vor der blendenden Gestalt eines Mädchens ... Nichts an ihr war verändert, obwohl sie jetzt eine Frau war ... Sie legte die Hand auf die kleine Brust und nickte sich spöttisch zu ... Und das war also die Liebe! Ein Nichts. Sie nahm ihr Bad und wollte einen Spaziergang durch die Felder machen, gewiß, zu dieser frühen Stunde niemand zu begegnen. Bei ihrem Erscheinen aber erwachte das Leben, als habe es nur auf ihr Auftreten gewartet, um sich wider sie zu erheben. Grether Fritz eilte über den Hof und schien eine Gestalt der Unterwelt, die geht, das Tor des Tages zu öffnen, im Dorf erklangen Erkennungsrufe und das Rattern von Fahrzeugen, die wahrscheinlich alle hierherdrängten, um durch das offene Tor in den Morgen einzufahren ... Einen Augenblick stand sie wie eine Tragödin auf der kleinen Freitreppe zwischen den altmodischen Kandelabern aus Milchglas ... Sie entschied sich für den Weg durch den Garten, durchschritt Flur und Salon und fand zu ihrem Schrecken die Tür dort offen. Als sie versuchte, sie von außen zu verriegeln, verletzte sie sich.

Schon wieder Blut, murmelte sie und eilte, an ihrem Finger saugend, weiter. Der Kies knirschte unter ihren Füßen, die Füße waren schwer und störrisch, sie beeilte sich, dem aufreizenden Geräusch, das sie verursachten, zu entkommen. Der Garten öffnete sich, die Freiheit, sie atmete auf. Aber schon beim nächsten Schritt schauerte sie zurück vor der Kälte, die von dem bereiften Rasen aufstieg, die roten Bellis in seiner Mitte wirkten wie Blutflecken in verknitterter Wäsche.

Angewidert machte sie kehrt, lief zurück, noch einmal über den Rost des Kiesplatzes, noch einmal durch das Fegefeuer der Zimmer, wo es geschehn war, und warf sich in den Kleidern aufs Bett.

Das Angelus der Frühe läutete, tastete an ihrem Schlaf, ohne sie ganz zu wecken. Sie drehte sich seufzend zur Wand und schlief weiter.


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