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Eine Nacht und ein Morgen

Die Fenster von Aggies Schlafzimmer standen auf, es regnete. Seit zwei Tagen regnete es ununterbrochen auf das Elsaß herab, und es war Mai, genau zwei Wochen vor den Wahlen. Silvio, träge und versonnen, wehrte ihrer Sehnsucht nach der spanischen Sonne, »der einzigen in Europa, die sich nicht aussperren ließ um diese Zeit«. Sie lag neben ihm und spielte mit seiner Hand, die sie sich zu diesem Zweck bequem auf die Brust gelegt hatte.

»Ich muß über die Brücke!« behauptete er. »Darauf haben wir unsre ganze Aufmerksamkeit zu richten.«

»Was für eine Brücke?« fragte sie. Er lachte: »Ja, die liegt nun wieder in Italien – die Brücke von Arcole.«

»Ach so ...« Beruhigt fuhr sie in ihrem Spiel fort. »Vorher aber reisen wir nach Spanien?«

»Ja. Ich muß ohnehin fort, weil acht Tage vor den Wahlen die andern in den Käfig kommen.« Erschrocken drückte sie seine Hand, hob den Kopf: »Wer kommt in den Käfig?« – »Nur ruhig, mein Schatz! Paar besonders laute autonomistische Vögel – ich nicht.«

»Du nicht? ... Der lauteste gerade nicht?« Sie legte seine Hand weg, holte verlegen die Bettdecke herauf und deckte sich zu ... Es war nicht immer leicht, einfach Geliebte zu sein. Der Mann brauchte nur sein wahres Gesicht zu zeigen, damit man sich unversehens wieder seiner mühsam erworbenen Nacktheit schämte ... Während sie ihn im Auge behielt, griff sie über ihn weg und hob den Schleier der Nachttischlampe: »Laß dich angucken! Was ist das für eine neue Gemeinheit?«

Statt zu antworten, lächelte er sie an und schob leise die Decke zurück, er streichelte sie, zeigte seine feuchten Zähne und sagte: »Schön bist du, Aggie, schmal und glatt und rund ... Wie ein Finger der Venus. Natürlich etwas größer ... Und ganz und gar in aller Kleinheit und Heimlichkeit zum Weibe gemacht. Mit allem Weiblichen verschwenderisch ausgestattet. Wer hätte es gedacht!« Er sang. Der Schurke sang. Oh, darin hatte er es weit gebracht, er sang ihre Niederlage ein wie die Kirchenglocken den Sonntag ... Langsam richtete er sich auf, um sie zu küssen, er schwebte heran, schwebte heran, mit seinem weißen Hals, und warf einen durchsichtigen Schatten wie Ledas Schwan, fiel ihr ein. Gleich darauf erschien ihr Ada, Adas Körper im Spalt des Bademantels ... Schnell ließ sie den Schleier los, und während sie seinen Hals umschlang, den atmenden, schimmernden, zerfloß die Starrheit des drohend über ihr stehenden, finstern Gesichts in einer Silberwolke.

Die Drohung war köstlich gewesen und bittersüß die Finsternis, und in der Finsternis ging ein Feuer auf und durchglutete ihr Inneres, und außen auf dem Körper fühlte sie den Widerschein des Feuers, er drang durch die Haut und hüllte sie ein, schön war Aggie, stark und schön. Die Drohung verwandelte sich in unbegreifliche Wonne, die Finsternis war wärmer als alles Licht. Wer sich in der Liebe fürchtet, ist des Lebens nicht wert! ...

Fürchtete sich Aggie? ... Nein, sie fürchtete sich nicht. Sie fand sogar einen kreatürlichen Frieden in seinen Armen. O Wunder! Die Strenge des Lebens jagte bis zum Krampf empor und löste sich, aller Streit, alle Bitternis und auch die Lust wurde still und strömte wie Atem in sanft ermattenden Gliedern, Leib und Seele waren eingekehrt in abendliche Güte. Die Äcker lagen aufgebrochen unter dem Himmel, ihr Geruch war der Geruch der Erde, herb und schön. So schmeckt die Liebe für den, der liebt ... War sie nicht wert geliebt zu werden, sie wenigstens, die Liebe, ganz gleich, wer sie einem schenkte? ... Aggie schlief ein.

 

Er weckte sie.

Gleich kamen ihr die autonomistischen Vögel mitsamt dem Käfig in den Sinn, und er mußte sie über die bevorstehenden Verhaftungen aufklären.

Es handelte sich, so erfuhr sie, um ein Dutzend bekannter Heimatrechtler, die im Verdacht standen, deutsche Agenten zu sein.

Ein Nichts ist die Liebe, dachte sie – ein Nichts, wenn man sie ausgeschlafen hat ...

Was es mit der Beschuldigung auf sich habe, konnte er nicht sagen. Die Polizei schien daran zu glauben (die Polizei glaubte an nichts so sehr wie an ihre eigenen Schandtaten), vielleicht auch der Präfekt, er brauchte eine Entlastung, weil er dauernd Pech hatte, seitdem er im Land war. Fest stand nur, daß die Pariser Regierung, der Ministerpräsident Sarcarot an der Spitze, nicht höher schwor als auf dieses Komplott, mit dessen Enthüllung zwei Dinge auf einen Knall in die Luft gehen sollten: die deutsche Propaganda und der Autonomismus. Das war für ihn die Liebe – vom Geschäft reden zwischen zwei Umarmungen, diese Art von Vertraulichkeit! In leichtem Schweiß. Den blühenden Verbündeten und Vertrauten zur Hand ...

Sie wiederholte ihre Frage: »Und dir tut man nichts ...?« Nein. Ihm geschah nichts. Dem Schloßherrn von Unterhügeln und Schwiegersohn Charles Hartmanns konnte man nicht gut vorwerfen, von Deutschland bestochen zu sein. Geld aber mußte in der Geschichte drin sein, unbedingt, daran glaubte der Bürger, ob es sich nun um einen besiegten General seines Landes handelte oder um die Niedertracht seines Nächsten. Anders ließ sich eine solche Schmach wie eine Niederlage oder revolutionäre Aufsässigkeit gar nicht erklären. So ist es in Frankreich, beteuerte Silvio, worauf er anfing, sich über eine Geschichte vom Siebziger Krieg und dem Marschall Bazaine lustig zu machen, den die Preußen bestochen haben sollten – Silvios Großmutter hatte es hundertmal erzählt.

Diese Art, mit der Geliebten zur Hand über die Welt zu höhnen, wie ein Gott auf einer Wolke zu ruhn und unter Liebkosungen Blitze zu sammeln, köstlich gebettet in leichtem Schweiß ... Das war für ihn die Liebe. Dafür sang er. Dafür ...

Und François Kern? forschte sie aufgeregt weiter. François Kern? Der flog als erster hinein! Sie war entrüstet. Er, ein anständiger, sauberer Mensch ... Silvio fuhr auf: jawohl, so ein Prachtbursche, der ihn, seinen Schulkameraden, ständig bedrohe, auslache ... In milderem Ton fügte er bei: Kern dürfe nicht fehlen, gerade ihn wollten sie nicht in der Kammer haben, schuldig oder unschuldig! Sie nahm sich zusammen, und nach einiger Zeit begriff sie. Die Verhaftungen, acht Tage vor den Wahlen, sollten wie ein Donnerschlag wirken und die Wähler einschüchtern. Wer könnte es wagen, seine Stimme für mutmaßliche Hochverräter abzugeben, von denen die, die es wissen sollten, mit letzter Bestimmtheit behaupteten, sie seien durch die vorliegenden Beweise überführt? Bis zu den Wahlen fänden die Verhafteten keine Gelegenheit mehr, sich zu rechtfertigen, das Wort war ihnen abgeschnitten. »Und da mußt du verreisen«, erklärte sie (eigentlich niemand anderm als sich), »weil sonst die Wähler stutzig würden. Warum, würden sie fragen, lassen sie ausgerechnet den Silvio Wolf in Freiheit?«

»Halt, Aggie: – warum darf Silvio Wolf allein nicht zum Märtyrer werden?« verbesserte er. »Das ist die Hauptsache, wenigstens für mich. Und deshalb verschwindet Silvio Wolf am Tag der Verhaftungen ... Ein ganz Gerissener! Wenn die Polizei vorn am Schloßtor erscheint, schlüpfe ich gewissermaßen durch die Hintertür hinaus – ich meine, in Wirklichkeit mache ich mich schon vorher aus dem Staube.»

»In Wirklichkeit«, sann sie – schon wieder die Wirklichkeit ... »Eine Gemeinheit!« sagte sie fest. »Du verrätst deine ältesten Freunde. Man muß sie warnen. Tust du es nicht, tu' ich's.«

»Ja«, sprach er gedehnt und grinste herausfordernd mit allen Zähnen, »ja – möchtest du denn, daß ich gerade jetzt verschwände? Und monatelang in Untersuchungshaft säße?«

Nein! So was wollte Aggie beiliebe nicht! Sie war keineswegs der Meinung, das Gefängnis solle Ada zuvorkommen und ihr Silvio jetzt schon wegnehmen. Konnte man wissen, ob er nicht doch noch sein Herz fände? Zwar, das ihre hatte sie verloren in jener ersten Nacht, aber, wer weiß, vielleicht fände er es wieder und verleibte es sich ein? Solch ein Tausch, wobei der eine Teil an sich brachte, was der andre einbüßte, sollte ziemlich häufig sein zwischen Liebenden, Hammer und Amboß, hieß es, wechselten oft die Rolle ... Davon abgesehn, daß das Gefängnis die Familie Hartmann auf ihre mächtigen Beine bringen würde, unter deren Tritten schon die Bastille eingestürzt war – Aggie aber auf das Katzenbänkchen, wo die Kinder sitzen, die nichts gegen die Mächtigen der Welt ausrichten können und deshalb zum Schaden noch den Spott haben!

»Jetzt bin ich überzeugt, daß wir nach Spanien fahren!« rief sie ungestüm. Und alles andre war ihr gleich. Alles!

»Außerdem«, sagte er, »habe ich Kern einmal gewarnt. Wahrhaftig, eben fällt es mir ein. Viel Sinn hatte es nicht. Da sie sicher sind, gewählt zu werden, überschreiten sie nicht die Grenze, wer wird denn so dumm sein, vor den Generalsepauletten eines Märtyrers davonzulaufen?«

Sie war überzeugt, daß er log. Und seine vermeintliche Lüge, die brannte das Siegel auf die Schande ihrer Bereitwilligkeit, an seinem Verrat teilzuhaben ... »Du lügst«, wollte sie sagen und unterdrückte es, weil sie hätte sagen müssen: »Wir lügen!« Ach, die Brücke von Arcole! Bonaparte und sein Adjutant steckten im Sumpf bis an den Hals, und ihre Soldaten konnten sie nicht retten, denn sie sahn es nicht, und hätten sie es gesehn, sie hätten sich lieber schlagen lassen, als den Verrätern zu Hilfe zu eilen ...

»Hör mal, mein Lieber«, sagte sie, »ich darf den günstigen Augenblick nicht versäumen. Bitte, steh auf ...« Wenn nichts dazwischen kam, eine Grippe oder ein Geniestreich Adas (Ada hatte kein Genie), konnte sie den Schreibtisch im Stich lassen und in die echte Sonne fahren, die Sonne, die nur bei Tage scheint, sie bevorzugte diese Sonne, sie war nicht die Spur pervers – und keine Zeitung mehr lesen, keine Zeitung, nie mehr eine Zeitung ... »Bitte, schnell, nur eine Sekunde!« drängte sie und zerrte ihn zuletzt aus dem Bett.

Verständnislos stand er neben ihr, ließ sich unwillig zurechtrücken. Aggie, des schicksalvollen Augenblicks bewußt, schickte sich an, den Standort ihrer Fahrt auf der hohen See des Lebens zu bestimmen. Sie begann damit, daß sie mit den Fingerspitzen seine Schulter berührte und den Achatknopf von Silvios Spazierstock ins Auge faßte, der in der Ecke des Zimmers lehnte ... Es flog ihr durch den Kopf: »Jetzt kommt er schon mit dem Spazierstock zu mir ins Bett« – und schloß die Augen. Angestrengten Sinnes richtete sie den Sextanten. Es ging schnell. »Gute Fahrt!« rief sie und klatschte in die Hände. Dann ging sie und warf den Stock aus dem Fenster.

»Was soll das heißen?« sagte er und blickte nach dem Fenster.

Sie lag schon wieder im Bett.

»Bist du je mit dem Spazierstock in Adas Schlafzimmer gekommen?« fragte sie leichthin.

In jäher Wut, wie konnte sie es wagen, sich mit seiner Frau zu vergleichen, beugte er sich über sie und hob die Hand ... Vielleicht wollte er sie nur einschüchtern, jedenfalls kam sie ihm zuvor, mit aller Kraft schlug sie ihm ins Gesicht. Es geschah dermaßen überraschend, wenigstens erschien es ihr so, daß er sie eine Weile nur anstarrte – oder lächelte er? Kein Zweifel, ein dünnmaschiges Lächeln überzog allmählich sein Gesicht! ... Sie schnellte in die Höhe, da packte er sie an den Armen und schüttelte sie, und als sie spürte, daß er wenig Kraft in das Ringen einsetzte, ging sie um so heftiger gegen ihn an. »Oh, bitte sehr, jetzt wird es Ernst«, keuchte sie ... Er tat nur das nötige, sie im Zaum zu halten, womöglich auch dies nur scheinbar, so gelang es ihr leicht, seinen Griff zu lösen, und während er mit gesenkten Lidern stillhielt, schlug sie noch einmal, und diesmal traf sie sein Auge.

Er schrie auf, seine Züge, wie versunken in einer erwartungsvoll gierigen Wehmut, erhoben sich zu einem wüsten Ausdruck des Schmerzes. Voller Angst sprang sie auf die Füße. Er aber fuhr mit dem Arm durch die Luft und fegte sie mit einer Ohrfeige vom Bett. Sie stürzte, kam gleich wieder hoch und sauste, nackt wie sie war, die Treppe hinab. Als sie versuchte, die Tür in den Garten zu öffnen, holte er sie ein, sie schlüpfte ihm unter den Armen durch und lief in den Keller.

Einen Augenblick stutzte sie vor dem finstern Loch, das sie aufgerissen hatte, dann sprang sie hinein. Sie schlug auf das Treppengeländer auf und klammerte sich fest, ihr war zumut, als sänke sie mit einem Schiff in die Tiefe ... Wie lange konnte das dauern?

Silvio hatte unterdessen den Lichtschalter gefunden, es wurde hell. Gleich ließ sie das Geländer fahren und landete mit einem Satz auf dem Boden des Kellers. Eine leere Flasche kam ihr in den Weg, sie ergriff sie und lief in ein zweites, unerleuchtetes Gewölbe, zu dem die Tür fehlte, und an der Grenze des Lichtscheins machte sie Front, und weil sie glaubte, sie stehe schon im Dunkel, rief sie drohend: »Ich habe ein Beil!«

Als er ruhig auf sie zukam, sah sie das gerötete Auge, und wie er vergeblich bemüht war, das Lid zu heben ... Er nahm ihr die Flasche aus der Hand und trug das furchtsame, an allen Gliedern zitternde Kind hinauf. Zum Zeichen, daß sie ihm alles verzieh, auch den Rest von der Jugend des Urmenschen, rieb sie die Wange an dem schrecklichen Fell, das seine Brust bedeckte, sie fand es warm und gut, ihr Arm hing um seinen Hals, und sie weinte laut durch das Haus.

»Still, Kleines!« bat er in zärtlichem Ton. »Die Dienstboten!«

»Ach, ich habe sie doch längst ausquartiert«, gab sie schluchzend zurück. Er bettete sie und legte sich neben sie, rasch und lautlos wie eine Schlange, schon hielt er sie umschlungen, und während er ihr Gesicht küßte, über das eine neue Tränenflut stürzte, fragte er: »Du hast die Dienstbogen ausquartiert? Da hast du wohl keine Angst mehr vor den Räubern?«

»Ich habe sie ja alle im Bett«, rief sie und küßte, was sie noch nicht getan hatte, küßte als erste seinen Mund. Der Mund war groß und gut und überströmend von Liebe, jetzt zumindest, jetzt endlich – und für immer ... Kleine, irre Worte der Dankbarkeit und Entzückung stammelnd, warf sie sich vor den Wagen der Göttin, die viele Arme und Hände hat, und jeder Arm ist zum Schlag erhoben, und in jeder Hand steckt ein Schwert ... In so gewaltiger Schlichtheit brach ihre Hingabe vor ihm auf, daß ihm eine Träne ins Auge trat. Sie sah es nicht, mit geschlossenen Augen suchte sie den Krampf, der ihr ganzes Wesen zusammenzog, um es wie aus weitgeöffneten Händen dorthin zu entlassen, wo die Welt am stillsten war ...

Überm Einschlafen, ihr Kopf lag auf seinem Arm, sah sie einen Wald und hörte ein Wispern und Summen, über dem die Stimme der Hummeln dröhnte – die Orgel des Hochsommermittags ... Kleine Holzkreuze, aufgeweicht und vermoost, neigten sich mit einem rührenden Ausdruck von Ergebung zum Boden, versanken schon, und auch die Gräber und Bastione, die tausend Granaten standgehalten, gingen die Verbindung mit der Erde ein und waren nichts weiter als Laubstreu und ein vergangener Sommer. Die Schlacht war verstummt ... Über ihre letzten, unsagbar friedlichen Regungen hielt ein junger Sommer sein Licht gebreitet.

Ein Lächeln auf den halbgeöffneten Lippen, glitt sie hinüber.

 

Silvio pflegte seine Aggie eine Stunde oder zwei nach Mitternacht zu verlassen. Der Chauffeur schlief so lange im Auto. Diesmal war sie aus seinen Armen gleich in Schlaf gesunken, und er hatte es, gelockert und wunderbar umgestimmt durch die Ereignisse der Nacht, nicht über sich gebracht, sie durch seinen Aufbruch zu wecken. Bevor er einschlief, träumte er – so tollkühn, wie er nur träumen konnte. Er wünschte sich, Aggie wäre reich und von großer Familie wie Ada, und sie stiegen unbehindert Seite an Seite empor! Nie würde er sie für eine noch reichere, noch einflußreichere Frau verstoßen. Niemals! Sie könnten Kinder haben denen nicht die »Bastarde« eines geschiedenen Grafen im Wege ständen, Kinder, die seinen Namen führten.

Als sie gegen Morgen erwachten, bat Aggie ihn, ein einziges Mal die Nacht bis zum Ende bei ihr zu bleiben, damit sie, wie sie schlaftrunken äußerte, auch das hinter sich bringe.

»Was willst du hinter dich bringen?« fragte er. – »Das Frühstück«, sagte sie und drehte sich auf die andere Seite. »Das Frühstück – verstehst du nicht? ... Das gehört auch dazu.« Er lachte auf: »Köstliche Aggie« und fragte, was mit dem Chauffeur geschehn solle. »Ach, der schläft mit einer andern«, murmelte sie. Wahrscheinlich verwechselte sie ihn mit Grether Fritz.

Silvio blieb bei ihr ...

Sie saßen beim Frühstück, Aggie trug den hellgelben Kimono, er selbst war, während das Mädchen den Tisch deckte, frisch und munter, nur nicht rasiert, wie auf einem Spaziergang begriffen, durch die Gartentür eingetreten (den Chauffeur hatte er mit einem guten Zehrgeld ins Wirtshaus geschickt), draußen gaukelte der erste schöne Maitag und schien in seinem Leichtsinn mit ihnen verschworen – als Grether Fritz mit feierlicher Miene Ada anmeldete.

»Ich lasse bitten«, sagte Aggie kurz und erhob sich, um Ada entgegenzugehn. Sie trafen sich in der Mitte des Zimmers, und dort blieben sie während der ganzen Unterhaltung stehn. Ada tat, als bemerke sie Silvio nicht, der sich einige Schritte abseits hielt, die Hände auf dem Rücken, wie ein Schüler, der einen ungezwungenen Eindruck machen will. Aggie schien seine Anwesenheit mit dem Eintritt Adas vergessen zu haben.

»Ich bitte dich um Verzeihung, Ada«, sagte sie unvermittelt.

»Bitte, Aggie, sprechen wir nicht von uns – oder doch nicht von Verzeihung. Ich nehme an, wir sind uns im klaren, wer von uns zu verzeihen hat und wieviel ... Ich wollte dir nur sagen, daß ich den Wahltag abwarten wollte, um meine Koffer zu packen. Jetzt geht das nicht mehr, nachdem meine Leute, die seit Wochen spionieren, seit heute morgen unzweifelhaft wissen. Ob der Chauffeur schweigt oder nicht, ist mir gleich. Er fuhr aus dem Hof, als ich hineintrat, die mitleidige Ergebenheit, wie er grüßte, würde mir genügen, wenn an dieser, wie soll ich sagen – bis in den Morgen verlängerten Nacht noch etwas an Deutlichkeit gefehlt hätte ... Ich habe das Gesicht gewahrt, solange es noch so etwas zu wahren gab. Ich wollte keinen Skandal, und ich hatte auch noch andre Gründe zu warten – die sich weniger zur Mitteilung eignen.«

»Ja, du hast das Gesicht gewahrt«, bestätigte Aggie. »Wenn ich dir danke, geschieht es aber nicht dafür, sondern aus Gründen, die sich ebenfalls nicht zur Mitteilung eignen.«

»Aggie, wirklich, warum geben wir uns solche Erklärungen ab? Die aufrichtigsten – aber nein, das ist ein falscher Ausdruck, ich meine die brutalsten würden doch nicht an die Bestimmtheit unsrer Gedanken heranreichen. Es könnte häßlich werden, ohne jeden Gewinn für uns beide oder sonstwen. Ich nehme an, daß auch du jetzt die Dinge beim Namen nennst.«

»Ja, Ada, ich nenne jetzt die Dinge beim Namen. So weit wollte ich's ja bringen.«

»Siehst du! ... Nun also, gleich kommt das Gepäck von Unterhügeln. Ich habe dem Chauffeur gesagt, sein Herr verreise, und dazu ein Wort fallen lassen von einem Telegramm, das seinen Herrn nach Paris rufe.«

»Das war überflüssig«, rief Silvio beleidigt dazwischen. »Ich weiß überhaupt nicht, ob ich reise.« Ohne auf ihn zu hören, fuhr sie fort: »Bitte, Aggie, versprich mir, daß ihr über Paris fahrt und einen Tag dort bleibt. Es wäre mir lieb, wenn mein Vater dich noch einmal sähe.« Aggie glaubte, eine Blutwelle überstürze sie von Kopf zu Füßen, sie war aber ganz weiß geworden, und die meergrauen Augen bohrten sich in Ada. »Wir sollen uns nicht mehr sehn?« fragte sie in einem hohen, seltsam hellen Ton.

»Aggie, was sind das für Fragen! Du wirst mir aus dem Wege gehn, wo du nur kannst.« Eine Weile blieb es still im Zimmer. »Ja, das werde ich«, sagte Aggie, als erwache sie aus einer Betäubung, und sie machte mit viel Anstrengung einige Schritte und lehnte sich an den Flügel. Sie ergriff eine Vase mit einem weißen Fliederstrauß und drückte das Gesicht hinein.

»Mein Vater, Aggie, wohnt in der Villa Majestic – wenn du es vergessen haben solltest. Widme ihm einen Tag ... Du sollst ihm nicht von allem andern sprechen. Nur einen Tag mit ihm Zusammensein. Er hat dich immer liebgehabt.« Aggie stellte mit zitternden Händen die Vase auf ihren Platz zurück und antwortete:

»Ich verspreche es dir.«

»Danke dir!« rief Ada. Ihre Stimme war mit einmal verändert, gar nicht mehr hart, sie erfüllte das Zimmer mit Duft und Wärme, und in dieser Wolke kam Ada zu ihr an den Flügel und schloß sie in die Arme. Und siehe, Aggie hing nicht mehr steif in Adas Armen wie früher, sie erwiderte leidenschaftlich Adas Umarmung, sie zog den Kopf der Freundin zu sich herab, um ihr etwas unendlich Wichtiges, das niemand hören durfte, ins Ohr zu sagen. Sie fand aber nichts als ein: »Du! Du!« ... Zuletzt kam doch noch ein Wort an die Oberfläche, ein Wort groß wie das Leben:

»Freundschaft ...«

Als es draußen klingelte, fuhren sie auseinander, als seien sie überrascht worden. Ada ging schnell, ohne ein Wort, ohne einen Gruß durch die Gartentür aus dem Zimmer ... Aggie lauschte den Schritten, die tatkräftig den Kies des Vorplatzes unter sich mahlten, und blickte mit einem mühsamen Lächeln auf Silvio ... Dann stand Joseph im Zimmer und meldete, das Gepäck des Herrn sei da.

»Silvio«, flüsterte Aggie, als sie wieder allein waren. »Silvio! Wach auf! Sie ist fort!«

Er zuckte die Achsel und begann, mit gequältem Gesicht auf und ab zu gehn. Sie erhob die Stimme: »Ich lasse meine Sachen packen – für etwa vierzehn Tage, nicht wahr, Silvio?«

»Ja, ich denke, für etwa vierzehn Tage«, versetzte er gleichgültig. – »Silvio«, sagte sie und legte ihm die Hand auf die Schulter ... »Silvio, es hat keinen Sinn, dir jetzt Sorgen zu machen ... Du wirst ohne mich zurückkommen, ich schwöre es dir, dann kannst du alles bei ihr versuchen, was dir möglich scheint ... Silvio! Glaube mir, vorher –«

»Ja«, sagte er. »Mach dich fertig. Und laß, bitte, den Unsinn mit dem ›allein zurückkommen‹. Ich brauche dich ... Du hast es doch selbst gesehn, ich war einfach nicht mehr für sie da. Sie ist ein Teufel ...«

Die Hände auf dem Schoß gefaltet, stand sie vor ihm, blickte zu ihm auf und strahlte. »Wie lieb von dir, daß du mich behalten willst! ... Aber – wie lang?« Sie strahlte und schüttelte gleichzeitig wehmütig den Kopf.

»Mach dich fertig«, wiederholte er unsicher.

Als sie angekleidet herunterkam, sah sie ihn unter der Gartentür stehn – mit kleinen Kopfstößen, wie ein Vogel, guckte er in die Luft und pfiff.

»Ich laufe ins Schloß hinüber, mich verabschieden«, erklärte sie und schaukelte mit ihrem Lächeln auf der Flut der guten Laune, die Silvios Gesicht überschwemmte. »Du wirst nicht ungeduldig sein. Ich bin schnell wieder da.«

»Lauf nur, Kleines. Bitte, Claus zu grüßen und mich zu entschuldigen, und nimm dir alle Zeit am Busen des Freundes, ich habe inzwischen zu tun. Ich muß mich rasieren, in die Stadt fahren, das Gepäck aufgeben, und wenn ich dann auch noch meinen Abschiedsbesuch und vorläufig letzten Kriegsrat beim Präfekten hinter mir habe, dann hörst du hier gedämpfte Trommeln und Pfeifen, und das bin ich, der dich abholt.«

Ob er mich jetzt schon sitzen läßt, fragte sie sich und gab sich Mühe, möglichst zuversichtlich dreinzuschauen.

»Also bist du es«, musizierte er weiter, »die nicht ungeduldig werden darf. Vielleicht behält der Präfekt mich zum Essen da. Ich hoffe, nicht. Bitte Kuß! Ich bin glänzend aufgelegt ...« Er blickte ihr nach und freute sich, wie der Irrwisch über den funkensprühenden Kiesplatz tanzte. Ja, das war er – glänzend aufgelegt. Vorhin, als Vogel, der in die Luft guckte und pfiff, hatte er nämlich beschlossen, Aggie unterwegs abzustoßen, was auch geschehn mochte, und gleichviel, ob sie Gepäck für vierzehn Tage mitnehme oder für die Ewigkeit.

Worüber er aber auf der Fahrt nach Straßburg am meisten grübelte, war die Frage, warum seine Frau hartnäckig darauf bestanden habe, daß Aggie in Paris ihren Vater besuche. Natürlich brachte er es in Verbindung mit sich und Ada. Ihr mußte ebensosehr wie ihm daran liegen, erst einmal Aggie abzuschütteln, bevor etwas zur Wiederherstellung ihrer Beziehungen geschehen konnte. Ada war ein vernunftbegabtes Wesen trotz allem, sie kannte die Welt. Schon sah er den alten Hartmann als »Treuhänder« zwischen sie gesetzt. Es gab da viele Möglichkeiten. Schließlich ließ er die vielversprechenden, aber ungewissen Wegweiser fahren und wandte sich seinem Glück zu, das, ungleich fester als die Spur des Menschen, geschweige denn einer Frau, in den Sternen ruhte ...

Hier nun sei, um nicht auch den Leser auf Abwege zu bringen, die Lösung des Rätsels vorweggenommen. Aggie hatte auf Ada einen unheimlichen Eindruck gemacht: wie die Galionsfigur eines Schiffes, das in seinen letzten Sturm zieht, sagte sie später. In einer Art Erleuchtung verfiel sie auf einen rettenden Gedanken.

Nachdem sie in ihrem kleinen Wagen vergeblich Felder und Äcker nach mir durchsucht hatte, fuhr sie nach Unterhügeln und ließ so lang bei uns anrufen, bis sie mich erreichte. Sie sprach mir vom besorgniserregenden Zustand Aggies und bat mich, sofort an Bieterle in Stuttgart zu telephonieren. Er sollte sich in den nächsten Zug nach Paris setzen, wenn nötig fliegen, als Gast ihres Vaters in der Villa »Majestic« absteigen und sich, offen oder heimlich, dem nach Spanien reisenden Paar anschließen. Wenn Aggie ihn abwiese, habe er ihr »als Querulant zu folgen«. Aggie müsse einen Schutz oder doch einen Halt haben, ich dürfe ja nicht unterlassen, Bieterle den Seelenzustand seiner Freundin in den schwärzesten Farben zu malen ... Sie, Ada, wolle gleich ihren Vater anrufen. Natürlich werde er sich vor dem Paar verleugnen lassen, es sei denn, Bieterles Ankunft verzögere sich, so daß er sich zeigen müsse, um die beiden bis zum Eintreffen des Schwaben festzuhalten ... »Sag es mir, bitte, Claus, wenn die andern fort sind.«

»Ja, sobald sie weg sind, rufe ich an«, sagte ich. »Wie gut, Ada, daß du an Bieterle gedacht hast, ich danke dir tausendmal. Einen bessern Mann gibt es jetzt für uns überhaupt nicht. Mir Simpel wäre das frühestens übermorgen eingefallen. Da hätte er sie in Spanien suchen können, der arme Bieterle.«

Als dieses Gespräch stattfand, hatte ich Aggie noch nicht gesehn. Ich sprach unten auf dem Vorplatz bei der Treppe, und sie wartete, ein Stockwerk höher, in meinem Schreibzimmer.

Sie war von Joseph in mein Zimmer geführt worden, zu dem sie jederzeit Zutritt hatte, ob sie nun zu ihrem »Hürdensprung« antrat oder um endlich wieder »allein zu sein wie in einem Hotel«. Auf dem Gang traf sie Annette. Das Kind wünschte ihr artig die Zeit und wollte mit seiner Pflegerin weitertrippeln, als Aggie ihr unvermittelt einen langen Purzelbaum vorschlug. Annette, mit der erstaunlichen Fähigkeit der Kinder, sich sofort umzustellen, kollerte hinterdrein, der Anblick eines blitzroten Schlüpfers entriß ihr Jubeltöne. Joseph und die Kindergärtnerin schauten zu, und Joseph hielt den Hut. Die Gegenwart des Dieners belästigte Aggie nicht im geringsten, trotz des blitzroten Schlüpfers. Dazu trug sie einen roten Hut und auch wieder rote Schuhe wie voriges Jahr beim Ausflug auf den Hartmannsweilerkopf. Nur, denke ich mir hatte damals der gleichfarbige Schlüpfer gefehlt. In langen Purzelbäumen ging es den Gang hinauf, und es wäre wohl auch noch den Weg zurückgegangen, wäre nicht Annette gegen Ende der ersten Strecke unruhig und griesgrämig geworden. Aggie packte sie auf und brachte sie zur Kathrin in die Küche.

Darauf kletterte sie wieder die Treppen hinauf und irrte durch die Zimmer des Stockwerkes. Von einem Fenster aus erkannte sie Adas kleines Auto, das über die Feldwege humpelte, Unterhügeln zu. Sie fragte sich, warum sie Claus Breuschheim auf den Äckern suche, da sie doch jetzt Zeit genug haben werde, das Männle auf dem Felde nach Herzenslust zu sehn und auch ihre Kinder, worauf sie mehr als zehn Jahre gewartet hatte. Nur Sinnenmenschen wie Ada verloren darüber nicht die Geduld, um nicht zu sagen das Muttergefühl ... Und wo würde sie wohnen? Würde sie eine englische oder deutsche Erzieherin für die Kinder nehmen? Würde die Kleinere, die aus Liebe zum Vater die Mutter verabscheute, ihren Sinn ändern – angenommen, der Sprößling einer Hartmann könnte seinen Sinn ändern? Vielleicht, nein, sicher, sicher hätte Ada Silvio nicht geheiratet, wenn die Kinder bei ihr gewesen wären. Kinder schärfen den Instinkt und das Verantwortungsgefühl. Unwillkürlich stellt man sich den Mann als ihren Vater vor ... Aggie konnte sich Silvio nicht als den Vater Gabrieles vorstellen.

Und jetzt bekommt Claus sie, den Marmorleib in der Silberwolke! Ihr bester Freund ihre beste Freundin. Und sie gönnte sie ihm, ja, ihm gönnte sie Ada. Claus an Stelle Silvios – alles wäre anders geworden ...

Sie mußte lange warten und wurde immer aufgeregter. Zuletzt blieb sie in meinem Schreibzimmer und ging dort im Kreis, erschöpft und innerlich zerschlagen von der letzten Nacht, wie sie sich fühlte, seitdem sie wußte, daß sie heute Breuschheim auf immer verlassen sollte – selbstverständlich auf immer. Später würden Ada und Claus den Wolf aus dem Land jagen, daran zweifelte sie nicht, und, wer weiß, vielleicht würden die beiden sie dann wieder in Freundschaft annehmen ... Und einen bewohnbaren Mond aus ihr machen ... Wer konnte es wissen? Sie hatte an größere Wunder geglaubt! Und aus der Bewegung der Parkbäume im aufkommenden Wind, jeden einzelnen meinte sie zu kennen und zu lieben, schöpfte sie neue Hoffnung. Ein Stück Leben vergeht in der Sonne, die Erde trinkt das Wasser und wirft es wieder ins Meer, woher es stammt, das große, runde Leben ist stark, schluckt ganze, echte Monde und grünt von neuem, grünt und trägt Früchte ...

Als sie auf dem Gang Schritte vernahm, entließ sie den schillernden Schwarm der Wunschbilder wie einen Besuch aus Elfenland und wappnete sich, wappnete sich für die Wirklichkeit.

»Ihm will ich alles sagen!« beschloß sie und blieb stehn, mit dem Gesicht zur Tür, ungewiß, ob sie einen Freund erwarte oder einen Feind.

Offenbar war es ein Freund, denn sie flog auf mich zu und umarmte mich und führte mich an der Hand zu einem Sessel, wo ich mich niederlassen mußte, sie selbst setzte sich mir gegenüber.

»Claus, Ihnen will ich alles erzählen«, sagte sie, auffallend gefaßt nach allem, was ich von Ada gerade gehört hatte. »Eine Seele auf der Welt soll wissen, was aus mir geworden ist ... Ich bin ein Bergwerk von Unglück und Schande, mein lieber Claus. Sie können tief in mich hinabsteigen, ohne auf etwas anderes zu stoßen in dem Haufen, der vermutlich dem Reinen, dem alles rein ist, auch nicht schlecht in die Nase duftet – nichts als Unglück und Schande gibt es da, Claus, ich rede ernst, lauter Unrat, außer hie und da, um genau zu sein, ein paar von den Glitzedingern, Splittern von Spiegeln, wie Kinder sie gebrauchen, um mit Sonnenreflexen zu spielen, und Frauen, um die Lippen zu schminken und ihr Augenspiel zu prüfen. Claus, ich habe Silvio nur geliebt, solang er mich nicht besaß. Ich weiß, es klingt furchtbar komisch heutzutage, ein vierzehnjähriges Mädchen würde mich auslachen, aber was soll ich tun, es ist so, ich kann es nicht ändern, ich habe es nach Kräften versucht.« Und Aggie erzählte mir ihre »Geschichte«, in einer fast gemächlichen Weise, wie man lange Geschichten zu erzählen pflegt, und als handle es sich um eine andre als sie.

Es ging nicht so leicht, wie sie erst wohl gehofft hatte und wie sie noch vorschützte, als ihr die Augen schon in Feuer und Tränen schwammen.

Die aufrechte Haltung, sehr lang gewaltsam beibehalten, brach an der Stelle, wo sie von der Nacht sprach, in der Silvio zu ihr kam, mitten durch, körperlich brach sie entzwei, die Schultern fielen vornüber, sie suchte vergeblich sich wieder aufzurichten und mir hochfahrend ins Gesicht zu reden, um zu zeigen: sie schäme sich nicht! Nein, sie empfand keine Reue, versicherte sie, kerzengerade aufgerichtet gestand sie und leugnete im selben Atemzug die Sünde. Sie war einfach nur in das Gesetz der Schöpfung eingetreten, das sagte alles. Und sie wollte das Gesetz leben bis zum Ende.

Einen Gewaltakt der Natur nannte sie die Liebe, erhaben über Gut und Böse, von Schön und Häßlich gleich weit entfernt, furchtbar in ihrem Blutdurst wie der Krieg, herrlich auf Sturm und Vernichtung bedacht. Solang es die Liebe gab, konnte auch der Krieg nicht aufhören – die Menschen waren nur mit Vernunft begabt, um auf grobe oder feine Art zu genießen, auf grobe oder feine Art zu zerstören. Die Tiere, die gleich nach der Begattung starben, verkörperten am reinsten den Sinn der Welt, ein andrer ließ sich weit und breit nicht entdecken. Und wenn Frauen die Natur überlisteten, um nicht zu gebären, so nahmen sie damit dem Krieg des Blutes das einzig Versöhnliche, daß aus Tod Leben entstand, beraubten sie ihn der einzigen Größe, nämlich des Bewußtseins, in Demut einem göttlichen Gesetz zu gehorchen. Was wurde in diesem Fall aus ihnen? »Schauen Sie mich an, Claus, ein feiger, gieriger, grausamer Mensch!«

»Fromm werden, Aggie«, sagte ich leise, »wieder fromm werden – oder jedenfalls Ihrer Natur gemäß leben! Der einzige Ausweg für Sie, den ich weiß.«

»Ich habe meinen Glauben, die Revolution«, versetzte sie mit Schärfe, und doch klang es schwankend und hohl und nur wie ein Echo ihrer vorigen Heftigkeit. »Nein, Aggie«, sprach ich weiter. »Sie haben nur Ihre Verzweiflung und verwechseln sie mit allem möglichen, unter anderm mit der Revolution.« Sie gab keine Antwort. Über ihre armselig aufgesperrten Lippen zuckte ein Lächeln. Wahrscheinlich lächelte sie über den Hochmut, der von Gesetz, Sturm und Vernichtung sprach in einer so einfältigen Sache ... Sie warf zufällig einen Blick auf ein altes, florentinisches Kreuz, das in der Ecke des Zimmers hing ... Darauf lächelte sie noch einmal, und diesmal war es, als lächelten alle Tränen und das Feuer ihres Gesichtes ... Sie öffnete die Hände in ihrem Schoß und ließ sich verlorengehn.

Ein halb erwachsenes Mädchen saß sie und bebte in ihrem Sessel, wie irgendein Mädchen. Tief erschrocken, die nassen Augen bald ins Weite, wie fragend, ablehnend und wiederum fragend, bald auf das Kruzifix gerichtet, weinend und wimmernd, über zerkrümelnden Händen, die aus lauter Hilflosigkeit den Schoß nicht zu verlassen wagten, klagte sie. Einfache Worte, die vor ihr Millionen ähnlich gesprochen hatten, kamen ungesucht wie die Tränen und verliefen in das namenlose Meer des Leids, dessen Flut einmal jedes Menschenherz erreicht. Endlich fand sie kein Wort mehr, keine Träne. Eine große Stille trat ein und herrschte mild wie der Mond ...

»Das Haus hat zugehört und ist entsetzt über mich«, meinte sie plötzlich. »Da will ich schnell gehn.«

An der Tür, wiederum gefaßt, sagte sie: »Claus, wir verreisen gleich – wenn er mich nicht jetzt schon im Stiche läßt ... Aber ich glaube es nicht ... Warum auch, da er noch gute vierzehn Tage seine Freude an mir haben kann, ohne seine Lage zu verschlimmern? Leben Sie wohl. Sprechen Sie nicht schlecht von mir bei Ada ...« Sie senkte die Stimme. »Claus, er ist das Genie der Lüge, der Verderb des Landes. Schon hat er alle und alles auseinandergebracht, und ich habe ihm nach Kräften geholfen. Ich möchte nicht, daß er gewählt wird, o Gott, ich möchte es nicht. Vielleicht packt sie der Zorn, weil er sie in voller Wahlkampagne im Stiche läßt, und sie wählen einen andern, einen, der an seiner Stelle einspringt. Sie, Claus, sollten es tun! Sie! ... Leben Sie wohl, Claus. Sprechen Sie gut von mir bei Ada ... Ach, es ist alles Unsinn, was ich sage, es ist nicht nötig, bei Ada gut von mir zu sprechen, sie hat mich ja nur aus ihrem Leben gestrichen – nicht aus ihrem freundlichen Gedenken.«

»Nein, Aggie«, sagte ich, »nein, sie hat Sie nicht aus ihrem Leben gestrichen.«

»Aber ich«, rief sie und war aus der Tür.


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