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Liebesspiel

»Monsieur!«

»Cher ami!«

Silvio, also aufgefordert, übernahm die Bank. Aggie setzte sich ihm gegenüber.

Schon nach kurzer Zeit tauschte man verwunderte Blicke. Aggie verlor, es kränkte sie nicht. Selten sah man eine Frau mit so viel Haltung verlieren, Frauen pflegten ihr Mißgeschick beim Spiel recht unartig zu tragen. Aggie genoß eine Art zornige Wollust, ihr Gesicht blieb wie blind auf Silvio gerichtet, er aber flammte in entzückter Gewalttätigkeit auf, wenn sein Blick, für eine Sekunde, den ihren streifte.

Die übrige Zeit schien er von Träumerei umfangen, ruhig, mit einem zarten Lächeln gab er die Karten. Das Geld sammelte sich vor ihm, als folgte es einem Anruf. Er machte sogar eine etwas ängstliche Miene, und Aggie, die der Meinung war, in Wirklichkeit gewinne sie und das Geld nehme nur den falschen Weg. Aggie raunte sich zu, so müsse ein Negerhäuptling aussehn, der es zum ersten Male versuche und das Geld anstaune, wie es von überall auf ihn einströme.

Einige, weniger scharfsinnige Herren überlegten, ob man nicht zu Mäßigung raten solle, um der unglücklichen Dichterin Gelegenheit zu geben, »in die zweite Linie zu gehen« und sich womöglich vom Verlust zu erholen. Da setzte sie den letzten Geldschein, der vor ihr lag. Alle warteten gespannt. Als sie verlor und aus dem Spiele ausschied, gab es kein Halten mehr. Als bräche eine Schranke zusammen, so wirkte der Stoß, der das Spiel sogleich in die Höhe riß. Vielleicht erschien ihnen Silvio jetzt schutzlos, vielleicht setzte die unbeschäftigte Wildheit, wie die Frau dasaß, die Männer in Flammen. Aber alle bildeten sich ein, kalt und überlegen zu sein wie nur je ein Feldherr in voller Schlacht, jedenfalls hatten sie wie er schon keinen mitleidigen Blick mehr für den niedergebrochenen Soldaten übrig.

Aggie widerstand der Versuchung mit ihrem Zwanzigfrankenschein einen letzten Streich zu führen, nur, weil sie es nicht wagte, mit einem so geringen Einsatz hintendrein ins Spiel zu hinken. Wiederholt wollte sie aufstehn, sie ertrug die Spannung nicht mehr, Silvios Gesicht vor ihr begann in unbestimmten Grimassen zu zerfließen. Jedesmal warf ein Ruck seiner Augenbrauen sie auf den Stuhl zurück. Schließlich stützte sie beide Hände auf den Tisch, hob sich vom Stuhl. Ängstlich, flehend – glückselig, als er unmerklich nickte, zog sie die Hände nach und ging. Schnurstracks, um nicht zu fallen, wie Kinder über einen Balken laufen, eilte sie durch die Zimmer, hob im letzten den Gobelin von der Wand und stieß die Tür auf.

Vor ihr stand eine Frau. Die Frau öffnete die Arme. Aggie fuhr zurück und legte die Hand aufs Herz. Es klopfte wie rasend. Es klopfte ihr in den Schläfen, in den Flanken – überall.

»Ada«, sprach sie dumpf. »Ja, kennst du denn dieses Zimmer?« Die Freundin ließ die Arme sinken.

»Ada«, wiederholte sie und warf sich ihr zitternd an den Hals, drückte sie an sich. Dann saßen sie eng umschlungen auf dem Sofa unter dem Fenster, und sie begann von neuem:

»Ada! Er hat gewonnen, Tausende und Tausende, ich saß ihm gegenüber, ich schaute ihn an, gewaltig, wie der Erzengel Gabriel – oder der Teufel, und er gewann, gewann, Ada, geliebte Ada. Wußtest du, daß ich ihm Glück bringe?«

In Aggie leuchtete Sonne und Jubel. »Freundin«, sagte sie, unbewußt sprach sie das Wort nach, sprach es genau so, wie Silvio es vor einer Stunde zu ihr gesagt hatte: »Freundin, Ada, du Liebe – bist du glücklich?«

»Natürlich!« sagte die andere kalt und leise. »Warum sollte ich nicht glücklich sein?«

Der Ton verletzte Aggie tief, aber sie wagte nicht, die Umarmung zu lösen.

»Ein hübsches Bild«, rief Silvio, als er eintrat, unbekümmert platzte seine Männerstimme und trennte die Frauen. Er begrüßte Ada mit vertraulichem Kopfnicken und bot ihr gleich Geld an – ihr, Aggie Ruf! Zweiundsechzigtausend Franken, die Hälfte des Gewinns nach Abzug des geliehenen Spielgeldes.

In ihrer Enttäuschung, ihrem Zorn, erschrocken gar über das viele Geld, das er ihr vor Ada hinhielt, als wäre sie, Aggie Ruf, sein Geschäftsteilhaber und nicht sein »Glück«, ein Geschäftsteilhaber, sonst nichts, nicht einmal eine Frau – sprang sie auf, weigerte sich, die Summe anzunehmen, fuchtelte mit den Armen, beinahe hätte sie geschrien. Als er ihr das Päckchen Scheine in die Hände legte, packte sie es und schob es Ada in den Ausschnitt des Kleides. Hier! Da, nimm! Die Scheine vom Spieltisch, die Schmutzscheine, die wohl schon durch so viele Hände gegangen waren, als es bessere Herren zwischen Cannes und Monte Carlo gab, an Adas nackter Haut. Sie empfand es als eine Schändung, und sie wollte es auch so. Sie wiederholte wie im Rausch: »Hier! Da! Nimm das, es ist von ihm, du Liebe ...«

»Pfui«, sagte Ada ruhig und: »Was hast du denn heute?« Und Aggie, die sich durchschaut glaubte, Aggie stammelte, und sie schämte sich so, daß ihre Augen naß wurden.

»Wie komme ich Bettlerin zu so viel Geld? Pfui, Ada, pfui? ... Ein Zwanzigfrankenschein kann schmutzig sein. Zweiundsechzigtausend Franken sind es nicht, Silvio, sagen Sie es ihr.«

Er rief belustigt, mit einem Unterton von Verachtung:

»Falsche Heldin!«

Aufschnellend wandte Aggie ihm ein Gesicht zu, das vor Herausforderung strotzte.

»Falsch? Ich?«

»Ja, falsch«, versetzte er gutgelaunt. »Aber hören Sie zu, liebe Freundin, hören Sie gut zu.« Er wurde ironisch. »Heldenhaft nenne ich nur etwas, was viel Mühe kostet. Und eigentlich ist ein Held jemand, der sich gewohnheitsmäßig überanstrengt. Einer Dichterin kann es unmöglich Mühe kosten, auf so viel Geld zu verzichten – nicht wahr? Sie hat auch zu selten Gelegenheit dazu. Also bestände das wahre Heldentum in diesem Falle –«

Ada hatte das Geld aus dem Ausschnitt hervorgeholt und reichte es Silvio, er nahm es und näherte sich damit Aggie. Nun ergriff sie die Flucht. Dabei streifte sie Adas Mantel, der über dem niedrigen Tisch lag, er fiel zu Boden. Sie bückte sich, als wollte sie ihn aufheben, richtete sich auf, lächelte armselig vor sich hin:

»Soll man in der Garderobe nicht sehn, daß du im Hause bist?« Auf einmal war sie fort.

Vorsichtig, wie hinter einem Geheimnis, schloß sie die Tür und strich auch noch mit der Hand über den Gobelin.

 

Auf der Straße stieß sie auf ten Hoet, der schnaufend aus dem Auto kroch. Der Mann hätte ein Athlet sein können, ein Athlet, der zuviel trank. Rothaarig war er auch.

»Ah, da sind Sie wieder!« redete sie ihn an und nahm ihn unter ihren Schirm. »Ich war heute auf dem Friedhof da drüben, dem Friedhof der Kerle wie Sie, die sich's leisten können, für die Ewigkeit vorzusorgen, ohne kleinlich zu sein. Nun fällt mir ein, daß ich mich nach einem guten Platz für ihren Obelisken hätte umsehn können, da ich doch schon auf dem Paradefeld hielt. Nun ja, ein andermal. Unterwegs hierher, ten Hoet, habe ich mir ausgedacht, Sie könnten einmal den Geldschrank in Ihrem Arbeitszimmer öffnen und mir Ihre Diamanten zeigen. Ich würde mir einen aussuchen. Ich verspreche Ihnen, nicht den größten zu wählen.«

»In dem Geldschrank, verehrte Dichterin, fänden Sie meine Zigarren und Schnäpse«, belehrte er sie wichtig, wobei er unter ihren Schirm weg in den Regen trat. »Mein Verhältnis zu den Diamanten besteht ausschließlich in Aktien und Obligationen«, er kam unter den Schirm zurück, »und in einem Schaufenster kann ich einen geschliffenen Rheinkiesel nicht von einem Solitär unterscheiden.«

»Schlimm! Warum bezeichnet man Sie denn mit dem hochtrabenden Namen eines Diamantenhändlers? In meiner Branche wäre so was nicht möglich.« Darauf wußte ten Hoet keine Antwort. »Was hat sie nur?« sprach er laut und glotzte an ihr vorbei in die Luft. Auf einmal stand er wieder draußen im Regen.

Sie wollte ihm zurufen: »Sie Kuppler!«, und gleichzeitig widersprach eine andere Aggie: Weiß er denn, daß sie sich in diesem Zimmer treffen? ... Sie hörte sich schreien (und verschloß krampfhaft den Mund): Was bekommen Sie von Silvio dafür, daß Sie ihm Ada verschaffen? Und die innere Stimme klagte: Unsinn, treffen können sich die beiden geradesogut in ihren Hotels, sie können sogar miteinander schlafen, wenn sie wollen ... Die innere Stimme, die sonst deutsch sprach, redete auf einmal französisch, weil es französisch, sie wußte nicht warum, gefährlicher klang, in Fleisch und Blut gebettet, der schrecklichen Wirklichkeit näher: »coucher ensemble, coucher, coucher!«

»Also bekomme ich nie einen Diamanten«, stieß sie hervor.

»Ich bin jetzt naß genug«, meinte er unwillig.

»So darf ich wenigstens Ihren Wagen benutzten?«

Als er mit der Antwort zögerte, sprang sie hinein.

»Ich will Ihnen sagen, was ich habe, ten Hoet. Ich bin die reichen Leute satt, besonders aber solche, die sich Mäzene nennen. Das sind nämlich die launischsten. Heute schicken sie einem für dreihundert Franken Blumen ins Haus, und morgen schneiden sie eine Grimasse, weil man sie um eine Briefmarke bittet. So sind sie, die Mäzene. Und jetzt befehlen Sie, bitte, Ihrem Chauffeur, daß er losfährt. Sonst erklären Sie mir noch, der Wagen sei heute genug gelaufen und bedürfe dringend der Ruhe. Oder Sie küssen mir die Hand: Wollen Sie nicht, verehrte Aggie, Ihrer Gesundheit wegen lieber zu Fuß gehen? ... Bitte, darf ich nun fahren? Danke!« Sie klopfte heftig gegen die Scheibe: »En route!« Als der Wagen anfuhr, rief sie ten Hoet durch das Fenster zu: »Nehmen Sie schnell Ihre Erlaubnis zurück! Vorwärts!«

Aggie raste. Gleichzeitig schaute sie sich mit wachsender Neugier zu ... Aha, ich rase für Silvio. Weil er mich nicht sehn kann, spiele ich mich immer mächtiger vor ihm auf. Der Wagen rollte den Berg hinab. Auf der Place Masséna schenkte sie ten Hoet einen Teil dessen, was er hätte zurücknehmen können, indem sie ausstieg und den Weg unter dem Schirm fortsetzte ... Silvio! In Adas Gegenwart benimmt er sich taktlos, der Spitzbub, wenn wir allein sind, tanzt er wie eine Schlange zu meiner Musik. Ja, wirklich, manchmal spricht er schon ganz wie ich. Mit meinen Ausdrücken ... Die Regenböen über dem Meer von Gewißheit in ihrem Gemüt dauerten an, bis sie aus der Festung des Platzes auf die Promenade und vor die Leere des echten Meeres geriet.

Hier trat Stille ein, sie wurde elend, plötzlich, ohne Grund. Mitten im Schritt, wie von einem Lasso gefangen, prallte sie zurück und versuchte, unter dem Schirm die Handtasche zu öffnen. Es gelang, aber, ein Aufstöhnen, und erst der Schirm, ein Seufzer, und die Tasche schlüpfte zu Boden.

Da war er! Zwischen der Puderbüchse und dem Taschentuch steckte ein Zwanzigfrankenschein das Ohr heraus. Sie ließ ihn liegen. Trüb, ohne Ausdruck schweifte ihr Blick über den Platz, in Wahrheit suchte sie Hilfe. Und richtig: im Eingang des Kasinos stand, die Hände auf dem Rücken, der Amtsgerichtsrat Bieterle und stierte herüber. Aber hinter ihm standen andere Leute, ebenfalls im Trocknen, die lachten sie aus, Aggie wandte entsetzt das Gesicht ab. Sie dachte: Schadenfreude – der schönste Glückschauer des Menschen, und dann bückte sie sich, hob Schirm und Tasche auf und zog mit den Fingerspitzen den Geldschein aus dem Schmutz. Sie beschloß, Tee ohne Gebäck zu nehmen, um mit dem Geld zu reichen. Und der Sturm brach von neuem los, der Sturm für Silvio. Woraus heben denn die andern ihr Geld auf?! Weitereilend, ohne hinzusehen, stopfte sie den Schein in die Tasche. Puderdose und Taschentuch blieben zurück.

Oh, Silvio und Ada verfolgten sie mit ihren Gedanken! Sie empfand es qualvoll, auf der Haut des Gesichts, in den Augen, luftiges Vitriol, von Freundeshand geschleudert. Die höhnischen, mitleidigen, die triumphierenden Gedanken der andern! Jetzt ließen sie auch noch einen Menschen auf sie los. Kurz vor dem Negresco holte Bieterle sie ein, er brachte Dose und Taschentuch.

Mit ängstlich vorgestreckten Fingerspitzen mußte sie abwehren, stieß alle Hilfe zurück, halb lachend, halb weinend, stürmte sie weiter, am Meer entlang, an diesem Meer! ... Es schäumte vor Wut, einer kleinbürgerlichen Wut, dieses unheroische, abgründig gemeine, platte, regenbeschmutzte Meer, ein Meer für Krämer, wie sie dastehn und sich lustig machen über ein Leid, das ihnen niemals droht, weil es außerhalb ihrer Welt liegt, ein Meer für die Stubenmädchen in den Hotels, für Lausbuben, die den Weihwasserkessel schwingen, stundenlang die Sterbeglocke anschlagen, als spielten sie Telephon und der Teilnehmer melde sich nicht, ein Meer für Diamantenhändler und Gambettisten. Hatte Ada sie nicht geküßt, bevor Silvio ins Zimmer trat? Ein Meer für geschiedene Gräfinnen, die wie Judas küssen, wenn sie verraten ...

Sie war angelangt. Von den Kirchtürmen der noch im Regen hellen Stadt schlug es fünf.

Warum habe ich nie Geld? fragte sie sich, während sie in das Gedränge stürzte, als gelte es das Leben. Ich verdiene viel. Es bleibt nichts bei mir. Ich bin wie ein alter Fischer, der ein schweres Netz an Land zieht und verwundert guckt, wenn all die gefangenen Fischlein mit vier Sprüngen ins Wasser zurückfinden.

Sie wollen nicht, sagt der alte Fischer, in Gottes Namen, sagt er und hebt die paar Silberleiber auf, die genug gekämpft haben und zu Ende sind mit ihrer Lust und da bleiben, wo sie nun einmal sind ... So geht es mir, wenn ich Geld bekomme. Das meiste saust gleich wieder weg, und es bleiben die paar Silberlinge, die ich dann um und umdrehe und streichle und hüte und ganz langsam, einen nach dem andern, verzehre ... Von Haß ergriffen, der leibhaftig in sie fuhr und sie schüttelte, daß ihr Atem ächzte, drohte sie: Wenn ich Geld hätte, Silvio, viel Geld (denn du bist teuer), würde ich dich kaufen und einen großen Mann aus dir machen, einen Gambetta oder so was ...

Dann wartete sie, indes sie wegsah und gleichgültigen Gedanken nachging, daß der Leibhaftige sie verließe, wie er gekommen. Er ging, aber er hinterließ einen Schwefelgeruch, den sie freudig einatmete. Er verlieh ihr neue Kraft zur Empörung ... Nein, sie konnte es sich nicht leisten, einen Sklaven zu kaufen. Sie mußte selbst arbeiten wie ein Sklave, arbeiten mußte sie, nichts als arbeiten, eine halbe, ging es gut, eine ganze Seite am Tag, verdienen, arbeiten, Zeile um Zeile, Groschen um Groschen, Arbeiten, deshalb drängle ich durch die Menschen hier zum Dancing, dem Stadion der hold Verwesenden, zu den Bettflöhen von Tanznegern, die bis zur Decke springen, wenn eine begüterte Dame es bezahlt, den Kokainheiligen, den Bolschewistinnen mit Akkreditiv beim Crédit Lyonnais, die nur in ein einziges, unerhört kostbares Tuch gehüllt sind, ganz wie die gottseligen Inderinnen, ihre Schwestern, zu gefürsteten Taschendieben und Greisinnen aus USA. Ich weiß, ich weiß, Punkt sechs befiehlt die alte Amerikanerin, den Saal zu verdunkeln, und läßt ihr Gerippe im Licht des Scheinwerfers hüpfen, ein undurchdringlicher Jüngling hält die Knochenfrau im Arm – ha, man tritt mich, man pufft mich, und alle Körper, die auf mich stoßen, mißachten mich ...

Trotzdem, Silvio: jetzt werde ich, was ich bin! Ihr alle seid Gras vor meiner Sense und Früchte, die im Laub verdürben, pflückte ich sie nicht, um sie in meiner leisen Hand zu verwahren ... Stoßt nur, tretet, blinzelt euch zu und lacht über meinen erbosten Puppenkopf, der in einem Menschenknäuel dem Windfang der Halle zutreibt, verhöhnt mich, verstoßt mich, ich bin dennoch der Diamant in dem Haufen von Lumpen! Ich, Aggie Ruf, eine Dichterin! Lacht auch über die Dichterin, so gehört sich's, so ist es in der Ordnung. Ich brauche niemand und nichts, weder Beifall noch Hilfe, nichts als mich selbst ... Ich möchte nur wissen, was suche ich hier, in einem Dancing? ...

Mit einem letzten Blick nahm sie Abschied von Himmel und Meer. Das Meer belohnte die Abbitte nicht, die sie ihm leistete, aber der Himmel hing ein rosa Wäscheband aus den Wolken. Im nächsten Augenblick rutschte sie zwischen stoßenden Ellenbogen in die Halle.

Ja, was suche ich hier? ... Sie schmuggelte ihren Regenschirm an den Luchsaugen der Garderobefrauen vorbei und betrat den Tanzraum. Man hatte sie arg gestoßen, mit dem Ellenbogen rieb sie sich die Seite ...

Aggie hätte es sich nie gestanden, gerade dies suchte sie: das Gedränge, die Masse. Aus Scheu vor dem einzelnen suchte sie die Menge, die sie berührte, sie suchte die namenlose Zudringlichkeit, die sie erregte, das Hinsinken fremder Leben an ihre Schulter. Das Bekenntnis zu einem Drang, den sie schwindelnd bejahte. Ihr Flügelschließen am Arm eines Unbekannten, der ein Freund hätte sein können, mild wie Abendwind, sie suchte den Geliebten dort, wo sie alles finden konnte, Tollheit, Leichtsinn, Angst, Dummheit, Wollust, Verbrechen, nur nicht einen Geliebten. Doch was verstand Aggie unter einem Geliebten? Zum mindesten wußte sie es nicht genau. Sie dachte: eine Freundin wie Ada, die ein Mann wäre.

Da hat sie ein winziges Tischchen in einer Ecke erspäht, rennt hin, nimmt Besitz von ihm, indem sie es dicht an die Knie heranzieht und mit aufgestützten Armen festhält. Notizheft und Füllfeder, schon beim Betreten des Saales aus der Tasche gekramt und im Sprung auf die Mitte des Tischtuches gepflanzt, bilden das sichtbare Zeichen der Eroberung.

Sie schließt die Augen.

Die blühende Mauer steigt vor ihr auf, und auf einmal weht Sonnenschein durch den Regen ... Da lag unter dem Regenbogen wie hinter einem Tor, das die Ferne undeutlich einrahmt, ein Vogesenstädtchen am Hang seines Weinberges, es hatte geregnet, die Sonne schien, die Leute kamen aus der Vesper. Die Näherin Agnes Maienstock schlug den Weg in die Reben ein. Wie sie ging, wich die Luft zurück, immer dicht vor ihrem Gesicht, ein dünner, unfaßlicher Stoff, der ein wenig blendete. Keinem Mann kam es in den Sinn, ihr zu folgen, mit Ausnahme des Hirten. Im Städtchen hielten sie ihn, mit Recht oder Unrecht, für einen Kretin, er war im Gesicht und in den Schultern verwachsen und brachte nur kurze, erschreckende Laute hervor. Jedenfalls war er schlau und verschwiegen, das wußten die Mädchen, die sich gelegentlich von dem bocksbeinigen Naturwesen überraschen ließen. Agnes Maienstock ging nach der einen, er nach der andern Seite, und als sie in halber Höhe des Rebberges auf einem Felsen saß, trat er zu ihr. Er trat vor sie hin und schlug ihr die Hände flach auf die Brüste. Ernst und freundlich blickte Agnes in das furchtbare Gesicht, es blieb gierig auf sie gerichtet, bis der Krüppel plötzlich mit einem mißtönenden Schrei die Hände von ihr nahm ... Er hielt die Hände vor die Augen und schnupperte daran ... Sie zeigte auf den Platz neben sich, er kam und schob winselnd das Kinn unter ihre Schulter. Sie sprach zu ihm, da wurde er still. Er verstand sie, er begriff alles, was sie sagte. Sie fühlte, wie der böse Geist in ihm locker wurde, wie er ihn ausstieß mit seinem Atem, und auf einmal lachte er zart und sah das Mädchen an und schien gar nicht mehr häßlich und verwachsen, so klar leuchteten seine Augen ...

Aggie nickte und hob den Kopf.

Der riesige Tanzsaal war oval, der ebenfalls ovale Tanzboden in der Mitte eine Handbreit erhöht. Rundum standen in der größten Enge Tische, dicht besetzt mit »Ladies and Gentlemen«, die sich unter den Gebärden der über Tische und Stühle hinweg bedienenden Kellner wie unter dem Ansturm eines Heuschreckenschwarms duckten. Die Dichterin überschlug schnell noch einmal ihr Vermögen. Zwanzig Franken. Mit dem Kleingeld hatte sie den Tee bei den Adlern bezahlt. Ein Kellner warf Aggie einen fragenden Blick zu, sie bestellte Tee ohne Gebäck – im Flug schnappte er den Befehl.

Chefkellner im Cutaway flitzten hin und her und trieben ihre Kreaturen zur Eile, denn unaufhaltsam schritt die Zeit. Gleichzeitig überwachten sie das hotelfremde Raubzeug, das ihre Gäste beschlich, und verstanden es, in einer Sekunde zu binden und zu lösen. Wenn sie leise durch die Zähne pfiffen, fuhren trotz des Lärms Frauenköpfe hoch und starrten in die herrischen Augen, die nur einen Herzschlag lang hinblickten, dann erhob sich eine prächtige Dame und verließ den Saal. Die andern, die bleiben durften, senkten aufatmend das unter der Schminke erblaßte Gesicht ... Auch die sind hinter der Liebe her! sagte Aggie, um sich weh zu tun ... Davor bin ich geschützt, setzte sie schnell hinzu und schlug sich gleichsam mit einer kurzen Lache auf die Finger ... Ein neues Gefühl, wohlig erregend, stieg in ihr auf, die Lust an der Arbeit. Der Anblick der weißen Seiten in ihrem Heft ließ sie erschauern, wie die Berührung einer Hand ... Und dann schickte sie ihre professionellen, ihre verdienerischen Augen auf die Reise, denn unaufhaltsam schritt die Zeit. Noch einmal lachte sie auf, hinhorchend wie eine Sängerin, die den Ansatz der Stimme prüft. Und warf sich mit allen ihren Sinnen hinein in den Saal, auf der Suche nach einem schönen Gesicht, einer edlen Gestalt, einer Stimme, nach einem jener Blicke, die den Tag spalten, die Nacht zerbrechen und die niemals ihr galten und ihr dennoch Flügel liehen, wenn sie zwischen zwei Sätzen von ihrem Notizbuch aufsah, alle waren sie eingegangen in ihr Werk, ach, die schönsten Stellen in ihren Büchern, Aggie verdankte sie ihnen, den Blicken, den Geschenken an andre!

Nichts. Kein Zeichen. Keine Bewegung in der Luft. Lärm. »Sind Sie je einem Menschen begegnet, dem es ernst gewesen wäre?« hörte sie auf einmal, sehr fern, die Stimme Silvios. Womit denn ernst? ... »Mit sich, mit den andern, mit dem, was er glaubt und weiß und was er nicht glaubt, nicht weiß, mit allem ...« Wie streng er ausgesehen hatte, als er so sprach! Man mußte annehmen, ihm sei es ernst.

Aggie reckte das Hälschen. Sie, dies stand fest, sie nahm es ernst, mit sich und den andern, mit dem, was sie glaubte, und dem, was sie nicht glaubte, doch, das tat sie. Und darum reckte sie auch den Hals, und sie schlug sogar mit der Faust auf den Tisch, als der Kellner zum viertenmal ablehnte, das Gebäck wegzunehmen, das er gleichzeitig mit dem Tee hingestellt hatte. Tee ohne Gebäck war bestellt!

»Ich will nicht!« rief sie. »Ich hab' genug, ich ersticke.«

Schon beugte sich das Römerhaupt eines Chefkellners über sie, und sie wurde höflich belehrt, daß der Tee mit Gebäck oder ohne Gebäck das gleiche koste, nämlich zwanzig Franken.

Nicht anders als die Mädchen, die der Pfiff des Herrn zum Erstarren brachte, blickte Aggie in das machtvoll über ihr schwebende Haupt. Dann warf sie den Geldschein auf das unberührte Gebäck und verließ mit eingezogenen Schultern den Saal. Schlimm! Schlimm! Mit mir ist etwas nicht mehr richtig ... Ich spiele mich viel zu viel auf ... Ich bin gar nicht mehr mit mir allein ...

 

In der folgenden Zeit wurde Aggie öfter als sonst von Zuständen befallen, die man nicht als Träume bezeichnen kann, denn sie war völlig wach.

Es war so, als verließe ihre Seele ihren Körper und bewege sich weit weg, nur vom Schein eines Körpers bekleidet, der nicht einmal immer der ihre war. Es konnte gerade so gut Ada sein, Adas Körper mit der Seele der kleinen Aggie. Auf einer dieser Seelenwanderungen geschah es, daß sie sich jemand entgegenschreiten sah (es schien ten Hoet zu sein), und als sie dicht vor ihm stand, reichte er ihr ein Bündel Geldscheine. Sie griff zu, da ließ er mit einem launenhaften Tick der Augenbrauen die Hand verschwinden und trat vom blauen Himmel weg in den Regen hinaus ... Einmal jedoch entriß Aggie dem Mann das Geld und lief davon. Dafür mußte sie bitter büßen. Silvio Wolf brach bei ihr ein und ermordete sie, um das Geld zu rauben ... Sie glaubte, das Hotel widerhalle von ihren Hilferufen doch niemand kam, ihr zu helfen. Und als es längst geschehen und ihr Körper tot war, mußte ihre Seele ewig unter dem Messer weiter betteln um Gnade ...

Kurz nachdem der Wachtraum seinen Gipfel erreicht hatte, trat sie, noch ganz verstört, in die Halle ihres Hotels, und Silvio stand leibhaftig vor ihr, Silvio, frisch und duftend, und wollte sie zu einem Spaziergang abholen. Sie wagte nicht, ihn anzusehn, denn in Erinnerung an die kaum überstandenen Qualen wähnte sie sich häßlich, eine Leiche, zusammengeschrumpft, grau und grün, mit rötlichen Tupfen auf der Stirn. Sie kehrte ihm den Rücken und puderte mit steifen Fingern ihr Gesicht.

»Waren sie heute nacht hier?« fragte sie in ihrer Verwirrung.

»Ich bin immer bei Ihnen«, antwortete er – als nähme er ihr sanft eine Waffe aus der Hand und verzeihe ihr ohne ein Wort. »Außerdem, liebe Aggie, sind Sie heute so schön wie der Tag.«

Durch die offenen Fenster der Halle trieben Wehen von Himmelsbläue, überall gaben Blumen Zeichen der großen Entzückung. Schimmernd in die Bläue entrückte Wesen waren sie, halb schon davongeschwebt, und draußen auf dem Meer jagten sich rasende Schauer von Licht.

Sie blickte zu Boden und dann, mit einem Ruck, auf ihn. Er war frisch und sauber – geschorener Kopf, weiße Wäsche, weiße Jacke, weiße Hose, weiße Schuhe, alles weiß, mit einem rötlichen Schaum, der von der Apfelblütenfarbe von Strumpf und Krawatte herrührte, du lieber Gott, der Anblick erquickte sie wie ein Bad im Freien. Während ihr Herz noch vor Angst bebte, jubelten ihre Augen und überstrahlten den Tag.

Schnell reichte sie ihm die Hand, zu unglaublicher Versöhnung.

Er nahm ihre Hand und hob gleichzeitig den andern Arm – zu traumhafter Umarmung.

Unwillkürlich drehte sie sich ein wenig, bog ihren Rücken dem Arm entgegen. Eine Sekunde lang spürte sie seine Hand auf dem Schulterblatt. Wirre Bilder stiegen in ihr auf ... Abwehrend schwankte sie vorwärts, einen überstürzten Schritt an ihm vorbei, und verließ das Hotel.

Er folgte ihr, leicht atmend, und hob die Stirn eines kindlichen Siegers. »Ich habe Ihren Saint-Simon zu Ende gelesen«, sagte sie gleich vor der Tür. »Auch einige Auszüge für Sie gemacht. Ein frischer, sauberer Geist, sehr großmütig.«

Er zitierte zum zwanzigstenmal: »Man muß begeistert sein, um Großes zu vollbringen.« Sie zweifelte nicht, daß dies Wort alles war, was er von dem Autor kannte. »Ja«, sagte sie eifrig. »Darauf kommt es an. Man kann es nicht oft genug wiederholen ...« Sie dachte an etwas ganz anderes ...

Auf der Promenade trafen sie Ada. Mitten im Gespräch ließ sie die beiden stehn und begab sich auf das nächste Postamt.

 

Es war Ende März, als ich in Breuschheim ein Telegramm erhielt, worin Aggie Ruf mich bat, unverzüglich nach Nizza zu kommen. Ich nahm den nächsten Zug.

In Nizza kamen Aggie und Ada auf mich zu, gefolgt von einem sehr gepflegten Herrn, der »Du« zu mir sagte, als hätte er zwanzig Jahre lang dauernd von mir geträumt. Denn gesehen hatte er mich in der Zeit bestimmt nicht. Ich betrachtete ihn. Silvio war ein Mann geworden, also die ausgekochte Form eines Jünglings, er mußte mich enttäuschen.

»Wie gefalle ich dir?« fragte er zuversichtlich.

»Ein englisches Herzchen«, sagte ich. »Nicht mehr ganz frisch.«

»Oh, weißt du, was die Frische anlangt!« Er hob die Schultern und drehte den Hals. Die fast unterwürfige Art, wie die beiden Frauen unserm Wiedersehn beiwohnten, die Art, wie er sich vor uns wiegte, als führte er mir seine duftenden Sklavinnen vor, beleidigte mich. Vielleicht war ich eifersüchtig.

Ich machte mir Vorwürfe über mein voreiliges Wesen und legte mir zur Strafe auf, ihn mit der Auszeichnung zu behandeln, die ich zumindest seinen Damen schuldete. »Bitte um Entschuldigung, Silvio!« sagte ich, als hätte ich meine Gedanken laut geäußert. »Freut mich, Sie – dich wiederzusehn.« Aggie hatte sich in den Arm Adas eingehängt, sie huschte und lächelte wie ein Bündel Lichtstrahlen über der großartigen Schönheit der Freundin. Am liebsten hätte ich sie fest an die Hand genommen, so haltlos kam sie mir vor.

Wir verbrachten einen peinlichen Abend, zu dem auch Bieterle, von Aggie gebieterisch gerufen, sich höflich, doch lustlos einstellte. Ich sah ihn zum erstenmal. Seine Augen wanderten die ganze Zeit zwischen Aggie und mir hin und her und wollten uns zu einem Bündnis zusammenschließen, sie wanderten mit dem schweren, traurigen Gang eines Riesen.

Ada, rosig unter der weißen Haube der Haare, schien mir unverändert. Der ungeschminkte Mund war fast zu rot.

Lächelnd wiederholte sie, und das war fast das einzige, was sie sprach: sie wolle, sie müsse ihre Kinder wiederhaben, ohne ihre Kinder lebe sie wie in einer endlosen Schneeschmelze, der Boden laufe ihr unter den Füßen weg ...

Sonst wäre von dem Abend nur noch ein Wortwechsel zwischen Silvio und Bieterle zu berichten. Ich hatte mich nie gefragt, ob Aggie jungfräulich sei oder nicht, doch der Gedanke, daß eine Frau, die so wissende Bücher schrieb, die Liebe nicht bis zum letzten erfahren habe, wäre mir ebensowenig gekommen. Der brave Bieterle wußte es besser, und die Feinheit, wie er es uns zu verstehen gab, verwandelte meine Zuneigung für ihn in Hochachtung. Wir sprachen nämlich von den Wandlungen der Liebe, Aggie machte eine Bemerkung, die in der Tat recht altmodisch klang. »Aber Aggie«, äußerte Silvio ungeduldig, »wie in aller Welt sind Sie denn erzogen worden?«

»Keineswegs in aller Welt«, versetzte sie, »sondern in einem guten, bürgerlichen Haus, und zwar genau wie meine Mutter. Ich benehme mich nur freier.« Ein Geständnis, worüber ein gutgearteter Mensch schlimmstenfalls wohlwollend lächeln konnte. Silvio jedoch murmelte etwas von »Keuschheitsfimmel« und »unzeitgemäßen Hemmungen«, mit denen sogar die Wissenschaft, diese umständliche Nachhut der Propheten, aufgeräumt habe.

»Die ›umständliche Nachhut der Propheten‹«, sagte Aggie, »stammt aus meinem Wortschatz. Ich besitze so wenig, lieber Silvio, daß man mich nicht bestehlen sollte.«

Mit rechthaberisch erhobener Stimme wiederholte er: »Keuschheitsfimmel« und schwätzte weiter. Aggie ließ den Kopf sinken. Nachdem einige Zeit verstrichen war, schützte sie Müdigkeit vor und bat Bieterle, sie nach Hause zu bringen. Er kam bald darauf zurück und stellte nach Worten der Entschuldigung an Ada und mich – Silvio zur Rede. Silvio redete sich so geschickt heraus, daß Bieterle sich auf das Prinzipielle zurückziehen mußte. Bei den meisten Frauen, erklärte er, sei die Jungfräulichkeit ein Zustand der Erwartung, eine rührende, aber fragwürdige Sache, er gebe es zu. Bei Fräulein Ruf sei es ein Zustand der Erfüllung. Man schone nicht nur Kranke, man schone auch Heilige und Genies, und im Falle, daß sie es nicht vollkommen, sondern nur in der Anlage wären, bestände diese Pflicht zur Schonung doppelt.

In seiner Verlegenheit sprach er etwas betont lehrhaft. Silvio zuckte die Achsel.

»Offen gestanden«, sagte er, »finde ich Jungfräulichkeit ebenso wertlos oder, wie man es nimmt, ebenso wertvoll wie Mangel an Geld, jedenfalls ist sie ein Mangel und damit das Gegenteil einer Tugend. Außerdem sieht heute kein Mann darauf.«

»Heute«, erboste sich der Schwabe, »legt es auch kein Mann darauf an, eine Frau zu gewinnen, er läßt sich gewinnen oder tut so. Das So-tun ist die letzte Form der aussterbenden Galanterie. Aber sonst, Herr Wolf, zeugt es von einer bedauerlichen Verblendung eines Lesers von Magazinen für die elegante Welt, wenn Sie glauben, Schwankungen der Sitte änderten etwas Wesentliches an einem Urding wie der Liebe. Die Alten hatten ihre Diana, die Katholiken kennen eine unbefleckte Empfängnis, den erhabensten Kompromiß, den je der Geist mit der Materie geschlossen – ja, da lachen Sie, Herr Wolf! Ich bitte um Entschuldigung, daß ich die Herrschaften aufhalte. Gute Nacht, Frau Gräfin, gute Nacht, die Herren!«

Gleich nach ihm stand auch Ada auf. Silvio versuchte noch die eine oder andere scherzhafte Bemerkung, fand aber kein Gehör. Tags darauf unternahm sie mit Silvio einen mehrtägigen Ausflug nach Italien. »Wir wollen dich nämlich mit Aggie allein lassen«, erklärte mir Silvio. »Die gute Kleine braucht Ausspannung.«

Aggie aber gestand naiv: »Claus, ich fürchte, Sie haben nicht den besten Eindruck auf ihn gemacht!«

Es folgten vier Tage, während deren es mir trotz aller Bemühungen nicht gelang, von Aggie zu erfahren, wozu sie mich hatte kommen lassen. Allgemeine Klagen über ihr Leben, das heillos verdorben, ihre Arbeitskraft, die vergiftet, ihren Mut, der berühmte ›Lebensmut‹, der ›zu einer Grimasse zusammengeschrumpft‹ sei, mehr gab sie nicht preis, und selbst solche Äußerungen entschlüpften ihr nur, wenn nicht ausdrücklich von ihr die Rede war, gewissermaßen als Randglossen zu Gesprächen allgemeinen Inhalts. Meine Bitten um ihr Vertrauen beantwortete sie mit weitschweifigen Ausflüchten oder einer Verstocktheit, die ich mir bei einem Menschen wie Aggie Ruf nicht erklären konnte. Hätte sie ein uneingestehbares Verbrechen begangen, sie hätte sich nicht anders benommen.

Freilich lachten wir auch zusammen. Es klang nicht sehr echt, aber sie lachte so gern. Was hatten wir früher gelacht! Sie konnte leidenschaftlich lachen. »Aggie«, sagte ich einmal, »wissen Sie was? Ich halte die beiden für verlobt?«

Sie errötete, blickte mir aber voll ins Gesicht: »Claus, ich denke, es ist heute viel feiner, über Nacht zu heiraten, ohne Achtung zu rufen?« Und wir lachten. Ein richtiges Duett lachten wir. Auch ihre Schilderung von Silvios Bemühungen, sie für die elsässische Politik, ›den Rückfall in die Kindheit‹, zu begeistern, bereitete uns eine arglos heitere Viertelstunde. »Ich will nichts davon wissen«, meinte sie schließlich. »Die Weltrevolution wird diesen Spucknapf zweier Nationen von selbst an den richtigen Platz rücken.«

»Die Weltrevolution?« fragte ich, und mein Staunen war groß. Denn seit wann ging Aggie Ruf mit so blutigen Drohungen um? ... Ja, das täte sie seit einiger Zeit, leider viel zu sehr. Mit wehmütigem Lächeln fuhr sie fort:

»Claus, es gibt kein anderes Mittel, die Menschen zur Vernunft zu bringen. Teils sind sie geborene Sklavenhalter und Betrüger, teils werden sie als Sklaven und Opfer geboren. Sie brauchen eine harte Hand. Ich hoffe, es wird das letzte Blut sein, das fließt ...« Und nach einer Pause: »Am liebsten möchte ich fort von hier, Claus, ich sehe schon ganz rot.«

»Und mir«, gestand ich, »hat der Anblick des Mittelländischen Meeres alle Zuversicht wiedergegeben. Wenigstens für heute und morgen. Ich sehe blau, wie mit zwanzig Jahren!«

»Mit zwanzig Jahren, lieber Claus, schrieb ich Gedichte, die von Menschenliebe überflossen. Sie machten mich sogar berühmt. Damals waren die Menschen müde vom Krieg. Glauben Sie mir, Claus, inzwischen haben sie zu einer tierischen Gesundheit zurückgefunden. Alle sinnen auf neuen Totschlag. Alle. Man muß Partei nehmen, für die Befreiung der Menschheit oder gegen sie, es gibt nur diese zwei Lager ... Aber eine kleine Atempause täte mir gut.«

Meine Ansicht über Silvios Radikalismus mußte ich ihr verschweigen. Sie hätte mit Recht geantwortet, es sei nicht von Silvio die Rede, sondern von ihr.

Am letzten Abend meines Aufenthaltes einigten wir uns, »gemeinsam zu fliehen«. So hatte ich ihr, halb im Scherz, geraten. Sie griff das Wort auf:

»Ja, Claus, fliehen, fliehen!«

Wir verabredeten den nächsten Morgenzug ...

Ich stand vor der offenen Wagentür und wartete. Obwohl sie immer in größter Hast und Verwirrung erschien, um als letzte in den Wagen zu stürzen, hatte sie in ihrem Leben noch keinen Zug versäumt. Ich wartete gläubig und hielt noch bei der Abfahrt die Tür offen. Sie kam nicht.

Ich fuhr allein mit Bieterle, dessen Krankheitsurlaub, wie ich hörte, abgelaufen war. Unterwegs sagte er von Silvio Wolf, der Lausbub schleife beide Damen an seinem Wagen. »Sie wissen, Herr von Breuschheim, die Römer kutschierten so mit den ersten Christinnen durch den Zirkus ...« Nun, er habe es ihm wenigstens noch gesteckt, neulich am Abend. Angenehm sei es nicht gewesen, aber einer habe es mal tun müssen. »Was will er nur mit Fräulein Ruf? Die ist doch in jeder Weise unbrauchbar für ihn!«

Kurz bevor wir uns in Basel trennten, erzählte er mir seinen Traum von den Kaisern und den klugen Jungfrauen, wie sie Straßburg verließen, Münster und Stadt. »Ich hätte geschworen, unter den klugen Jungfrauen befände sich auch Aggie Ruf ... Jetzt soll sie mit dem Wolf elsässische Politik treiben und was für eine! Noch hat er sie nicht so weit, aber beide erklären bereits einträchtig, ich als Deutscher dürfe überhaupt nicht mitreden über das Elsaß. Ja, warum denn nicht? frage ich Sie. Alle Welt redet von den Geschäften der andern! Und es ist meine Heimat ... Früher begrüßte sie mich als den Treuesten von allen, sie meinte von den Treuen des Elsasses, und jetzt möchte sie mich zum zweitenmal hinauswerfen sie, gerade sie. Ich lasse mir aber meine Heimat nicht nehmen – niemals! Herr von Breuschheim, nur damit Sie im Bilde sind: was auch kommen mag, ich stehe zur Verfügung. Jederzeit! Sie weiß es. Leben Sie wohl!«

Ich schrieb an Aggie und lud sie ein, zu uns nach Breuschheim zu kommen. Ich stellte ihr den Pavillon zur Verfügung, sie hatte oft gewünscht, einmal in dem ›Trianon aus Vogesensandstein‹ zu wohnen.

Sie werde mit Ada kommen, antwortete sie, nicht früher, nicht später, und so lange bleiben, wie Ada bliebe. Augenblicklich sei sie auf dem Sprung, im Auftrage der Freundin nach Römerbad zu fahren.


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