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Bieterle

Bieterle, Amtsgerichtsrat aus Stuttgart, wußte aufs Tüpfelchen genau, was geschehen muß, um einen Verbrecher dem Arm der Gerechtigkeit zu überliefern.

Am Morgen nach dem Schiffbruch der ›Las Palmas‹ begab er sich zum diensttuenden Staatsanwalt der Hafenstadt Brest, begleitet von Journalisten, die im Hotel die Schiffbrüchigen ausgefragt hatten. Sie waren von Bieterles geheimnisvollen Andeutungen verlockt worden, ihm zu folgen, und warteten nun vor der Tür, während drinnen Bieterle den Beamten über seine sowie Silvios und Aggies Person und Lebensumstände ins Bild setzte und dann zur Schilderung der Unglücksnacht überging. Sein mühsames Französisch, das er sich gleichsam von der Seele rang, wozu der mächtige Körper vor Ungeduld bebte, gestaltete die Aussage besonders eindrucksvoll.

Das Schiff war infolge eines Ruderbruchs in Not geraten, da es jedoch in diesem Augenblick bereits auf die Hafeneinfahrt lossteuerte, der Sturm außerdem nachließ, konnte der Kapitän das Fahrzeug in Sicherheit bringen, indem er es unweit der Mole auf ein Riff setzte. Bevor dies noch geschah, war an Land die Rettungsmannschaft alarmiert worden und stand zum Empfang der Schiffbrüchigen bereit. Die Rettungsleine wurde herübergeschossen, die ersten Frauen und Kinder stiegen in die Säcke ein und rutschten an dem Leitseil zum Strand. Es bestand keine Gefahr mehr, betonte Bieterle, wenn man sich nur irgendwo festhielt und dem nachzürnenden Meer ein wenig auf die Finger sah.

Herr Wolf und Fräulein Ruf kauerten nebeneinander an der Windseite der Reling. Über das Deck waren Taue gespannt, eines darunter endete dicht neben ihnen an einem Eisenpflock, und von diesem Tauende, das sie mit der übrigen Welt verband, und dem Eisenpflock, der das Festeste war, was es auf dem Schiffe gab, ließen sie begreiflicherweise nicht los. Da kippte das Schiff, mit einem kurzen Ächzen legte es sich auf die andre Seite. Viel konnte es nicht ausmachen, denn das Rettungsseil war nicht gerissen. Immerhin, die erhobene Seite des Decks, wo sich das Paar befand, ging mächtig hinunter. Die beiden hatten in ihrer Bestürzung Pflock und Tau losgelassen und tanzten freihändig das schiefe Deck hinunter. Wie über einen Parkettboden glitten sie auf die Reling der andern Bordseite zu, und zwar der Herr hinter der Dame. Da kam eine Sturzsee, das heißt der Rest einer Sturzsee, die Hauptsache war an der jetzt aufrechtstehenden Seite des Schiffes hängengeblieben. Die Arme der Dame suchten nach einem Halt, sie drehte sich um, denn hinter ihr war ja ihr Geliebter, es gelang ihr auch, ihn zu packen, sie warf die Arme um ihn, und nun, sollte man meinen, hatte sie die gesuchte Hilfe gefunden. Statt dessen – und hier bat Bieterle den Staatsanwalt um verschärfte Aufmerksamkeit: statt seine Arme um sie zu schlingen oder sie sonstwie festzuhalten, indem er sie etwa mit sich zu Boden riß und gegen das Gitter der Reling drückte, wo ihnen gar nichts geschehen konnte, »statt dessen«, donnerte Bieterle, »machte er sich von ihr los, ergriff die kleine Person bei den Knien und warf sie über Bord. Bei den Knien – bitte sich die Lage vorzustellen. Er faßt sie in der Höhe der Knie und hebt sie in die Luft! ... In derselben Sekunde, da ich das sah, war mir klar, daß er sie in der nächsten ins Meer werfen würde. Was denn sonst? Wer wird selbst unter normalen Verhältnissen jemand an den Knien packen, um ihn vor dem Umfallen zu bewahren?«

Der Staatsanwalt war ein Weltmann und durchaus bereit, einen deutschen Richter und Sachverständigen gelten zu lassen. Der Amtsrichter schien aber nicht zu ahnen, daß das, was er da schilderte, einen Schulfall von »Notstand« darstellte, man konnte es drehen, wie man wollte. Selbst wenn er in der Lage wäre, jede Einzelheit seines Berichts mit Zeugenaussagen zu belegen, würde ein französisches wie ein deutsches Gericht es für Recht befinden, daß jemand, der um sein Leben ringt, einen andern, der ihn darin hemmt, von sich abschüttelt, ja ausdrücklich in die Tiefe stößt. Auf einem gestrandeten Schiff, dem der Sturm zusetzt, befand sich der Beschuldigte in Notstand, jedenfalls durfte er es behaupten, ohne ernstlich einen Beweis des Gegenteils befürchten zu müssen. Es lief auf die in solcher Lage kaum zu treffende Unterscheidung hinaus, ob der Herr die Dame angepackt, und zwar in feindseliger Absicht angepackt, oder ob sie sich an ihn geklammert habe. Der deutsche Kollege erzählte aber selbst, sie habe nach ihrem Geliebten gegriffen und ihn umschlungen ...

Der Staatsanwalt machte sich langsam auf den Weg, dem gegen den Beschuldigten sichtlich voreingenommenen Kollegen höflich eine Rechtsbelehrung zu erteilen. Er unterbrach ihn mit der Frage: »Verzeihung, wie kommt es, daß Sie sich so genau an ein Ereignis erinnern, das in einem Augenblick fällt, wo Sie doch gewiß stark mit sich selbst beschäftigt waren?« Darauf hatte Bieterle gewartet. Er verstand sofort, worauf der Franzose hinauswollte. Seine Erbitterung hatte ihn nicht so weit verstört, als daß der Begriff des Notstands aus seinem Gedächtnis geschwunden wäre. Sie war aber groß genug, ihn hoffen zu lassen, der Begriff werde nicht unbedingt einen Mord zudecken – wenn das Gericht, wie er selbst, felsenfest an einen Mord glaubte. Und dazu war es nötig, erst einmal den Staatsanwalt zu überzeugen. Denn von ihm hing die Anklageerhebung ab. Bieterle betrachtete ihn genau. Der Staatsanwalt trug einen adeligen Namen, der normannisch rasselte und nach Mittelalter klang, trotzdem war er, bis auf einen kleinen Schnurrbart, glatt rasiert, rosig und gar nicht steif. Er glich einem Sportsmann in den besten Jahren, der seine Hautfarbe pflegt. Die Art, wie er das Wort France aussprach, machte Bieterle zum Patrioten, nicht zu einem deutschen oder gar einem französischen, nein, zum Patrioten an sich. Der Herr aber betonte genau so die ›Republique Française‹, wenn er auf diese und jene Einrichtung oder Gepflogenheit seiner Republik zu sprechen kam, und das wunderte Bieterle. Bei ihm zu Hause verneigte sich keiner, dessen Name nach Mittelalter klang, vor der deutschen Republik. Auch er, Bieterle nicht, obwohl sein Name nichts von einer Ritterrüstung hatte. Frankreich erschien ihm als ein rätselhaftes Land. Im übrigen flößte der Herr Bieterle Vertrauen ein.

»Von der Küste hatten sie einen Scheinwerfer auf uns gerichtet«, erklärte er, »ich stand mit dem Rücken gegen ihn, so daß ich Herrn Wolf und Fräulein Ruf in der schärfsten Beleuchtung sah. Zudem hatte ich meine guten Gründe, Herrn Wolf nicht aus dem Auge zu lassen. Als die Welle über mich ging, war mein einziger Gedanke, mich so schnell wie möglich nach dem Paar umzuschauen, dessen einer Teil, wie ich nun doch wohl bemerken muß, von der Seite einer sehr angesehenen Familie meiner Fürsorge anvertraut war.« Der Ausdruck ›Familie‹ war nicht genau, aber stark, Bieterle versprach sich etwas davon. Der Beamte fragte auch sofort: »Von Seiten der Familie Hartmann?«

»Möchte ich nicht gesagt haben«, versetzte Bieterle. Er schob eine kleine Pause ein, in der seine Andeutung die Jahreszeiten durchlaufen – wachsen, blühen und fruchten sollte, um dann dem Staatsanwalt scheinbar auf halbem Weg entgegenzukommen. Er sagte leichthin: »Natürlich wird Herr Wolf behaupten, die Dame sei mit der Welle über Bord gegangen, ohne andre Beihilfe.«

»Vielleicht«, meinte der Beamte.

»Nicht vielleicht, Herr Staatsanwalt. Bestimmt! Denn von Notstand wird er nichts wissen wollen.«

»Warum nicht?« fragte der andre lebhaft.

»Weil es ihm seine Karriere verderben könnte. Jemand, der im Notstand einen andern ermordet, den mag das Gesetz von Schuld freisprechen, das Volk hat ein sittlicheres Empfinden. Im Volk springt man ja auch ins Wasser, um einen zu retten, ohne zu überlegen, ob nicht der Ertrinkende seinen Retter mit in die Tiefe zieht. Keinesfalls wünscht man sich einen Abgeordneten, der seine Leute mit einem Schwung oder Tritt nach unten bringt, um auf die Weise leichter hinaufzugelangen.«

»Und Sie vermuten sogar Vorsätzlichkeit – Mord?«

»Vermuten? Ich kann es beweisen.«

»Darf ich fragen, wie?«

»Mit der Vorgeschichte. Leider werde ich kaum auf das Zeugnis von Frau Wolf verzichten können. Sie hat übrigens die Scheidungsklage eingereicht.« (Die Behauptung war richtig, nur konnte Bieterle es nicht wissen.) »Lassen Sie es erst zur Untersuchung kommen, Herr Staatsanwalt, und die Geschichte blättert sich von selbst auf.«

Die Unterhaltung ging so weiter, und die fanatische Überzeugung des Hünen Bieterle in Verbindung mit einer sich darin tummelnden profanen wie juristischen Gerissenheit verfehlte nicht ihren Eindruck auf den Beamten. »Und doch«, sagte er, »wie unwahrscheinlich, ein Mörder, der einen Schiffbruch abwartet, um seine Tat auszuführen!« Worauf Bieterle: »Ich glaube im Gegenteil, es gibt mehr Mörder, die ihre Gelegenheit abwarten, als andere. Darum werden auch unendlich mehr Morde beschlossen, als ausgeführt. Die Gelegenheit braucht nicht gerade ein Schiffbruch zu sein. Aber warum sollte der Mann gerade einen Schiffbruch ablehnen – wenn er sich ihm bietet ...?«

Der Beamte entließ ihn mit der Bitte, morgen zur selben Stunde wiederzukommen.

Und jetzt, da die Anzeige gegen Silvio Wolf in aller Form erstattet war, bekamen die Herren von der Presse eine Geschichte zu hören, die mit dem ersten Wort die Rubrik der besseren Lokalnachrichten verließ, um unter Glanz und Lärm auf die Titelseite zu marschieren. Der Schwabe hatte noch nicht recht geendet, da flogen die Herren bereits nach allen Richtungen auseinander. »Verheirateter Mann benutzt Schiffbruch, um Geliebte aus dem Wege zu räumen ...« Bieterle sah diese und ähnliche Schlagzeilen der Zeitungen vor sich, und er knurrte vor Befriedigung. Darüber würde auch ein Silvio Wolf nicht hinwegkommen!

Er begab sich an die Stelle, wo die Leiche seines Schiffes lag.

Die Ebbe hatte den Strand bis zum Dampfer hinaus freigelegt. Die ›Las Palmas‹ war ein nackter Rumpf, schon halb im Schlamm versunken, gleichsam schon in Verwesung begriffen. Ihn schauderte, und er konnte sich doch nicht von dem Anblick trennen. Der Felsen, auf dem das Schiff aufgelaufen war, überragte jetzt den Rumpf wie mit blitzenden Zähnen. Und das Ungeheuer, dem diese Zähne gehörten, schien damit beschäftigt, das Opfer gemächlich zu verdauen ... Endlich kehrte er dem Meer den Rücken und ging zum Hafenamt von dort zu andern Stellen, wohin man ihn wies, von Büro zu Büro, ließ sich anstaunen, bemitleiden und zum Narren halten, ging und ging, in der Hoffnung, etwas über Aggie Ruf zu erfahren. Er aß zu Mittag und setzte seine Wanderungen fort.

 

Seit zwei Stunden jagte ein Hoteljunge auf Bieterles Spur, um ihm mitzuteilen, daß der Staatsanwalt telephonisch nach ihm verlangt habe.

Der Bote erreichte ihn auf einer Zeitungsredaktion, wo der Schwabe sich erkundigte, an welcher Stelle der Küste Schiffbrüchige angeschwemmt zu werden pflegten. Er hockte auf einem Stuhl, starrte den Redakteur an und suchte in dessen Zügen nach einer Deutung von Gottes unbegreiflicher Schöpfung. Er war sehr müde. Stöhnend erhob er sich vom Stuhl, bedankte sich wirr und übereifrig bald beim Zeitungsmann, bald beim Botenjungen und fuhr zum Gerichtsgebäude. Es ging gegen Abend.

Der Staatsanwalt empfing ihn mit strengem Gesicht, das milder wurde, als der Hüne in seiner ungeheuren Hinfälligkeit vor ihm saß, den Blick hilfesuchend auf ihn gerichtet ... Er fragte, ob Bieterle wisse, daß Herr Silvio Wolf französischer Abgeordneter sei. Es war ihm neu, trotzdem antwortete er: »Gewiß doch.« Er war blöde vor Abspannung und überlegte dunkel, ob er nicht lieber gleich gehn solle, als sich weiteren Wortgefechten auszusetzen.

»Er ist heute gewählt worden«, sagte der Beamte. »Ich wundere mich, daß Sie es schon wissen.«

»Ganz recht«, sagte Bieterle ... Dann aber nahm er sich zusammen und begann zu begreifen, was gemeint war. »O wissen Sie«, versicherte er, »wenn wir ihm jetzt nicht ein Bein stellen, wird er noch Minister.« Der Beamte lächelte. »Aber ja«, sagte Bieterle. »Eigenes Geld hat er merkwürdigerweise auch, und wer weiß, am Ende ist seine Frau noch immer in ihn verschossen.«

»Na also, lieber Herr! Einem solchen Mann kann man doch nicht ohne weiteres einen Mord zutrauen! Ich meine moralisch betrachtet – juristisch ist hier ohnehin nichts zu machen.«

»So?« rief Bieterle betroffen.

»Hören Sie gut zu, lieber Herr! Als Herr Wolf, der schon im Zug saß, durch einen Journalisten von Ihrer Geschichte Kenntnis erhielt, eilte er hierher und erstattete Anzeige gegen Sie wegen falscher Anschuldigung. Ich gestehe, er machte mir den besten Eindruck. Er war bestimmt, ruhig und höflich. Er bat um eine telephonische Verbindung mit dem Ministerium oder dem Straßburger Präfekten – nach meiner Wahl! Sie können sich denken, daß ich dem Präfekten den Vorzug gab, nicht wahr? Nun, und da erfuhren wir, daß Herr Wolf in der elsässischen Politik der rechte Arm des Präfekten sei, ein geradezu unentbehrlicher Mann, ein Geschenk des Himmels, sagte der Präfekt, vermögend, unabhängig, als kalt wägender Kopf bekannt und geschätzt. Warum, lieber Herr, sollte jemand wie Herr Wolf eine Dame ins Meer werfen, und wäre sie selbst seine Geliebte – was Herr Wolf übrigens mit Entrüstung abstreitet?«

»Also hofft er doch noch auf seine Frau!« rief Bieterle geärgert.

»Sie muß reizend sein. Herr Wolf hat mir ihre Photographie gezeigt.«

»Was hat er? ... Ihnen eine Photographie seiner Frau gezeigt?«

»Warum denn nicht?«

»Verzeihung, ist das in Frankreich so Sitte, daß man fremden Herrn die Photographie seiner Frau zeigt?« Der Beamte gab keine Antwort. Da schlug Bieterle sich vor die Stirn: »Capisco! Eine solche Frau betrügt man nicht – sollte das heißen, wie?« Allmählich kehrten ihm die Kräfte zurück, und er begann zu ahnen, daß seine Beute ihm entwischte.

»Er bat auch«, sagte der Staatsanwalt, »dem Kapitän und den Offizieren des Schiffes gegenübergestellt zu werden. Und Ihnen, natürlich, hauptsächlich Ihnen! Leider konnten wir Ihrer nicht habhaft werden ... Ich sage ›leider‹, aber vielleicht war es gut für Sie. Ich fürchte, Sie hätten schlecht vor ihm bestanden.« Bieterle riß die Augen auf. »Glauben Sie?« meckerte er ... Angestrengt verzog er seine Züge zu einem Grinsen: »Große Szene – wie?« Gleich darauf wurde er wach, überwach und hellsichtig. Das Grinsen verschwand. Er machte ein kindlich erschrockenes Gesicht.

»Große Szene, jawohl«, sprach der Staatsanwalt. »Herr Wolf hat uns bis in jede Einzelheit vorgemacht, wie das bedauerliche Unglück sich abspielte. Sekunde für Sekunde. Keinem von uns konnte vernünftigerweise der geringste Zweifel bleiben.«

»Ich verstehe«, sagte Bieterle traurig. »Und die Offiziere haben natürlich nichts gesehen?«

»Der jüngste Offizier glaubt einen Schatten wahrgenommen zu haben, der sekundenlang über der Reling schwebte, während zwei hellbeleuchtete Arme sich nach diesem Schatten ausstreckten. Nicht wahr, Sie verstehn? So, als wollten hilfreiche Hände den Schatten ergreifen!« – »Ich verstehe«, sagte Bieterle. »Auch der Scheinwerfer hält es mit Herrn Wolf.«

Der Beamte fuhr fort: »Herr Wolf bekam die Dame ungefähr an den Knien zu fassen – anders war es gar nicht möglich, da sie sich beide in gebückter Haltung befanden, und so wurden sie gegen die Reling geschleudert. Möglicherweise suchte er sich mit einer Hand festzuhalten, ›es ist möglich, aber schrecklich zu denken, daß ich sie halbwegs fahren ließ‹, bekannte er, setzte aber gleich hinzu: ›nein, ich kann, ich kann es mir nicht denken‹. Und die Dame, die frei in der Luft schwebte, die Dame, lieber Herr, ging mit der Welle über Bord.«

Aus Bieteries Brust stieg ein dumpfes Grollen: »Genau so.«

»Wie meinen Sie?« fragte der Beamte.

»Genau so hab' ich's von ihm erwartet.« Er stand auf. An der Tür reichte ihm der Beamte die Hand: »Herr Wolf ist inzwischen nach Hause gefahren. Ich rate Ihnen, tun Sie das gleiche, und zwar sofort. Die Zeitungen, die heute auf Ihr Zeugnis Herrn Wolf des Mordes bezichtigen, werden morgen der Welt seine Unschuld verkünden und dafür Sie selbst eines schweren Vergehens anklagen, begangen nicht an Herrn Wolf allein, sondern an der Majestät der Presse. Man wird sagen, Sie hätten die Presse mit Lug und Trug gegen einen verdienstvollen Franzosen aufgebracht. Sie, ein deutscher Richter, hätten es besser wissen sollen. Ihr Vaterland wird Schaden leiden. Reisen Sie, reisen Sie. Adieu ...«

Er aß in der Stadt zu Abend, trieb sich herum und ging auch noch einigemal hinaus zum Hafen. Das Meer predigte mit großer, ruhiger Stimme, Bieterle konnte nicht unterscheiden, was. Sein Geist war mit der Unzulänglichkeit der Gesetzestafeln beschäftigt, wie sie die Menschen mit tückischer Absicht, Nachsicht, Vorsicht aufrichteten – um ja nicht selbst darüber zu fallen. Das sollte den Armen und Schwachen vorbehalten sein. Die Gesetzgeber gehörten nicht zu den Schwachen und Armen ...

Vergeblich suchte er zu ergründen, ob der Staatsanwalt, ein netter Mann, wirklich so ernst gesprochen habe, wie es ihm noch im Ohr klang, oder ob nicht alles, was er sagte, von Ironie durchtränkt gewesen sei. Er kannte sich nicht aus mit den Franzosen. Sie waren ein abgründig verschlossenes Volk ...

Als der Portier, ein früherer Kriegsgefangener, ihn auf deutsch mit einem freundlichen »Guten Abend, Herr Amtsrichter«, begrüßte, fiel ihm der Schaden ein, den Deutschland durch ihn nehmen sollte. Und wäre Bieterle jetzt nicht viel zu müde gewesen, so hätten seine Zimmernachbarn noch lange den Boden unter seinen zornigen Schritten knirschen hören. Ganz gleich, ob geschriebenes Recht oder nicht, ihm geschah Unrecht vor Gott und den Menschen, wie seinem Vaterland Unrecht geschah, ob dies nun in Frankreich oder sonstwo Recht hieß oder nicht!

Dennoch bereitete er sich innerlich vor, den Kampf aufzugeben. Aggie war tot, die Menschen, die das Gesetz deuteten, weigerten sich, sie zu rächen. Was konnte er da tun? Es fiel ihm schwer auf die Seele, daß er Aggie den Journalisten gegenüber als Wolfs Geliebte bezeichnet hatte ... Sein Plan, ihn durch größtmögliche Öffentlichkeit des Skandals, auch in dieser Beziehung, von der Familie Hartmann zu trennen und so leichter unschädlich zu machen, mochte vielleicht in seinem ersten Teil geglückt sein. Aber das Tier befand sich in Sicherheit! Und so blieb von dem großangelegten Manöver zuletzt nur eine Frau übrig, deren Andenken er vor aller Welt noch befleckt hatte, als sie schon in die letzte Einsamkeit abgestürzt war.

 

Bieterle, ausgeruht, bei klarem Kopf, trat am folgenden Morgen die Heimfahrt an.

Zum erstenmal, seitdem er reiste, weckte die Vorstellung eines unter Hall und Widerhall in den Stuttgarter Bahnhof rollenden Zuges (eine sanft auslaufende Bewegung, als lege ein Abenteurer sich schlafen) in ihm einen Frühling heitertrauriger Gefühle, deren Genuß er sich hingab, ohne dem bretonischen Frühling, durch den er leibhaftig rollte, mehr als nur unumgängliche, kühl abschätzende Blicke zu schenken. In Paris, wo er übernachtete, vernahm er durch die Morgenblätter die Fanfare vom bösen Mann, der die Gelegenheit eines Schiffbruchs wahrnahm, um seine Geliebte aus dem Weg zu räumen (mit lobender Erwähnung des Autors), und gleichzeitig in den Abendblättern die Schamade, die alles widerrief und den Autor als einen schlechten Kerl ausblies. Ein Zwerg, ein rechter germanischer Alberich, so trat er neben dem Riesen an Edelmut Silvio Wolf auf, dem neugewählten Abgeordneten des Elsaß. Und auch die Frage wurde gestreift, ob nicht die Handlungsweise des deutschen Amtsrichters ein Gleichnis abgebe für die Politik seines Vaterlandes gegenüber Frankreich.

Darüber erwachte Bieteries Kampflust, und als er im Waggon mit der Aufschrift Paris-Strasbourg-Stuttgart-Munich saß, fühlte er sich mutig und geborgen wie in einem Streitwagen, den seine Nation ihm bis in das Herz des Feindeslandes entgegengeschickt. Er beschloß, die Fahrt in Straßburg zu unterbrechen und sich in Breuschheim nach Rat und Tat für die wieder auflebenden Feldzugspläne umzusehn. Die Aussicht, dort vielleicht auf den Feind in Person zu stoßen, erhöhte seine Kampfbereitschaft. Er fuhr durch das Elsaß, wie er durch die Bretagne und die Champagne gefahren war, blicklos, von seinen inneren Bildern gefesselt.

Bei der Ankunft in Straßburg telephonierte er nach Breuschheim, kaufte die elsässischen Zeitungen des Tages, zuckte die Achsel über den Bahnhofsplatz, den die Franzosen rasiert hatten, so daß er nun, statt wie früher in Bäumen, Sträuchern und Blumen und Vogellauten zu blühen, dalag wie eine riesige Grabplatte, auf der Trambahnwagen rangierten – und stieg in die elektrische Bahn nach Breuschheim. Die wenigstens war noch die alte.

Vorsichtig öffnete er die Zeitungen. Es wäre ihm zu bitter geworden, die Pariser Pamphlete nun auch noch in deutscher Sprache zu lesen, deshalb überschlug er sie. Das Überschlagen fiel um so leichter, als der Text durch Fettschrift hervorgehoben war ... Dafür fand sich in der gewöhnlichen Schrift Ergötzliches genug. Da wurden zum Beispiel die elsässer Landsleute Europäer genannt, der französische Präfekt hingegen, der sie regierte, ein Mann aus Arcachon, und die Zeitung redete mit ihm, als wäre er in der Tat nur ein simpler Mann aus Arcachon. Gut, gut. Bieterle las weiter und mußte wiederholt laut auflachen. Sooft er dann, wie zur Entschuldigung, den Blick hob, sah er, wie die andern Fahrgäste ihn anlächelten, als errieten und teilten sie seinen Spaß ...

Auf einmal stutzte der fröhliche Leser. Gleich nach der famosen Unterhaltung mit dem Mann aus Arcachon kam ein Artikel über die Elsaß-Lothringer im Reich. Das war sein Fall, der Fall Bieterle. Die vertriebenen Elsaß-Lothringer, das war in diesem Augenblick niemand anders als er, und das große, blonde Gesicht über dem Zeitungsblatt wurde ernst ... Der Leser schüttelte unwillig den Kopf, er knurrte auch, und als er über solch einem Knurrton den Blick hob, bemerkte er zu seiner Verblüffung, daß die Fahrgäste wiederum lächelten, obwohl jetzt nicht die geringste Veranlassung vorlag ... Es wurde ihm nämlich in dem Blatt mit groben Worten eröffnet, daß die Elsässer die Teilnahme der Her- und glücklich wieder Davongelaufenen an ihrem Schicksal ablehnten, daß die Trennung zwischen ihnen und den »bodenständigen Elementen« vollständig und endgültig sei, und zum Schluß erhielt er den Rat, sich das »verlorene Paradies« aus dem Kopf zu schlagen. (»Nun, was das anlangt«, sagte sich Bieterle im stillen – »Schwaben ist auch kein schlechtes Land!«) Nicht nur die ein- und wieder hinausgewanderten Deutschen sollten es sich hinter die Ohren schreiben, sondern, nicht minder kräftig, auch die »freiwillig Verbannten« elsässischer und lothringischer Abkunft. Sie verstünden nichts, aber auch nicht das geringste vom Elsaß ... Sie wohnten viel zu weit weg ... »Schluß mit euch«, hieß die Überschrift, und damit endete auch der Text ... Wenn der Präfekt vorhin geweint hatte, so konnte er jetzt lachen. »Schöne Europäer seid ihr«, murrte Bieterle. »Verlangt von uns, wir sollten glauben, Straßburg sei am 22. November 18 auf den Sirius versetzt worden.«

Die servile Predigt las Bieterle in einem Augenblick, als an den Gartenmauern und Toren des Vororts, durch die die Elektrische ratterte, vielfarbige Wahlplakate aller Parteien hingen, ziemlich frisch noch und selbst vom fahrenden Wagen aus zu lesen. Sie pochten ohne Ausnahme, wenn auch in verschiedener Buchstabenhöhe, auf die Heimatrechte ... Und waren nicht aus dieser Wahl die Autonomisten, diese »Europäer«, als Sieger hervorgegangen? Die Zeitung aber, die Bieterle in der Hand hielt, war ein autonomistisches Blatt. Er warf das Papier weg und sah aus dem Fenster.

Da flog draußen ein Landhaus vorbei, weiß mit grünen Läden, die Fenster von Glyzinien umrankt, und in diesem Haus war Bieterle geboren. Er schaute auf die fruchtbare Ebene, die er so gut kannte, daß er in Stuttgart oder sonstwo in der Welt genau wußte, wie zu jeder Zeit die Gärten und Äcker und Hopfenfelder hier aussahen, und wonach es hier roch, und was die Bauern sagten, wenn man sie nach ihrer Arbeit fragte ... Mit einem Ruck und kleinem Luftsprung setzte die Bahn über den Kanal. Am Kanal entlang hatte er todesmutig die erste selbständige Radfahrt gewagt, er unterdrückte einen Seufzer, und als die Elektrische an einem roten Wirtshaus hielt (noch lebte der Garten mit dem hölzernen Ausschank, wohin er eines Sonntags die angstverstummte Aggie verschleppt hatte) und die letzten Fahrgäste ausgestiegen waren, da geriet er in helle Entrüstung und begann, ganz allein im weiterfahrenden Wagen gegen die Welschen zu hadern.

Wie hatten nach dem Krieg von 1870 die nach Frankreich ausgewanderten Elsässer und Lothringer und die Franzosen selber, ob sie nun in Marseille geboren waren oder in Brest oder in Tours, wie hatte die ganze Nation sich angestellt um das »verlorene Paradies!« Sie schlugen es sich nicht aus dem Kopf, sie, im Gegenteil, sie hämmerten seinen Namen in Köpfe, die sich nichts darunter vorstellen konnten – als einen neuen Krieg. Fast fünfzig Jahre lang spielten alle Drehorgeln Frankreichs das Lied vom »verlorenen Paradies«, und die vornehmsten Flötenbläser der Nation traten damit als Solisten auf und ernteten Ehre und Reichtum. Und ein Minister, der öffentlich erklärt hätte, daß Frankreich auf die Wiedergewinnung Elsaß-Lothringens verzichte, wäre mit Schande davongejagt wurden ... Ha! War nicht Bieterle selbst dabei gewesen, als ein Haufen junger und auch älterer Leute die Statue der Stadt Straßburg auf dem Konkordienplatz umringt und im tiefsten Frieden sich heiser geschrien hatte: »A Berlin! A Berlin?« Nun sollte es ihm und seinesgleichen verwehrt sein – nicht etwa: »Nach Paris! Nach Paris!« zu rufen, sondern ihre Sympathie für die verlorene Heimat in Worte zu fassen und ihrer Sorge um die Gegenwart und Zukunft eines deutschen Volksstammes Ausdruck zu geben? Herr Minister Sarcarot, der Schulmeister Europas, wollte es nicht haben, er verbot es einfach. Voilà! Vom Klassenpult herab verbot er es, wiederholt und ausdrücklich, er wurde ungeduldig über die störrische Klasse, hob den Bakel und zeigte eine finstere Miene.

»Halt, mein Freund, das ist etwas anderes als nach 1870«, hörte Bieterle einen unsichtbaren Zuhörer einwenden ... Bieterle aber wollte sich nicht unterbrechen lassen. Ha! Das sei gar nichts anderes, antwortete er, wenigstens für ihn sei es nichts anderes und auch nicht für Deutschland. Das geschichtliche Anrecht Deutschlands auf das Elsaß sei ebenso gewichtig wie das Anrecht Frankreichs – wenn davon schon die Rede sein sollte. »Aber wir Elsässer selbst wollen doch nichts von euch wissen«, redete der andre auf ihn ein. »Gut, gut, eure Sache. Hahaha! Liebe gedeiht auch ohne Gegenliebe, manchmal schießt sie sogar darüber ins Kraut. Glaubt ihr, ich will euch zurückerobern? Bewahre! Mir genügen euere schönen Augen. Voilà!« Bieterle strahlte ... »Diese Einmischung –« begann der andre von vorn.

»Herrje, so hören Sie doch endlich auf!« Einmischung! Einmischung! Welch eine Heuchelei! Die Menschheit lebte davon, daß sie sich »einmischte«. Wo hatte man sich eifriger in die »inneren Angelegenheiten eines fremden Landes eingemischt« als in Paris? Auch damals stand der reiselustige Amtsrichter dabei, vor der spanischen Botschaft in Paris, als sich die Nachricht verbreitet hatte, der Anarchist Ferrer, ein Spanier wohlverstanden, sei standrechtlich erschossen worden – wohlverstanden in Spanien. War das ein Krakeel gewesen! Die Botschaft glich einem verschanzten Lager, das die französische Regierung gegen ihre eignen Leute halten mußte. Die Menge, die noch an die Freiheit glaubte, warf die Gaslaternen um, das brennende Gas loderte zum Himmel ... Einmischung! Über Albanien, Litauen und Paraguay, schrieb jede Zeitung, was ihr paßte, sie »mischte« sich nach Herzenslust »ein« in das Flottenprogramm Amerikas, in diplomatische Geheimnisse, in die erotischen Neigungen des Prinzen von Wales, rüffelte Könige und Staatspräsidenten, jedoch über das Elsaß durfte ein Deutscher nur reden, als sei Herr Sarcarot die schönste Dame, das Elsaß aber ihr heimliches Absteigequartier – mit unendlicher Diskretion also, höflicher aber war es noch, einfach wegzusehen. Beileibe nicht anders! Sonst war Sarcarot gleich keine schöne Dame mehr, sondern ein alter vertrockneter Schulmeister, der einem entwaffneten Volk mit dem Kanonenbakel drohte ... Jawohl, Schluß damit! Wer mischte sich hier ein!? Schluß! Die Deutschen ließen sich die Schurigelei nicht länger gefallen, Deutschland erwachte täglich mehr, und er, Bieterle, tat wie alle Deutschen, er rieb sich den Schlaf aus den Augen, er verlangte sein gutes Recht, ob geschrieben oder nicht, und –

Der Wagen hielt.

Mitten auf der Landstraße.

Unter einem glühenden Mittagshimmel.

Bieterle blieb sitzen ...

Er wunderte sich über den langen Aufenthalt, bis der Schaffner die Tür aufriß und »Terminus« rief.

Mißtrauisch sah er sich um. Das schien ihm neu: eine Straßburger Elektrische, die den Fahrgast auf freiem Felde absetzte, das hatte es zur deutschen Zeit nicht gegeben. Erst auf das geduldige Zureden des Schaffners fiel ihm ein, daß es das zu seiner Zeit doch schon gegeben habe. Damals war die Bahn eine halbe Stunde vor Breuschheim zwischen einem Rüben- und einem Hopfenfeld steckengeblieben. Inzwischen war sie sogar ein Stück weiter an den Ort gerückt.

»Die Breuschheimer sind berühmte Fußgänger«, erklärte der Schaffner. »Die wollen gar nicht bis heim fahren.«

»Richtig!« versetzte Bieterle im Dialekt. »Ich war halt eine Zeitland drüben bei den Schwaben und hab's vergessen.« Da erblickte er mich.

Ich sah eine Riesenhand durch die Scheibe winken, er kroch mit dem Köfferchen heraus und stieg zu mir in den himmelblauen »Alsatia«-Wagen. »Aus Ihrer Fabrik, Herr von Breuschheim?« fragte er, und als ich bejahte, murmelte er Glückwünsche. – »Verkracht«, sagte ich, »sie gehört uns nicht mehr.« – »Macht nichts«, tröstete er mich, »der Wagen gefällt mir, besonders die Farbe.« Er lobte mich, daß ich vorsichtig fuhr. Er bewunderte meine Handschuhe und behauptete, sie verrieten den gewiegten Automobilisten. Ich hatte ihn noch nicht so zahm gesehn.

Endlich faßte ich mir ein Herz: »Und Aggie Ruf?« fragte ich. Er grollte mir ins Ohr: »Davon sprechen wir noch.«

Nach einem Schweigen wollte er wissen, ob ich den vertriebenen Elsaß-Lothringern erlaubte, über das Elsaß mitzureden ... Warum denn nicht, sie hatten ja hier gelebt, sie kannten Land und Leute ... Ich meinte aber –. Er unterbrach mich: »Jedermann hat heutzutage eine eigene Meinung schrecklich!« Doch lenkte er gleich ein: »Was also ist die Ihre in dieser Sache?«

Meine Meinung? Ich sagte sie ihm. Alle, Franzosen, Elsässer und Deutsche, sollten einen Zungen- und Federfrieden schließen, freiwillig, und nicht nur untereinander, auch mit sich selbst und aufrichtig, damit man endlich sehe und höre, was Neues heranwachse und was sich vom Alten erhalte. Sie alle, Franzosen, Elsässer und Deutsche, wünschte ich, möchten etwa fünf Jahre lang Nachsicht und womöglich etwas Liebe füreinander hegen, fünf Jahre nur das Gute aneinander sehn, aussprechen und fördern. »Denn bis jetzt säen und ernten sie Bosheit und Lüge, von Maria Lichtmeß bis Allerseelen, und im Winter sitzen sie am Ofen und lesen scheelsüchtig, wie sie sich gegenseitig verleumden.«

Er bückte sich und schrie mir ins Ohr: »Die Franzosen mißgönnen uns unsere durchgelaufenen Schuhe!«, und wir bogen in den Pappelweg ein, dessen Bäume wie hoch aufgeschossene Gerten im Winde wehten und mit zarten Blättern nach der Sonne griffen. Ich erzählte ihm, unter welchen Umständen die alten Bäume gefallen waren und wie ich die neuen gepflanzt hatte.

»Es war noch nicht der letzte Krieg«, meinte er.

Gleich darauf hielten wir beim Bürgermeisteramt, wo Bieterle als Ausländer sich anmelden mußte. Vom Kirchturm schlug es eins.

Wir saßen in meinem Zimmer.

Der Amtsgerichtsrat hatte jede Bewirtung abgelehnt außer einem leichten, etwas säuerlichen Landwein und Weißbrot, und ich lauschte dem Bericht des Riesen, der in so dramatischer Weise unser aller Leid um Aggie Ruf anführte. Denn in diesem Augenblick trauerten viele ihrer Leser um sie, nicht nur die Freunde, es war ein Trauergeleit, das sich über Länder erstreckte, und Bieterle war es sich bewußt, er schritt an der Spitze ... Aber als er den Zug der Leidtragenden verließ und in den Weg zum Staatsanwalt einbog, versagte ich ihm die Gefolgschaft.

»Sie wollten Aggie Ruf rächen?« fragte ich. – »Ich will, daß Gerechtigkeit geschehe«, versetzte er. – »Gerechtigkeit? Ich dachte, es ginge den guten Richtern wie den guten Ärzten daß sie ihren Beruf mit Mißtrauen betrachten? Sie sagen ja selbst, juristisch werde wenig gegen Silvio Wolf auszurichten sein. Wenn Sie ›wenig‹ sagen, so bedeutet das ›nichts‹.«

Ich sah an dem Koloß hinauf, der jetzt mit dumpf dröhnenden Schritten das Zimmer durchmaß. Welch eine Festung war das gewesen für Aggie! Ein uneinnehmbarer Turm! Da war sie aus dem Fenster gesprungen ...

Ich sagte: »Denken Sie an die deutschen Könige und Jungfrauen, die Straßburg verließen, Münster und Stadt!«

Er unterbrach seine Wanderung und stierte vom Ende des Zimmers zu mir herüber. »Herr von Breuschheim, Sie machen sich über mich lustig!« Ich ging schnell auf ihn zu. »Ein wenig, lieber Freund«, sagte ich, so herzlich ich konnte, »ein ganz klein wenig! Ich möchte nicht, daß wir ein Gespräch über eine so betrübliche und schwierige Angelegenheit fortsetzen. Der Gerechtigkeit, die Sie noch immer suchen, ist, so sagt man doch, Genüge getan

»Wieso?« schrie Bieterle, und vor Entsetzen griff er sich an den Kopf. »Wieso – ist der Gerechtigkeit Genüge getan?«

Ich antwortete leise: »Sie handeln bestimmt im Sinne Aggie Rufs, wenn Sie es darauf beruhen lassen.«

Da brüllte er, daß der große Raum erdröhnte: »Euer Gnaden schwätzen dummes Zeug!«

Er hielt die Fäuste in die Luft, ein drohendes Hammerwerk, die Augen liefen trüb an und sprangen vor, und auf der Stirn erschienen blaue Adern. Ich nahm seine Hand und führte ihn an den Tisch zurück, wo wir gesessen hatten, und er ließ sich führen, er setzte sich, doch kaum saß er, da tobte er von neuem los: »Der Staatsanwalt in Brest, den habe ich verstanden! Der war im Recht, mit allem, was er vorbrachte. Aber Sie, ein Freund und Verehrer Aggie Rufs, jemand, der ihr so nahe stand, der sie hochschätzte! Wenn juristisch nichts zu machen ist, können wir doch den moralischen Feldzug gegen die Canaille fortsetzen. Was?«

»Vielleicht werden Sie auch mich verstehn ... Sehn Sie, Herr Bieterle, sehn Sie, eine Aggie Ruf, als Geliebte eines Silvio Wolf, konnte nicht weiterleben. Es ist die schlichteste Wahrheit. Jedenfalls hielt sie selbst es dafür ... Eine Aggie Ruf konnte gewisse Dinge nicht überleben ... Sie sprechen von ihr wie von einer Krämersfrau, der ihr Geliebter den Hals umdrehte, um die Kasse zu stehlen. Verzeihung, das geht nicht! Und dann – unsere Freundin hat sich den Tod gewünscht ... Ich weiß es, sie hat es mir gesagt, bevor sie von hier fortging, sie hat es mir noch aus Cadiz geschrieben ... Wir können nur ahnen, nur ahnen, in welchem Maße sie ihn gewünscht, versucht und vielleicht ertrotzt hat. Es ist zu schrecklich, daran zu denken. Bieterle, lieber Freund! Das Verbrechen, das Sie meinen, ist hier begangen worden, hier in Breuschheim, nicht erst vor der bretonischen Küste.«

»Nein!« rief Bieterle. »Nein, nein! Sie wünschte sich den Tod, ich zweifle nicht daran, ich begreife es gut. Deshalb haben Sie mich ja zu ihr nach Paris geschickt, zugegeben, sie wünschte sich den Tod. Aber das tun wir alle einmal! Und mit dem Anlaß geht auch die Versuchung vorüber! Es kommt darauf an, am Leben zu bleiben! Und vieles – und alles wird wieder gut ... Das Leben heilt sich selbst aus. Diese Zeit zur Gesundung hat ein Lump ihr gewaltsam genommen – mit oder gegen ihren Willen, bleibt sich schließlich gleich. Wer kann unterscheiden, wie ernst, wie todernst ihr Wille war? Niemand! Sie selbst hätte es nicht gekonnt, sie zuallerletzt, Herr von Breuschheim! Wieviel Menschen gibt es denn, die nicht wenigstens einmal so gestorben sind« – er schlug sich mit der gewaltigen Hand auf die Stirn, daß es klatschte – »in ihren Gedanken«, er hämmerte auf die Brust: »Und hier! ... Sie leben. Sie sind innerlich gewachsen. Sie sind glücklich zu leben.«

»Viele«, sagte ich. »Nur nicht Aggie Ruf.«

»Warum nicht? Künstler sind Virtuosen im Verwinden des Leids. Ihre Werke haben alle zum Titel: Tod und Verklärung. Eines Tages hätte Aggie Ruf sich ihre Geschichte vom Hals geschrieben.«

»Verzeihung! Als Sie mir vorhin von ihren letzten Tagen erzählten, erwähnten Sie, worin das Genie Aggie Rufs nach Ihrer Meinung bestand. Sie nannten es ihre phantastische Jungfräulichkeit. O ja, von den beiden Worten ist jedes gleich wichtig! Sie war jungfräulich, und sie war phantastisch.«

»Und?« drängte er zornig. »Was weiter?«

»Gleich ... Ich suche nur nach dem treffenden Ausdruck ... Ja, lieber Freund, ein Liebesverhältnis, wie soll ich sagen, ist ein – Betrieb ... Ein Betrieb mit Verkehrsstörungen und Unfällen ... Wie sollte eine Aggie sich damit abfinden! Sie war viel zu phantastisch – so nannten Sie es doch? Im Grund war ihr Weltbild das eines frühreifen Mädchens, das mit gierigen, übergroßen Augen um sich späht und dennoch statt der fremden Gesichter nur ihre eigenen Gesichte sieht. So erging es ihr ja auch mit dem Mann und der Revolution und dem, was sie die Wirklichkeit nannte, es ist alles ein und dasselbe ... Das Kind hält sich für gerissen und ist es auch, wie Kinder gerissen sind. Aber nicht mehr.«

»Geschäftstüchtig war sie!« meinte Bieterle zerstreut.

»Sie tat nur so ... Und fuchtelte herum. Haben Sie Aggie einmal von der Mühe sprechen hören, die ihr die Verwaltung ihres Vermögens machte?« Er versicherte, das habe er oft gehört. »Nun also. Einmal erkundigte ich mich nach dieser Mühe. Sie bestand darin, daß Aggie ihr Vermögen seit dem Tod ihres Vaters liegengelassen hatte, ohne daran zu rühren.

Es waren zehn Jahre, in denen andre ihr Vermögen wer weiß wie vervielfachten. Ihr Geld lag in der Schweiz ... Immer sprach sie von Geld und war unfähig, damit umzugehn. Ich kenne das. Und dann ...« Als ich ihm zu lange schwieg, fragte er: »Und dann?« Ich trat ans Fenster. »Und dann? ... Das Leben konnte sie enttäuschen, aber nicht eines Bessern belehren. Ihre Erfahrungen konnten sie schwindlig und blind machen, jedoch weder aufklären noch festigen, sie mußte bleiben, was sie war, oder – es ging nicht mehr. Schauen Sie nur, wie die Vögel heute flattern, sie suchen ein dunkles Versteck und finden es nicht, weil alles blendet ...« Doch Bieterle gab sich nicht die Mühe, ins Freie zu schauen. »Hätte sie nicht ohne ihr Talent, das jede ihrer Regungen verriet«, sprach ich weiter, »für ein närrisches Frauenzimmer gegolten? Und, hören Sie, bitte – Aggie Ruf hatte kein Talent mehr, als sie die Todesfahrt von Silvio erzwang. Anders hätte sie ihr Leben für zu kostbar gehalten, um es aufs Spiel zu setzen. Sie glaubte an ihre Mission, sie lebte für sie ... Nein, vor ihr – war ihr Talent schon ermordet, ihr Glaube, ihre Mission, sie folgte ihnen nur in den Tod. Aggie hatte kein Talent mehr, und sie verhehlte es sich nicht.«

»Und Sie meinen«, fragte Bieterle und zog die Augenbrauen hoch, »Sie meinen im Ernst – weil sie nicht mehr jungfräulich war?«

»Ja, das meinte ich, im weitesten Sinne. Ihre Jungfräulichkeit war nicht nur körperlich, sie umfaßte ihr ganzes geistiges Leben, sie war ihr Wesen selbst. Sie durfte nicht verletzt werden – jedenfalls nicht so. Die Jungfräulichkeit war ihre innerste Berufung. Wie sie die Welt sah, das war das Werk ihrer ahnungsvollen Scham. Statt dessen wollte sie sein wie alle. Es kann aber nicht jeder sein wie alle, Herr Bieterle!«

Bieterle schüttelte heftig den Kopf.

Seit einer Weile blickte er zerstreut und verlegen, jetzt räusperte er sich, gab gewissermaßen einen Laut von sich, der seine rauhe Männlichkeit verriet, und er sagte: »Hören Sie, lieber Freund! Jungfräulichkeit ... Gewiß, ich sprach davon, aber –« Er hob die Schultern: »Eine Lappalie!« Schnell, um ihn am Weiterreden zu hindern, legte ich ihm die Arme auf die Schultern, die noch voll überlegenen Besserwissens hochstanden: »Sie glauben nicht, was Sie sagen.«

»Doch. Ich hätte sie vom Fleck weg geheiratet. Sie werden doch nicht behaupten wollen –«

»Das ist etwas andres«, versetzte ich zweideutig.

»Hören Sie«, sagte er, stand auf und kam dicht an mich heran. »Geben Sie mir auf eines Antwort: vor Ihrer Ehre und Ihrem Gewissen, glauben Sie, daß Silvio Wolf die Tat begangen hat?« Darauf konnte ich nur eines antworten: »Ich weiß nicht.« Er drang in mich, bat, flehte, er bückte sich, um mir ins Gesicht zu sehn, nahm meine Hand, wiederholte beschwörenden Tones die Frage. Ich verharrte in meiner undurchdringlichen Haltung, bis er es aufgab, mehr von mir erfahren zu wollen, als ich mit gutem Gewissen sagen konnte.

Da hörte ich, wie er eindringlich leise sagte:

»Halten Sie ihn für fähig dazu?«

Ich ging aus dem Zimmer.

Als ich nach kurzer Zeit zurückkam, stand er mit abgewandtem Gesicht fast ganz in der Ecke des Zimmers, wie ein Riesenkind, das vom Schicksal zur Strafe dahingestellt worden war. Er drehte sich auch nicht um, als ich hinter ihn trat.

Ich fragte mich, so versuchte ich zu scherzen, ob mein Freund Bieterle Straßburg hinter den deutschen Königen verlassen habe oder im Gefolge der törichten Jungfrauen. Und ich fragte mich weiter, was aus dem Adler geworden sei, der seine Jungen lehrte, in die Sonne zu schauen – man scheine das Vorbild des lichtfrohen Tieres ganz vergessen zu haben. Dies könnte nur seinen Grund darin haben, daß Freund Bieterle, ein Riese an Gestalt und Herz, den Blick starr der Finsternis zugekehrt halte, einer zimmerhohen Nacht ohne Sterne: »Aggie will nicht gerächt werden – begreifen Sie noch immer nicht? Sie hat doch deutlich genug alle, aber auch wirklich alle Vorkehrungen dagegen getroffen! ... Überlegen Sie einmal ...«

In Deutschland horste der Adler in jedem Dorf, versetzte Bieterle plötzlich und wandte sich mit einem Ruck nach mir um. Ganz Deutschland lehre die Jungen in die Sonne schauen. Und eines Tages würden sie fliegen!

Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück. Er erinnerte an einen Turm in süddeutscher Landschaft, den der Sommer mit der Macht der Fruchtbarkeit und des hochfahrenden Windes umgibt. Allmählich aber wurde es hell und still unter diesem Glanz, ein Lächeln, fest, gleichmäßig, senkte sich über sein Gesicht. Die Zuversicht machte ihn friedlich. Er war herrlich anzuschauen.

Ich schüttelte ihm die Hände und sagte: »Vielleicht ist es gar kein Adler, sondern ein Pelikan, wie Aggie Ruf meinte? Erinnern Sie sich? In Tourette? Sie hat es mir erzählt. Ein stiller Vogel also, der im Licht der Sonne die Jungen mit seinem Herzblut nährt, ohne an Rache zu denken?«

Er lachte dröhnend:

»Hahaha! ... Pelikane finden nicht mehr viel Abnehmer bei uns. Aber davon abgesehn – feilschen hilft nicht, es ist ein Adler!«


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