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Psychologie der Kleidung

I. Vom Geschmack in der Männerkleidung

In einer reichsdeutschen illustrierten Zeitung hab ich jüngst das Porträt eines (mir unbekannten) deutschen Bildhauers gesehen. Er war vom Photographen unter seinen Werken aufgenommen worden (auch dies nicht eben geschmackvoll). Neben edeln nackten Leibern und strengen Masken sah man da einen Mann mit ungepflegtem Kopf- und Barthaar in der scheusslichen Körperumhüllung, die der neuzeitliche Mann, zumal der deutsche Mann, ohne daran im geringsten Anstoss zu nehmen, täglich trägt und erträgt. Um so krasser für den anders, empfindlicher empfindenden Betrachter, als hier ein Künstler, also ein Mensch von angenommenermassen hoch entwickelter sinnlicher Artung, sich so barbarisch entstellt erwies. Man schliesst auf völligen Mangel an Geschmack. Und muss doch anderseits sich in diesem wie in allen ähnlichen Fällen aus dem vielleicht imponierenden Werk seines Geistes, seiner Hände einen Künstler bestätigen. So ist denn Geschmacklosigkeit, evidente Geschmacklosigkeit mit Künstlertum heute vereint und vereinbar. Unzählig sind die Beweise dafür. Nur eines noch – aus einem teilweis andern Gebiet – für tausend: gleichfalls in einer illustrierten reichsdeutschen Zeitung erinnere ich mich vor Jahren die Photographie eines berühmten deutschen Dichters gesehen zu haben, der in einer Landschaft mit seiner Frau zu einer unsäglich albern wirkenden Gruppe vereinigt dargestellt war: pathetisch-gelassen legte der Dichter, in der üblichen geschmacklosen Tracht moderner deutscher »Geistigen«, der Gattin die Hand auf die Schulter. Der Eindruck dieses Bildes haftet unverwüstlich in mir. Züge charakterisieren. In der »Gebärde«, der »Äusserung« steckt der ganze Mensch. Menschenkenner wie Stendhal, Mérimée, Bismarck erzählen immer nur Züge.

Mit der Tatsache, dass mehr oder minder künstlerische erfolgreiche Bestrebungen sich mit horrender Geschmacklosigkeit der Umgangsformen, der Erscheinung, der Lebensweise vereinigen lassen, muss man sich heute leider abfinden. Es ist dies mit ein Symptom unsrer an wahrer unbewusster Kultur gänzlich verarmten geschichtlichen Epoche. Kultur ist heut ein seltnes Besitztum sehr weniger. Ein eminentes Kulturzeichen aber ist die Kleidung. An und für sich, ganz abgesehen von ihrer Handhabung durch den einzelnen betrachtet, ist die heutige Männerkleidung überhaupt geschmacklos. Die Hosenröhren, die ärmellose Weste, der zwischen Sack- und Frackform schwankende Rock, der gesteifte Filzhut, die genähte, nur zu bestimmter Gestalt zu fügende Halsbinde, das teilweise gestärkte Hemd: alles ist unglücklich. Doppelt gefährlich dem aber, der sich im allgemeinen Rahmen verständnis- und sinnlos gefangen hält.

Das Grundgesetz »guter« Kleidung freilich müsste scheinbar paradoxerweise lauten: gut angezogen ist nur der, der nackt »gut angezogen« scheint, d. h. nur der Mann wird seine Kleidung gefällig zu tragen in der Lage sein, der sich selbst gefällig trägt. Aber es ist anderseits eine richtige Beobachtung, dass die athletisch oder skulpturmässig bestgebauten Menschen im allgemeinen in der heutigen Männertracht eine schlechte Figur machen.

Gehen wir dem Eindruck eines gut gekleideten Menschen – und es ist dies nicht etwa »Geschmacksache«, sondern Sache »des« Geschmacks – nach, so finden wir ein Gesetz auch auf diesem unbedeutenden Gebiete bestätigt, das sich etwa also ausdrücken lässt: gefällige Eindrücke werden nur durch den Rhythmus. Das Gesetz der Welt ist das Gesetz des Rhythmus. Und wie sich der Rhythmus des Universums bis ins Gebiet der leblosen Natur nachweisen lässt, so wird auch noch so willkürliches Menschenwerk der Vollkommenheit so nahe kommen, als es – Takt erweist. Das Geheimnis der Männerkleidung ist Takt.

Die Mode und ihre Vorschriften besagen gar nichts. Man kann ganz unmodern und doch trefflich gekleidet sein. Und man kann nach dem neuesten Journal und doch entsetzlich gekleidet sein. Die Kleidung muss ihrem Träger gemäss, sie muss von ihm »getragen« sein. Niemals »trägt« die Kleidung den Träger. Das ist ein grober Irrtum armer Selbsttäuscher.

Kehren wir zu unserm Bildhauer zurück. Ich löse den flüchtigen Eindruck in seine sachlichen Bestandteile auf, soweit ich sie – ich hatte das Blatt beim Friseur durchblättert – gegenwärtig habe. Der Mann hat einen unkleidsamen Hemdkragen, eine zu tief ausgeschnittene, über dem verweichlichten Leib in unzähligen hässlichen Falten – keinen »malerischen«! – verknüllte und verzogene Weste, irgendeine aufdringliche Uhrkette und einen offenbar in den Schultern schlecht sitzenden, um die Arme gleichfalls zerknüllten Rock. Dazu irgendeine (sicherlich festgenähte) unpassende Krawatte, etwa eine Schleife zu einer Tracht, die die Schleife »rhythmisch« ausschliesst. So wie er kleiden sich unter 100 Deutschen 97. Warum? Weil ihnen die Vorbilder fehlen? Nein. Weil fast nur schlechte Kleider gemacht werden. Und weil die wenigsten Menschen auf diesem Gebiete sich die Mühe nehmen, sehen zu lernen. Alles Lernen ist Erfahren durch Beispiel. Die Beispiele – daran ist unsre unkultivierte »Kultur« schuld – sind zumeist, zu neun Zehntel schlecht. Und die guten Beispiele sieht man nicht, weil sie entweder bereits geschulte Blicke verlangen oder sich durch die Exklusivität ihrer Betätigung (andre soziale Schichten) dem etwa Lernbegierigen sozusagen zeitlebens entziehen. Ein tieferer psychologischer Grund aber ist die vorwiegende Intellekt-, Hirn-»kultur« speziell des deutschen Mittelstandes. Der Deutsche lernt, was in den Schädel hineingeht. Aber er übersieht blind, was ihm die Sinne, noch so stumpf (und er hat sie seit langem abgestumpft) vermitteln. Kultur aber ist ohne gebildete Sinne unmöglich. Denn Kultur ist vorzüglich ein Sensuelles. Bildung ist noch lange nicht Kultur. Bildung kann Kultur sogar ausschliessen, Beweis dessen, dass gerade unsere gebildeten Kreise in allem, was das Substrat der Kultur ist: Lebensart, Milieu, Anzug, ärger als Kanibalen hausen, ohne es zu merken.

Und dass selbst höchste geistige, schöpferische Potenz Kultur ausschliesse, haben uns die beiden Beispiele gezeigt. Nun wird mir einer, werden mir hunderte antworten: Aber das, was du meinst, ist nicht Kultur. Kultur steckt im Herzen, im Kopf, in den geistigen Interessen, was weiss ich, wo noch, – nicht in diesem albernen Äusserlichkeiten, die du, geblendet, überschätzest. Auch im zerlumpten Kleide war Diogenes ein kultivierterer Mensch als – Halt, Verehrter, hier hab ich dich! »Auch im zerlumpten Kleide ...« Ja, wer spricht denn von mechanischen Defekten, wer spricht vom Mangel? Ich spreche von geschmackloser Kleidung. Aber, wenden wieder die Überlegenen ein, der Mann denkt gar nicht darüber nach, wie er aussieht. Er geht eben einfach zum Schneider und bestellt die unter Menschen notwendige Hülle seiner Leiblichkeit. Es ist ihm auch gleichgültig, wie ihr Schnitt ausfalle. Er hat Gescheiteres im Kopf ...

Dann geht mein Tadel eben auf den Schneider, am letzten Ende aber doch wieder auf die »Kunden«. Seht euch doch nur einmal Bilder aus früheren Zeiten an. Warum waren alle Menschen früher – ein Porträtwerk ist da sehr lehrreich – gut gekleidet? Der Schneider hat es damals wie heut gute gegeben und schlechte, Künstler, Fabrikanten und Stümper. Es muss doch in unsrer Zeit ein Element sein, das die jener ähnliche Wirkung der Schneiderei verhindert.

Die Menschen haben damals wie heute zum Teil über ihre Kleidung nachgedacht, zum Teil sie gedanken-, willen- und kritiklos hingenommen. Warum ist damals nur »gute«, nicht nur solide, sondern ästhetisch gute Ware geliefert worden? Antwort: weil damals Kultur bestanden hat. Es hat damals auch keine schlechten Bauten gegeben. Absolut keine. Die haben wir erst »errungen«. Es hat überhaupt – in den wüstesten Zeiten – Geschmack gegeben, nicht als ein anerkanntes Besitztum, sondern als ein unwägbares Ferment der Epochen.

Betrachtet doch – noch einmal – neuere und gegenüber ältere Bilder. Warum sehen deutsche Männer und Frauen auf allen älteren Bildern geschmackvoll, auf den meisten neuen geschmacklos aus? Nicht nur, weil die heutige Kleidung geschmacklos ist. Sie ist es nicht in dem Masse, nicht so absolut (ich werde sogleich am gefährlichsten Kapitel, der früher angedeuteten scheinbar rettungslosen Männertracht, zeigen, dass sie geschmackvoll wirken könne). Nein, diese deutschen Männer und Frauen sind sozusagen konstitutionell geschmacklos, ihre sinnliche Unkultur sitzt in ihren Knochen, hat sich »den Körper gebaut«. Man »trägt sich« schlecht heute, man ist gebildet und – mit Busch – damit gut. Sind wirs denn nicht überhaupt, nämlich geschmacklos? Könnt ihr euch denn wirklich vorstellen, dass unsre Grosseltern in den Negerpalästen sich gefallen hätten, in denen ihr unbedenklich wohnet, dass sie sich die geschmacklosen Bücher dieser Zeit – sie datiert seit 50 Jahren – hätten gefallen lassen, den ganzen dem bessern Menschen so entsetzlich auf die Nerven gehenden falschen Prunk eurer »schönen« Aussenwelt?

Mit nichten. Man braucht keinen Athener, keinen Florentiner des 16. Jahrhunderts, keine Marquise des 18. aufzurufen, um sichs zu beweisen, dass wir in einer ordinären Zeit leben. Die Grosseltern genügen. Seht nur die Bilder eurer Ahnen an, ob sie Grafen seien oder Bäcker. Das ganze sichtbare, hörbare, fühlbare Leben noch der Grossmutterzeit hatte Stil. Wir haben dafür – den Telegraphen im Dienste des Reporters. Das sagt alles. Unsere schnöde Zeitungs- und schnödere »Individualitäts«ära zeugt für unsere Bedürfnisse, unser Gefallen. Der Massenrhythmus fehlt. Der einzelne lebt sich schäbig aus. Und die schäbige Surrogatkultur dient ihm auf Schritt und Tritt. Das Gute ist heut unerschwinglich. Und das Beste ist – im Zerrbild jedermann zugänglich. Was früher ein Fest gewesen ist, eine Feierlichkeit, ist heute Fünfpfennigbazargelegenheit. Und der kolossale Aufschwung der technischen Wissenschaft, all unsre verehrungswürdigen Maschinen: wem sind sie verfront? Dem Bedürfnis des unerzogenen, armseligen Individuums.

Betretet eine eurer gerühmten Ausstellungen, die stolze Heerschau darbietet über Geleistetes. Was erblickt ihr in hunderttausend Exemplaren? Die Pofelware, den Schund, den Kitsch, das Kulturverbrechen. Es gibt – Zelluloidfabriken! Bedarf es noch anderer Belege für den Tiefstand unsrer »Entwicklung«? Wahrlich, ich sage euch: wir haben uns nur zurückentwickelt. Siegesalleen und die sonstige ditto Kunst unsrer Tage wären vor fünfzig Jahren noch ebensowenig möglich gewesen wie die goldgepressten Leinwandbände unsrer 2 Mark 50-Klassiker oder der Gummizugschuh.

Ein interessantes Beispiel: das Augenglas, die Brille. Es hat ihrer schon vor hundert und dreihundert Jahren gegeben. Heut aber gibt es nur eine gute Art des »Zwickers«, eine ganz bestimmte, unverkennbare, den randgeschliffenen, uneingefassten, mit dem schmalen farblosen Nasenbügel – und was tragen alle eure Gelehrten, Advokaten, Dichter, Beamten usw.? Jeder einen andern, jeder einen anders scheusslichen. Das Augenglas des Grossvaters aber ist dem feinen, beseelten Auge des Betrachters ebenso ein Labsal wie eine antike Lampe gegenüber einer neuzeitlichen aus renaissancegestanztem Bronzeguss.

Noch ein bezeichnendes Beispiel fällt mir ein (ich glaube es schon einmal zitiert zu haben; das nimmt ihm nichts von seiner Trefflichkeit). Vor fünfzig bis vierzig Jahren noch gab es überhaupt nur Männerhemden aus einem Stück. Die »Errungenschaft« sind die anzuknöpfende Manschette, der anzuknöpfende Kragen, eine Errungenschaft für Negerhäuptlinge.


Wer ist gut angezogen? Die höheren gesellschaftlichen Klassen. Warum? Weil sie mehr Geld haben und mehr Geld und Zeit darauf verwenden? Immerhin eine Erklärung. Aber das Wesentliche sagt sie nicht, denn auch der Parvenu verwendet Zeit und Geld darauf, nur ohne Erfolg. Und anderseits wenden sehr viele Mitglieder der sogenannten (und mit Fug sogenannten) höhern Klassen weder Zeit noch Geld darauf und sehen doch gut aus. Warum also? Weil sie Geschmack haben. Was ist aber Geschmack? Geschmack ist nichts als Takt, das ist Gefühl für Rhythmus. Der wirklich geschmackvolle Mensch findet Dinge unerträglich, die »Künstler« verzückt bewundern. Es gibt eben einen höheren Geschmack als »künstlerischen«.

»Künstlerische« Trachten z. B. sind fast immer geschmacklos. (Man denke nur an den Greuel der künstlerischen Frauenmoden!! Die kleinste Wiener Kontoristin hat mehr Geschmack als so ein kunstverblendeter Künstler.) Dagegen Nationaltrachten. Welcher Reichtum! Ebenso ist die Natur niemals geschmacklos. Warum? Weil sie Natur, d. h. organisch ist. Alles Unorganische, alles Gemachte ist geschmacklos. Auch Männerkleider müssen organisch sein, d. h. »sitzen«. Darin liegt das offene Geheimnis. Gut gekleidet ist der, dem der Anzug »steht«, dem der Rock »sitzt«. Nicht »wie angegossen«; das kann furchtbar geschmacklos sein. Aber wie eine Fortsetzung des Trägers, eine Fortsetzung des nackten »Anzugs«. Der vortrefflichste Schneider kann einem, der den Anzug nicht zu »tragen« imstande ist, keine »Figur« machen. Es wird einen Anzug geben – und daneben einen, der gern eine Beziehung dazu hätte, aber keine erlangt.


Mit Befremden sehe ich manchmal in sogenannte »Modeberichte«. Ich habe fast immer gefunden, dass so ziemlich alles, was in einem solchen funkelnagelneuen Bericht »aus Paris« steht, falsch ist. Das heisst: nichts von dem, was da angegeben wird, trägt »man«. Weder »muss« der Seiner-selbst-Sichere vom März des laufenden Jahres ab diese und jene Krawatte tragen, noch gibt es ihm einen Ruck, wenn er vernimmt, dass »die Modefarbe grau ist«. Das kommt mir so vor wie die gewissen Nouveautés (»letzte Fashion« etc.!) der grossen Warenhäuser: 15 oder 500 gleiche Krawatten à ... im Schaufenster. Armer Modejüngling, der du beglückt für dein Bargeld den Schlüssel zur letzten Salonfähigkeit erstanden zu haben wähnst, wenn du dem Laden einen Besuch abgestattet hast! – Ich wende mich beileibe nicht gegen die »Mode«. Die Mode ist ein Ausdruck unwägbarer, unkontrollierbarer Richtungen, Neigungen, Schwankungen. Das, was innerhalb der Mode von den einzig Massgeblichen – den zwei, drei, zwanzig, zweihundert wirklich gut gekleideten Menschen – angenommen wird, verleugnet seinen Charakter als »Letztes« durchaus nicht. Und anderseits: wenn die Mode allgemein wird, hat sie bereits längst auf ihrem eigentlichen Ehrgeizgebiet – im Reich der Massgeblichen – ausgespielt.

Die Mode hinkt zumeist dem Geschmack und seiner Laune nach. Verlassen kann man sich nie auf sie. Aber dem Geschmackvollen kann auch niemals etwas »passieren«. Er mag geruhig die Mode auf einem Dornröschenschlosse verschlafen. Er kommt immer zurecht. Denn er hat, wie alle Körper, die Schwerkraft, das Gesetz in sich. Beflissenen muss man immer wieder mit dem Metronom nachhelfen. Und sie werden niemals die nachtwandlerische Sicherheit der Auserwählten erlangen.

Mit Mitleiden lese ich auch gelegentlich in den Zeitungen, der und jener Schauspieler habe eine Mode angegeben, habe, wie sich der begeisterte Zeitungsmann ausdrückt, tonangebend gewirkt. Welche armselige Verblendung! Bedarf denn das wirklich vornehme Milieu eines Winkes von den »welt«bedeutenden Brettern herab?! Solche Vorstellungen kann nur ein Sonntagsfeuilletonist aushecken. Er sieht entzückt tonangebende Schauspieler und überhört den »tönenden« Herrn neben sich, der ihm, weist man ihn etwa auf ihn, »unmodern« erscheinen mag.

Bestes Material, sorgfältigste Arbeit und den angebornen Sinn dafür. Aber du, berauschter Modereporter, fasle weiter von Tonangebenden!

II. Die Schönheit der Männertracht

Eine ehrlich entrüstete Dame hat mir einen Ausschnitt aus einem Berliner Blatte gesandt und von mir öffentliche Abwehr einer Anregung begehrt, die freilich an Geschmacklosigkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Ein deutscher Schriftsteller – wem anders als einem Literaten und einem deutschen hätte auch der Einfall kommen können – schlägt allen Ernstes vor, dass zur Erhöhung der Festlichkeit unsrer Schauspiele die männlichen Zuschauer statt der »Uniform« der schwarzen »unkorrekte« und »bunte« Röcke tragen sollen, »jeder nach seinem Wesen und seinem Gesicht, festlich in den Stoffen und Farben, unfestlich im Schnitt«. Die traurige Begriffsverwirrung, die einer als ehrlichen Gefühlsäusserung immerhin achtbaren Einzelmeinung zugrunde liegt, ist symptomatisch für die neudeutsche Auffassung von Kultur. Zugegeben, das »Festkleid« der Männer habe in der Gleichförmigkeit seines Schnittes, seiner Farbe etwas Uniformmässiges: ist es an dem einzelnen, sich darüber hinauszusetzen? Hat es ein einzelner etwa angeordnet, kann ein einzelner das Gebot aufheben? Und gesetzt, es wäre dem Impuls eines einzelnen zuzutrauen, dass er das Wesen der Männerkleidung von heut auf morgen änderte, müsste solche Willkür nicht im Gegensatz zur Evolution der Kultur Revolution der Barbarei heissen? Immer wieder sei es Tauben gepredigt: Kultur macht man nicht, Kultur wird.

Als symptomatisch habe ich diese Begriffsverwirrung bezeichnet, denn sie ist nur ein Element im Getriebe misslicher heutiger »Bestrebungen«. Man verkennt in unserm Zeitalter einer schlechtverdauten Individualitätsphilosophie völlig die wohltätige Mission der anonymen Masse. Auf allen eigentlichen menschlichen Lebensgebieten – den Gegensatz möchte ich im Erleben sehen, dem weitesten Sinn auch des Schöpfertums – hat der einzelne sozusagen die Pflicht, schweigend mitzugehen. Wenn sich alle gegeneinander vereinzelt bewegen, entsteht Anarchie. Auch der Staat wurzelt im Mitgängertum. Die Geschichte lehrt uns die Phasen der Entwicklung beurteilen. Wir vergleichen den Weg mit den erkannten Zielen – die den Wanderern als Ziele noch nicht kenntlich gewesen sind. Es ist der Irrtum der Heutigen – ihr Stigma ist die nicht verarbeitete, die Halbbildung –, dass sie den Fluss des Werdens durch doktrinäre Ungebärdigkeit zu hemmen unternehmen.

Ein Beispiel: unsre Architektur. Wir haben keine. Das will man nicht einsehen, sondern erzwingt sie. Die Folge ist das entsetzliche Chaos unserer Bauten. Fern sei es von mir, dem schöpferischen Einzelwillen mit der Gleichheitspolizei zu drohen. Der Schöpfer hat immer recht. Er schafft, indem er sich ausdrückt. Aber er bleibt notwendigerweise vereinzelt. Das verkennt man. Man vereinigt sich zu Schöpfungen. Das Ergebnis ist für den Beobachter all dieser schädlichen Irrtümer schmerzlich: er sieht »Richtungen« aufgebauscht, deren Träger vereinzelt keinerlei Legitimation zur Führerschaft besässen, zu Konventikeln vereinigt aber Urteilslose und Neugierige sich zur Gemeinde zwingen.

Die »künstlerische Frauentracht« ist ein geringfügiges Kapitel in dieser Geschichte des neuzeitlichen Kulturwahns. Irgendein passabler Maler – es gibt heute unzählige passable Maler; als Kulturerscheinung steht diese ganze Malerei tief unter den Erzeugnissen einer barbarischen Volkskunst; sie wertet als harmlose Spielerei – »erfindet« ein Gewand. Wenn zwanzig solche überflüssige Maler jeder ein Gewand konstruiert haben, ist die sonst unschuldige Betätigung des müssigen Spieltriebes bereits eine »Bewegung« geworden. Die deutsche Frau der rasch zu kleinem Wohlstand gediehenen Mittelschicht, deren Geschmackssinn notorisch unentwickelt ist, fällt auf die nicht einmal als Marotte schätzbare Willkürlichkeit herein, und bald sieht der wohlerzogene Zeitgenosse schaudernd, wie sich natürliche Ungrazie eines ungeübten Körpers durch wüsten Firlefanz »künstlerischen« Zierats aufdringlich bemerkbar macht.

Nun kommt ein »Dichter« gar mit männlicher Kleider-Freiheit! Die Elemente guter Kleidung sind in Deutschland noch nicht einmal im rohesten Umriss bekannt. Aber schon will man »individualisieren«.

Ecrasez l'infame! Zurück in die wohltätige Unscheinbarkeit der sogenannten Uniform, die ihr noch lange, lange nicht einmal zu tragen imstande seid!

Die Schönheit der heutigen Männertracht ist in ihrer Nüchternheit begründet. Nur dem allerfeinsten Geschmack ist leise Nuancierung der diskreten Farbigkeit gestattet.

Denn gewiss sind Form und Farbe die Faktoren der sinnlichen Schönheit. Aber Gott bewahre uns vor der Entfesslung des individuellen Geschmacks auf diesem Gebiete! Wir haben schon genug an individueller Architektur, individueller Innendekoration und »angewandter Kunst«. Unsre Zeit – dies ist Höherstehenden ein Axiom – verschmäht instinktiv das dekorative Element ausserhalb des Gebietes reiner Kunst. Ihr Sinn ist anständige Brauchbarkeit jeglichen Gerätes, ein Sinn freilich, den die wenigsten auch nur ahnen. Was in unsrer Zeit an Farbigkeit noch lebt, ist der vornehme Atavismus des Kultus und der militärischen Uniform (und das modernste Militär geht schon davon ab zur zweckmässigen Mimicry). Endlich die Frauentoilette. Hier, wo der Geschmack der Anmut naturgemäss waltet (trotz den den Sinn der Frau bedrohenden Bestrebungen einer doktrinären Emanzipation), sind Form und Farbe frei, aber beileibe nicht dem belanglosen Individuum. Praktisch ja leider wohl. Und man betrachte selbst in hiezu natürlich begabten Ländern, Österreich z. B., die armselige Emanation dieser Freiheit in einem unerzogenen, grobsinnigen Mittelstande. Die Mode ist ein Luxusprodukt. Die Gesetzgeberin ist also die Dame. Nur die Dame – das Produkt und die Trägerin des verfeinerten Lebensstil – darf apart sein (und ihr pikantes Gegenspiel und im Gesamtbild mondäner Kultur wohl nicht ohne ästhetische Einbusse zu missendes Zerrbild: die Kokotte). Aber die Köchin im äffischen Sonntagsstaat, das ist so recht der Ausdruck für unsre triste gesellschaftliche Anarchie. Nur Klassen, deutlich geschiedene Kasten, setzen eine rhythmische Gesellschaft zusammen. Seit der Bauer, seine herrlich bodenständige Tracht verschmähend, sich städtisch trägt, ist er um sein Kulturerbe, das ihm gemässe, gekommen.

Die Schönheit der Männerkleidung besteht im Takt der Zusamenstellung. Es ist keineswegs gleichgültig, was man zusammenfügt. Willkür wirkt geschmacklos. Und da sei auch ein oft missverstandenes Kapitel gestreift: der sogenannte Zwang der Anstandstracht. Er ist heilsam, dieser Zwang. Strengste Regeln sollten den Touristen in Alpentracht aus dem Speisesaal des Hotels verweisen. Er hätte seine Unart – denn Unart ist sein Verlangen, unvorbereitet einzutreten in den Kreis der Sorgfältigen – durch deutliche Missachtung zu büssen. Ich liebe den Lodenrock, die lederne Hose: ich fühle mich unendlich wohl in dieser eine Tradition des Naturdienstes verkündenden Tracht. Aber ich fühle mich ebenso wohl im Frackanzug, wo ihn die Situation erfordert. Der Zwanglosigkeit gewisser gesellschaftlicher Zusammenkünfte habe ich nie Geschmack abgewinnen können. Die Sitte ist ein Bildungsmittel allerersten Ranges. Heil der Sitte, heil ihrem erzieherischen Zwange!

Fluch der Unsitte, zumal wenn sie missverstehenden Protest bedeutet! Es ist ein arger Irrtum, wenn man Zuchtlosigkeit mit Freiheit verwechselt. Wo bliebe der Anstand, wenn man in diesem Sinne Freiheit walten liesse? Gehen, essen, sprechen, alles muss man lernen. Glücklich der Mensch, dem eine gute Erziehung zuteil geworden ist. Es muss ein sehr seltnes Glück sein, denn ich sehe entsetzlich viele arme unerzogene Menschen. Wie jämmerlich ein unerzogener Mensch wirkt, wenn er sich als gebildet erweist, ist gar nicht zu sagen. Leider aber glaubt der Deutsche durch geistige Bildung alles ersetzen zu können, was ihm an Sitte und Sinn dafür abgeht. Der Verstand ist eine schöne Sache, die Vernunft ist mehr. Und es ist unvernünftig, dort verständig sein zu wollen, wo Höheres gebietet, vernunftlose Musik, Takt. Was ist an unsrer heutigen Damentoilette so wunderschön? (Und ich bekenne gern, dass sie entzückend ist.) Es ist der vollendete Klang der verhüllten, aber betonten Körperform. Das Gesetz des Körpers betätigt sich in Freiheit, und seine Wirkung ist Mass. Man kann das Tempo dieses Masses beschleunigen oder verlangsamen, das ist Sache des Geschickes und bedingt durch die Körperverhältnisse. Der Mann operiert durch seine Kleidung mit seinem Körper ähnlich. Aber wenn es das Wesen der Frauenschönheit ist, zu musizieren (Reiz ist ihre Seele), hat der Mann, dunkler, gehaltener, das Beweglichere der Anmut zu begleiten. Ein niedlicher, ein zierlicher, ein geschniegelter Mann wirkt lächerlich, denn seine Art ist in der Kontur der Kraft, im Ausdruck des Geistes, im Zug der Energie gezeichnet. Aber Kraft betont sich nicht am Speisetische, im Salon. Während der Sportanzug, zumal im gegliederten Beinkleid, dem Körper des Mannes zu seiner Kraftform verhilft, hüllt ihn der Strassen-, der Zimmeranzug ins Unscheinbare der modernen sozialen, einer vorzugsweise unkörperlichen Wirksamkeit.

Das Gemach des steinernen Stadthauses hat nichts mit der Natur zu tun. Wir Städter leben in einer »unnatürlichen« Welt, die wir selbst gestalten. Je nüchterner, um so angemessener. Und wenn wir Feste des Geistes feiern, beteiligen wir uns nicht dekorativ daran, sondern als anonyme Geniesser. In dieser Anonymität liegt mit ein Teil unsrer stärksten Kultur.


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