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Vom Geschmack

Dass über ihn nicht zu streiten sei, ist, obwohl es ein Sprichwort behauptet, richtig. Aber in dem Sinne nur, dass, wer ihn nicht hat, ihn nicht erwerben kann. Denn es gibt »ihn«. Und er ist immer sich selbst gleich. Der Geschmack nämlich, dessen Plural nicht »die Geschmäcker« lautet.

Wer Geschmack hat, lebt nicht leicht. Denn er ist umringt, umwimmelt von solchen, die »seiner« nicht teilhaftig geworden sind, leider aber trotzdem ihren betätigen ... Und wie der einzelne heute seiner – es sei nur geradezu gesagt – an Geschmack bis auf die Knochen verarmten Zeit, so stehen geschmackvolle Zeiten, Zeitalter, Epochen andern gegenüber.

Was ist Geschmack? Ein Unwägbares, eine Kraft, ein Zustand, eine Tatsache. Dem Geschmackvollen ist das Geschmacklose ein Rätsel. Nicht umgekehrt. Denn der Geschmacklose sieht gar nicht das Geschmackvolle in seiner ewigen Herrlichkeit. Säh' er's – er wäre nicht geschmacklos. Geschmack ist mit hoher Intelligenz vereinbar; auch Geschmacklosigkeit. Geschmack ist mit völliger Naivität vereinbar; auch Geschmacklosigkeit.

Eines schliesst den Geschmack aus: Absichtlichkeit. Absichtliches ist immer geschmacklos. Aber alles Geschmackvolle ist notwendig. Mode scheint Willkür. Dem ist nicht so. Es gibt eine unwillkürliche Mode. Die geschmackvolle. Noch ein Beispiel. Alle Reform ist geschmacklos. (Siehe die »Reform«-Tracht. Ich bin davon überzeugt, man ahnt in sogenannten kulturbewussten Kreisen nicht, bis zu welchem Grade dem Geschmackvollen »Reform« auf dem Gebiete der Mode zuwider ist.) Der Geschmackvolle sagt zu geschmackvollen Dingen nichts als ein stilles Du. Sein ebenso stilles Sie vor geschmacklosen Dingen ist das Abweisendste an Distanzgebot, was erdenkbar ist. Aber das fröhlich-freche Geschmacklose hat davon keine Ahnung.

Man hört und sieht in unsrer armen, verwirrtverworrenen Zeit immer wieder »Bewegungen«. Allerlei mehr oder weniger unbefugte Menschen sind darauf aus – »darauf aus« sind stets Unbefugte –, dies und das darzutun: sie stellen auf und aus, werben, rüsten, wirken und »lösen Bewegungen aus«. Es gibt entsetzlich viel »Bewegungen« heute. Ein Merkzeichen für harmlose Gemüter, die sich manchmal gern etwas sagen lassen: Wo du Bewegungen »sich auslösen« siehst, dort gedeiht das Geschmacklose.

Es gibt keine »Buchkunst« für bessere Menschen. Es gibt nur – und hat immer, früher freilich allgemein und heute selten, gegeben – gute Bücher, gut, das heisst in richtigem Verhältnis aller Faktoren (Type, Papier, Umschlag usw.) hergestellte Bücher. Es gibt auch keine »neue« Musik, keinen »neuen« Stil usw. – für bessere Menschen. Der Geschmack ist alt, das heisst ewigjung. Er altert nicht, veraltet nicht. Alles Neue veraltet. Ein grosser Künstler ist allen grossen Künstlern aller Zeiten blutsverwandt. Kein Grund zur Aufregung für bessere Menschen. Nur die andern, die minderen Menschen regen sich immer wieder – ohne innerlichen Erfolg – an Unerhörtem auf. Eine Anstandsregel für arglose Gemüter: Wo Lärm ist, da kehr um. Es ist nichts daran. Noch eine Regel für Arglose, Ratlose: Alles Bedeutende ist menschlich. Unmenschliches ist immer ohne Bedeutung. Das grosse Menschliche flösst Ehrfurcht und Staunen ein. Das kleine Menschliche Mitleid. Aber das Unmenschliche, alles Zusammenhanglose lässt kalt. Es sind nur Gehirnräusche, nicht Herzensräusche, die dir dort entgehen, wo Lärm ist. Das Geschmackvolle vermeidet den Lärm, den Lärm der Linien wie den Lärm der Farben und Töne.

Das Geschmackvolle ist immer inkognito. Armer Reicher, der du dich manchmal – es gibt solche Zuckungen der Ungeduld – bemühst, das Wesen dieses Inkognito zu verdeutlichen. Gib's auf, gib's auf, zumal heute, da alles zur Undeutlichkeit sich drängt.

Es nützt nichts, es muss gesagt werden: unsre Zeit ist dem Geschmackvollen instinktmässig feindlich. Es ist zuviel armseliger Intellekt in dieser Zeit. Nicht der reine, luftreinigende Intellekt sich auf sich selbst besinnender Epochen. Ein Surrogatintellekt, ein gemeiner, aus dem Mund riechender Intellekt, der richtige protzende Parvenu-Intellekt. Allenthalben sieht man ihn am Werk. Er feiert sich täglich selbst. Wie eine in der Nähe kaum bemerkbare, aus einiger Entfernung und – Höhe aber widerlich dicke Luftschicht liegt er über dem, webt er in dem was »wir« heute Kultur nennen. Harmlosen zur Lehre: wir haben keine, nicht die Spur davon! Zumal das, was sich als Kultur aufspielt, ist dem, was Besseren, Einsamen, Melancholischen, Unzeitgemässen wahre Kultur bedeutet, so fern wie der Mädchenhändler dem Gentleman. Ein Zuhältertum niedrigster Art ist diese ganze absichtliche, patzig aufgetragene, zerspringende und zerbröckelnde Kultur, die uns auf Schritt und Tritt belästigt wie der Geruch geöffneter Gasrohrleitungen. Was helfen alle »Errungenschaften«, was beweisen sie? Barbaren, über dir, Simson!

Der Snob ist der Mann des Tages. In der Literatur, in der bildenden Kunst, in der Musik hat er sich festgesetzt. Da tut er, »als ob«, nimmt's Maul voll und spuckt beim Sprechen dem Hörer vor widerlichem Eifer ins Gesicht. Wortkultur, Speichelkultur. Es wendet sich der Wehrlose voll Grausen ... Und die gefährlichste Emanation dieses modernen Snobismus ist die »höhere«. »Wir geistigen Menschen!« Man verschluckt ein grobes Schimpfwort, ein irdisches, allzu irdisches (selbst verschluckt tut's wohl). Wir nennen sie verächtlich Humbug, diese »höhere« Emanation, und gehen weg, zu uns, ganz in uns selbst zurück. Und da, im Tiefsten, wissen wir, was wir haben: ein unsichtbares Königreich der Seele, die Heimat aller heimlichen Schätze: Ehrfurcht, Treue, Liebe.


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