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Die Kunst-Seuche

I. Das Chaos

 

Motto:

Du musst es dreimal sagen ...
(Mephistopheles)

 

Man muss es aber mehr als dreimal, immer wieder muss man's sagen: Die Industrie hat die Kultur erwürgt. Den »Fortschritt« vom Schuster zum Schuhfabrikanten hat die Menschheit mit der Verschlechterung des Schuhwerks teuer am eignen Leibe bezahlt. Und so tritt allüberall an die Stelle tüchtiger persönlicher Leistung das anonyme Produkt des »Herstellungsprozesses«. Das schändlichste Kapitel in dieser Epopöe des Jahrhundertjammers heisst: Kunstindustrie. Hohn schon im Namen, der seiner selbst spottet. Und das Werk? Eine traurige Parodie seliger Zeiten, da Kunst, grösste Kunst, alltäglich war. Kunst in Masse für die Masse! Eine Sintflut nur vermöchte dem Unheil abzuhelfen. Denn hier kann keine noch so künstlerische Erziehung sich's zutrauen, auch nur Wandel zu schaffen. Die Bessern wissen's ja und geben's den Bessern weiter. Wer aber rettet sie selbst vor den Leiden der Mitbürgerschaft, des Zeitgenossentums? Die Kunstindustrie, verstösst man sie mit einem Fusstritt aus seinem Heim, drängt sich einem gleich vor der Tür wieder auf. Sie grassiert ja allenthalben. Denkmäler (wir hinterlassen die Schande kommenden Geschlechtern!) und Portale, Kandelaber und Plakate, Schaufenster, Markthallen, Theater und Speisehäuser, Parlaments- und Vereins-Gebäude, Vortragssäle, Arbeiterheime, alles speit dir grinsend Kunst entgegen. Das Bedürfnis nach diesem ordinären Firlefanz der Säulen, Masken, Urnen und Köpfe, Glas-, Wand- und Holzbesudelung, der Arabesken, Quasten, Zacken, Knäufe, der Friese, Reliefs und Bekrönungen ist zur unantastbaren Konvention geworden. Wie man jetzt löblicher-, aber wohl vergeblicherweise versucht, dem Schundroman den braven Wechselbalg gesunder Volkslektüre heimlich-wohltätig unterzuschieben, so hat ein emsiges Geschlecht von sehnsüchtigen und humanen Künstlern sich längst bemüht, jenem Bedürfnis, zunächst unerkannt, durch echte Gabe leise (und nachgerade etwas lauter schon) entgegenzukommen. Umsonst. Ich habe jüngst ein Tapetenmusterbuch einer ersten Wiener Firma durchgeblättert. Entsetzlich! Unter den Hunderten von Vorlagen habe ich eine einzige geschmackvolle, in Ton und Stimmung gefällige gefunden. Heute – 15. Oktober 1909, zwei Jahre nachdem ich dies niedergeschrieben hatte – genau dasselbe Erlebnis, nur potenziert: ich habe kein annehmbares Muster gefunden! Die Industrie schafft unentwegt den Unrat, darin die bürgerliche Welt behaglich sinnlos weiterwatet. Sie »adaptiert« eine »neue« Nummer, das ist alles. Und was sie an Anregungen übernimmt, wird ihr bald ähnlich: gemein. Man denke nur – eine Gänsehaut! – an die »Galanteriewaren«. (Ein Athener, auferstanden, vor dem Schaufenster einer Galanteriewarenhandlung oder eines Bazarausverkaufs!!)

Tritt ein in irgendein Haus. Sieh dich um. Im Treppenraum beginnt's. »Kunst« bedroht dich sofort. Klinken, Geländer, Fenster, Lampen, der Aufzugkasten, Türaufsätze, Briefkästchen, Visitenkartenrähmchen, alles miaut und gröhlt Kunst. Und innerhalb der Wohnungen: wie wird dir vor diesem ekeln Kunstaussatz? Tapeten, Vorhänge, Tischdecken, Teppiche, Geschirr, Polster, Vasen, die Möbel selbst, jedwedes, das kleinste Gerät: es wimmelt von getriebenen und geätzten, gewebten und gedruckten, geklebten und genagelten Zieraten. Versuch nur in einer Niederlage elektrischer Beleuchtungskörper eine Anzahl glatter, bescheidener Stücke aufzutreiben; dir beim Silberhändler eine vornehm-schlicht wirkende Toilettetischgarnitur vorlegen zu lassen; beim Papierhändler einen einfachen Wandkalender. Du hörst es immer wieder: »Die Dinge werden nicht verlangt.« Und anderseits beim scheusslichsten Gemächte: »Hier, bitte, wäre etwas ganz neues: Sezession.«

Der Gasarm im Vorzimmer, das Waschbecken, der Ofen, die Briefwage, der Markenbefeuchter, das Notenpult, der Lampenzylinderdeckel: alles ist von schnöder Kunst verderbt. Ich trete in ein einsames Bergwirtshaus. Was beleidigt sofort mein im heiligen Wald von triefender Grossstadthässlichkeit gereinigtes Auge? Eine bronzierte Gipsgruppe in Relief, ein Öldruck, eine Renaissance-Hängelampe, ein Zündholzständer »Betendes Kind«, ein zweiter, zugleich Schulvereinssammelbüchse, aus buntlackiertem Blech. Die Kinder aber spielen mit einer Badepuppe aus Celluloid ...

Setz dich zu Tisch in einem unsrer grossen Hotels. Prunkt's nicht um dich von Draperien, Gold und Kristall? Alles halb und falsch und gleissend, zu früher Schäbigkeit verurteilt.

Und glaubet nicht, dass ich, ein für Wandel und Renaissance, Aufschwung und neue Ziele Blinder, von einer kaum verwundnen Zeit der Plüsch-Prachtalbums, der Gold-, Brokat- und Damastprotzerei einer bauchblähenden Karyathiden-Epoche spreche! Gegenwärtiges schau' ich schaudernd.

Ich sehe nur ein Chaos, kann einen assyrischen Tempel mit harfenschlagenden, wurmartig sich windenden Jungfrauen auf den gekalkten Wänden neben und gegenüber schmutziggelben Zinsmonstren nicht um ein Quentchen geschmackvoller finden. Nur Snobismus wird so im gern tändelnden Publikum gezüchtet, und im Grund ist es artistische Spielerei eines einzelnen.

Und bei all dem Grausen des Schmuck- und Kunstunfugs zu denken, dass Adalbert Stifter im »Nachsommer« seitenlang sinnvoll edle Geräte seiner Zeit, der fünfziger Jahre, beschreibt! Vinetaklänge!

II. Das Ornament

Wenn sich der nachdenkliche Zeitgenosse, den die heute wuchernde Kultur des Sichtbaren tief verdriesst, ja traurig macht, ernstlich befragt, woran es liege, dass die Welt, soweit sie Menschenwerk ist, gar so hässlich und peinlich geworden sei, wird ihm, sofern er helle Augen und einige Anlagen zur Freude am Schönen besitzt, die Antwort werden: Der böse Feind ist das Ornament.

Wohin immer man blickt, grinst es einem entgegen: an Beleuchtungskörpern (ein niedliches Wort!), über Portalen, an jeglichem Gerät in öffentlichen und häuslichen Stätten.

Das Ornament ist äusserlich ein Mehr, etwas Überflüssiges, innerlich etwas »Zweckloses«. Das Schöne hat keinen andern Zweck, als schön zu sein. Aber es hat nicht die Absicht, schön zu sein. Es ist schön. Mörike drückt die ewige Wahrheit also aus: »Was aber schön ist, selig ist es in ihm (sic) selbst.« Das Schöne ist der ins Unendliche variable Ausdruck des Insichselbstgeschlossenen, des Vollkommenen, ein Infinitesimalproblem. Das Schöne lebt nicht nach Regeln, sondern kraft seines (immanenten) Gesetzes. Harmonie ist das Empfänglichen unmittelbar gewisse Wesen des Einheitlichen. Willkür ist mit der Schönheitswirkung unverträglich. Jede schöne Schöpfung von Menschenhand gehorcht unwiderleglichen Geboten ihres mystischen Mittelpunkts.

Zweierlei ergibt sich aus diesen Variationen eines dem Künstler als Axiom gültigen Themas für das Ornament, den Zierat: Der Zierat muss, wenn er seine Bestimmung erreichen will, in sich selbst zusammenhängen; er muss, da er ein Mehr ist, mit seinem Träger zusammenhängen.

Den Zusammenhang »in sich selbst« bedingt die innere Wahrheit des Werks. Den Zusammenhang mit dem Träger (Gebäude, Geräte) die ästhetische Gemässheit. Stil heisst nichts anders als Gemässheit. Der Stil ist keine irgendwo endende Linie, er ist eine in sich beschlossene Kugel, ein Ganzes. Stile gedeihen alle bis zu einer nicht vorher bestimmbaren Peripherie-Grenze. Dann bleiben sie stehen und sterben alsogleich. Wir nennen solche verstorbenen Stile historisch. Man registriert sie, und der Freund des Entwicklungsganges beschäftigt sich ehrfürchtig mit ihrer Existenz als einem Gewesenen.

Solang ein Stil noch nicht tot ist, wandelt sich seine Oberfläche. Der Organismus wirft sozusagen Häute ab, die erstarren, und lebt von innen heraus treibend weiter. Die übereinander gelegten, lückenlos aneinander schliessenden Schichten der (immer runden) Oberfläche bilden die Tradition. Nur aus der Tradition ist die jeweils herrschende Fläche zu begreifen.

Wir haben heut im Sichtbaren (unsrer ganzen Umgebung) Stil neben Willkür. Das ist das Übel. Einerseits stehen Erzeugnisse vergangener Stilepochen da. Es sind ehrwürdige Zeugen. Anderseits haben wir eminent Zeitgemässes. Metall, Glas und Stein sind seine Faktoren. Nun aber setzt die Willkür ein und verdirbt den immer wieder zum Ausdruck seiner selbst strebenden Stil des Zeitgemässen, Wirklichen: man verdirbt das echte Material zum Ornament oder man fälscht das Material zu Zwecken des Ornamentalen.

Sehen wir uns um: Wir finden Aufgeklebtes (Historisches auf Zeitgemässem) und Nachgeahmtes (Unorganisches). Wir finden vor allem die beiden teuflischen Brüder: das Surrogat (unechtes Material) und die dekorative Fälschung (echtes Material durch Willkür um die ihm gemässe Wirkung gebracht). Beispiele für das Surrogat sind: die Ledertapete, das Gipsgebälk, die papierne »Glasmalerei«; Beispiele der Fälschung sind das durch Holzstrich verdorbene Holz, die zu Steinornamentik gefälschte Kachel. (Ich danke diese Gegenüberstellung einer anregenden Bemerkung von Adolf Loos: »Holz kann man grün, weiss, rot streichen, nur nicht holzfarben.«)

Ich biege um eine Strassenecke. Ein Gaskandelaber fällt mir ins Auge. Er ist an der Hauswand befestigt. Ein Arm (Gusseisen), der sich als Ranke gebärdet. Daran die Glaskugel, als Tulpe gestaltet. Unten und oben ein blöder Zierat aus dem historischen Formenbuche. Das Ganze eine Scheusslichkeit. Warum macht man das nicht einfach und schön: eine glatte Stange, daran die glatte Glaskugel, darin die glatte Gasröhre? Ja, warum? Weil man eben am Ornament krankt. – Ein Hausierer bringt eine kleine Blechsache ins Haus, einen Selbstanzünder, oder wie das Zeug heisst. Eine Blechkappe, die man dem Zylinder des Auerlichtbrenners aufsetzt und die gewisse Funktionen zu erfüllen hat. Wie sieht das Ding aus? Zackig, gesäumt, von einem Bügel in Hieroglyphenform gekrönt, die Flächen bedeckt mit einem gepressten Muster. Wie gesagt, das Ganze – ein schweres historisches Ornament, eigentlich zwei, scheusslich gekuppelt – aus dünnstem Blech, ein paar Heller wert. Warum macht man das nicht glatt? Ja, warum! – Ein Ofen ist ein Aufbau aus Kacheln. Eine Kachel ist ein glasiertes Stück Ton. Die Kacheln, einfach aneinander gereiht, von einer Kante oben abgeschlossen, auf einem breiten Unterbau postiert, in weisser Farbe, wie erquickend! Nein, man presst auf jede Kachel die heute hochmütig verstummten Zeichen einer Stilsprache, die Renaissance oder Barock heisst, krönt die Unsal mit einem Portalgebälk, stellt womöglich noch eine Figur hinauf oder schraubt einen Zapfen an. Warum? Die Ornamentkrankheit.

Statt dem Unfug zu steuern, »erfinden« gewissenlose »Künstler« täglich neue Ornamente, verderben uns jedes brave Möbel durch faden Schnickschnack, vergreifen sich sogar an der Kleidung (Die Kleidung ist der Mode unterworfen. Heil der Mode! Sie trägt jeweils den Keim des Verfalls in sich. Es liegt im Wesen der Moden, dass sie wechseln. Wie gemäss der Kleidung! Man trägt ja Kleider nicht ewig.)

Ob wir noch einmal den Stil unsrer Zeit, das Tatsächliche, erleben, ist dem Skeptiker eine Sphinxfrage. Vorläufig patscht die zivilisierte Gegenwart hier wie sonst lustig im hochaufspritzenden Trüben der Gesinnungsträgheit weiter.

III. Geistige Landschaft mit vereinzelter Figur im Vordergrund.

Wien ist die Stadt des liebenswürdigen Dilettantismus. Da der Österreicher aus den Trümmern seiner historischen Kultureinheit (der liberale Doktrinarismus hatte die Fundamente des Gebäudes unterwühlt) den Geschmack gerettet hat, trägt hier sogar das Verwerfliche gewinnende Züge. Selbst der politische Hass der Gegner enträt nicht der – so leicht in Roheit umzuschlagen geneigten – Gemütlichkeit. Neben marklosem Leichtsinn, unbedenklicher Hingabe an Laune und Stimmung fristet sich eine untiefe Nörgelei, die verblassend an die für Altösterreich typische Grillparzer-Saarsche Raunzerei gemahnt. Sie fordert ihrerseits gutmütigen Spott heraus. Die wechselnde Farbe des öffentlichen Lebens ist bedingt durch zahlreiche unkontrollierbare Strömungen, Stimmungen unter der Oberfläche.

In dieser bis auf das Schlendern der Bummler – man sieht hier selten Menschen, die eilen – anmutigen Stadt gedeiht der Snobismus. Nicht der kaltherzige des berechnenden Strebers, sondern der warmblütige des Neugierigen.

Alle Welt tut hier bereitwillig überall »mit«. Man versammelt sich immer wieder zu Komitees, zeigt sich und zeigt sich einander. Die Presse schlägt gern den Familienton an; der Lokalreporter schwelgt in geduldeten Indiskretionen. Der Personenkult, besonders der Kult der Bretterhelden, erbt sich als ewige Gemütskrankheit fort. Man neckt einander, lässt sich aber auch immer wieder düpieren, denn man staunt gern, vor allem: man erzählt gern Erstaunliches.

Hier haben's die Leute gut, die »neu« sind. Alle Welt beschäftigt sich mit ihnen. Man hätschelt das »Originelle«. Nicht allzulange freilich. Publikum ist hier immer zu finden und für alles, für jeden Blödsinn. Das Geld sitzt nicht fest. Man hört taktwiegend leichte Musik und trinkt dazu mehr, als man sollte. Eines verträgt man nicht: Konsequenz, Strenge, die unbeirrbare Entwicklungslinie. Wer sich nicht modeln lassen mag, an dem schwankt der fröhliche Schwarm der Bereitwilligen vorbei. Und wer gar zu erziehen unternimmt, steht bald allein.

In dieser lauen Atmosphäre ist das heimisch, was man als falsche »Sezession« kennt und nach Gebühr hasst. Sezession heisst seit einigen Jahren alles, was modern-halbschlächtig, äusserlich, hohl ist. Dass eine Gruppe von unabhängigen, zum Teil sicherlich merkwürdigen Künstlern die heute so übel verrufene Benennung in einer Epoche der behaglich starrenden Unfähigkeit in Schwung gebracht hat, kann an der leidigen Tatsache nichts ändern, dass die Talmi-Sezession einen jetzt wie das Malborough-Liedchen den reisenden Briten auf Schritt und Tritt belästigt. Jeder Schmarrn der Galanteriewarenhändler, der sich von dem früher üblichen Kitsch durch Schlangenlinien oder sonst eine rezente Faselei unterscheidet, wird einem Publikum, das man in den meisten Fällen mit vollem Recht urteilslos wähnt, als sezessionistisch angepriesen. Wie sehr alles echte sezedierende Bestreben unter diesem Unfug leidet, braucht nicht betont zu werden.

Über das, was auf der Hand liegt, soll hier nicht die Rügerede ergehen. Aber eine Erscheinung innerhalb des grösseren Ganzen muss einmal gebrandmarkt werden, die wirklich bereits aus allen spiegelnden Flächen der »bessern Umgebung« grinst: Die Komödie der sogenannten »angewandten Kunst«. Wien ist ein wahrer Nährboden dieser Seuche. Eine Gemeinde von aufdringlichen »höhern« Snobs, nüsterblähenden Kunstwitterern verkündet stündlich das Neueste. Beweglich schlängelnde Begabungen liefern das jeweils »aktuelle« Material. Die Sache wäre vielleicht harmlos, schlüge die künstliche »Bewegung« nicht so hochaufschäumende Wellen. Man muss ja im sonst bewohnten Europa wirklich glauben, wir alle in der geistigen Heimat der Canaletto, Mozart, Raimund, Dannhauser, Nestroy, Schwind, Beethoven, Bauernfeld, Grillparzer, Hebbel, wir alle lebten nur mehr von der Kinderei des dekorativen Elements. Hier zu widersprechen im Namen einer ehrlich angeekelten Mehrheit, ist dem stillen Beobachter des Getriebes Bedürfnis. Wir haben uns in Wien seit je gefügig dem Experiment hingegeben. Ausliefern aber lassen wir uns denn doch nicht. In widerlicher Erinnerung bleibt der als Sturm im Wasserglase inszenierte Rummel der Reinhardtbegeisterung. Man glaube der Versicherung eines klarblickenden Zeitgenossen und Mitbürgers, dass die wirkliche Elite des schöngeistigen Wien diesen Rummel nicht mitgemacht hat. Das, was sich so beflissen und laut immer wieder selbst das »geistige Wien« nennt, täuscht sich und andre stets gern darüber, welchen kümmerlichen Zusammenhang es eigentlich mit den Schichten der Gesellschaft hat, die dem diskreten Weltmenschen einzig und allein die Repräsentanz der organischen Kultur bedeuten. Nicht der Wiener »Jour« und sein Stammpublikum prägen, Gott sei Dank, der Stadt der grossen Erinnerungen und der glänzenden Begabungen, dem Mittelpunkt einer erlauchten höfischen Tradition die angenehme Physiognomie. Im breiten Schlagschatten dieser reich konturierten Potenz verschwindet der dünne einer zwar zählebigen, aber nicht wurzelverankerten Partikel.

Aber eines ist leider wahr: wer sich zurückzieht aus der Gegend, wo die »öffentliche Meinung« gebraut, die Reklame gerüstet wird, von dem hört die auf Kunde angewiesene Mitwelt wenig oder nichts. Und wer gar unternimmt, in tollkühner Vermessenheit sich gegen die rumorende Koterie zu stellen, der kann zur Eissäule gefrieren im Todesschweigen, das frostig um ihn sich schliesst.

Seit einigen Jahren geht man bei uns – und anderwärts – in Ausstattungsnöten nicht mehr zum Möbeltischler und Tapezierer, sondern zum »Künstler«. Der Künstler ist auf diese Art rasch zum Orakel gesteigert worden.

Der Gegensatz des Künstlers scheint so etwas wie »unkünstlerische Nüchternheit«. So wie Makart vor vierzig Jahren der »Herold der Farbe« usw. gewesen ist. Man weiss das erbärmliche Fiasko seiner Atelier-Kitschphraseologie. Heut ist »Sezession« Trumpf. Kein Handwerker in Wohnungsutensilien darf nach den reinen Prinzipien seines Handwerks Gebilde zusammenfügen. Der Künstler steht hinter dem Befangenen und richtet ihm die Hand. Was heraus kommt, ist »angewandte Kunst«. Angewandte Kunst, das sind Nacht- und Nähtischchen mit Porphyrplatten und schmiedeeisernen Beschlägen, in allen Farben gebeizte Kasten mit Intarsien und Spiegeln, Büfetts mit messinggerahmten kassetierten Fenstern und angeschraubten Beleuchtungskörpern usw. Man kennt das Klimbim zur Genüge. Es ist so fad, dass man schon beim Gedanken daran gähnt. – Adolf Loos hat höhnisch gefragt, warum der Künstler nicht auch dem Schuster, dem Sattler, dem Handschuhmacher unter die Arme greifen wolle. Und da niemand antwortet, fährt er fort: Unsre Zeit braucht das Ornament nicht, sie verzichtet darauf. Sie lebt vom ästhetischen Wesen ihrer praktischen Zwecken dienlichen Erzeugnisse. Der Handwerker ist noch immer da und kann, was er gelernt hat. Der Schuster macht Stiefel, der Schneider Röcke nach dem Bedürfnis des Bestellers. Und nicht nur der Schuster und Schneider sind da, auch der Tischler kann sicherlich noch Stühle und Bettstätten machen. Schafft nur den Künstler ab, der ihn daran hindert. Man kolportiert ein bezeichnendes Wort: »Ich habe mit Kammerdienern und Bienenzüchtern mehr innere Zusammenhänge als mit Architekten.« Das heisst: Ich fühle mich allen Menschen verwandt, die in ihrer Beschäftigung ganz drin stecken, mit ihr identisch sind. Er sagt: Man gibt mir den Auftrag, eine Wohnung zu gestalten. Ich will nichts Neues erfinden. Wozu sollte ich z. B. Stühle erfinden. Sie sind ja längst da. Es sind die alten englischen. Und so weiter. Manches Prinzip freilich ist verschüttet. Lasst uns dem Gedanken nachgehen. Er hört uns schon und zeigt sich schüchtern. Heraus mit dir. Ich halte den Künstler ab, der dich beim Genick packen will. Er tut dir nichts, solang ich da bin. Sieh her, da bist du, herrlich primitiver, nackter Gedanke »des« Tisches, »des« Vorhangs, »des« Spiegels. Wir wollen dich in gutem Material verlebendigen. Nichts weiter. Handwerker, zeige was du kannst. Du darfst arbeiten.

So einfach ist diese »Theorie«, dass man sie erklären muss. Die Leute suchen ja immer etwas dahinter. Sie sind das von den hinterhältigen Künstlern gewohnt. Es ist nichts »anders« dahinter, liebe Leute. Adolf Loos will nichts Apartes. Wenn ihm auch manches – apart gerät. Freilich, er selbst ist ja ein Künstler, ein Mensch mit künstlerischem Gewissen, mit künstlerischer Bildung. Aber weder ist sie ihm wie den armen Eklektikern von rechts nach links kollernder Ballast, noch hält er sonderlich viel auf die Tatsache ihrer Existenz. Diese »künstlerische Bildung« belehrt ihn über die Wege der Entwicklung. Und sein scharfer logischer Verstand zeigt ihm die Stationen, die Etappen sind. In unsrer Zeit, der Ära der Maschinen, sieht er das Ornament an Entkräftung gestorben. Er trauert darüber nicht. Im Gegenteil: Er preist unsre Zeit ob dieser grandiosen Kargheit. Er schätzt die historischen, schätzt die organischen Ornamente, die Arabesken der üppigen dekadenten Auslaufzeiten wie die grossartigen Hieroglyphen der Uranfänge. Aber er verweist kaltblütig auf das Wesen unsres modernen Materials und meint ihm genügende Wirkung durch seine unbefangene Existenz zuschreiben zu dürfen. Silber- und Messingplatten, Holz- und Glasflächen: Loos verneigt sich vor ihrer ungeminderten Tatsächlichkeit. Wie reich sind wir, sagt er. Wir haben die Steine, die Metalle, die Hölzer. Weg mit den kribbligen Händen, die alles unbegründeterweise sinnlos bekritzeln, verbiegen, zacken wollen. Das Buch, das Hemd, der Knopf: lasst alle diese guten Dinge durch sich selbst wirken, lasst sie nur zu Wort kommen, gebietet dem dreinschwätzenden Künstler Schweigen; eine Harmonie der grossen einfachen Stücke, der Dinge, breitet sich rauschend aus. Und eines verrate ich euch, sagt der stille unermüdliche Werber für das Echte: alle wahre Kultur hat seit jeher das Ganze, das Tüchtige, das Einheitliche bevorzugt.

In dieser Kampfstellung gegen das Ornament liegt mehr als die Neigung zu einer geschmackvollen Variante des Gerätes. Die Devise »Los vom Ornament« ist die Oriflamme einer neuen grossen Idee, die wie alle grossen Ideen Ahnenzusammenhänge hat. Die Idee dient der Gesellschaft. Man nehme sie nur einmal praktisch: wenn das Ornament fällt, fällt ein mühsames Plus an Kleinarbeit (abgesehen vom ekeln Klischee des Fabrikornaments). Man zahlt nicht weniger (heute sogar noch mehr) für eine glatte Zigarettentasche als für eine verzierte. Zierat wird überflüssig, die Herstellungsmühsal also geringer, der Verdienst grösser – das Zeitgemässe dient den Zeitgenossen.

IV. Angewandte Kunst

Dass jemand keiner »Richtung« angehöre, wollen »Anhänger« nicht begreifen. Oder, wie man bei uns sagt, es geht ihnen nicht ein. Da heisst's denn immer wieder bekennen. Und je weniger man das Zeug zum »Anhängen« in sich fühlt, um so unumwundener lautet, wird man bedrängt, das freilich »andersgläubige« Bekenntnis.

Oft und oft hab ich mich gefragt, warum die abundanten Unternehmungen des neuen Kunstgewerbes auf den diskreten Menschen verstimmend wirkten. Die Eingebung, der ich bis dahin blind vertraut hatte, bestätigend, hat das Gesetz sich mir, mein ich, enthüllt.

Ich will sagen, wie es gekommen ist. Ein Künstler von Ruf und Rang – sie entsprechen seiner Begabung, seinem Können, seinen Leistungen – hatte mir jüngst einen kleinen Gegenstand geschickt, der auf mich wie auf die drei, vier Menschen meiner gewohnten Umgebung, denen ich ihn stumm zeigte, erheiternd gewirkt hat. Mich hat er eigentlich verstimmt. Es war eine »ganz aparte« Sache – so pflegt man ja Dinge zu nennen, zu denen man, ohne sie geradezu zu verhöhnen, kein Verhältnis gewinnen kann, dabei aber empfindet, dass es nicht an einem selbst liege, sondern eben an der aparten Sache. Ich wenigstens liebe diese neuen »aparten« Sachen nicht. Sie sind ein Geräusch, und ich hasse Geräusche, ausser den natürlichen (Wasserfall, Vogelgezwitscher). Der bewusste Gegenstand sollte eine Gebrauchssache vorstellen, die »Lösung« – wie es im Jargon heisst – einer »Aufgabe«. Er war für den Schreibtisch bestimmt. Auf meinem Schreibtisch stehen Bilder in silbernen und Mahagonirahmen oder bloss hinter dickem Glas, eine glatte englische Uhr, messingene, gläserne, silberne Leuchter, silberne Vasen; alles Utensile ist aus Glas oder Messing; sonst liegen Bücher da, eine Mappe, ein Sammelkorb, ein Fachwerk aus Holz, ein Zündholzbehälter, schwere, silbereingefasste Glasschalen für die Zigarrenasche stehen umher. Nun sollte plötzlich so ein »apartes Ding«, in zwei Farben, aufdringlich Platz beanspruchend, dazu? Man sieht das kuriose Zeug befremdet an. Es ist wie in einer kleinen Gesellschaft wohlerzogener, unauffälliger Menschen: die Herren im Frack, die Damen in Abendtoilette – plötzlich tritt jemand ein, dem man sofort das Geflissentliche anmerkt. Sein Frack hat etwa einen Samtkragen, seine Westenknöpfe sind Halbedelsteine, seine weisse Schleife ist nach der neuesten Mode breit, lang, schief, schmetterlingflügelnd; er trägt sein Taschentuch in der Manschette, vielleicht gar weisse Gamaschen überm Lackschuh, irgendwo, wo sie noch kein Mensch gehabt hat, hat er eine eigenartige Tasche: kurz, er ist, was sich Literaten und sonstige Kenner verehrungsvoll unter einem Dandy vorstellen ... Wie wirkt ein solcher Mensch auf die wohltemperierte Gesellschaft? »Wie ein Bombe?« Nein. Man lächelt still. Alle lächeln still. Und der Ankömmling fühlt sich nicht behaglich. Er regaliert sich dadurch, dass er geärgert feststellt, der und der hier sei zwar ein leibhaftiger Graf, aber er habe »unmögliche« Manschetten, runde nämlich, nicht flach gebügelte usw.

Der geflissentliche Mensch ist kein Dandy, sondern ein Snob. Und ebenso snobistisch sind diese geflissentlich »aparten« neuen Gegenstände. Deshalb wirken sie – bei aller Anerkennung des im einzelnen bewiesenen originellen Könnens – auf den geschmackvollen Menschen verstimmend, wenn er nicht gar lächelt.

Nun das Gegenbeispiel, das zweite Moment auf meinem Wege zur Entdeckung des »Gesetzes«:

Ich bin jüngst wie täglich durch eine der unsympathischen Vorstadtgassen meinen Weg zum Beruf gegangen. In einem Schaufenster sah ich einen Waschtisch. Ich bestätigte mir einen angenehmen Eindruck. Ohne stehen geblieben zu sein, hatte ich den Waschtisch völlig übersehen: eine Marmorplatte mit vertieftem Becken, eine zweite Marmorplatte als Rückwand; allerhand Nickelbestandteile. Eine nicht ungewöhnliche Type. Fabrikarbeit ... Fabrikarbeit? Und doch ...? Ja, ja, ja. Ich musste mir's dreimal sagen. Gute Fabrikarbeit. Immer wieder würde ich diesen Waschtisch bestellen, für jedes Waschzimmer, das ich mir einrichtete. Warum? Weil er mir gefällt? Gewiss. Aber nicht das ist der tiefere Grund dieser unbedingten Wertschätzung. Mir gefällt ja gelegentlich allerlei. Hier bei diesem Waschtisch ist mehr als immerhin subjektives Gefallen betätigt. Der Waschtisch ist wirklich gut, modern, d. h. unsern Anschauungen von Hygiene und Aesthetik zugleich entsprechend.

Und da war's mir mit einemmal aufgegangen, das »Gesetz«. Der Missgriff der »angewandten Kunst« liegt im Verhältnis eines künstlerischen Stils zu einer nicht geradezu unkünstlerischen, aber nicht künstlerisch aufgelegten Zeit. Wenn die Künstler den diskreten Menschen mit all ihrem angewandten Schaffen so auf die Nerven gehen, so liegt es an dem Taktlosen, im ursprünglichen Sinn Unmusikalischen dieser »idealen« Betätigung. Es handelt sich gar nicht um Kunst bei all den Dingen, die wir gern endlich besser hätten, als sie die schändliche Surrogatindustrie zu Tausenden auf den abgestumpften Markt liefert, bei den Leuchtern, Tassen, Schalen, Ofen, Kohlenkübeln usw. usw. Es handelt sich nur um innere »Musik«, das ist Takt.

Das Gebiet, das die angewandte Kunst zu reformieren bestrebt ist, liegt im argen. Kein Zweifel. Die scheusslichen Majolikaofen, die mit gepressten Renaissanceornamenten für Gebildete und sonstige Wilde »vornehm geschmückten« Gusseisengeräte, all der barbarische Kram des bürgerlichen Hausrats, dieser schnöde Kitschunfug unsrer gottverlassenen Zeit soll hinweg, mit der Hacke womöglich, aber Gott bewahre uns vor dem neuen Unfug der angewandten Kunst, vor allen »Bewegungen«, die literaturdurchseucht und in völliger Verkennung der missachteten Umgebung (die ja nur als Schmutzschicht über dem lebendigen Boden der verschütteten Tradition liegt!) an ein tausendfach individualisiertes »Ideal« verloren, ein urteilsloses Publikum der Willkür, der Anarchie zuführen, dem geraden Gegensatze von gewordener Kultur.

Kultur macht man nicht, Kultur wird und ist. Man muss nur die Augen auftun, um unsre zu sehen. Sie ist die der praktischen Welt. Ledertaschen, Ledergamaschen, Chevreau-Schnürschuhe, glatte, silberne Zigarettentaschen, hahnlose Gewehre, federleichte Zylinderhüte, Seidenstrümpfe, weisslackierte Badewannen usw. usw., das sind die dem Zeitalter der Eisenbahnen, des Telegraphen, des Telephons, des Automobils, des Luftschiffs gemässen Elemente unsrer äussern Kultur.

Auch der Luxus unsrer Zeit ist nicht etwa ein vom Künstler erbetener. Der Teufel hole den Künstler, der unsern Frauen Kleider zu entwerfen sich anmasst: wir brauchen gute Schneider und Schneiderinnen. Künstlerische Trachten gehören auf den Künstlerball. Der Teufel hole den Künstler, der unserm Kinde seine »Welt« erschaffen möchte. Es hat seine, die ewige Gnadenwelt des Kindes, und verzichtet dankend auf den armseligen Behelf des Reformers (wir Eltern minder höflich mit). Der Teufel hole den Künstler, der unser »Milieu« mit seinen Einfällen nach seinen Augenblicksmarotten zurechtfälschen will: wir brauchen nichts als solide Handwerker.

Die Welt der Formen ist unsre Zeit nicht zu erneuern berufen. Sie soll endlich einsehen, dass sie andre Aufgaben hat. Die ganze »angewandte Kunst« ist ein Irrtum, ein Missverständnis.

Das Übel, an dem unsre Zeit krankt, heisst Individualismus. Das massenhafte Individuum tritt allüberall aus der ihm gebotenen Anonymität heraus. Die Masse hat eine kulturelle Mission. Höchste Kultur hat freilich immer wieder nur der einzelne; und das einzig Erquickende an der Geschichte sind die (grossen) Persönlichkeiten. Wenn sich die Masse aber in ihre belanglosen Bestandteile auflöst und jeder sein Eigenleben führen will, entsteht Barbarei: wir leben heut in der Barbarei. Die Künstler aber, die massenhaften Künstlerindividuen (nicht Künstlerindividualitäten) »tragen Kunst ins Leben«! Sie behaupten, Kulturbringer zu sein. Sie sind in Wahrheit Kulturvernichter. Was noch an Kultur bei uns besteht – das Ganze ist gemeint; Kultur geht immer das Ganze an; vereinzelte Kultur ist Privatsache – ist Massenkultur, grosse Rhythmen in grossen Formen: der Rhythmus des Bauern, der Rhythmus der Nationaltrachten, des Militärs. Das verstehen diese massenhaften Künstler nicht, die sich, selbst kleinwinzige Individuen, von der Masse unterscheiden, ihre winzige, überflüssige Individualität andern belanglosen, nur nicht eben »künstlerisch« erzogenen oder belehrten Individuen aufnötigen wollen; dadurch meinen sie, Kultur zu erzielen. Sie vereinigen sich (und die Nullen, die sich an diese Nummern anhängen) zu allerlei Bünden, entrollen flatternde Programme. Welch ein grasser Irrtum über das Wesen der Kultur! Nie hat ein einzelner, und wenn er sich noch so sehr mit »Gleichgesinnten« multiplizierte, Kultur gemacht. Alle historische Kultur ist anonym.

Es ist mit eine der geschmacklosen Doktrinen dieser armseligen Zeit, dass Kunst »ins Leben« solle. Kunst soll gar nicht ins »Leben«. Kunst ist eine Welt für sich, eine sehr einsame, um jeden Künstler herum vereinsamte Welt, ein unsichtbares Königreich. Ins »Leben« führt kein Weg. Das Leben braucht auch gar nicht diese ihm fremde Kunst. Es hat an sich, mit sich genug zu tun.

Nun halte ich auf dem messerscharfen Grat zwischen abgründigen Missverständnissen. Ich sehe die lieben Mitmenschen rechts und links in einem der beiden Abgründe. Auf der einen Seite die Banausen, Philister usw. – es sind Schimpfworte der andern Abgründigen –, auf der andern Seite die »Künstler« und ihren geschmacklosen Anhang. Die Philister usw. sind einfach zu erledigen. Sie tragen ja ihr gut Teil zu der Schändlichkeit unsrer Zeit bei. Sie stehen meist irgendwie im öffentlichen Leben, haben allerlei »Funktionen«, sind aber für den besseren Menschen einfach nicht da, wenn er nicht hinschaut. Die andern, die »Künstler«, sind viel lästiger. Eigentlich wären sie unter den Philistern usw. viel besser am Platze, leider aber haben sie sich nicht mit mehr oder minder nützlichen Berufen, sondern mit Kunst abgegeben, sind »talentiert« ... Sie bilden sich daher ein, etwas Besseres zu sein als der Dütendreher X, der »Funktionär« Y. Ein höchst lästiger Irrtum – für »Grat«-Menschen. Diese unleidlichen Künstler sind die Verbrecher, die täglich und allenthalben »Kunst ins Leben tragen«.

Noch einmal: die Kunst hat ihr Reich. Man kann ebensowenig einen Velasquez »ins Leben tragen« wie einen lebendigen Philister »in« Velasquez. (Von den allergrössten Beleidigern der besseren Menschen, den Popularisierern der Kunst, spreche ich gar nicht.)

Die »Menschen der künstlerischen Lebenskultur«! Das sind die Leute, die auf jeden Kohlenkübel Kunst »anwenden«, die sich und andern »künstlerische Heimstätten« schaffen usw. Es sind – man verzeihe den ehrlich-groben Ausdruck– ekelhafte Kerle. Wirklich.

Sie haben beide nicht recht, diese durch die schmale, aber undurchdringliche Wand meines »Grats« geschiedenen Welten. Sie sind beide borniert und ohne Kultur. Man kann auch niemals gleichzeitig für beide reden, nur einmal da, einmal dort Hiebe austeilen. Wie in einer grossen Kinderstube voll verschiedener Rangen ist es. Einmal heult eins da, dann wieder eins dort. Aber die grösste Range ist mir lieber als deputative Vertreter der beiderseitigen Abgründler. Solang einer »unter sich« bleibt, geht's ja an. Wenn der Künstler – sei's nun wirklich einer oder bloss ein Niveaukünstler, wie ich die andern taufen möchte – wenn der Künstler sein eigenes Leben künstlerisch gestaltet, ist das Privatsache. Warum soll ein Mensch, der innerlich nicht mit den andern lebt – das ist der Künstler –, nicht auch äusserlich apart sein? Es gefällt mir zwar gar nicht, aber ich kann es begreifen, sogar billigen. Aber den andern soll er Ruhe geben, die andern soll er gefälligst mit sich verschonen. Es ist ein grober Irrtum, dass der, der sich von einem Künstler ein Haus einrichten lässt, etwas gewonnen hätte. Sähen die Künstler selbst dies wenigstens ein, so wäre unsereiner ja zufrieden. Er würde sogar mit ihnen lächeln. Aber nein: sie sehen's nicht ein. Sie glauben an ihre Mission – in Kohlenkübeln usw.; sie meinen allen Ernstes, etwas Rühmliches getan zu haben, wenn sie ihren Einzeleinfall, den Kohlenkübel, das Falzbein, die Fruchtschale so und so vielen dummen Snobs aufgedrängt haben. Darin liegt die ärgste Barbarei unsrer Zeit. Der Künstler, der Niveau-Künstler drängt sich den massenhaften Individuen auf, fälscht diese Hascher nach seinem künstlerischen Bilde. Als ob etwas damit getan wäre, wenn so und so viele, die sich's leisten können, in einem apart eingerichteten Laden ihre Ausgabegelüste befriedigen! Herr Z. kauft sich einen »künstlerischen« Gegenstand. Ich kenne kaum etwas Läppischeres als diesen verdutzendfachten Herrn Z. Er fühlt sich als Kulturmensch, wenn er vom Niveaukünstler N. eine Aschenschale, einen Regenschirmständer oder eine Villa besitzt!

Seien wir ernst. Wo steckt das Gesetz? Darin: unsre Zeit verträgt keine Kunst im »Leben«. Unsre Zeit braucht praktische Dinge. Alle Kunst ist ihr ein bröckelnder Lack. Kunst ist Sache des Künstlers, ein Luxus für Künstlerische. Es hat Zeiten gegeben, da Kunst Gemeingut war. Nicht gerade künstlerisch erfühltes Gemeingut, aber ein Element des Daseins. Die Zeiten sind seit der Maschinenfabrikation endgültig vorbei. Daran glauben nur Niveau-Künstler nicht. Sie sehen ihre Zeit nicht. Der wahre Künstler, der grosse Künstler ( es gibt nur grosse Künstler, Niveaukünstler sind um nichts wertvoller als Dütendreher; schon der weise La Bruyère hat gesagt: »Il y a de certaines choses dont la médiocrité est insupportable«) weiss, was der Kunst, was der Zeit gehört.

Solange die Welt besteht, wird Kunst einsam bleiben, unsichtbar den meisten. Das, was heute den meisten an Kunst »ins Leben gebracht« wird, ist höherer Gschnas. Wahre Kunst verschmäht das »Leben.« Kunst ist stolz. Niveau-Kunst aber ist aufdringlich. Sie hausiert mit sich selbst. In hundert Jahren wird man diese ganze angewandte Kunst verwunden haben. Kein Name wird bleiben.

Ein Vergleich drängt sich mir auf: moderne Dichterei. Ein wirklicher Dichter schafft immer wieder die Worte neu. »Moderne« Dichter gebrauchen die eben üblichen »neuen« Worte. Es gibt Tausende von dummen Leuten, die ihnen das Neue glauben. Unsereinen ekelt's an. In hundert Jahren wird man die zwei, drei, fünf Dichter unsrer Zeit deutlich sehen. Sie werden zwar ebenso ein Gut für wenige bleiben wie die Dichter vor hundert, zweihundert, siebenhundert Jahren. Aber existent werden sie sein. Die neuen Niveaudichter täuschen nur grobe Sinne über ihre innerliche Leere und völlige Impotenz. Unsereinem rangieren sie unter Dütendrehern.

V. Intime Kunst

Ich bin jüngst in einem kleinen Theater gewesen, das moderner sonst nicht unrühmlich sich betätigender Künstlersinn vom Salzfass bis zur Deckenbeleuchtung ausgestattet hat. Ich sah schaudernd die Logennummer (aus vergoldeter Gipsmasse) auf die marmorne Brüstung geklebt, kopfschüttelnd die elektrische Tischlampe als Blumenbehälter zur Attrape verschäkert, sah – auch dies zählt ja zur künstlerischen »Renaissance« – gelangweilt zu dünner Musik allerlei stilisiertes Gewändergewalle einen nüchternen »Farbenrausch« agieren ... Beiläufig: Eine im Kostüm der zwanziger Jahre sonst berückend graziöse Tänzerin musste, sich windend und drehend, eine Art Kerzenkäfig von mehr als halber Meterlänge auf dem zarten Kopfe tragen: ein Anblick von erbarmungswürdiger Schwerfälligkeit.

VI. Stossseufzer

Die Seuche der mit öliger Bonhomie verkündeten neuen Kompromisskunst rafft alles bessere Streben schon im Keim des Ahnens hinweg. Der mit der neuen »Raumkunst«, dem »Buchschmuck«, dem »Brevier«-Eklektizimus behaglich mitgehende moderne »Gebildete« ist der gefährlichste Herd jeglichen im tiefsten Kern kunstfremden Unfugs. Surrogat, Kitsch, Gschnas allüberall. Besser ganz schlecht, ganz blöde, ganz wild, besser Dogmatiker, Rationalist, Bonze, Verknöcherung als dieses marklose, schleimigglänzende Neugetue. Und die widerliche Kompromiss-Philosophie, der wiederkauende Monismus, diese ganze fette Feststimmung selbstgefällig »Erwachender«! Die grundgreuliche neue Frauentracht mit Seelenzuwag', das süssliche Gewortel von Schockpropheten, eine neue Heilsarmee fader Dünkelmeier, alle ins »Sezessions«-Profil gerichtet. Rasch ein paar Züge grobkörnigen Wilhelm Busch-Knasters und einen tiefen Schluck aus Jeremias Gotthelfs grundklarem Deutschtum.


Bei uns ist man immer auf »Kultur« aus. Welch ein Irrtum! Man hat Erziehung, das ist alles. Aber wer wird zu behaupten wagen, dass die intellektuellen Deutschen Erziehung besässen?! Die Deutschen, die unter ihren sämtlichen Autoren bezeichnenderweise nicht zehn Weltleute zählen! Geht in die Kinderstube der Tradition, voreilige, fürwitzige Kulturförderer, und schämt euch! –

VII. Vom Tanzen

Auf der kleinen Bühne eines modernen Wiener Kabaretts haben sich an etlichen Nachmittagen drei Schwestern zum Klavierspiel einer vierten mit einigen künstlerischen Tänzen sehen lassen. Über dieses Ereignis ist mit dem bei uns üblichen Enthusiasmus geschrieben worden. Das Aufbauschen mehr oder weniger liebenswürdiger Darbietungen konzentrischer Kreise gehört zum System einer Bewegung, die alles, was an geborenen Mitläufern neugierig auf demonstrative Geräusche lauscht, in ihren Wirbel reisst. Für den ehrfürchtig stillen, dankbar stolzen Geniesser eines grossen Kulturerbes hat der ganze neue Frühling künstlerischer und literarischer Bestrebungen, den die rührig beredte Generation der heute Dreissigjährigen seit einigen Jahren überall feiert, etwas unangenehm Willkürliches, peinlich Unorganisches. Er, der wohlerzogene Schätzer des Unbefangenen, als das sich alles Natürliche, Wurzelnde, Echte bestätigt, weicht instinktiv den verschränkten Reihen der stets verzückten Verkünder des Nochnichtdagewesenen in weitem Bogen aus. Er hat bei dieser ihm vielfach übel vermerkten Unfreundlichkeit das totsichere Gefühl des mächtigen Zusammenhanges mit allen wahrhaft diskreten, allen vornehmen Elementen. Er möchte alle grossen Toten als Blutzeugen seines Widerspruches beschwören. Unfehlbar reagiert sein Takt durch erschauerndes Einziehen der spürenden Fühlfadenenden auf jede noch so harmlos verhüllte Manifestation eines ihm unsäglich widerlichen Geistes. Es ist der Snobismus, der ihn wie empfindliche Augen reizender Tabakrauch verstimmt, und zwar ist es eine krause Spielart des Snobismus, die unsern Tagen vorbehalten geblieben zu sein scheint: der literarisch-künstlerische, der Snobismus der Seelenlosen. Wir sensible Barometer der geistigen Luftschichten notieren schmerzlich den leisesten Druck. Und dieser neuere Snobismus ist da besonders gefährlich, wo er auf das Zarteste sich zeigt. Seine gröberen Äusserungen sind ja gern Lächelnden nur zu kenntlich; die subtilen entgehen häufig sowohl Naiven wie Ironikern. Die Aufgabe des leider immer wieder zum Kopfschütteln der Rüge gezwungenen Glossators ist darum so heikel, weil er, tritt er in ablehnender Haltung bei Gelegenheiten hervor, die an der Grenze des Guten nomadisieren, leicht in eine zweideutige, ja in eine üble Position sich gedrängt sehen muss. Er findet Beifall, wo er ihn keineswegs schätzt. Er sieht sich von täppisch grinsenden Gestalten umdrängt, die ihn anöden und deren er sich am liebsten mit einem energischen Fusstritt entledigte. Und er fühlt verzweifelt seinen feinen Tadel sich im Echo so vieler Rüpel zum Dröhnen vergröbern, hört ihn, der ihm entwächst wie ein missratenes Kind, umschlagen in eine falsche Tonart. Das Richtige (er kennt genau das einzig Richtige) kann er kaum einem ganz begreiflich machen. Er wird immer missverstanden, von beiden Seiten, zwischen denen er eben steht. Wahrlich, er weiss nicht, was ihm unangenehmer ist: das lästige Zutrauen der einen, das gehässige Misstrauen der andern. Und er, der sich so leicht, ohne Worte, mit Gleichgesinnten, Gleichgestimmten verständigt (seiner Frau etwa, die ihm nicht ohne tieferen Zusammenhang wahlverwandt dünkt, seinem Freund aus absolut unliterarischer Sphäre), greift mit krampfhaft versagenden Zeichen ins Leere der unüberbrückbaren Fernen, die sich zwischen ihn und scheinbar vorteilhaft zur Gemeinschaft ausgestattete Strebende legen.

Der Fall der drei anmutigen Tänzerinnen ist wieder so ein am Tage liegendes Geheimnis. Sie tanzen mit schlanken, geschmeidigen Körpern in geschmackvoll getönten, schmiegsam schleiernden Gewänden. Zunächst ist ausdrücklich zu sagen, dass nur eine wirklich etwas kann. Aber die von der Mode des »Andern« Irregeleitete tanzt Beethoven! Sie vollführt mit ihrem seligen Körper zu den überirdischen Tönen der F-dur Sonate, des G-dur Konzerts aufdringliche Gebärden, die man nur als schwere, unvergesslich peinigende Sünden gegen den Geist der Musik, gegen den heiligen Geist des Metaphysischen bezeichnen kann.

Es ist ein Blödsinn, ein Verbrechen, Beethoven tanzen zu wollen. Neben die Musik stellt sich da schamlos ein kindisches Getue, das bei Feinsinnigen (der Snob schwelgt natürlich in der literarischen Tatsache: Beethoven tanzen) im besten Fall Mitleid wachruft. Kein Künstler auf der Welt kann, darf Beethoven, Schumann tanzen. Wir danken diesen läppischen Unfug der Duncan, deren mimische Nachahmung antiker Stellungen immerhin einigen ästhetischen Arabeskenwert besass. Tanzen kann man nur Tänze. Und deshalb ist eine Gavotte aus »Manon«, in der Tracht der preziösen Zeit getanzt von den drei jungen Schwestern, etwas Köstliches, darum sind auch die Lanner-Schubert-Reigen, in einem diskret stilisierten Biedermeiergewande, das prachtvolle Farbenakkorde erhellen, eine lieblich zarte Sache. Denn hier ist das Gemässe: der Tanz nichts als rhythmische, sinnlose, also wesenhafte Bewegung geübter und angenehm sich entwickelnder Gliedmassen. Dazu das treffliche Element des ohne Stocken aus der Tradition fliessenden, des historischen, vollendeten Stilkostüms. Hier ist Selbstverständliches, Unrationales, nur sich selbst gleiche Motion. Dort aber, bei jenen zufälligen, nur durch (unerbetene) »Gedankengänge« grob wie durch Bindfaden zusammengehaltenen Verrenkungen, Beugungen, Windungen, Sprüngen ist, wie bei literarischer Malerei, literarischer Musik, literarischem Theater, literarischem Kunstgewerbe, Absicht und natürlich sofort auch Ohnmacht, arme Dünkelei, und weil literarische Seelenlose dazu ihre fade Esoterik spulen (Literaten müssen immer »dazu« tun, können nie leben, erleben, schauen, sein, stumm wachsen, sich treiben lassen), wirkt das Ganze unsäglich gemacht, leer, abgeschmackt, dumm, lächerlich: es ist grasser Snobismus, eben jener, den der mit traurigem Lächeln abseits Stehende sich überall bestätigen sieht, wo die Verzückten ihre Ver Sacrum-Orgien des armen, armen Intellektes feiern.


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