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Aus einem Brief an das 18. Jahrhundert

Lieber Diderot, lieber Cazotte, lieber Chamfort, lieber Rivarol, ahnet Ihr und Ihr andern alle, deren Sprache ich spreche, deren Gedanken ich denke, deren Geist mir wie eine leicht und köstlich zu atmende Luft ist, ahnet Ihr, was ich leide in dieser unbeschreiblich gemeinen Zeit? Ihr Arglosen ahnt es nicht; denn es ist das ungeheuerlichste Märchen, das ein Galland Euch aus dem andern Arabischen unsrer Epoche in Eure wunderbare Sprache zu übersetzen – zögerte, Euch, selige Wandler an Abgründen, in die dann alles gestürzt ist, was uns Enterbten, Entblössten Kultur heisst ...

Vernehmet schaudernd, wie der Tag Eures armseligen Nachfahren verläuft – woran das Bemerkenswerteste das ist, dass neben ihm Hunderttausende sich eigentlich ja doch wohl fühlen! –

Er erwacht müde, erhebt sich mit allem Aufwand an notwendiger Energie – auf solche Dinge, wie das Aufstehen, geht heute die Energie drauf, die früher etwa in einem Degenstosse sich entlud; zehn Lebensjahre für einen solchen Degenstoss, der durch und durch ginge! –; er setzt sich an den Toilettetisch, sich zu rasieren. Was grinst ihm ins Fenster im grellen Morgenlicht? Eine Fassade ... Ahnt Ihr, Begnadete, was uns paar Gemarterten heut eine Fassade heisst? Ihr ahnt es nicht. Lasset mich davon schweigen. Etwas Gemeineres hat es nie gegeben. Was sind Menschenopfer von Kannibalen gegen den Kannibalismus unserer Grossstadt-Fassaden! Ein Feentraum, ein Pastell von Lancret.

Lasset mich schweigen über die Unsäglichkeiten unsrer Kleidung, die Hosenträger, Westen, Krawatten, Hemdknöpfe und den sonstigen Trödel einer Tracht von Handlungsgehilfen.

Der also Gekleidete verlässt, viele Stiegen hinabsteigend, durch ein Prachtportal das Monumental-Zinsgebäude, darin alles, Türen, Fenster, Treppengeländer, Kandelaber, Portier, prunkvoll, ordinär und unecht ist.

Er ist auf der Strasse, Was wisset Ihr von einer grossstädtischen Gasse! Von Plakaten, Kaffeehäusern, Panoptikum, Galanteriewaren-Schaufenstern, Dienstmännern, Hundehändlern, Blumenweibern, Annoncen-Ausbietern usw.! Was wisset Ihr von dem Publikum der frühen Vormittagstunden, dieser zum Geschäft, zum Amt, zum Dienst eilenden, einer dem andern gleichgültigen Menge von Sklaven, in ihrem unrhythmischen Tempo, ihrer brutalen Vereinzelung! Jedes Element dieses wimmelnden Mosaiks ist scheusslich. Und alles das, die Wagen, Tiere, Menschen, Maschinen, alles lärmt.

Und diese ganze zusammenhanglose Masse lebt nicht nur, sondern will weiterleben, weiterwirken. Dieses traurige Volk von Entarteten baut und zeugt, verfügt und verwaltet. Überall Institute, Schulen, Vereine, Genossenschaften. Ein ungeheurer Apparat klappert Tag und Nacht. Die Technik, dieses Dir sozusagen unbekannte Ereignis, das eine Epoche geschaffen hat, bedient durch zahllose stupende Einrichtungen die tausend anerzogenen, aufgelesenen, angeflogenen, unerfühlten Bedürfnisse eines wüsten Haufens von Heimatlosen. Für wenige Heller kannst Du jederlei Surrogat haben. Bazare und Warenhäuser versorgen schwindelhaft und atemlos kreissend den bescheidensten Nachzügler dieser Talmikultur mit den schäbigen Zeichen der Zeitgemässheit.

Und durch alles das, o Rivarol, muss Dein duldender Freund täglich hindurch! Alles das drängt sich ihm auf; buchstäblich ins Gedränge muss er hinein, ohne Schutzwehr an all den gedrängt gereihten Laden, Portalen und Ankündigungen vorüber, mit armen offenen Augen, mit armen blossen Nerven. Betritt er ein Speisehaus, gröhlt derselbe wüste Lärm der wilden Farben und sogenannten Schmuckdinge, betritt er ein Theater, einen Vortrags- oder Konzertsaal: immer ist er wieder ganz drinnen in dem Gemenge gleissender Barbarei, selbstgefälligen Unfugs.

Denke Dir, wie sich die Menschen dieser entsetzlichen Zeit erholen, vergnügen, erheben. Sie betreten einen getäfelten Raum, der von Gold und Marmor starrt, alles sinnlos und hässlich zusammengetragen, Elemente aller Stile in ein (schlecht ventiliertes) Geviert gedrängt; sie sitzen nieder auf strohgeflochtenen Garküchenstühlen und glotzen auf ein Podium, wo alsbald der Kunstgenuss anhebt, exekutiert von Männern in schlecht gemachter Festtracht – Frackanzügen – und von Weibern etwa in willkürlichen, meist armseligen, immer aber irgendwie der Tagesmode angenäherten Gewandungen. Es gibt da Weiber, die, Brill' auf der Nas', vom Notenblatt singen; Erhebung heisst den zu Hause die Möbel mit Leinwand vor Motten schützenden Müttern der Kinder solche ästhetische Drangsalierung der Betrachter. Schon die Tatsache eines öffentlichen Konzerts, wo jedermann sich zahlend in den gefügigen Rahmen bringen kann, würde Dich, liebenswürdiger Cazotte, entsetzen. Nun sieh Dir aber alle diese »besseren« Menschen an, herrlich boshafter Chamfort. Vom Kopf bis zum Fuss sind sie halbschlächtig hergerichtet. Und hässlich an Physiognomie und Gestalt, es ist gar nicht auszudrücken, bis zu welchem Grade! Dabei ohne die Spur von beweglicher Anmut; beobachtend beobachtet, befangen oder protzig, mit Barten, Zwickern, allerlei Haaranordnungen vom Lächerlichen bis zum Ekelhaften, schlechtem Schuhwerk, aber plombierten Zähnen.

Lieber Diderot, lieber Chamfort, es gibt noch immer einige wenige darunter, die Euch zu schätzen vorgeben. Aber verlanget nicht, sie kennen zu lernen. Es sind die literarischen Menschen oder der Alpdruck Eures still duldenden Freundes – –. Wenn Ihr heut aus dem Grab aufständet, würde Euch ein Kulturverein einladen, vor seinem Stammpublikum etwas aus Euren Büchern vorzulesen, und nachher gäbe Euch das Komitee ein Festessen; der Bankbeamte Y, bei Nacht Kunstreferent des Abendanzeigers, sässe Dir zur Linken, Rivarol, und schöbe schmatzend den Spinat auf seinem im vernickelten Heft gelockerten, aber mit Rokoko-Ornamenten – Dir zu Ehren, symbolisch – verzierten Messer in den Mund; Dir zur Rechten aber dozierte eine Frauenrechtlerin im kantig-dekolletierten, verschwitzten und abgesessenen Reformkleid über Deine erlauchten Zeitgenossinnen, die ich geschlossenen Auges jetzt, einer Wolke Parfüm gleich, vor meiner Seele vorüberschweben fühle ...


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