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Attila von Schwind sah dem »Gracile« nach. Von den Umrissen war nichts mehr zu erkennen. Die Scheinwerfer blendeten. Aber je höher das Luftschiff stieg, um so enger zog sich der helle Schein zusammen. Zuletzt ein Lichtballen, der durch den Nebel drang; bis auch er erlosch.
So war er wieder allein. Und der liebe Kamerad wurde durch die Lüfte getragen. »Glückliche Fahrt!« sagte er mit einem heißen Gefühl im Herzen. Er atmete tief auf. Es hatte ihn Überwindung gekostet, sich von Brigitte zu trennen. Sie war ihm mehr geworden, als sie ihm jetzt sein durfte. Er gehörte dem andern. Und alles Denken, alles Handeln hatte er ihm zugeschworen. Niemand durfte ihn jetzt beanspruchen. Auch nicht das köstlichste Weib! Noch war seine Aufgabe nicht gelöst.
Mancher harte Strauß war ihm schon beschieden gewesen; immer an Stelle des andern. Sogar hinterlistige Überfälle waren ihm nicht erspart geblieben. Einer der gefährlichsten Tage war jener gewesen, an dem er mittags um 2 Uhr in London denselben einstündigen Vortrag hatte halten müssen, den abends um 8 Uhr Fritz Rusart in Wien zu Gehör brachte. Wort für Wort vorgeschrieben. Und die ganze Welt erging sich nachher in den aberwitzigsten Vermutungen und Behauptungen über die zweifellose Tatsache, daß er die Strecke London-Wien in fünf Stunden durchrast hatte. Zeitgenossen, die jederzeit auf dem Plane waren, hatten Photogramme und Phonogramme verfertigt, und der bald darauf erfolgte Austausch und das Vergleichen hatten für jeden Beweiskraft genug gehabt, sich über die Identität des Vortragenden zu vergewissern.
Dabei hatte man in London ohne Skrupel alles versucht, ihn gleich nach dem Akt festzunehmen. Seiner Geistesgegenwart, seiner Körperkraft und nicht zum wenigsten seiner elektrischen Batterie, die schonungslos von ihm gebraucht worden war, hatte er zu verdanken, daß er damals wieder den Kontinent erreichte. Denn ihm hatte nicht die »Pax« zur Verfügung gestanden, wie Fritz Rusart, der eine Viertelstunde nach dem Vortrage bereits wieder in den Wolken schwimmen konnte.
Und dann zweimal im Harz! Kerle wie die Baumstämme. Er hatte sie auf den Rücken gelegt. Jedesmal hatte es ihm geschienen, als ob die Umgebung nicht frei von huschenden Gestalten wäre; und nach solchem Überfall war immer schleunige Flucht vonnöten gewesen.
Sie wollten ihn lebend haben. Ihn und die Erfindung. Das wußte er. Ihn zu erschießen wäre ja ein Leichtes gewesen.
Es war ein Irrtum, anzunehmen, daß in Attila von Schwind auch nur der geringste Zug zum Abenteurer lebte. Wenn er auch vor keiner Gefahr zurückschreckte, so suchte er sie doch auch nie auf. Erschien sie, so war sie ein Teil seiner Pflicht.
Daß er jetzt umlagert war, wußte er. Er hatte die Eingeladenen deswegen schon einen und anderthalb Tage früher gebeten. Es lag darin eine Sicherung des Programms. Selbst einem Handstreich kühnster Art wurde dadurch der Boden entzogen. Zwei Dutzend Offiziere. Und international. Es war eine suggestive Gegenmacht gegen die anderen, und unter sich wiederum bildeten sie eine Zersplitterung.
Zwei Fahrzeuge schwammen. Und in höchster Vollendung. Nun mußte das dritte kommen. Der »Robur«. War die »Pax« das allgemeine Modell, der »Gracile« das elegante Passagierschiff – beide für die Benutzung der Luft –, so sollte in dem »Robur« ein Typ vorgeführt werden zur Beherrschung der Luft. Er war als Kriegsluftschiff gebaut. Nicht stärker oder massiver; denn das hatte in der Luft keinen Wert, aber er war ohne jeden Luxus gebaut, mit Geschützen versehen und hatte als Hochluftboot Sauerstoffkammern. Fritz Rusart mußte meinen, daß mit dieser Gattung das Programm vorerst erschöpft war, denn sonst würde er ihn nicht mit dem Oberkommando über den »Robur« beauftragt haben. Es galt nun, die Doppelrolle in den Lüften zu spielen. Darin lag ein besonderer Reiz, weil das Arbeitsfeld ein so ungeheuer ausgedehntes wurde.
Mit dem »Robur« würden von Hamburg 7 Mann kommen. Witt als Führer; und von hier nahm er 6 Mann mit. Im ganzen vierzehn. Außer ihm. Lauter sichere Leute. Und der Aufenthalt im Talgrund nahm höchstens zwei Stunden in Anspruch. Die »Pax« sollte mit Fritz Rusart sogleich nach der Ablieferung nach Berlin fahren. Fritz Rusart wollte bei dem Kaiser Vortrag halten.
Jetzt galt es, hier alles zurechtzulegen. Die Vorräte standen bereit; die Armatur bekam der »Robur« unterwegs. Und was vielleicht noch fehlte, konnte beim Aufstieg geordnet werden. Man hatte ja keine Gäste.
Zuerst war es nun nötig, den eigentümlichen Gefangenen zu verhören.
Attila wendete sich um. Er wollte hinüber und Befehl geben, die Gefesselten vorzuführen.
Er prallte zurück. Und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Wie um einen Spuk fortzuscheuchen. Und sah wieder hin; und beugte den Oberkörper vor.
»Brigitte!!«
Sie blieb bewegungslos stehen.
Er trat näher heran; wie unter peinigendem Zweifel. Und stand dicht vor ihr und sah ihr in die Augen, die eine wunderbare Mischung zeigten, müde, ernst und zornig. Sie zitterte. Und als er ihr die Hand auf das Haupt legte, kam etwas Loderndes in ihr Gesicht.
»Brigitte! – Kind! – Wie kommen Sie – –?«
Sie beugte den Kopf unter seiner Hand heraus und hob das Gesicht wieder und preßte beide Hände gegen die schweratmende Brust. »Bist Du – ein Mann?« stieß sie hervor, »– oder – –«
Er wendete sich zur Seite. Und sann – und sann. Seinem Gesichte war abzulesen, wie ihn das Rätsel quälte.
»Wo ist die Frau – zu der – – die hierher gehört?«
Da zog ein Lächeln über sein Gesicht. Beinahe wie ein Leuchten. Einmal mußte es ja kommen. Es war zu früh; – aber es war die Rechte, die darnach fragte.
»Über diese Frau haben wir schon einmal gesprochen!« sagte er ruhig.
»Da wurde sie verleugnet!« Ihr kam der Atem mühsam durch die Lippen.
»Von mir nicht!«
»Nicht?« Sie trat fassungslos einen Schritt näher. »Nicht?«
»Nein! – Man kann nur verleugnen, was ist!«
»Und sie ist nicht?« – Es lag viel Zürnen in ihrer Frage und auch ein leiser Hohn.
»Sie ist nicht!«
»Und wenn ich es weiß?«
Er schüttelte den Kopf und trat dicht an sie heran. »Woher?«
»Das ist doch gleich!«
»Ja, es ist gleich. – Irgendeiner hat es behauptet. Und der wird gegen mich in die Wagschale geworfen. – Ich will überhaupt nicht gegen irgendwen abgewogen werden! Gegen niemanden! Weder ich noch mein Wort!«
»Und wenn, der mir es gesagt hat, die Frau kennt? – Er kennt sie!«
Er ergriff ihre Hand. Und so sehr sie auch widerstrebte, er hielt sie fest. »Brigitte! Sie eigenwilliges Kind! Sind Sie immer wahrhaftig?«
Nun riß sie ihre Hand stürmisch los. »Ja!«
»Immer?«
»Immer!!«
»So sagen Sie mir eins,« in seiner Stimme zitterte ein heißer Ton, »Sie, die Sie sich hier als Priesterin der Wahrhaftigkeit rühmen, weshalb fragen Sie nach dieser Frau?«
Sie wich zurück.
»Nicht so!« drängte er in sie. »Was fragen Sie nach ihr?«
»Ein Mann«, stieß sie hervor, »soll nicht nur wahrhaftig, er soll auch barmherzig sein.«
»Und ich bin beides nicht?«
»Nein!«
Er sah in ihre Augen. Sie waren mit Tränen gefüllt.
»Und will doch beides sein,« sagte er leise, sich zu ihr vorbeugend. »Aber es gibt etwas, das stärker ist, als wir; als ich und du, Brigitte! Und so bleiben wir beide uns eine Wahrheit schuldig.«
»Ich nicht!« Und jedes Wort, das sie herausstieß, klang, als sei es in unendlichen Jammer und in Jauchzen gebadet. »Ich nicht! – Ich trage das Bild eines Mannes in mir, den ich höher stellen konnte als alles andere. Das ist mein Glück – und wird es bleiben. Und daß er sich selbst schänden konnte, das ist mein Elend! – und wird es auch bleiben!«
Sie wollte enteilen. Er sprang auf sie zu und hielt sie fest. Er fühlte, wie ihr ganzer Körper zuckte. »Was ist der Liebe bestes Teil, Brigitte?«
Sie antwortete nicht. Sie schlug beide Hände vor das Gesicht. Wo war hier die Rettung? Wie aus tiefstem Herzensgründe hätte sie gewollt, daß diese Arme sie für immer festhielten. Und doch hatte jener andere das gesagt. So gleichgiltig, so nebensächlich, so ruhig und so selbstverständlich. In ihr kämpfte es. Sie wollte dem glauben, den sie liebte. Und alles, was er gesagt hatte, hatte so ehrlich geklungen und auch so stolz. »Ach, wer mir hülfe!« meinte sie endlich mit zuckenden Lippen. Sie verbarg den Kopf an seiner Brust. »Sag's mir doch! – Hilf mir doch!« bat sie innig.
»Keine Frau hat ein Anrecht an mich! – Keine als du, Brigitte!« Er bog ihren Kopf hoch und küßte sie auf das nasse Gesicht. »Es sagt dir das ein Mann! – Einer, der nicht gewohnt ist mit Worten zu spielen. – Aber –« und er sah ihr tief in die Augen, während sie ihre Arme um seinen Hals geschlungen hatte, »Brigitte, du süßes Weib – der Liebe schönstes Teil ist das Vertrauen! – Unerschütterliches Vertrauen!«
»So sollst du mir es schenken!«
Er hielt ihren Körper etwas von sich ab. »Die Forderung kommt von mir!«
»Fritz!« bat sie. Nicht der Ton allein, in dem alle ihre Liebe lag und viel Demut, erschütterte ihn – der Name traf ihn wie ein Peitschenschlag. – »Wie kann der andere das erzählen – und – warum wolltest du mich fortschicken, mit denen – ohne dich? – Sag es, Fritz!«
»Liebst du den Namen?« fragte er rauh.
»Ja!«
»Weshalb?«
»Wie kann ich ihn nicht lieben, da du ihn trägst!«
»Nach altem Satze ist ein Name Schall und Rauch – –«
»Nicht für eine Frau, die – liebt! – Nicht an dem, den sie liebt!« Er zog langsam ihren Arm durch den seinen und schritt mit ihr über den Platz. Sie ließ sich von ihm führen, wie ein Kind.
»Ich weiß« – sagte er leise, »daß du umworben bist. Und deshalb solltest du ohne – mich –«
Sie schüttelte den Kopf. »Du törichter, törichter Mann! Mich zu quälen, – und dich! – – dich doch auch??«
»Mich auch!«
»Als ob ich – nun ich dich kenne, – irgendeinen andern –«
»Aber die Probe, – Brigitte –«
»Ich bestehe jede, – und ich will keiner unterworfen werden –!« In den Klang der Liebe mischte sich die Energie.
Er kämpfte mit sich. »Und die Feuerprobe kommt doch!« sagte er endlich. »Sie kommt doch! – Und ich kann sie dir nicht ersparen, denn ich lege sie dir nicht auf!«
»Wie sprichst du so geheimnisvoll, Liebster!«
»Liebster ist eine Stufe –« zwang er sich zu scherzen, »eine Stufe in einer Reihenfolge.«
»Einziger!«
Er nickte.
»So sage: die Probe, – ist es etwas mit dieser Frau?«
»Ja!«
»Sie schreckt mich nicht!«
»Aber wenn dir die ganze Welt erzählt, ich sei verheiratet! Und wenn so viele auftreten, die nicht nur das behaupten, sondern die auch sagen, – wie dein Gewährsmann – sie kennen meine Frau?!« –
»– Foltere mich nicht, Fritz!«
Er wandte sich ab.
»Sieh, Fritz – wie kann man's sagen, wenn du es nicht bist! – Und –« sie nahm seine rechte Hand und drückte sie fest gegen ihre Brust, so daß er ihren Herzschlag fühlen konnte, »du bist es nicht?«
Er blieb stumm.
»Du bist es nicht?«
»Nein – und nein –!«
Da neigte sie ihm ihr Gesicht zu, und indem ihre Augen in die seinen tauchten, flüsterte sie lächelnd: »So gibt es zwei! – Du großer, lieber Tor! – Wie hältst du mich für kurzsichtig! – Wer ist das, der andere, – der deinen Namen trägt?«
Er antwortete nicht. Sein Blick war in die Tannen gerichtet.
Sie sann nach. »Wenn die Frau – die andere – wenn sie Frau Rusart ist, dann bist du nicht Fritz Rusart!«
In der Nähe lag ein Felsblock. Sie zog ihn dorthin. »Setz' dich!« Dann kniete sie neben ihm nieder und stützte die Ellenbogen auf seine Knie. »Beichte! – Es quält mich, daß ich keinen Namen habe für dich!«
Er sah sie ernst an. »Ich habe es versprochen, es soll niemand erfahren – –.«
»Ach, niemand! – Bin ich nicht du? – Was ich weiß, weiß niemand! Sieh,« bat sie innig, »ich will ja nicht wissen, weshalb dieses geheimnisvolle Spiel! Nur, wie ich dich nennen soll! Nur dieses eine! Du heißt nicht Fritz?«
»Nein!« Er strich ihr über den Kopf. »Ich kann ja alles verstehen, Brigitte! – Daß du darnach verlangst – ich täte es auch! – – Ich heiße Attila!«
»So bist du von Adel?«
»Weshalb?«
»Wir Bürgerlichen haben diesen Vornamen nicht!«
Sie sah ein leises Lächeln über sein Gesicht fliegen.
»Und das Geschlecht? – Der Stamm?«
»Schwind.«
»Attila von Schwind« – sagte sie leise vor sich hin »und ich habe immer Fritz Rusart angebetet!« Nach einer Weile, während deren seine Gedanken weit abschweiften: »Gibt es einen Fritz Rusart?«
»Ja!«
»Attila!« Und sie wiederholte das Wort mehrere Male. »Attila! – Welch ein wunderliches Gefühl, den Namen umtauschen zu müssen! Weißt du –« sie duckte den Kopf in seine Hand »beinahe ist es mir ein Schmerz, daß ich Fritz zu dir gesagt habe –
»Ein Name wie alle – wie meiner auch!«
»Aber eben nicht deiner! Und der andere, wo ist der andere?«
Statt aller Antwort stand er auf und nahm sie in seine Arme. »Lege den Kopf an, Brigitte! Und sieh mich nicht an! – Ich sage, du hast kein Recht, es zu erfahren. Und ich sage, du hast ein Recht, zu fragen. – Wir sind zwei! – Es war einmal ein König – –«
»Und der hatte einen Fürsten –« unterbrach sie ihn leise.
»Nein! – nicht so hoch! – Der hatte einen Speerträger! Und – damit – –«
»Damit niemand den König treffen könnte, sagte der Speerträger, er wäre der König – –.«
Er hielt sie erstaunt von sich ab. »Woher – Brigitte – woher?«
»Seit du mit der Hand auf meinem Herzen geschworen hast, daß du mir gehören kannst und ich dir, kenn' ich das Spiel! Es ist ein königliches Spiel –« und nun flammte zornige Entrüstung über ihr Gesicht »aber nicht vom König! – Der König ist der, der seine Brust bietet! –«
Er verschloß ihr den Mund mit seinen Lippen. »Was ist ein Speerträger in einer großen Sache! – Aber, ob ich dir es gesagt habe, oder ob du es geraten hast, was jetzt daherschreitet, mein Lieb, das ist die Tragik! Ihre Schritte sind schnell und sicher. Und was sie unheimlich macht, ist, daß sie leise kommt, trotzdem sie Bleisohlen hat. Bis jetzt ist alles gut gegangen. Aber mir ist, als ob ich zuviel für mich verlangt hätte, und das wird seine Schwingen entfalten.«
Mit der Zutraulichkeit des Weibes, das feiner und des Geliebten Liebe sicher ist, schmiegte sie sich an ihn. »Was kann es dir und ihm machen, daß ich es weiß! Für euch ist alles wie vorher! Und – du großer, starker Mann! – Wie magst du so trübe Gedanken haben? – Und jetzt!«
Ihm zog es durch den Sinn: »denn jede Schuld rächt sich auf Erden!« – aber er sagte es nicht. Und wie er sich zu diesem Gesichte, aus dem ihm hingebende und sehnsüchtige Liebe entgegenstrahlte, niederbeugte, verschwand auch jeder Schatten. »Du magst recht haben! – Auch darin, daß du mich schiltst!«
Er brachte sie hinüber vor ihr Zelt und ließ alles wieder einrichten. Als er ihr nach einer Viertelstunde den letzten Kuß als »Gute Nacht-Gruß« bot, hielt sie ihn fest. »Du Mann meiner Seele! – Nein! – Nicht hier, – komm' hinein!« Und sie zog ihn in das-Zelt, das er noch nie betreten hatte, wenn er wußte, daß sie anwesend war. Sie rückte ihm ihren Sessel hin und bat ihn, sich zu setzen. Und dann kniete sie wieder neben ihm hin und küßte seine Hand.
»Attila, Geliebter! Von wo kommt eine Gefahr? Ich weiß viel! Ich weiß nicht alles! Sage mir das noch! Nur das eine noch! Denk', es ist, als sprächst du zu dir selbst!«
Er fühlte ihre Nähe. Ihm war, als strömte lebendige Glut von ihr zu ihm. Und er, der für jedes Weib ein ganzer Mann gewesen wäre, denn er hatte sich nicht verschwendet, er hatte auf eines Herzensschlages Länge die Sehnsucht, in diesem Glutstrom unterzutauchen, alles zu vergessen, nur sie und er, weiter sollte nichts auf dieser Welt sein! – aber er rang alles in sich nieder. Er preßte ihre Hände, daß sie Schmerzen trug. »Ich fühl's an mir: Die Liebe, auch die größte! – macht selbstsüchtig. Und feige!« Die Worte klangen heiser und kamen stockend über seine Kehle. »Es ist gar keine Gefahr, du süßes Weib! Nicht mehr denn je! Es ist nur –« schloß er leise und stand auf, »weil ich jetzt so viel zu verlieren habe – –«
Er dachte daran, daß sie noch nie von der Zukunft, von seinen Aussichten gesprochen hatte. »Noch ein paar Tage, Einzige, – dann bin ich wohl ein freier Mann!«
Er küßte ihr die Augen, den Mund und die Hände. »So, nun leg' dich nieder!«
»Und du? – was wirst du tun? – Willst du nicht auch ruhen?«
»Nein! Noch ist genug zu tun! Da ist der Gefangene! Und morgen kommt das Kriegsluftschiff –«
»Attila, noch eins: Wie sieht Fritz Rusart aus? Ich könnte ihn beinahe hassen!«
»Du wärest kein Weib, wenn du darnach nicht gefragt hättest. Nur die Liebe kann ihn von mir unterscheiden. Die Bilder, die du kennst, bald er, bald ich!«
»Und einer nur von euch beiden hat Mut!«
Er nahm sie noch einmal in seine Arme. »So spricht die Liebe! – Fritz Rusart ist ein großer Mensch. Er ist eine wichtige Erscheinung für die ganze Menschheit, und sieh, ich bin nur wichtig für ihn. Er ist zu groß – zu groß, als daß er die Beute eines jeden Mordbuben werden dürfte!«
»Ach – da ist es wieder!« klagte sie. »Wo ist die Gefahr! Ich wollte –, ich fühle Mut – –«
Er beruhigte sie. »Das Schlimmste ist vorüber. Es war in London und in Hamburg. Wir sind dicht vor dem Ziele. Wenn das dritte Schiff schwimmt, sind wir stark genug. Und jeder Verfolgung entrückt, meine Brigitte. Denn dann sind wir alle – alle Wissenden – in der Luft. Das war die Gefahr für mich, daß ich für ihn galt und immer unten war. Nachher sind wir ihnen entrückt und niemand weiß, wo wir erscheinen werden. So, nun schlaf wohl – –«
»Ich werde nicht schlafen können! – Wie soll ich! – Laß mich bei dir sein! – Der Gefangene – er macht mich ängstlich – –«
»Nicht doch! Wir sind alle auf der Hut! Wenn ich mit allem, was noch zu tun ist, fertig bin, sage ich es dir. – In einer Stunde! Ich klopfe von außen an das Zelttuch. Und wenn dann niemand antwortet – dann schläft die süße Seele – –«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde wachen – und antworten – –«
Er preßte sie an sich und eilte hinaus. Er wollte die eine Minute nicht zurückrufen.
Brigitte lag bis zum frühen Morgengrauen wachend und lauschend auf ihrem Lager. In einem Traum ohne Schlaf. Ab und zu hörte sie Schritte. Sie näherten sich aber niemals dem Zelte. Attila bezwang seine Sehnsucht. Er riß seine Gedanken mit Gewalt zu feiner Pflicht. Und am liebsten hätte er die Nacht wenigstens vor dem Zelt auf dem Erdboden liegend zugebracht, auf der Stätte, über die ihr Fuß geschritten war.
Er ging hinüber zu dem Gefangenen, der gewaschen und mit Nahrung versehen worden war. Seiner Fesseln hatte man ihn keine Minute entledigt.
»So soll das Verhängnis aussehen,« meinte Attila zu sich, »dann ist es wie der Schleier zu Saïs!«
Er ließ seine Blicke auf Shermon ruhen. »Sie sind Engländer?« fragte er in englischer Sprache.
Kein Zug im Gesicht, keine Schattierung im Auge des Gefangenen veränderte sich. Und doch hegte Attila nicht den geringsten Zweifel, daß er einen Engländer vor sich hätte.
»Brandt und Werkenthin! Bestreichen Sie mit dem Scheinwerfer die Tannenlisière. Schattendeckung hierher. Die anderen bleiben!«
»Ganz sauber ist's nicht, Herr! War's schon den ganzen Abend nicht!« antwortete Werkenthin vor dem Hinaustreten.
»Sie sind mit dem Luftschiffe hierher gelangt,« wandte sich Attila wieder an den Gefesselten. »Ohne Einladung! – Wider meinen Willen! Wenn Sie nicht reden, würde ich an sich keine Umstände mit Ihnen machen. Ich schösse Sie über den Haufen. Und Sie würden sofort verscharrt!« Attila steckte sich eine Zigarre an. »Aber Ihre Landsmannschaft ist von Interesse für mich, – und da Sie nicht sprechen, werde ich wenigstens hören, in welcher Sprache Sie schreien!«
So steinhart Attilas Gesicht aussah, so gleichgültig blickten Shermons Augen. Und doch fieberte es im Gehirn des Gefangenen. Der Kerl, der Rusart, sah ihm ganz verflucht aus. Und daß dahinten die Kameraden lauerten, das konnte jetzt gar nichts nutzen. Noch war die Zeit nicht gekommen. Sie wußten, daß er hier war. Zwei von ihnen hatte er gesehen, und sie hatten ihm zugenickt. So würden sie auch wissen, daß er mit dem »Gracile« gekommen war; wenn sie auch nicht ahnen konnten, einen wie außerordentlichen Nutzen ihm die Gefangenschaft eingebracht hatte. Und es war alles in schönster Ordnung, wenn er sich noch Hinhalten konnte. Aber der hier –? – Sah der nach »Hinhalten« aus?
»Antworten Sie! – Wie heißen Sie, – und woher?«
Als ob es keine Drohung, keine flatternde Angst gäbe, so sah ihn der Gefangene an.
»Schwarz und Mehring, – jeder einen Revolver! Nein, so nicht, – die kleinkalibrigen. – Sie stellen sich zwei Schritte hinter den Burschen. Auf jeder Seite einer. Wenn ich drei zähle, zerschmettert ihm jeder einen Ellenbogen!«
Shermon fühlte, wie ihm kaltes Wasser vom Genick über den Rücken lief. Er hatte die Szene noch in jüngster Erinnerung, da er durch die Luke auf die Wolken geworfen werden sollte. Und der hier schien auch Ernst zu machen. – Er konnte nicht verhindern, daß seine Zähne dichter aufeinander bissen, als er hinter sich die Revolver spannen hörte.
Attila trat zur Seite und nahm die Zigarre aus dem Munde. »Der Name?« fragte er ohne besonderen Akzent.
Der Gefangene blieb stumm.
»Wie Sie wollen!« Dann kommandierte er gleichgültig und langsam: »Eins – zwei – drei!«
Die Schüsse krachten. Shermon wankte. Sein Gesicht sah grau aus wie stumpfe Asche und verzerrt; aber er gab keinen Laut von sich. Attilas Leute hatten seinen Wink richtig verstanden und die Kugeln aus den Patronen gezogen, so daß Shermons Arme nur vom Luftdrucke getroffen worden waren.
»Auf Ihrem Gebiete sind Sie ein brauchbarer Kerl! – Und deswegen um so gefährlicher! – Haben Sie mir jetzt etwas zu sagen?«
Seine Augen blickten kalt auf den Mann vor ihm. Er sah, wie langsam wieder Farbe in das Gesicht einzog. »Taub sind Sie nicht! – Das haben wir festgestellt!«
»– – Und auch nicht stumm!« kam es in deutscher Sprache und verächtlich von des Gefangenen Lippen.
»Also doch Engländer!« sagte Attila. Er hatte den fremden Klang in der Aussprache gehört. »Hätten Sie gleich Ihr Deutsch gesprochen, konnten wir Pulver sparen. – Was wollten Sie auf dem ›Gracile‹ – und weshalb trugen Sie den Wattepanzer?«
»Ich werde nicht antworten!«
Attila nickte. Er war überzeugt, auch vor die Mündung einer Kanone gebunden, würde der Mann stumm bleiben. Nach einer Weile sagte er: »Weil jede Antwort Ihnen teurer werden würde als jedes Schweigen! – Das ist genug für uns! – – Gegen Sie! – Abführen!« –
Die Fesseln wurden nochmals eingehend untersucht, und dann wurde Shermon in die Holzhütte neben dem Laboratorium gebracht. Zur besseren Vorsorge ließ Attila die Scheinwerfer bis zur Morgendämmerung spielen.
Die Sonne kam. Und mit ihr das Gefühl neuer Kraft und größerer Sicherheit. Es wurden alle Vorbereitungen für den Empfang des »Robur« getroffen. Von Zeit zu Zeit sah Attila nach dem Gefangenen. Er war so untergebracht, daß er die Ankunft des Luftschiffes nicht bemerken konnte, und einer der Leute hielt sich stets als Posten in seiner Nähe auf. Von dem Blockhause bis zu den dichten Tannen betrug die Entfernung wenigstens hundertfünfzig Schritt, und auch der Ausblick nach diesen Tannen war ihm unmöglich gemacht.
Attila und Brigitte standen vor Brigittens Zelt beieinander. Sie strich ihm schmeichelnd über die Hand. »Du siehst so ernst aus, mein Attila! – Und ich bin so glücklich, so überglücklich!«
Er hätte sie darauf hinweisen können, daß er immer ernst gewesen wäre, und wenn er jetzt doppelt ernst aussähe, käme es nur daher, weil er unter dem Schatten seines Wortbruches wandelte, – aber er sagte ihr das andere, was ihn auch ernst stimmte, – was aber nur eine Episode war. »Ein Mensch mit Riemen an Armen und Beinen ist mir gegen die Natur, Brigitte! – Es ist mir zuwider, ihn dort gebunden liegen lassen zu müssen – –«
»Ist er denn so gefährlich?«
»Vielleicht – sehr! – Und mit der ordentlichen Gerichtsbarkeit – wer kann hier darauf warten! –«
»Und was er will – –?«
»Das weiß ich; wissen wir alle! – Aber wie, – mit welchen Mitteln!«
»Er hält dich für Fritz Rusart?«
»Natürlich! Wie sollte er anders! Von denen, die es nicht erfahren durften, gibt es nur eine, die es besser weiß. – Ein Weib! – Und das bist du!«
»Gehöre ich zu euren Feinden?« sie schmiegte sich zärtlich an ihn.
»Nein, du liebes, schönes Kind, nein!«
»Aber er, Attila! So halte dich fern von ihm!«
»Ein schöner Speerträger l« spottete er.
»Wo ist Fritz Rusart? – Ich nenne den Namen immer noch mit einem wunderlichen Gefühl!«
»Er bringt von Hamburg den ›Robur‹ hierher. Heute noch. Er kann bald eintreffen. Und schwimmt dann sofort ohne Aufenthalt mit der ›Pax‹ nach Berlin. Zum Vortrage beim Kaiser. – Sobald wir ausgerüstet sind, fahren wir nach. Über dem Tempelhofer Felde, dem Exerzierplätze der Garde, will Rusart die Manöver mit den beiden Fahrzeugen vorführen. Und übermorgen, wenn der ›Gracile‹ heimkommt und seine Gäste abgesetzt hat, soll er sich auch anschließen!«
»Und dann?«
»Du frägst für dich, mein Schatz?« Er umfaßte sie mit einem warmen, liebenden Blick.
»Ja, – für mich! – Für uns!«
»Ich denke, dann ist meine Rolle ausgespielt! – Dann ist er sicher. – Und braucht keinen Speerträger mehr.«
Drüben trat der Chemiker in die Türöffnung und hielt die linke Hand hoch. Attila winkte ihn heran. »Letzte Meldung,« sagte der andere, »die ›Pax‹ mit Last über Dernburg. Richtung Goslar. Höhe 2000 Meter.«
»Dann sind sie in einer Stunde hier!« rief Attila. Alle trüben Gedanken, alle Selbstvorwürfe waren aus seinem Gesichte verschwunden. Er war wieder der Mann, den seine Verantwortung hob; der Mann, der ohne Rücksicht aus Gefahr seinen Platz ausfüllen wollte, der Mann, der stolz darauf war, daß sich ein anderer auf ihn verließ. Ohne die Fürsorge für den Gefangenen und die Beobachtung der angrenzenden Umgebung einen Augenblick aus den Augen zu lassen, traf er alle Anordnungen, die zur Beschleunigung des neuen Ausstieges nötig waren.
Dann wendete er sich zu Brigitte. Sie sah ihn froh und stolz an. »Nun sind mit einem Male alle Schatten weg, du Einziger! Aber was fängst du nur mit deiner Brigitte an? Die mußt du mitnehmen!« Ein leiser Zug an seinen Augenbrauen hieß sie eindringlich bitten.
»Meine Absicht war es eigentlich nicht,« wehrte er leise ab, »aber nun – wir werden wohl müssen! Den ›Gracile‹ hast du abgelehnt, hier kann ich dich nicht lassen, und Zeit – –«
»Zeit, mich los zu werden, Einziger, ist, Gott sei Dank, auch nicht mehr! Und denk' doch dran,« bat sie innig, »wenn du auch ohne mich sein könntest, ich halte es nicht aus ohne dich! Wenn irgendeine Gefahr drohte – der Gedanke, ich wäre dann nicht bei dir, ist nicht zu ertragen!«
Mit einem sicheren Lächeln strich er ihr über die Haarkrone. »Jetzt ist es Tag; man kann sehen. Hier sind stämmige Leute. Und das Personal, das der ›Robur‹ mitbringt – ich glaube an keine Gefahr mehr, meine Brigitte –«
»Dann kannst du mich erst recht mitnehmen!«
Er sah, wie das Weib vor ihm bittend die Hände faltete, wie ein Kind.
Und er nickte. »Du hast recht! Wie soll ich auch anders! Komm mit!«
Der verschwiegene Gehilfe im Laboratorium wurde stets davon unterrichtet, wo sich die' Luftschiffe befanden. Attila klärte ihn über die nächsten Stunden auf. Die ›Pax‹ beordere ich sofort nach Berlin. Sie soll dem Kaiser vorgestellt werden; im Schloß. Ich gehe mit dem ›Robur‹ hoch, den ich hier vollständig armieren werde. Wir machen eine Proberundfahrt um den Harz und schwimmen dann über Oschersleben-Magdeburg ebenfalls nach Berlin. Der ›Gracile‹ hängt über der ungarischen Tiefebene. Richtung: Triest-Vesuv. Die Sicherheitsmaßregeln hier bleiben, wie sie waren. Mit den Retorten kann niemand etwas anfangen. Und für Sie und die Einrichtung bleiben zwei Mann hier. Die Drähte mit den Schlagwerken lassen Sie auch liegen. In zwei Tagen bin ich wieder hier!«
Der Chemiker nickte. »Und der Gefangene?«
»Sobald wir aufgestiegen sind, telegraphieren Sie nach Schierke. Der Ortsgendarm soll ihn holen. Die Personalien feststellen, was ihm nicht gelingen wird. Deswegen muß er ihn vorläufig in Haft behalten, und das entspricht gerade meiner Absicht. – Alles klar?«
»Ja!«
»Nun, dann an die Arbeit! – Es gibt gleich alle Hände voll zu tun!«
Am Himmel erschienen zwei Punkte. Der eine unter dem andern. Sie vergrößerten sich zusehends. Nach einer Viertelstunde konnte man die Verbindungsdrähte zwischen beiden erkennen. Nicht lange, und der Stützrahmen des »Robur« ging herunter. Die »Pax« zog ihre Taue ein und sank neben ihrer Last zu Boden. Attila ging, durch die »Pax« gedeckt, um diese herum nach dem »Robur«, so daß es schien, als ob er der »Pax« entstiegen wäre. Und weder er noch Fritz Rusart ließen sich irgendwo an Deck ihrer Schiffe sehen.
Die »Pax« nahm etwas Proviant ein und stieg nach wenigen Minuten wieder hoch.
Bis auf die Einschaltung des Fahrtriebes war der »Robur« fahrfertig. Er konnte steigen und sinken, nur noch nicht lenken. Da aber alles übrige in Ordnung war, bedurfte es nur der Arbeit einer Stunde, um die Propellerflügel rundherum mit der Kraftstation zu verbinden. Dann ging es an die Präzisions-Mechanik. Die Teleskop-Lotvisiere mußten eingestellt werden. Das hätte zur Not auch im Schwimmen gemacht werden können, aber, da der Proviant noch zugefahren werden mußte, benutzte man diese beiden Stunden zur Arbeit und zum Ordnen und Festlagern der Munition. Für jedes der acht außen in kardanischer Aufhängung schwingenden Geschützrohre nahm der »Robur« zwanzig massive und Zwanzig mit Sprengladung gefüllte Geschosse mit.
Das Personal war eingeschifft. Attila hatte, ohne viel zu sprechen, seine Anordnungen durch Winke getroffen. Brigitte befand sich in einer der besseren, allerdings nicht besonders komfortabel ausgestatteten Kabinen, die letzte Ladung wurde gerade herangeschleift und Witt erhielt nach der Kommandokammer eben das Signal zum Aufholen des Stützrahmens, als aus den Tannen von verschiedenen Seiten zugleich gellende Pfiffe ertönten. Wie bei Menschen, in deren Sprüngen die Verzweiflung letzter Todesangst wütet, so rasten wohl ein Dutzend Gestalten über den Platz.
Attila war nicht der Mann, die Geistesgegenwart zu verlieren. Er sah sofort, wie verhängnisvoll der Augenblick werden konnte.
»Luke zu!« donnerte er hinunter. »Dreihundert Meter! Hoch!«
Die draußen arbeiteten auch nach langem Plane. Worauf niemand geachtet hatte, – sie hatten bei ihrem Ansturm Shermon befreit. Dieser jagte, die zerschnittenen Fesseln an Armen und Beinen, über den Platz, drängte sich an die Spitze, wobei er noch ein paar Kameraden zu Fall brachte, und setzte mit einem drei Meter langen Ansprunge in die Luke, den, der sie schließen wollte, mit schwerer Faust zu Boden schlagend. Hinter ihm her drei seiner Genossen.
Der »Robur« stieg. Von den Zurückbleibenden kletterten acht auf den Stützrahmen. Die beiden letzten fluchten und wetterten und sprangen verzweifelt umher, konnten aber nicht mehr nach dem entschwebenden Kolosse hinaufreichen.
»Schießt die Halunken einzeln herunter!« kommandierte Attila. So sehr ihm das Blut durch die Adern tobte, er wußte doch jeden Moment, was zu tun war. Und so maßlos frech der Überfall war, er war doch abgeschlagen.
Jeder einzelne da draußen war Fallobst, – aber der Revolver, den er schon erhoben hatte, – und er war nicht willens gewesen, irgend jemanden zu schonen – er sank ihm mit der Faust zu Boden, kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, und sein Gesicht, eben noch zorngerötet, sah bleich aus, wie das einer Lerche. »Tausend Meter!« schrie er heiser, »tausend!«
Der Robur, der schon eine ansehnliche Höhe erreicht hatte, sank; sank mit einer ganz gefährlichen Geschwindigkeit.
Shermon war nur von einem Gedanken beseelt gewesen: alles, was ihm in den Weg kam, mit Faustschlägen und Fußtritten wegzuräumen, in die Kommandokammer zu stürzen, Witt, der an den Hebeln stand, niederzuschlagen und durch Herumreißen der Hebel, den »Robur« wieder zur Erde zu bringen.
Das Fahrzeug stieß fürchterlich auf; mit einem Ruck, der selbst die festgefügte Kommandokammer zum Klirren brachte. Attila sah Witt besinnungslos an Deck liegen. Mit einem Satze heranspringend, wollte er die Hebel wieder herumschlagen, aber es war zu spät. Wie die Katzen waren sie herübergeklettert und überfielen ihn mit vier Mann.
»Auseinander die Arme!« schrie einer. – »Denkt an die Batterie!«
Und ob er sich wie ein Löwe wehrte und ob sich auch Brigitte, alle Gefahr vergessend, in den Knäuel warf, ob er auch seine Feinde über das halbe Deck hinwürgte und mit Aufbietung aller Körperkraft die Köpfe der Gegner aneinanderschlug, er wurde zuletzt überwältigt und mit ausgebreiteten Armen an zwei Säulen gebunden.
Das andere Personal war zum Teil niedergeschlagen, zum Teil wurde es überwältigt, der Rest ergab sich, jeden Widerstand als nutzlos einsehend.
Brigitte lehnte sich geisterbleich an Attila. Die Knie zitterten ihr. Ihr war, als sollten ihre Augen erlöschen.
»Mein Attila! Mein Attila!« stöhnte sie.
Er wandte sein Gesicht ab. »Sei still!« kam es über seine zuckenden Lippen. – »Denn jede Schuld …«
Die Engländer waren Herren im Schiff. Nachdem sie sich hiervon überzeugt hatten und kein Winkel im Schiff von ihnen undurchsucht geblieben war, wurde jeder von ihnen wieder Gentleman.
Der Führer trat zu Brigitte. Er hielt sie für Frau Rusart. »Madame! – Wir bitten Sie, sich zu beruhigen! – Niemandem soll ein Leid geschehen! – Nicht einmal dann, wenn der eine oder der andere von uns hätte daran glauben müssen. Wir bedauern die Notwendigkeit, so vorgegangen sein zu müssen.
»Wir haben unser Ziel erreicht. Und werden niemals vergessen, was wir einer Dame schuldig sind. Den Fall mit dem Steuermann –« er zuckte mit den Achseln – »hoffentlich kommt er wieder zu sich!«
Die Hoffnung war trügerisch. Witt war erschlagen. Die Engländer brachten ihn, nachdem alle Belebungsversuche ergebnislos verlaufen waren, in das Unterschiff.
Es wurde Kriegsrat gehalten. Naturgemäß wurde Shermon zum Steuermann ernannt. Er brachte den »Robur« auf Befehl des Führers in eine Höhe von tausend Metern und, da man die Brockenspitze noch neben sich sah, sogleich noch tausend Meter höher.
Wenn auch niemand die Art der Kraftzufuhr und der Übertragung kannte und sich jeder hütete, irgendwelche Experimente zu machen, so war es doch ein leichtes, die Hebel zu handhaben, sobald man ihre verschiedenen Bestimmungen kannte.
Es galt jetzt, England zu erreichen. Auf dem kürzesten Wege und in schnellster Fahrt. Schwierigkeiten irgendwelcher Art konnten nicht entstehen. Die Karte des Kontinents, soweit sie in Betracht kam, kannte man genau, und wo der Überblick über Flüsse, Seen, Städte nicht genügte, stieg man eben in größere Höhen.
Und bei der Fahrt wollte man zeigen, daß man diesem Mann schon jetzt jede Ehrerbietung zu erweisen bereit war, deren er daheim in England sicher war.
Der Führer trat zu Attila. Er nahm dabei eine Haltung an, wie sie der freie Engländer kaum einem Fürsten gönnen würde.
»Ich kann mir es nicht gestatten, mein Herr, Sie in Fesseln zu lassen. Würden Sie mir Ihr Wort geben, daß Sie sich als unser Gast betrachten und nichts gegen uns unternehmen wollen?«
Attila würdigte ihn keines Blickes und keines Wortes. Brigitte bat. »Tu es doch! Tu es doch!« Sie legte die Arme um seinen Hals. Er fühlte, wie ihr ganzer Körper zitterte. »Tu es!«
Er sah auch sie nicht an. Zorn und Scham erfüllten ihn gleichermaßen.
Da schob ihm der Engländer an beiden Armen die Kleidung zurück, durchschnitt die elektrischen Drähte, die sichtbar wurden, nahm ihm beide Armbänder mit den Kontakten ab und löste dann mit einem scharfen Schnitte die Fesseln. »Ich bitte Sie nur, sich jederzeit zu erinnern, daß wir uns selbst verteidigen müssen. Im übrigen ist nicht einer hier auf dem Fahrzeug, der nicht bereit wäre, Ihnen und der Dame in allem zu dienen, was Sie als unser Gast fordern könnten!«
Er trat zurück.
»Ach – mein – Attila!« stöhnte Brigitte leise.
»Ich hoffe auf – –. Ich bin immer eingetreten für ihn, – jetzt wird er helfen! – Wenn ich es nicht verscherzt habe –« schloß er leise.
Sie sank an ihm nieder. »Also – ich! – also ich!«
»Sei still! – Mein Herz! – Und laß dich's nicht kümmern. Wenn wir heute nachmittag nicht in Berlin sind, wird er sofort stutzig werden. – Er wird kommen. – Er muß ja!«
Die beiden wurden unausgesetzt beobachtet. Man konnte nicht verstehen, was sie sprachen; denn sie redeten leise und bedienten sich des Französischen, aber man war sich klar, daß man außerordentlich wachsam sein mußte, damit nicht der Mann, der durch seine Erfindung die Herrschaft über die Welt in seiner Faust hatte, etwa in einem Anfalle von Verzweiflung über Bord sprang. In dieser Hinsicht war man froh, daß seine Frau anwesend war.
Drüben entstand eine Verwirrung. Shermon trat mit verstörtem Gesichte aus der Kommandokammer.
»Wir können nicht fahren,« zischelte er dem Führer zu.
»Was? – Wie?«
»Die Hebel funktionieren nicht!«
»Aber –« man eilte in die Kammer.
»Hinauf und herunter – ja –, aber vorwärtskommen oder lenken, – es muß etwas in Unordnung sein.«
»Ja – sind's auch die richtigen Griffe?«
»Ich kenn' sie! – Ja! – Hier,« – er bewegte die Hebel. »Jetzt steigen wir. Nun geht's wieder hinunter. Und das hier sind die Griffe für Fahrt, Steuer- und Backbord.« – Er schob sie hin und her. »Nichts! – Gar nichts! – Es rührt sich nichts!«
»Und nun?«
»Ja – nun!«
»Beinahe nicht mehr als ein gewöhnlicher Ballon!«
»Wir müssen den Mann fragen –«
»Er wäre ein Narr! – der er nicht ist!«
»Oder wir müssen eben den Wind benutzen.«
»Wir brauchen Ostwind. Es ist Westwind!«
»Dann müssen wir ihn suchen. Steigen und fallen können wir ja. Und irgendwo muß doch –«
»Ich will erst das andere versuchen.« – Der Führer ging hinüber zu Attila und lüftete den Hut. Er sah in Attilas Augen ein kaltes Lächeln.
»Mein Herr! – Der Apparat ist in Unordnung. Wir vermögen die Flügel nicht zu drehen. Würden Sie die Güte haben, uns Anweisung zu geben –?«
Attila brauchte seine ganze Energie, um die wilde Freude zu verbergen, die in ihm aufloderte. Er hatte aus dem zwecklosen Auf- und Niedersteigen schon auf Unregelmäßigkeiten geschlossen und sich gewundert, daß man die Schrauben nicht in Bewegung brachte. Daß mehr als Unkenntnis und Ungeschicklichkeit, daß eine Störung vorlag, das hatte er nicht zu hoffen gewagt.
In das kalte Lächeln mischte sich der Hohn. Aber es kam kein Wort über seine Lippen. So sahen sie sich wohl eine Minute lang an.
Dann trat der Engländer mit finsterem Gesichte Zurück und ging zu seinen Kameraden.
»Was ist, Liebster?« fragte Brigitte ängstlich.
»Vorhin bei dem Aufstoße! – Ein großes Glück! – Es müssen ein paar Kontakte gerissen sein. – – Die Stunde kommt! – Schneller, als ich gedacht!«
»Und nun?«
»Sie hängen vom Winde ab. – Der geht nach Osten! – Nach Osten!«
Die Engländer berieten und untersuchten und probierten. Es waren auch technisch Gebildete unter ihnen. Sie waren zaghaft, weil sie Besorgnis hegten, daß sie bei jedem einzelnen Griffe vielleicht das ganze Schiff gefährden könnten. Andere, als ungeheuerlich starke Ströme konnten sie sich bei einem Betriebe, dessen Quelle Elektrizität sein mußte, nicht denken.
Sie hätten keinen Moment gezögert, den Mann auf alle erdenkliche Art zu zwingen, ihnen jetzt zu helfen, wenn es sich lediglich um das Fahrzeug gehandelt hätte; ja, sie wären vor körperlichen Martern nicht zurückgescheut, – aber noch wichtiger als das Schiff war der Mann. Viel wichtiger! – Und sie hatten ihre Instruktionen.
So gingen sie auf die Suche nach günstigem Wind.
* * *
Hätten sie Ruhe gehabt und sich die Muße genommen, mit den scharfen Gläsern über Bord zu sehen, dann hätten sie tief unten im Tal den jungen Chemiker beobachten können. Nachdem er sich von dem ersten schweren Entsetzen erholt hatte, war er aufgesprungen und hinauf nach dem Brocken gekrochen. Oft atemlos innehaltend und immer wieder von neuem vorwärtsstürzend. Oben war er keuchend in den Telegraphenraum gewankt. Und ohne sich Zeit zum Erholen zu lassen, immer fieberhaft nach dem einen Punkt am blauen Himmel lugend, hatte er an den deutschen Kaiser ein Telegramm aufgegeben. Andern Rat hatte er gar nicht mehr gewußt. Dort war ja die »Pax«. Die mußte helfen!