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Zweites Kapitel.

Hoch oben in der Luft hing die »Pax«. Sie war von ihrem Liegeplatz im dritten Hafen senkrecht emporgestiegen, durch den schweren Dunst und durch die Wolken. Das Rauschen und Tosen hatte sie bei ihrer plötzlichen Abreise dadurch verursacht, daß sie den von ihr eingenommenen Raum für das sofort nachstrudelnde Wasser frei gab.

Bei 1100 Meter Höhe veränderte Fritz Rusart die Hebelstellung. Die »Pax« hörte auf zu steigen. Sie schwebte im Winde. Das Chronometer zeigte sieben Minuten nach Mitternacht.

Der Herr sah nach seiner Mannschaft hin. Keinen Stolz im Blick, keine Befriedigung über den ungeheuren Erfolg, nichts von sich dehnender Sucht nach dem, was ihm nun die Zukunft bringen mußte; er sprach nur eine tief-ernste Warnung aus: »Laßt euch nicht blenden! Mehr als Menschen werden wir nicht!«

Er mußte eine außerordentliche Gewalt über die anderen haben. Jeder wollte zu ihm; jeden trieb es, ihn zu umarmen, ihm die Hand zu drücken; jeder hatte mit dem Ereignisse der letzten Minuten gerechnet, und nun sie es tatsächlich erlebt hatten, überwältigte es sie doch, – aber keiner wagte es, ihn zu berühren. Die unterdrückte Erregung machte sich gewaltsam Luft. Sie durften nicht tun, was sich ihnen als Menschen aufdrängte, diesen Mann auf die Schultern zu nehmen und ihn durch Huldigung zu feiern, – nun mußten sie tun, was ihnen als Männern unziemlich war: sie ließen den Tränen freien Lauf. Aber mit zusammengebissenen Zähnen, damit wenigstens das Schluchzen nicht laut wurde.

Und doch zog, trotz aller Mahnung, trotz aller Warnung, durch ihrer aller Seelen die Melodie: Er ist der Herr der Welt! Wir sind die Herren der Welt!

Fritz Rusart ließ eine schwere in Stahl gefaßte Glasplatte vor die beiden Hebel gleiten und trat mit den anderen an Deck. Wohin sie sahen: nichts als das sternenbesäte Firmament! Licht an Licht in den tiefen Tinten der Unendlichkeit! Und während der Führer seine Blicke in der Sternenwelt da oben schweifen ließ, beugten sich die anderen mit einer Vorsicht, in die Neugier und Grauen gemischt, waren, über Bord, um in den Abgrund, in die Tiefe zu sehen. Sie prallten zurück. Undurchdringlich! Als wäre über die Augen eine Binde von schwerem schwarzem Sammet gezogen. Ob man 100, ob man 1000 Meter in dieses ungeheure Nichts hinabsah, man konnte es nicht ermessen. Es war zu schwarz da unten. Jedes Gefühl für Perspektive war erloschen.

Frau Franziska klammerte sich eng an ihren Mann. Sie war von der Bordwand schaudernd zurückgetreten. Aus tiefster Brust Atem holend, richtete sie ihre Blicke nach dem Horizont und nach oben. »Zuletzt fürchtet man, man ist blind, wenn man nicht die Sterne sähe. Ich will auch stark sein, Fritz!« setzte sie hinzu, indes fieberhafte Erregung durch ihre Adern jagte.

»Wie wolltest du auch jetzt schwach sein,« erwiderte er leise, »am Anfang!«

Dann ging er zur Kommandotür. »Antreten zur Arbeit!« Kühl und klar schallte sein Befehl durch die Nacht.

Er gab der eilig herantretenden Mannschaft, vor deren Front Witt und Frank standen, Anordnung.

»Die Tarnvorrichtung wird ausgebracht. Zwei Stunden. – Die Propeller in die Auslage. Je eine Stunde; gleichzeitig. – Frank Steuerbord; Witt Backbord. – Zuletzt der Kraftansatz. Eine halbe Stunde. – Wenn die Sonne aufgeht, ist die ›Pax‹ fertig für die Horizontalfahrt!«

Er nickte, seinen Befehl beschließend. Die Leute traten sofort an ihre Plätze.

»Dich, Franziska, bitte ich, die graphischen Beobachtungen zu übernehmen. – Frieren kann es dich ja nicht, trotzdem du still sitzt; – bei diesem Pelz!«

»Trotz des Pelzes,« sagte sie lächelnd, »vielleicht würde es mich frieren – wenn ich nicht so erregt wäre!«

»Es gibt sich! Also sieh: mit der Handhabung weißt du ja genau Bescheid. Diese beiden Gläser – das eine unsere Dichtigkeit; das hier die Dichtigkeit der Atmosphäre: sie müssen gleich sein. Bei Veränderungen siehst du sofort nach dem Höhenmesser. Durch die Haupthebel reguliere nicht, ohne mich zu rufen!«

Er wollte hinauseilen. Sie hielt ihn zurück. »Ist es nicht zuviel für die Leute?! Den ganzen Nachmittag und die Nacht – jetzt noch bis zum frühen Morgen?«

»Sie dürfen noch nicht ruhen: Die ›Pax‹ muß erst vollständig eingeschirrt sein.«

»Geht das nicht nachher – vormittags?«

»Auch sollen sie noch nicht zur Besinnung kommen!«

»Und ich?«

Er wandte sich ab. »Ach – du! – Du darfst dich nicht überflüssig fühlen.«

»Endlich einmal ein halbwegs liebenswürdiges Wort!« rief sie ihm nach, als er, ohne ihr sein Gesicht zu zeigen, eilends hinausging.

Draußen, im Schweigen der Nacht, unter dem Flimmern der Sterne, begann die Arbeit, bei 17 Grad Kälte. Es waren Pelze verteilt worden. Zuerst ging es an die Tarnvorrichtung. Das war eine Einrichtung, bestimmt, die »Pax« künstlich unsichtbar zu machen. Sie bestand aus einer der Form des Kiels angepaßten, überall fünf Meter von dem Kiel entfernt unter dem Fahrzeug laufenden nach oben offenen Rinne. In ihr lagen nur gegen den Schiffsrumpf leuchtende starke Glühlampen, deren Strahlen, je nach der Handhabung von der Kommandokammer aus, durch blaue, grüne oder schwachrote Gläser fallen mußten. Fritz Rusart hatte eingehende Beobachtungen gemacht, um eine grau angestrichene Stahlplatte mittelst verschiedenfarbiger Beleuchtung so mit ihrer Umgebung in Einklang zu bringen, daß sie sich von dieser nicht mehr abhob und somit als besondere Erscheinung unsichtbar blieb. Das Ergebnis übertrug er jetzt auf die »Pax«.

Nach Verlauf von zwei Stunden war dieser Teil seines Befehls ausgeführt.

Das Ausbringen der Propeller ging rascher von statten. Für beide Arbeiten war der Umstand günstig, daß die Verrichtungen an Bord dicht an der Reeling vorgenommen werden konnten. Die gigantischen Scharniere ließen die fertige Tarnvorrichtung ins Lot unter die Schiffsmitte sinken, und in gleicher Weise wurden die auf dem Stahlrahmen befestigten Propellerflügel vier Meter entfernt vom Schiffsrand und drei Meter tiefer als die Bordkante hinausgeschoben. Sie wurden in unverrückbare Lager gebettet, die weit über die zu erwartende, genau berechnete höchste Beanspruchung Widerstand leisten konnten. Dann wurde in der folgenden, dafür angesetzten halben Stunde die Verbindung zwischen den Propellern und dem Kraftantrieb hergestellt. Nach Rusarts Berechnung mußte das Fahrzeug eine Geschwindigkeit von 120 Kilometern in der Stunde über stille Luft entfalten und noch 116 Kilometer leisten bei einem Gegenwinde von 5 Metern in der Sekunde. Die »Pax« war nun für ihre Aufgabe vorbereitet.

Die Schlafnetze wurden verteilt und, nachdem eine Stärkung eingenommen war, die Mannschaft zur Ruhe geschickt. Bald herrschte lautlose Stille im Schiff. Und doch dachte keiner der erschöpften Leute an Schlaf.

Erregung über das, was vor ihren sehenden Augen erreicht war, bilderreiche Hoffnung auf die Zukunft und dann wieder das plötzlich hineingleitende Sichbesinnen darauf, daß man über einer Luftsäule von 1100 Metern lag, hielt jeden wach. Elfhundert Meter! Wieviel Kirchtürme konnten da aufeinandergestellt werden! und wenn man nur so tief fiel, als einer hoch war! Nur vom schiefen Dach der heimatlichen Dorfkirche!

Rusart löste seine Frau ab, machte ihr in der Kommandokammer ein bequemes Lager zurecht und setzte sich dann, als er sie schlafend glaubte, an die Beobachtungsplatte.

Nachdem er an dem Höhenmesser ein Alarmsignal für ein Minimum eingestellt hatte, zog er aus einer verborgenen Schieblade ein Buch hervor und setzte sich zum Schreiben hin. Auf der ersten Seite des Buches stand: Tagebuch. Das aufgeschlagene leere Blatt zeigte die Zahl 117.

Er schrieb:

»Bis jetzt ist dieses Buch der Niederschlag meiner Gedanken gewesen. Die Kristallisation, unaufhörlich flutender Gehirnarbeit. Auch eine Art Selbstkontrolle. Und weil ich am Spätabende noch würde wissen wollen, wie ich gewachsen bin; wie ich über Morgen und Mittag gekommen bin. Ich war ein Mensch unter vielen. So habe ich es für mich, an mich geschrieben.

»Jetzt stehe ich allein. Und ich gehe eine gefährliche Bahn. Alle anderen stehen auf der andern Seite. Wenn nicht mir gegenüber, doch von mir getrennt. Ich will sie mir alle – aber auch alle – zusammengegossen denken in einen einzigen Guß; in einen einzigen Menschen. Der wird mein bitterster Feind sein, und den will ich lieben. Mit dem will ich versuchen, in Frieden zu kommen. Es wird schmerzlich schwer sein, denn ich bin stärker als er. So werde ich achtsam sein müssen. In Frieden sein, heißt nicht, stille sein vor Furcht. Sein Friede soll nicht sein Zittern sein. –

»An diesen einen will ich von jetzt ab schreiben. Er soll mir der sein, dem ich helfen will. Was für eine Aufgabe für mich! Denn er steckt in einem Panzer, von dem eine jede einzelne Schuppe eine festgefügte, festgeschmiedete Anschauung ist; eine Anschauung, die er für unumstößlich hält, weil nichts gewesen ist, sie 31t brechen; die er für ewig hält, weil sie eher da war als er. Das Evangelium einer Eintagsfliege.

» Saltemus medias in res! Soll es nicht stutzig machen, daß der Mensch die Erde überwandert und die Meere durchkreuzt, und daß er heute noch nicht imstande ist, sich in der Luft zu bewegen? Soll es nicht stutzig machen? Und ist nicht die oft gehörte Antwort: »Das ist ihm wohl nicht bestimmt!« von einer geradezu frivolen Bequemlichkeit?

»Ich will nicht weh tun; nicht den Panzer mit einem Speere durchstoßen. Behutsam will ich die Stelle lösen, wo sich der Rost schon an das Fleisch herangefressen hat.

»Ich will vom Beginn ausgehen. Nicht, wie die Bibel, unser schönstes Buch, erzählt: Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde, und die Erde war wüste und leer, und es war finster auf der Tiefe, und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Das scheint zeitlich alles zusammenfallend. Und so war's nicht der Anfang. Den Beginn aller Zeiten weiß ich auch nicht. Aber ich meine eine frühere Zeit zu wissen als die Bibel.

»Als der Teil des Weltalls, in dem unsere Erde kreist, auf des Schöpfers Geheiß entstand, erging ein gewaltiges Runden und ein gewaltiger Schwung in dem Chaos. Und alles wurde in dem ungeheuren Wurf mitgerissen.

»Wenn ich nun sagen soll, wie man das innerliche Wesen der kreisenden Materie, wie man ihre durchgreifende Beschaffenheit bezeichnen soll, dann muß es heißen: Im Anfang war das Gleichgewicht. Alles raste gleich schnell; schwer oder leicht, verwandt oder nicht verwandt. Im Anfang! – aber nach und nach kam jedes Teilchen zur Besinnung und zum eigenen Gefühl. Aus dem Begriff der Masse wurde eine Masse von Begriffen; die schweren konnten mit den leichten nicht mehr schnell genug miteilen. Sie sanken. Gleiche zu Gleichen. Das Schwerste am tiefsten. Es entstanden Erze und Erden, und die schweren Gase fanden einander und bildeten Wasser. Das stand über Erden und Erzen und drang nur ein, wo Spalten klafften. Es füllte die Täler und bildete Meere. Und die anderen Gase blieben oben.

»Die Menschen in ihrem durstigen Wissenwollen haben sich alles erklären wollen. Sie wollten, weil sie mußten. Ein Trieb zwang sie dazu. Von innen heraus. Sie kamen auf den Weg: sie wogen ab. Und nannten, was sie fanden, spezifisches Gewicht. In der Einheit der Luft für alles Gasförmige, in der Einheit des Wassers für alles Feste und Flüssige. Sie fanden in dem spezifischen Gewichte den Regulator zwischen allem Seienden und seiner Umgebung. Auch für sie selbst: für ihr Leben. Nicht nur das physische, auch das in der Gemeinschaft. Hat ein Mensch nicht das spezifische Gewicht seiner Umgebung, so muß er sich von ihr trennen. Sieht es in ihm fauliger aus und stickiger, sinkt er; ist er reiner und geklärter, steigt er. Und keiner wird sich in einer andern Gesellschaftsklasse halten können, es sei denn, er nehme ihr spezifisches Gewicht an.

»Ist nun niemand auf den Gedanken gekommen, daß, wer in die Luft steigen will, sich ihr spezifisches Gewicht zu eigen machen muß?

»Weshalb meinten sie alle bei ihren unbeholfenen Versuchen, sie müßten leichter sein als die Luft!? Wollten sie auf der Luft schwimmen? Wollten sie über ihr dahingleiten? – Und die anderen, weshalb meinten sie – nach den aussichtslosen Versuchen der ersten – man müsse schwerer sein, als die Luft! Sind sie das nicht immer gewesen?

»Die Forderung ist klar: da nichts ist, was uns stützt, nicht schwerer – und, da wir nicht über dem Luftmeere sein wollen, nicht leichter, sondern genau so schwer, genau so leicht wie die Luft. Es ist beides eins.

»Nicht das Luftschiff, sondern den Luftfisch mußten wir haben. Und das habe ich erreicht!

»Und es könnte ungeheurer Gewinn sein. Für den andern und für mich. Denn je länger man mit geschlossenen Augen in die Weiten schaut, die sich nun auftun, um so verblüffender, um so reizvoller werden die Perspektiven.

»Aber nur dahinten – ganz hinten am Horizont, wo die Blicke an fast verschwimmende Ziele stoßen und doch die Welt erst anfängt. Dahinten schimmert der ewige Friede.

»Dazwischen liegt ein jammervolles Trümmerfeld.

»Weil wir so sehr spät kommen. Und reichten die ersten Wurzelfasern der heute gültigen elementarsten Anschauungen in Recht, Besitz, in Sitte und Gemeinschaft nicht weiter zurück, als ein elendes Jahrhundert, so wäre es schon ein Durchwühlen, ein vollständiges Umpflügen – – –«

Eine feine Glocke schlug an. Rusart sah hinüber. Die »Pax« war langsam um 160 Meter gesunken. Das Höhenglas stand genau auf dem eingestellten Minimum. Es war gegen 7 Uhr morgens. Im Osten war der Frühlichtschein schon durch die ersten aufschießenden Sonnenstrahlen verdrängt. Die kurz, vorher tiefer gesunkene Temperatur war um fünf Grad wärmer geworden. Rusart nahm ein Stück Papier und rechnete. Luftwärme und Dichte, künstliches spezifisches Gewicht der »Pax« und Höhenstand – es stimmte genau. Für ihn keine Probe, sondern ein Beweis!

* * *

Mutter Sonne hatte sich auf den Weltreisen die frauenhafte Neugier langsam abgewöhnt. Als sie sich heute morgen aus ihrem Lager im fernen Osten noch reckte und streckte, war schon das kleine Frühlicht, das niemals die Zeit abwarten konnte, vor ihrem gelbseidenen Pfühl herumgesprungen.

»Mutter! Mutter! So komm doch! Schnell! Sie haben's herausbekommen!«

Frau Sonne blinzelte. »Liebling! Du freust dich jeden Tag über etwas anderes. Was wird's heute Großes sein! – Aber ich komm' schon, ich komm'!«

Und sie reckte ihre Arme hoch, daß die goldenen Strahlen am Himmelsglobus emporschossen. Dann wusch sie sich. Und weil das kleine Frühlicht sich gar nicht genug daran tun konnte, sie zur Eile zu mahnen, und da es fortwährend an ihren Hüften hing, verspritzte sie von dem himmlischen Wasser so viel und so weit, daß es in Myriaden flüssiger Perlen durch den Äther flog und sich als kristallener Tau ins Erdengebiet verirrte.

»So komm! – Nun ist's aber gut! – Sei artig! – Ich erzähle dir es auch, wenn ich wiederkomme.«

»Ach, nimm mich mit! nimm mich mit!«

»Aber! seit wann …?«

»Ach, einmal! ein einziges, einziges Mal!«

Frau Sonne hob das kleine Frühlichtchen hoch und verbarg es in ihrem blendenden, strahlenden Mantel, so daß nur das neugierige Näschen und die funkelnden Augen herausschauten.

Dann ging es auf die Wanderschaft. Hinauf am ewigen Dom.

»Siehst du?! – Da! – Siehst du's? – Jetzt können sie fliegen!«

»Wirklich, es scheint so! Aber, doch erst mal genau ansehen …«

»Und du hast immer gesagt, sie werden es nicht lernen …«

»Ja, weil's doch nie etwas geworden ist …«

»Nun können sie es aber!«

»Ja, sie bewegen sich sogar gegen Wind und Wolken …«

Frühlichtchen wollte in die Hände klatschen. Mutter hatte es aber zu fest eingewickelt. Sie drohte jetzt: »Wenn du nicht gleich artig bist, dann schicke ich dich wieder nach Haus. Aber sofort!«

»Ach, was du wohl tust!« kam es vergnügt aus den glänzenden Falten, »ich darf jetzt ja gar nicht mehr allein über die Straße!«

Da mußte Mutter Sonne in ihrer verborgenen Freude über den schlauen Liebling von Herzen lachen. Und von dem Lachen wurde es noch einmal so hell und noch einmal so warm.

* * *

Fritz Rusart stand allein an Deck. Seine Brust hob sich. »Das große Licht scheint's heute gut zu meinen!« Er ließ das Weck-Signal über die »Pax« schallen. Es wurde überall lebendig, und eine halbe Stunde später stand die Besatzung arbeitsfertig da.

In der Kommandokammer wurde Befehl ausgegeben. Jeder einzelne der Mannschaft erhielt einen bestimmten Teil des unter der »Pax« liegenden atmosphärischen Kubus zur Beobachtung und Bewachung zugewiesen. Da es streng verboten wurde, ohne besondere Erlaubnis über Bord zu sehen, hatte sich jeder mit der Einrichtung der Doppelspiegel und dem Ablesen aus ihnen vertraut zu machen.

»Solange wir die einzigen sind,« erörterte Fritz Rusart seinen beiden Offizieren, »wird ein Ausguckposten nur nötig sein bei geringem Höhenstand. – Wir haben bei unserer örtlichen Lage zwischen den skandinavischen Erhöhungen und dem Harze nicht auf Ausstöße zu rechnen; den regulierten Stand von 500 Meter über See vorausgesetzt.

»Frank, Sie machen sofort das Besteck auf und übernehmen die ›Pax‹ auf zwei Stunden. Witt instruiert draußen unter gleichzeitiger Benutzung der Kammersignale. Jedem einzelnen von den Leuten müssen die Signale in Fleisch und Blut übergehen!«

Witt trat unter kurzer Verbeugung hinaus.

»Nach Aufmachen des Bestecks«, fuhr Rusart zu Frank gewendet fort, »punktieren Sie uns auf der Kartenwalze. Dann halten Sie die ›Pax‹ auf 900 Meter und gehen mit 40 Kilometer Fahrt West zu Südwest. In der Nacht hatten wir steifen Südwind. Wir werden so ziemlich über der Ostseeküste treiben. In einer halben Stunde verdichten Sie so lange, bis wir durch die Wolken sinken. Bekommen wir bei 200 Meter keinen Ausblick, so gehen Sie sofort auf 1100 Meter hoch. Sie werden abgelöst durch meine Frau!«

Frau Franziska beteiligte sich an sämtlichen Maßnahmen Franks. Rusart inspizierte das Fahrzeug. Von oben bis unten. Es war wie auf einer Theaterbühne. Bald sah man ihn an einer Stelle des Decks in einer Versenkung verschwinden, bald tauchte er an einer andern Stelle aus einer Versenkung wieder herauf. Sämtliche Kammern wurden von ihm geprüft. Er stieg in das Unterschiff und ließ eine der am tiefsten gelegenen Platten zur Seite gleiten. So sah er direkt hinunter auf die tief unter ihm zusammengeballten Wolkenmassen. Es war Fürsorge getroffen, daß niemandem aus Versehen der Boden unter den Füßen entschwinden konnte. Zum Verschieben jeder einzelnen Platte gehörte eine Kombination von vier bestimmten Hebelstellungen; und diese wiederum verhinderte jede Bewegung der ringsum angrenzenden Platten.

Rusart beobachtete die unter ihm entlang laufende Tarnvorrichtung. Sie war das einzige an seinem Fahrzeuge, auf dessen Brauchbarkeit er begierig war. Leider war eine probeweise Beleuchtung für die Beurteilung so lange von nur problematischem Werte, als nicht Tieferbefindliche über das Ergebnis Auskunft geben konnten.

Durch das ganze Fahrzeug ging ein feines Vibrieren, und der Wind begann durch die Öffnung zu pfeifen. Die »Pax« setzte sich in Fahrt. Er ließ die Platte zugleiten und stieg nach oben.

Witt fragte einen aus seiner Abteilung.

»Nun, Carstens, was sehen Sie?«

»Milch, nichts wie Milch!«

»Und Sie, Rudolf?«

»Ebenso! auch Milch, es kann auch Milchbrei sein!«

»Also! – Das hat sich jeder zu merken: So sehen wasserhaltige Wolken aus, auf die von oben die Sonne scheint! Jeder einzelne muß sich das Bild genau einprägen!«

Es wurden Signale zwischen der Kammer und den einzelnen Ständen gewechselt. Das Interesse der Mannschaft und ihr Bestreben, recht zufriedenstellend zu arbeiten, waren intensiv. Dadurch und durch sein schematisches zielbewußtes Vorgehen erreichte Witt schon nach kurzer Zeit das bemerkenswerte Resultat, daß die Leute sich für das Absetzen der vorerst noch einfachen Beobachtungen ohne Fehlgriff der Tastsignale bedienen konnten. Wenn es auch noch ein weiter Übungsweg bis zu dem vom Chef vorgeschriebenen Ziele war, daß ein Mann von der Besatzung im Dienste überhaupt nicht sprechen sollte.

Witt ging mitschiffs zwischen den Ständen auf und nieder. Er hatte den Pelz, wie die übrigen, längst abgelegt. Plötzlich gaben sämtliche Spiegeltaster dasselbe Signal: »Unbrauchbar geworden«. Er lachte seine Leute aus. Während Frau Franziska auf der Zentrale die Klappen zurückstellte, erklärte er der Mannschaft, daß sich die »Pax« in einer Wolke befände. Es würde nicht lange dauern, dann würden sie die Wolke über sich haben. Aber dann fange ihre Aufgabe erst an. Dann hätten sie auf das genaueste aufzupassen.

Es wurde wieder heller. Die Leute, die von ihrem Sitze aus schräg nach oben über Bord sahen, hatten den wunderbaren Anblick, wie sich eine Schleierdecke von ihnen hob, wie wenn man langsam durch die Decke eines Saales sinkt, und nun gaben die Spiegel plötzlich ein vielfarbiges, lebhaftes Bild wieder.

»Sitzen bleiben!« fuhr Witts Stimme über die Köpfe weg. Jeder hatte aufspringen, an Bordrand eilen und hinuntersehen wollen.

Fritz Rusart stand am Rande seines Fahrzeugs. Die »Pax« befand sich 560 Meter über Meereshöhe und auf 27° 44' östlicher Länge und 54° 26' nördlicher Breite. Gerade über dem dänischen Wohld. Rusart sah hinab. Für jeden andern wäre es ein Bild gewesen, das er begierig in sich aufgesogen hätte.

Was ist eine Landkarte mit ihren Linien und Tuschen gegen die feine Plastik und das abgetönte Farbenspiel eines solchen Höhenbildes. Hinten im Osten die blaue See und unten das langsam zum Geestrücken ansteigende Flachland, der Winterruhe entrückt, des Schnees entkleidet, der Saat gewärtig. Die Frühsonne ließ jede noch so geringfügige Erhöhung ihren Schatten werfen: dort lag Kiel, dort Eckernförde, an Steuerbord halbvoraus Schleswig mit seinem Dom.

Er nahm sein Fernglas. Man konnte Missunde und Louisenlund sehen. Und auf der andern Seite schon mit bloßem Auge die holsteinische Schweiz; genau im Süden, am Horizont, einen Dunstballen, der die weitere Aussicht versperrte: Hammonias Werktagskleid!

Dörfer ohne Zahl, Chausseen, Landwege, Eisenbahnen und in fast gleicher Richtung mit der Fahrt der »Pax« tief unten der Kaiser Wilhelm-Kanal; die Hochbrücke von Levensau, ein genialer Bau in Spielzeugformat. Auf dem Kanal zogen Panzer- und Handelsschiffe dahin; auch ein Schlepper mit einer Flottille von kleinen Schiffen hinter sich. Man konnte das schäumende Wasser vor dem Bug sehen, wie einen feinen silbernen Gürtel, den badende Nixen sich über die Brust legen, – und dort, wo das Stahlblau des Wasserspiegels erblindete, wußte man, wirbelten unter der Oberfläche die Schrauben.

Drüben fuhr ein Eisenbahnzug, nein, er kroch! von Rendsburg nach Norden. Durch das Glas erkannte man an der Maschine und an der Zugform, daß es ein Schnellzug war. Der weiße Rauch zog sich auf dem Schienenstrange hin und legte sich dann seitwärts in langsam schwindenden Schwaden auf den Feldern nieder.

Wohin das Auge blickte: ein Leben ohne Lärm, ein Kampf ohne Keuchen.

Fritz Rusart sah das alles. Aber kein Bild konnte ihn gefangen nehmen, nicht zur Bewunderung zwingen, nicht zum Erstaunen.

Alle seine Beobachtungen wurden in ihrer Quintessenz zur nüchternen Kritik; und die Quintessenz seiner Kritik bestand stets im Vergleiche des Seienden mit dem, was werden sollte.

Die Dampfer, die Segler, die Eisenbahn; ein Wagen, der über Land fuhr, bald zwischen Wäldern verschwindend, bald über die offene Chaussee rollend, sich von Baum zu Baum dahinquälend; der einzelne Mann, der als fast unkenntlicher Punkt beim Dorfausgange auf die Landstraße trat und in dem er durch das Glas einen Bauern erkannte, der an einer Schultertrage zwei große Holzkübel schleppte, sie alle entlockten ihm nur einen Ausruf: »Arme Parasiten!«

Er drehte sich um. »Stopp! Frei an Bord!« Ein Kommando, das jeden, außer dem Führenden, seines Postens enthob. In der Kommandokammer wurde Befehl und Zeit von Frau Franziska sofort in das Journal eingetragen.

Während die Leute sich beeilten, der Erlaubnis folgend, über Bord eine Aussicht zu genießen, die jedem von ihnen zum ersten Male geboten wurde, und unter deren Eindrucke kein einziger auch nur eines Wortes mächtig war, nahm Fritz Rusart mit Witt die Feststellung des Lotpunktes vor. Er bediente sich dazu eines ziemlich komplizierten Apparates, der in Verbindung mit einem im Lot hängenden Fernrohre stand.

Dann verglich er auf der Spezialkarte.

»Die ›Pax‹ steht genau über dem Kirchdache von Gettorf. – Eintragen!«

Er ließ nun von Witt zwei Höhenphotographien anfertigen, eine von Steuerbord aus und eine von Backbord aus, und richtete das Visier so ein, daß die aufgenommenen beiden Landstrecken unter der »Pax« übereinander übergriffen. An beiden Aufnahme-Apparaten war eine von ihm ausgearbeitete Jahrestabelle befestigt, aus der für jeden Tag die Stunden ersehen werden konnten, zu welchen photographiert werden durfte. Die Vorbedingung für günstige Aufnahme bestand in dem schattenwerfenden seitlichen Stand der Sonne.

Nach einer Pause von zwanzig Minuten, in der die »Pax« nur soviel Fahrt bekam, daß sie gegen den Wind stand, ließ Fritz Rusart die Mannschaft durch Witt in zwei Abteilungen trennen und der einen Hälfte Wache und der andern Freizeit geben. Jede Tour wurde auf vier Stunden festgesetzt.

Zwei Mann der Freiwache wurden zum Kochen und zum Bedienen bestimmt; ein leichter Dienst. Es waren nur der in dieser Beziehung sehr anspruchslose Chef und seine Frau zu bedienen, und das Kochen, bei dem sich Frau Franziska den größten Anteil angelegen sein ließ, beschränkte sich auf das Anrichten von Konserven.

Rusart gab Ordre aus.

»Die ›Pax‹ tritt jetzt ihre Probefahrt an. Es ist eine Parforce-Tour. 1000 Meter Höhe, 100 Kilometer in der Stunde. Kurs: Südwest. In sechseinerhalben Stunde über Calais; fünf Stunden später am Atlantischen Ozean, über Brest!«

Die Haupthebel spielten. Die »Pax« zog hoch, und bei 1000 Meter Stand wurde sie mit 100 Kilometer Geschwindigkeit auf Kurs gesetzt.

Die Leute waren durch ihren tiefen Sitz gegen den Winddruck geschützt. Wer sich aber – uneingedenk des Fahrtempos – erhob, so daß er mit dem Kopfe über die Höhe der Bordkante ragte, dem wurde sofort die schwere Mütze fortgerissen. Und, seltsamer Anblick! es griff niemand nach seiner wegstürmenden Kopfbedeckung, ja, er sah ihr noch nicht einmal nach. Barhäuptig, mit zusammengekniffenen Augen duckte sich jeder sofort wieder nieder. Schon das Gefühl, daß jenseits der Bordkante das Bodenlose war, gab jedem ein Grauen davor ein, die Hand auszustrecken; ja, einer hielt sich beim Niedersetzen die Fäuste vor die geschlossenen Augen, als wollte er sich vor dem Anblicke schützen, wie sein Eigentum, – eben noch an seinem Körper – nun schon haltlos weit draußen im grenzenlosen Raum herumwirbelte.

An der Spitze der »Pax« war ein dreikantiges, an einer Seite offenes Schilderhaus errichtet. Mit dem geschlossenen Scheitel gegen die Fahrtrichtung und mit dicken Ausguckgläsern an den beiden festen Wänden versehen. In ihm stand Fritz Rusart. Er trug das Sturmband unter dem Kinn.

Die »Pax« zitterte in jedem Teile. Von den Propellerflügeln war nichts zu sehen, so schnell rasten sie um ihre Achse. Da Steuerbord- und Backbord-Propeller unabhängig voneinander arbeiteten, lag in dem Verhältnisse ihres Antriebes auch die Steuerung des Fahrzeugs.

Holstein zog unter ihnen fort. Die Spiegel meldeten Wasser. Es war die breite Elbmündung bei Cuxhaven. Die »Pax« fegte weiter. Unaufhaltsam. Steuerbord rechts ab, tief zur Seite Helgoland. Stunde um Stunde verrann. Wilhelmshaven, Groningen, der Zuidersee, Amsterdam, Haag, Rotterdam, Vlissingen. Es wurde Land gemeldet, dann wieder Wasser, ein Schiff, ein Panzer, eine Stadt.

Noch eine Stunde, dann mußten sie Calais haben. Dort wollte Fritz Rusart die Propeller überholen, um ihre Eigentemperatur zu messen.

Spiegel 1 Steuerbord meldete: »Ein Geschwader – Kriegsschiffe.« – Gleich darauf: »Ein gesunkenes Schiff.«

Fritz Rusart sprang, sich tief duckend, an den Posten heran und sah durch den Spiegel hinunter.

»Stopp!« schallte sein Ruf nach der Kammer. Gleich darauf: »Rückwärts!«

Die Flügel wirbelten in der andern Richtung. Nach drei Minuten lag die »Pax« still.

»Höhe?«

»50 Meter Anstieg! Höhe 1050!« meldete Frank. »500 Meter Fall!« kommandierte Rusart.

»Wenn wir sinken –« meinte einer von den Leuten leise zu seinem Nachbar, »ist mir's immer, als wenn mir 'ne Hand sacht vom Genick nach oben streicht; soeben an den Haarspitzen entlang.«

»Ja – mich kommt auch immer'n Schütteln an.«

»Stand 550 Meter!« meldete Frank.

»Stand halten!« klang der Befehl zurück.

Fritz Rusart sah angestrengt durch die Spiegel. Dann beugte er sich über Bord.

»350 Meter Fall!« klang endlich sein Befehl.

Die »Pax« sank weiter.

»Stand 200 Meter!« kam die Meldung.

»Stand halten! – Hebel fest! –«

Er rief seine beiden Offiziere. »Sehen Sie sich das da unten an!«

Das Meer lag unter ihnen. Eine schwachgrüne, leise wogende Glasmasse. Durchsichtig bis zum Grund. So durchsichtig, daß sie jede Unebenheit unten erkennen konnten. Und ruhig an der Oberfläche; kaum, daß hier und da eine weiße Schaumkrone aufstieg. Am Backbordhorizont lag das Festland. Man befand sich am Eingang zum Kanal. Dünkirchen schimmerte herüber. Vielleicht acht Kilometer entfernt.

Unten schwamm ein englischer Hochseepanzer und ein Kreuzer. Beide ohne Fahrt. Als drittes Fahrzeug zwischen ihnen, fest verankert, ein Hilfsboot der Nordischen Bergungs-Kompagnie. Von der »Pax« aus konnte man die Ankerkette bis zu der Stelle verfolgen, an der sich der Anker in den Grund gebohrt hatte. Und tief unten am Grund, begraben unter der Wasserlast, ein Torpedoboot, ein dunkler, ungeheurer Bolzen, zur Seite geneigt, wie müde und wie in Trauer.

Fritz Rusart sah seine beiden Getreuen an.

»Sie werden es versuchen!« meinte Frank ehrerbietig und zuversichtlich zu ihm.

»Und die ›Pax‹ wird es zwingen!« vollendete Witt. Sie hatten beide einen ehrfürchtigen Respekt vor ihm. Und wie sie ihn oft besprochen hatten, so stand er jetzt vor ihnen: wie gemeißelt aus kaltem Stahl. Und wenn er so aussah, dann wußten sie, es galt eine wichtige Tat.

»Die ›Pax‹ ist zurzeit eingerichtet für einen Höchststand von 8500 Meter. Die Lage des Bootes unten können wir sehen, die Tiefe wissen wir aus der Karte und die Wasserverdrängung und die Schwere läßt sich aus dem Bootstyp ermessen. Wir wollen unsere Tabellen der Marinen nachschlagen. Bei 30 Meter über See wird die ›Pax‹ Kraft genug haben, wenn wir sie auf das Leichtgewicht von 3500 Meter Höhe setzen. Also! Auf die Posten, meine Herren! Die Mannschaft mobil!«

Die Signale klirrten. Witt ließ die 2000 Meter Stahldrahttaue, die auf acht Winden verteilt waren, an die Auslegernuten heranrollen.

»150 Meter Fall!« befahl Fritz Rusart.

Bald stand die »Pax« mit ihrer untersten Linie tiefer als die Mastspitzen der Kriegsschiffe. Das Sprachrohr wurde über Bord geschoben.

Von unten aus hatte man schon lange diesem merkwürdigen Fahrzeuge, dieser seltsamen Erscheinung zugeschaut. Wem immer nur ein Fernglas zur Verfügung stand, der hatte die »Pax« angestrengt beobachtet. Allein ihr rätselhaftes etappenweises Niedersteigen!

Der Kommandeur des Panzers sah seinen ersten Offizier mit verhaltenem Atem und mit weit geöffneten Augen an. Es lag schreckhaftes Staunen in seinem Blick.

»Das Fahrzeug«, meinte der andere, »hat willkürliche Bewegungen. Zweifellos!«

»Die Nationalität! Die müssen wir feststellen!«

»Wenn er sich bekennt!«

»Wir müssen heran an diesen Mann. Wir müssen! Schlimmstenfalls: wir haben eiserne Einladungen.« Er holte tief Luft. »Das ist ja eine außerordentliche Erscheinung!«

Drüben tauchte ein Passagierdampfer auf. Schneeweiß, mit gelbem Schornstein; weithin leuchtend über die See. Von den blankgeputzten Ventilatoren blitzten die Sonnenstrahlen zurück. Es war ein Raddampfer und er lag schief wie ein Frachtschiff, auf dem die Ladung übergeschossen war. Das eine Rad tauchte tief ins Wasser, das andere traf mit seinen Schaufeln gerade noch die Wasserfläche.

Es war der »Theseus«; auf der Fahrt von Folkestone nach Ostende. Auch auf ihm hatte man schon seit geraumer Zeit dem auffälligen Vorgange da oben in der Luft Aufmerksamkeit geschenkt. Alles war an die eine Bordseite geeilt. Kopf an Kopf standen die Passagiere und starrten auf das eigentümliche Bild. Es bedurfte erst schroffster Energie seitens der Schiffsleitung, um die nötige Lastverteilung wiederherzustellen. Sogar auf die Radkästen waren einige geklettert. Keiner wußte, woher zuerst der Ruf gekommen war: Ein Luftschiff! Ein Luftschiff!« Aber allen, die nach oben sahen, schoß bange Furcht durch das Herz. Der Wind kam aus Südwest. Die Luftschiffer mußten Franzosen sein. Und sie trieben widerstandslos über die Nordsee. Wer weiß, wie lange sie sich würden halten können. Das mußte ein Unglück geben.

Da sah man das scharfabgemessene Sinken; und damit war die »Pax« auch in ein sichereres Beobachtungsfeld gelangt. Die Besorgnis ging in Staunen über. Und das Staunen wuchs. Die »Pax« sank weiter. Kein Ballon! keine Gondel! Und nun dieser niegesehene Anblick: Die beiden Schiffe der britischen Kriegsmarine – ein Bild von großem Interesse an sich – und zwischen ihnen dieser graue, vielflügelige Koloß. Aber auch jetzt noch war selbst mit den schärfsten Gläsern da oben keine Spur von Leben zu entdecken.

Die Masse der Zuschauenden war wie gelähmt. Sie befaßten sich nicht einmal mit dem Versuche, das Rätsel zu lösen: Sie standen nur und sahen und tranken mit den Augen. Einige boten den Anblick von Menschen, die sinnlose Bewegungen machen, wenn ihr Gehirn in Verlegenheit ist.

Nur einer machte eine Ausnahme. Ganz hinten an Deck hatte ein junger Mann ein junges Mädchen untergefaßt. Er hatte ein sympathisches, energisch geschnittenes Gesicht. In seiner Gesamterscheinung zeigte er die ausgeprägteste Annonce einer unverwüstlichen Elastizität; körperlich wie geistig.

Die Stimmung dieser beiden Menschenkinder war während der letzten halben Stunde nicht die beste gewesen. Sie waren Stiefgeschwister; Angestellte eines Detektivbureaus. Und sie waren beide aufeinander angewiesen. Es waren weder Eltern noch sonstige Verwandte am Leben. Zuerst hatte der Bruder die Schwester miternährt. Seine beiden Chefs waren lediglich als leitende Geldleute tätig; bei ihrem Mangel an Bildung traten sie niemals aktiv als Detektivs in den Vordergrund. Er hatte es verstanden, ihnen klarzumachen, einen wie großen Vorteil bei gegebener Veranlassung ein weiblicher Detektiv bedeute. So hatte er seine Stiefschwester eingeschmuggelt; ihr Fähigkeiten andichtend, die sie niemals gehabt hatte und auch nie haben würde. Aber er hatte stets für sie gearbeitet, und ihre an die Chefs gerichteten Berichte waren ihr von ihm in die Feder diktiert.

Er liebte das kleine Schwesterchen und behütete es wie ein Kleinod; trotzdem die Bekenntnisse sie schieden: er war Jude, sie Christin. Er fühlte sich für sie verantwortlich, und er hatte schon zu ihr gesagt: »Sei ruhig, Minnie! Wenn ich heirate, soll's nur eine sein, die dir paßt. Solange ich lebe, sollst du nicht alleinstehen l« Sie hatte gelacht: »Mein James! Du tust mit deinen ganzen siebenundzwanzig Jahren immer so, als wenn ich ein Kind wäre! Und dabei bin ich schon einundzwanzig.«

Ihre heutige Mißstimmung hatte einen sehr ernsten Grund. Minnie war unzufrieden mit James. »Im ganzen – überhaupt!« wie sie sich im Lapidarstil ausdrückte. Er sollte bei seinen Fähigkeiten, bei seiner Bildung ein anderes Arbeitsfeld suchen, statt mit Berufseifer in Privatverhältnissen herumzuschnüffeln!

»Nun, Minnie, das habe ich möglichst vermieden.«

»Die Sache mit dem Grafen war aber so etwas!«

»Minnie! Das Mädel hat doch wirklich nichts getaugt!«

»Er auch nicht!«

»Er auch nicht! natürlich – mein Himmel – ja – aber ich habe großartig verdient. Und verdienen muß ich. Ich will ja gern etwas anderes versuchen. Gewiß, gern. Aber reicht mir einer die Hand? Habe ich von irgendwem Unterstützung? Was meinen Beruf anbetrifft: habe ich selbst für irgend jemanden in der Welt mehr Verachtung, als für die Chefs, für die ich arbeite? Wo steckt das Glück? Wo soll ich hin? Zum seßhaften Beamten tauge ich nicht; ich kann kein ruhiges Leben ertragen. Und zum Weltenbummler fehlt mir das Geld. So bietet sich mir bei Samuel & Aménard noch das Beste. Und du hast doch wirklich noch nicht Not leiden müssen, seit Mutter tot ist. Oder hast du je Angst gehabt? – hast du je abends darum zittern brauchen, woher du für den nächsten Morgen – –«

Plötzlich hielt er inne. Er hörte die Leute schreien: »Ein Luftschiff! Ein Ballon!« Er sah sie alle nach der einen Schiffsseite stürzen und ihre Ferngläser an die Augen reißen. Sofort setzte er das seinige auch an und beobachtete sämtliche Manöver der »Pax«

Mit einem Male ließ er sein Glas wieder sinken. Er sah Minnie ganz verstört an.

»Was ist dir denn, mein James?«

Er drückte beide Fäuste gegen die Augen. »Minnie! Minnie!«

»Aber, mein Gott! was ist dir denn?« drang sie angsterfüllt in ihn und zwang ihm die Hände vom Gesicht.

»Minnie!« – fuhr es ihm zwischen den Zähnen heraus. – Er umklammerte ihre Handgelenke.

»Hier! – hier dürfen wir nicht vorübergehen!«

»Wo? was denn?«

»Willst du mir jetzt folgen?« fragte er ungestüm. »Einmal im Leben hat jeder Glück, wenn er zufaßt! – Und hier! – hier müssen wir's!«

»Ja, wie denn?«

»Sieh dahin! Der Mann da oben!«

»Der – –?«

»Wenn wir eben vorbei sind bei dem da, springen wir in die See!«

»Aber, James!«

»Mein Kopf soll ein Holzklotz sein, wenn der da uns nicht herausholt.«

»Mein Himmel, James!«

»Ich weiß es! Ich seh' es schon: Er muß! Seinetwegen! Du kannst ja doch schwimmen!«

»Das weißt du ja! Stundenlang!«

»Also tust du's?« drängte er sie.

»Es ist eine verrückte Idee.«

»Tust du's?«

»Wenn ich's nicht tue, tust du's allein?«

»Du sollst mit! – Tust du's? – Gefahr ist doch nicht dabei! Aber es ist ein Verbrechen, wenn wir diesen Moment nicht benutzen. Wir müssen zusammen mit dem Manne da oben. Tust du's? Schnell! Wir kommen ja immer näher!«

Sie holte tief Atem. Dann nickte sie.

»Ich bring' schnell unsere Papiere. Halte dich bereit!«

Er stürzte davon.

Das dicht bei dem gesunkenen Torpedoboot verankerte Bergungsfahrzeug hieß »Ruilinger«. Oben auf der »Pax« hielt Frank das Sprachrohr über Bord. »Ahoi! Ruilinger! Kapitän zu sprechen?« Er rief in englischer Sprache hinab.

Der Kapitän stand unten mit weit zurückgebogenem Kopfe. »Kapitän hier! – Was soll's?«

»Wollt Ihr das Boot heben?«

»Weshalb?«

»Ihr sollt antworten!« schrie der Kommandant des Panzers den Kapitän an.

»Ja, wir wollen heben!« beeilte sich dieser zu erklären.

»Wieviel erhalten wir, wenn wir es heben?«

Dem vom »Ruilinger« wirbelten die Gedanken im Kopfe herum. Über sich diesen eisernen Koloß, der ihn zu erdrücken drohte; die ganze Situation, die außer jeder Berechnung lag; und außerdem das dunkle Gefühl, daß jedes seiner Worte eine große Tragweite hatte. Er half sich mit der landesüblichen Ausflucht.

»Wieviel verlangt Ihr dafür?«

Fritz Rusart sagte leise: »Achtzigtausend Mark.«

»Viertausend Pfund!« rief Frank hinunter.

»Viertausend Pfund?« brüllte der andere von unten, um Zeit zu gewinnen.

»Ja, dafür wird es an Ebbe-Strand gebracht!«

»Topp! Soll gelten! Mit wem mach' ich's ab?« erkundigte sich der Kapitän, der sich endlich so weit erholt hatte, daß er nachrechnen konnte, ein wie glänzendes Geschäft seine Firma bei einer Arbeit machte, die sie im Akkord für siebentausend Pfund übernommen hatte und deren Gelingen noch sehr zweifelhaft war.

Der Kommandeur des Panzers mischte sich ein: »Darf ich um die Flagge bitten?!«

Fritz Rusart gab leise Anweisung. Frank übertrug: »Wir werden jetzt das Torpedoboot Ihrer Marine heben und an Land bringen. Es dauert nicht lange. Dann werden wir die Ehre haben, mit dem Herrn Kommandeur zu sprechen!«

Frau Franziska schrie laut auf: »Fritz! Sieh! Da unten! Im Wasser! Ein paar Leute! Eine Frau!«

Ein scharfer Glockenschlag schrillte über die »Pax« hin. Frank sprang zu den Hebeln und Ventilen. Witt stürzte unter Deck, holte ein Schlafnetz, das er über die Bügel spannte; befestigte es an einem Windetau, schob es mittels eines Auslegers über die Reeling und ließ es in die Tiefe rollen.

Jetzt bewährte sich die Feinfühligkeit der »Pax«. Die Kommandos: »Volle Kraft rückwärts! – 45 Grad Steuerbord vorwärts! – Halt! – 20 Meter Fall! – Rückwärts! – Halt! – Aufrollen!« wurden ebenso präzise ausgeführt, als sie schnell aufeinander folgten.

Von oben war das Manöver, nach den beiden Leuten zu fischen, leicht. Sie schwammen im Kielwasser des davonfahrenden Dampfers, auf dem von dem Unfalle erst etwas bemerkt wurde, als beide bereits im Netze in der Luft hochgeholt wurden. Als sie sich aus den Schaufelwellen herausgearbeitet hatten, hielten sie sich dicht beieinander. James rief seiner Stiefschwester zu, nicht zu geschickt zu schwimmen. Auch hatte es für die Beobachtenden den Anschein, als ob er sie zeitweilig unterstützte.

Der Befehl der Kommandeure, Boote auszusetzen, blieb beiden im Munde stecken, als sie das Netz von oben herunterschießen sahen.

Die »Pax« wurde so tadellos auf das Meter dirigiert, daß James und Minnie auf Armeslänge vor sich das Netz zu Wasser gehen sahen und nur nötig hatten, als es emporgehoben wurde, sich hineinsinken zu lassen.

»Teufel noch mal! Man wird hier von dem großen Waschbecken abgefischt, wie die Augen von der Bouillon!« knurrte James, »aber gelungen ist es uns doch!« Er drückte sich das Wasser aus den Haaren und klemmte sich sein durchnäßtes Reisekäppi auf. »Tu mir den Gefallen und lache bloß nicht da oben!«

»Mir ist wirklich nicht nach Lachen zumute. Es ist ein ganz toller Streich von dir, James!« Sie ordnete nach Möglichkeit ihre Kleider.

»Weißt du, wie wir aussehen müssen, Schwesterchen?«

»Ach was!« gab sie verzagt zurück.

»Wie die Zwiebeln, die die alte Frénion in ihrem Marktnetz nach Hause schleppt, so müssen wir von außen aussehen! Inklusive Netz natürlich!« Dabei tastete er nach seinem Revolver. Er zeigte ihn. »Von uns dreien seid ihr beide nun schon getauft! Bei mir gilt's nicht!«

Minnie zitterte am ganzen Körper vor Kälte und Angst. »Was wird uns nur bevorstehen?«

Sie waren bis zur Bordhöhe der »Pax« gewunden worden. Unter hilfreichen Handleistungen der Besatzung kletterten sie an Deck. Man führte beide vor Fritz Rusart. James nahm freimütig seine triefende Kappe ab und hielt den andern Arm schützend um die tödlich verlegene Minnie.

»Die Namen?« fragte Fritz Rusart.

»James York und Minnie Veleen, Geschwister, Stiefgeschwister!«

»Woher?«

»Von Harwich.«

»Wohin?«

»Ostende.«

»Endziel?«

»Nein, Brüssel!«

»Über das Weitere später! Witt, der Herr wird mit Kleidung versehen. Franziska, du nimmst dich wohl der Dame an!« Er überlegte einen Moment. Er wollte beide zuerst unter Deck schicken und bewachen lassen. Aber das kostete ihm einen Mann seiner Besatzung. Und oben an Deck konnten sie ihm auch nichts schaden, wofern sie nicht in die Kommandokammer kamen. »Nachher haben sich beide am Achterdeck, Backbordhälfte, aufzuhalten!«

Er winkte. Die vier gingen unter Deck. Unterwegs fragte Frau Franziska Minnie leise und mit Tränen in den Augen: »Haben Sie sich denn ertränken wollen, armes Kind?«

»Nein, ach nein! Fragen Sie mich bloß nicht – mein Bruder …!«

»Es ist gar nicht Ihr Bruder! – Nicht?«

»Doch! – Doch!«

An Deck begannen die Vorbereitungen. Rusart ließ die »Pax« auf 200 Meter steigen und die mit Rollen versehenen Ausleger über Bord schieben; nur ganz wenig, damit sie lediglich als Stützpunkt dienten, ohne auf ihre Endlager einen zu großen Hebeldruck auszuüben. Dann wurden unter großen Mühen die acht Stahldrahttrossen unter die »Pax« gesenkt; je vier dicht beieinander an den beiden Enden des Fahrzeugs. Sie hingen herab wie riesige Schleifen.

Fritz Rusart sah nach unten und dirigierte durch Kommandos die »Pax« genau über das gesunkene Boot.

»Wie lang hängen die Schleifen?«

»Achtzig Meter,« meldete Frank.

Die ersten vier Schleifen ließ Fritz Rusart auf 100 Meter auslaufen. Dann senkte er die »Pax«. Die Schleifen tauchten langsam ins Wasser, und als sie aufstießen und sich ausbreiteten, gab er Befehl zum langsamen Vorwärtsgehen. Seine Befürchtung, die Stahltrossen möchten nicht schwer genug sein, um sich am Meeresgrunde unter das Torpedoboot zerren zu lassen, erfüllte sich nicht. Das Fahrzeug war erst vor zwei Tagen gesunken und sein Vor- und Hintersteven lag höher als der Kiel. So schoben sich die vier Trossen beim Vorgehen der »Pax« unter dem Vorderteil fest. Die zweite, wesentlich schwierigere Aufgabe war es nun, die vier anderen Trossen unter das zweite Ende des Bootes zu bringen, ohne die vier ersten in ihrer Lage zu stören. Die »Pax« ging in der Kiellinie des gesunkenen Fahrzeugs vorwärts, indem sie die bereits festen Trossen in ständiger Spannung nachschießen ließ, senkte die anderen Schleifen nieder und glitt in derselben Höhe zurück, die ausgelaufenen Enden gleichmäßig einholend, so daß die Winden immer straffe Fühlung behielten.

Nach vorsichtigstem Operieren konnte Fritz Rusart feststellen, daß sämtliche acht Trossen immerhin so weit von den Enden ab unter dem Torpedoboot durchliefen, daß ein Wegrutschen beim Anhub nicht mehr zu befürchten war.

Frank trat an seinen Chef heran.

»Was ist?« fragte dieser.

»Soll photographiert werden? Automatisch?«

»Ich hätte es gern. Aber wir können hier keinen mehr entbehren, und Witt und meine Frau …«

»Wenn ich mir erlauben dürfte?«

»Bitte!«

»Die Bedienung des Automaten ist ja sehr einfach. Vielleicht könnte der Fremde …, er kann dann ja auch nichts anderes herausspionieren …«

»Fragen Sie, wie weit man da drinnen ist!«

Frank kehrte bald zurück. Hinter ihm Frau Franziska mit Minnie und Witt mit James. Minnie trug Kleider der Frau Chef, die ihr vorzüglich paßten, und James balancierte mit Anstand und Vergnügen die Uniform des hilfreichen Witt über das Deck.

»Ihr Beruf?« fragte Fritz Rusart.

»Detektiv, mein Herr.«

Über Rusarts Neutralität legte sich ein Schatten.

»Und Ihre Schwester?«

»Auch.«

»Auch Detektiv?«

»Sehr wohl, mein Herr.«

»Aus Neigung? Beide?«

»Mit der Neigung des Gerbers, der am Fell kaut, wenn er Hunger hat.«

Minnie hatte mehrfach bittend zu James hinübergesehen. Sie kannte seine freimütige, gleichgültige Art und Weise und wußte, daß sie nicht überall angebracht war, so viel Tüchtigkeit sie auch hinter sich verbarg.

In Fritz Rusarts Gesicht war nichts von seinem Urteil zu lesen. »Würde es Ihnen widerstreben, hier auf dem Fahrzeuge, das sich augenblicklich in einer außerordentlichen Lage befindet, für mich nur auf kurze Zeit tätig zu sein?« Bevor ihm James antworten konnte, fügte er hinterher: »Ihr ablehnender Bescheid würde auf mein ferneres Verhalten Ihnen beiden gegenüber ohne jeden Einfluß sein. Ich bitte nur, sich schnell zu entscheiden. Unsere Zeit ist gemessen.«

Mit dem bestrickenden Anstande, der Herrn James zierte, trat er einen Schritt vor. Er hatte eben wieder einen ängstlichen Blick aus Minnies Augen aufgefangen und die Bitte verstanden. »Gestatten Sie, mein Herr –«

»Ich bin der Ingenieur Fritz Rusart.«

»Gestatten Sie, Herr Rusart, das Bekenntnis, daß Sie mich nicht gerettet haben. Vor einer Stunde faßte ich den Entschluß, mit meiner Schwester hierherzukommen. Sie waren so gütig, das Fuhrwerk zu stellen.«

Über Rusarts Gesicht schoß eine tiefe Röte. Er kniff die Lippen zusammen und wandte sich ab.

»Ich wollte zu Ihnen,« fuhr James fort. Ermessen Sie daraus meine Bereitwilligkeit, zu tun, was immer Sie mir zu tun geben.«

»Sie sind nicht in die See gefallen?«

»Wir sind hineingesprungen.«

»Ja, das sind wir!« klang es wie erlösend als Echo aus Minnies Munde.

»Es war für ein Detektivpaar ein tadelloser Streich,« sagte Fritz Rusart hart.

»Darf ich Sie bitten,« James' Gesicht überzog ein tiefer Ernst, »nichts anderes, als wenn der Schauspieler bei seinem letzten Auftreten noch eine Glanzrolle gibt.«

»Und was wollten Sie hier?«

James war schon wieder sorglos. »Die Felle haben unsern Zähnen wehgetan.«

»Kein schönes Bild.«

»Mein Bruder meinte, er …«

»Was meinte er?«

»Wir – könnten hier unser Glück finden,« stotterte Minnie.

»Ja, aber,« Frau Franziska konnte nicht mehr an sich halten, »wenn Sie nun ertrunken wären …«

»Wir können schwimmen.«

»Das ist ja alles so wunderbar, diese Menschen!«

Frau Franziska drehte Minnie zu sich herum. Sie sah schwere Tränen über ihr Gesicht rollen.

»Aber warum denn das?«

»Ich weiß nicht, wie es mit uns wird …«

James trat vor. »Was habe ich zu tun, Herr Rusart?«

Fritz Rusart sah ihn minutenlang an. James hielt den Blick aus. Für alle anderen waren es Augenblicke höchster Spannung. Dann erhielt Witt Befehl, den Ankömmling in seine Arbeit einzuweihen, in seinen Anteil bei der Bedienung des automatischen Apparates. Es war eine einfache Sache. Man hatte nichts nötig, als genau zu visieren und die Umdrehungen der Bandrolle zu regeln.

»Werden Sie es können?« fragte Fritz Rusart.

»Ich hoffe, von Nutzen zu sein,« erwiderte James, sich verbeugend.

»Wir wollen ein gesunkenes Schiff heben. Sie lassen den Apparat nicht eher spielen, als bis Sie von hier aus den Wink bekommen. Aufnahmefeld ist die Fläche genau unter uns. Mittelpunkt wird nachher der vordere Schornstein des steigenden Bootes.«

James trat zurück und ging an den ihm angewiesenen Platz. In seiner Brust tobte ein ungeheures Frohgefühl. ›Er hatte Anschluß‹ und, wie er fest glaubte, den ›rechten Anschluß‹!

Einmal im Leben hat jeder Glück, wenn er zufaßt! Wenn! Auch für sein Schwesterchen schlug es dann zum Glücke aus. Er, ach, was er tun konnte, das würde er tun. Er wollte sich die ehrlichste, redlichste Mühe geben. Aber ein tolles, ein übertolles Stück war es doch gewesen. Er staunte jetzt selbst darüber. Und je mehr er darüber nachdachte, um so weniger konnte er es begreifen. Oder ob das das Schicksal war, von dem man getrieben wird, willenlos, widerstandslos? …

Der Hebeakt begann. Vielleicht hätte sich Fritz Rusart viel eingehender noch mit den beiden Ankömmlingen beschäftigt, wenn nicht die vor ihm liegende Aufgabe ihn so ganz und gar in Anspruch genommen hätte. Es war eine außerordentliche Probe seiner »Pax« und für den Fall, daß sie gelang, neben dem Guten, daß sie in der einzelnen Sache schuf und schaffte, ein ungeheures Stück weiter auf dem Wege, den er gehen wollte.

Und wie er nie die Ruhe verlor, so strich er jetzt kaltblütig die letzten zehn Minuten aus seiner Erinnerung.

Die Signale klirrten. Er dirigierte das Schiff durch Telephon von einer der tiefsten offenen Luken. So hatte er Fühlung mit beiden Fahrzeugen.

Die »Pax« zog an. Die Stahltrossen strafften sich. Er gab die Kommandos zum Steigen. Je immer um 100 Meter. Die letzte Gegenmeldung lautete »2300 Meter«. Auch nicht ein einziges Zentimeter Hub war zu spüren. Man hatte nur das Gefühl, daß die »Pax« an ihren Ketten zerrte, fieberhaft und unter Stöhnen. Das ganze Fahrzeug schob sich hin und her.

»600 Meter Anstieg!«

»2900 Meter Leichtgewicht,« lautete die Gegenmeldung.

Die Situation, die sich nur auf theoretische Berechnungen stützte, wurde immer gewagter. Wenn die Zumutungen zu groß wurden, gab es zwei gefährliche Möglichkeiten: entweder die »Pax« brach durch – dann stürzte sie in die See, wie ein Plätteisen, das man vom Dache eines Hauses herunterwirft, oder: die Stahltrossen brachen, dann schoß die »Pax« mit einer solchen unvermittelten Wucht nach oben, daß kein lebendes Wesen den plötzlichen Stoß aushalten konnte; ganz abgesehen von dem fürchterlichen Saltomortale, den das Fahrzeug machen mußte, wenn die Trossen nur auf einer Bordseite oder nur auf einem Schiffsende brachen.

Fritz Rusart war sich der außerordentlichen Verantwortung bewußt. Unter allem dem Zittern und Knarren seiner »Pax« kauerte er sich an der offenen Luke nieder und rechnete. Und jedesmal war das Resultat dasselbe: Bei 3500 Meter Leichtgewicht mußte die »Pax« die Hebekraft haben. Es fehlten nur noch 600 Meter.

Er gab den Befehl: »Langsamer Anstieg – 600 Meter!«

Nach vier Minuten lief die Gegenmeldung ein: »3500 Meter Leichtgewicht.«

Es rührte sich nichts da unten.

Auf den übrigen Fahrzeugen konnte man den Fortgang des Experiments nicht beobachten. Man sah, wie auch schon von Beginn, oben die »Pax« und acht straff gespannte Trossen, die in die See tauchten und von denen man annehmen mußte, daß sie unter dem Torpedoboote herumliefen. Sehen konnte man es nicht, da man sich zu nahe am Wasserspiegel befand. Anfragen nach dem jeweiligen Stande des Unternehmens hatte man längst aufgegeben, da Fritz Rusart jegliche Auskunft untersagt hatte.

Oben, in dem Gehirn des rechnenden Mannes, jagten sich die Gedanken. Das letzte Hindernis, das die Kraftanspannung der »Pax« resultatlos machte, sah er darin, daß sich das Boot unten durch sein Sicheinbetten an Stellen, an denen der Boden nicht felsig war, festgesaugt hatte. Die weitere Hergabe an Kraft würde die Lage in dem Momente wieder zu einer äußerst gefährlichen machen, in dem die Saugekraft da unten überwunden sein würde. Es würde dann ganz plötzlich auch die Last erheblich vermindert sein.

Er sprang an das Oberdeck und befahl, die Bordwände abzuloten, wieweit sie sich in senkrechter Linie außerhalb des gesunkenen Schiffskörpers befanden. Zugleich ließ er mit der Hebekraft auf einen Stand von 900 Metern heruntergehen, um die Spannung an den Trossen zu vermindern.

Als man ihm meldete, daß man an beiden Bordseiten in der Senkrechten freien Meeresgrund habe, befahl er, zehn Eisenkugeln im Gewichte von je einem Doppelzentner auf die Bordkante zu setzen. An je zwei stellte er einen Mann. Der Befehl lautete:

»Auf das Signal fallen die Kugeln über Bord ins Lot. Anstieg 3500 Meter mit sofortiger Bereitschaft für Fall auf 1000 Meter.«

Dann ging er die Bordwände ab, kontrollierte, ob alle Kugeln freien Fall hatten, wobei auf das Bergungsboot besondere Rücksicht genommen werden mußte, und stieg wieder zu seiner Luke hinunter, hinter sich einen Draht herziehend, der zu einem Signalapparat führte.

Statt des Signals erklang von unten der Befehl: »Anstieg 2000 Meter!«

Die Trossen knirschten, und die »Pax« schwankte. Nach einer atemlosen Pause, in der jeder von der Mannschaft sprungbereit stand, klirrte das Signal.

Die Kugeln wurden gestoßen und schossen lautlos durch den Wasserspiegel hindurch. Dann ein plötzliches Hin- und Herwiegen der »Pax«; sie zog an, ein riesiger Wasserschwall entstand, und unter dem tosenden Hurra der Marinemannschaften erschienen die Schornsteine des verunglückten Bootes.

Fritz Rusart sprang nach oben. Er fand James schon in voller Tätigkeit.

Frank rief auf seine Anweisung nach dem »Ruilinger« hinunter: »Habt Ihr Pumpe an Bord?«

»Ja, Taucherpumpe. Schwerstes Kaliber,« schrie es zurück.

»Ansetzen, wenn Deck aus Wasser.«

Das Torpedoboot hob sich. Die »Pax« erhielt noch leichteres Gewicht und brachte das Boot so weit heraus, daß es hätte betreten werden können. Das in den Schornsteinen zurücktretende Wasser drückte auf das im Bootsinnern befindliche Wasser. Dieses quoll aus den Decksöffnungen hervor und lief sprudelnd über die schräg abfallenden Flächen ab.

Auf den Kriegsschiffen tobte ein ungewohnter Lärm. Er verstieß gegen jede Disziplin. Aber die ganze Besatzung war Augenzeuge dieses Vorganges gewesen. Sie geriet in eine ungeheure Aufregung, in einen rasenden Taumel von Freude und Verblüffung.

Oben auf der »Pax« blieb alles kirchenstill. Und doch war man hier nicht weniger in innerlichem Aufruhr als unten. Fritz Rusart nur sagte: »Sie sollten nicht toben. Es ist ein Sarg, den wir ihnen gebracht haben.«

Er gab Frank einen Wink. Das Sprachrohr schob sich über Bord. »Anker hiewen! Pumpe ansetzen!«

Dem Kapitän des »Ruilinger« schoß es durch den Kopf, daß er hier von den 4000 Pfund noch etwas abhandeln konnte. Der Preis galt für die Arbeit des Mannes dort oben. Wenn er aber selbst mithelfen sollte, mußte es billiger werden.

»Wieviel geht ab für Auspumpen?« rief er hinauf.

Blaurot im Gesicht vor Zorn beugte sich der Kommandeur des Panzers über die Brücke: »Wenn ihr dreimal vermaledeiter Halunke nicht sofort die Pumpe ansetzt, jage ich euch samt eurem Kasten in den Grund und pumpe selbst, so wahr ich Trilberry heiße!«

Der Kapitän duckte seinen Kopf nieder, als ob ihm schon eine gefährliche Ladung um die Ohren flöge. Fünf Minuten später schoß das Wasser in dickem Strahl aus dem Pumpenschlauch heraus.

Das Torpedoboot hatte sich zwei Tage vorher während des Sturmes selbst in den Grund geschraubt. Es war mit vollem Druck durch die kochende und brüllende See gefahren und als es in einen Wellenberg hineinschoß, war ihm nicht mehr Kraft genug geblieben, sich durch die über ihm liegende Wasserlast wieder nach oben zu arbeiten. So hatte es ohne jede äußere Verletzung einen tödlichen Bogen dem Meeresboden zu gemacht.

Nun, da man es wieder an die Oberfläche gebracht hatte, war es nur nötig, das eingedrungene Wasser auszupumpen. Nach Maßgabe der fortschreitenden Arbeit mußte es seine Schwimmfähigkeit wiedererlangen.

Fritz Rusart hatte seinen Plan geändert. Er wollte, nachdem er die Einzelheiten des Unglücksfalles erfahren hatte, das Boot nicht mehr auf den Strand setzen. Er beschloß, seine Fahrt fortzusetzen, sobald es sich über Wasser halten würde.

Es lag ihm daran, diesen Zeitpunkt möglichst nahezurücken. Deswegen ließ er bei dem Kommandeur des Panzers anfragen, ob jener wohl seine Schiffspumpe auch noch ansetzen möchte.

»Sie haben, mein Herr,« wurde ihm umgehend erwidert, »auf jede Art Hilfeleistung meinerseits zu rechnen. Darf ich nicht bitten, während die Mannschaft an die Arbeit geht, mir den Weg anzugeben, auf dem ich Ihre Bekanntschaft machen kann?«

Fritz Rusart befahl kurz und leise: »Phonographieren!« Dann stieg er auf die Bordkante, indem er einen der Spiegelhalter als Stütze benutzte. Er sah, daß man vom Panzer aus bereits einen großen Pumpenschlauch mit kupfernem Siebkopf heruntergelassen hatte; er sah, wie sich der Schlauch in das Innere des Torpedoboots senkte, und wie sich nach ganz kurzer Zeit aus dem Gegenschlauch ein Strom von Wasser in die See ergoß.

Und während dem verunglückten Fahrzeuge mit verdoppelter Kraft seine verderbliche Last erleichtert wurde, entspann sich ein Gespräch, von dem jeder der Beteiligten das Gefühl hatte, daß es denkwürdig werden würde.

Das Bild, das Fritz Rusart überblickte, prägte sich ihm tief ein. Nicht, weil es neu war, oder gar interessant; nicht, weil hier eine technische Errungenschaft auftauchte, die bisherige Methoden, bisherige Leistungen mühelos in den Schatten stellte: es war die latente Feindschaft, die hier ihre erste scharfe Illustration fand.

Dort das Bergungsboot, der Repräsentant kindlicher Unbeholfenheit – daneben die von Geschützen strotzende schwimmende Festung in mauerdickem Panzerhemd, von nun an nichts als das Bild verschleierter Ohnmacht; beide in einem Elemente schwimmend, das in aufstiebender Wut mit ihnen spielen, sie verschlingen konnte. Er über ihnen als ein Wahrzeichen einer neuen Zeit!

Aber um auch in der Unterredung der zu scheinen, der er war, war es nötig, daß seine »Pax« von ihrer Last frei wurde. Erst, wenn die Trossen lose unter dem Torpedoboot durchliefen, war er Herr über sein Fahrzeug. Und erst dann Herr in der Unterredung. Er beobachtete unausgesetzt die Fortschritte, die die beiden Schiffspumpen machten, und die am besten durch das Maß gekennzeichnet wurden, in dem von Frank das Leichtgewicht der »Pax« vermindert werden konnte. Soeben erhielt er die leise Meldung: »1180 Meter.«

Auf einen Wink an Frau Franziska brachte ihm diese ein Kästchen. Er entnahm ihm eine große Karte und zwei Photographien. Die eine stellte ihn, die andere Attila von Schwind vor. Er verglich sie noch einmal. Ein feines Lächeln zog um seine Augen. Nicht zu unterscheiden, besonders, da sie gleiche Anzüge gewählt, sich aber in verschiedenem Gesichtswinkel hatten aufnehmen lassen.

Er steckte die drei Papiere in eine flache Ledertasche, die er gleichfalls dem Kästchen entnahm, fügte ein entwickeltes Bild der von Witt heute früh aufgenommenen Höhenphotographie dazu, und ließ das Ganze über die Spitze einer teleskopartig auseinandergeschobenen, weitreichenden Stahlröhre an einem feinen Draht hinuntergleiten.

Ein Matrose fing die Sendung ab und brachte sie dem Kommandeur. Dieser öffnete.

»Sein Bild – Zweimal sogar!« Dann las er, es war eine gewöhnliche Geschäfts-Visitenkarte: »Fritz Rusart, Ingenieur, Hamburg, Hermannstraße 12.«

»Ein Deutscher!«

»Also kein Engländer! Schade, schade!«

»Ja! – aber sei's darum! Wir müssen heran an ihn, zusammen mit ihm. Ihm selbst kann ja ebenfalls nur daran liegen.«

»Gewiß, man kommt ihm nur entgegen.«

»Und er wird auch mit beiden Händen zugreifen.«

Fritz Rusart hörte den Kommandeur heraufrufen: »Ich beglückwünsche Sie! Darf ich die Ehre haben, Sie bei mir zu begrüßen?«

»Ich bitte, darauf zu verzichten.«

»Es wird Ihnen, mein Herr, keinen Augenblick unklar sein, daß eine Erscheinung, wie Ihr Fahrzeug, ein Ereignis, wie es sich eben vor unsern Augen abgespielt hat, in jedem den brennenden Wunsch erregt, Ihnen und Ihrer Sache näherzutreten.«

Fritz Rusart nahm Franks leise Meldung »800 Meter« ab und rief dann hinunter:

»Diese liebenswürdige Zusicherung ist mir eine große Freude; doch gestattet mir die Sachlage ebensowenig, mein Fahrzeug zu verlassen, als ich irgend jemandem zumuten darf, sich hier oben aufzuhalten. Die ›Pax‹ ist ein ungastliches Haus!«

»Ich verstehe! Ich verstehe! Aber darf ich wenigstens das Ersuchen aussprechen, sich dem Machtbereich Seiner Majestät, unseres Königs, anzuvertrauen? Ich darf Sie der wärmsten Aufnahme versichern.«

Vorsichtig kam der Ruf herüber »680 Meter!« Die Fortschritte, mit denen sich das Boot der Schwimmfähigkeit näherte, waren rapide. Fritz Rusart befahl ebenso leise zurück: »Bei 300 Meter Leichtgewicht hängen Sie die ›Pax‹ in den Wind, so daß sie nicht mehr zieht. Das Boot wird noch tief liegen, aber schon schwimmen. Den Rest können die Pumpen allein bewältigen.«

Er wandte sich über Bord. »Wenn Seine Majestät, der König von England, und Seine Majestät, der Kaiser von Indien, zwei getrennte Personen wären, würden beide gleichermaßen mir ihr Interesse und, wenn erbeten, ihren Schutz angedeihen lassen. Aber, wie ich ihn nicht zurückweise, so nehme ich ihn auch noch nicht in Anspruch!«

Der Kommandeur holte tief Atem: Der Mann da oben hatte viel zu verkaufen und wußte es; und der Mann war Diplomat.

»Darf ich mir einige Anfragen rein technischer Art gestatten?«

»Ich stelle anheim.«

»Ich vermag keine Auftrieb-Vorrichtung zu erkennen.«

»Ohne äußere Auftriebkraft.«

»Maschine im Schiff?«

»Ja!«

»Wie hoch können Sie willkürlich steigen?«

»So hoch ich noch atmen kann!«

»Und die Geschwindigkeit?«

»Horizontal 100 Kilometer in der Stunde. Zur Not auch mehr.«

»Erprobt?«

»Ja!«

»Und im Steigen, die Geschwindigkeit?«

»Geheimnis.«

Zwischen Frage, Antwort und Wiederfrage lag immer eine Pause. Es war wie ein überaus vorsichtiges Tasten.

»Die ›Pax‹ ist frei!« wurde gemeldet.

»Lassen Sie die Taue noch straff, aber fertig zum Einholen. Backbord ab, Steuerbord aufhaspeln!«

»Wann müssen Sie immer wieder zur Erde?« Fritz Rusart zauderte. Nun, mochte er es erfahren: »Nach 36 Tagen!« rief er hinunter.

Das Gesicht des Kommandeurs zeigte eine grenzenlose Verblüffung. »Das – ist – ja ungeheuerlich! Nach sechsunddreißig – –?«

»Ja, nach sechsunddreißig Tagen!« bestätigte Fritz Rusart.

»Und wie lange dann?«

»Bei intensiver Arbeit vier Stunden!«

Der Kommandeur fuhr zurück. »Dann muß Ihr gesamtes Material vorher an Ort präpariert sein!«

»Ist es!«

»Koste es, was es wolle,« zischte der Kommandant durch die Zähne, »wir müssen hinauf, und wenn ich mich an meinem Daumen aufwinden lassen soll!«

»Wieviel Mann Besatzung hat die ›Pax«?«

»Zwei Offiziere, zehn Mann.«

»Und wie dick die Schiffswand?«

»Von verschiedener Stärke!«

Fritz Rusart wie der zweite Offizier eifrig in seinem Buche notierte.

»Sie sind, soweit es sich nicht um freundschaftliche und friedliche Gesinnung handelt, doch außerordentlichen Gefahren ausgesetzt,« rief der Kommandeur hinauf.

»Inwiefern?« fragte Fritz Rusart, indem er leise Befehl gab, die Stahltrossen einzuholen.

»Nun: ein einziger wohlgezielter Schuß …«

»Von wem, woraus?«

»Aus einem Schiffsgeschütz.«

»Gegen die ›Pax‹?«

»Ja, gegen die ›Pax‹.«

»Halten Sie dafür, daß ich irgend jemandem gestatten könnte, die ›Pax‹ zu treffen?«

Der Kommandeur überlegte einen Augenblick. »Gibt es noch mehr Fahrzeuge dieser Art?«

»Ah!« dachte Fritz Rusart, »endlich! Diese Frage hätte an erster Stelle kommen müssen.«

Laut rief er hinunter: »Nein, die ›Pax‹ ist das erste!«

»Und einzige?«

»Zurzeit das einzige!«

Man sah dem Gesichte des Kommandeurs eine gewisse Befriedigung an – und eine gewisse Entschlossenheit.

Das Torpedoboot schwamm. Die Stahltrossen schossen auf der einen Seite herab und wurden unter dem Boot hindurch auf der andern Seite wieder mit äußerster Schnelligkeit aufgewunden. Die »Pax« war ihrer Fesseln ledig.

Auf diesen Moment hatte Fritz Rusart gewartet: »Ich übergebe Ihnen Ihr Boot, mein Herr, und spreche Ihnen meine Genugtuung darüber aus, daß es mir vergönnt war, Ihrer Marine diesen Dienst zu leisten!«

»Ich werde Seiner Majestät einen eingehenden Vortrag halten und zwar so bald als möglich. Inzwischen halte ich mich für berechtigt, Ihnen den Dank Englands zu übermitteln. Noch ein Wort!« schrie er; es schien ihm, als ob die »Pax« langsam steige. – »Lassen Sie uns Hand in Hand gehen. Es ist eine Mission, als deren Träger Sie erscheinen. Erfüllen Sie eine Bitte: Lasten Sie uns an Bord. Das Ehrenwort eines Offiziers Seiner Majestät bürgt Ihnen dafür, daß wir keinen Schaden anrichten. Noch ist es eine Bitte. Ich kann es befehlen. Sie sind in meinem Machtbereich. Ein Schuß …!«

»Adieu, mein Herr Kommandant!« rief Fritz Rusart liebenswürdig hinunter.

Das Alarmsignal klirrte, und die »Pax« zog hoch gegen den blauen Himmel. So schnell erfolgte der Aufstieg, daß alle, die auf ihr waren, taumelten. Bei 3000 Meter winkte Fritz Rusart ab. »Hängen Sie sie gegen den Wind. Mit angesetzter Kraft. Lotrichtung: das Deck des Panzers!«

Bei dieser mehr als 9000 Fuß betragenden Höhe erwies sich die Aufgabe als eine ganz außerordentlich schwere. Der Panzer, der tief unten auf dem Meere schaukelte, war ein zu kleines Visier-Objekt. Das geringste Zuviel an den Drehungen der Propellerflügel ließ die »Pax« statt nur hinein-, über die Vertikale hinausgehen. Es war ein ständiges, mühevolles Hin- und Hermanövrieren auf einer Fläche von kaum fünfhundert Quadratmetern. Und diese verhältnismäßig sehr kleinen Abweichungen festzustellen war auch nur möglich bei der Präzisionsarbeit des Lot-Teleskops.

Frank meldete endlich die Unmöglichkeit, den Panzer bei dieser Entfernung im Visier zu halten. Fritz Rusarts daraufhin angestellter Versuch mißlang auch. Er steckte den Kopf in die dunkle, undurchsichtige Kappe, die über das senkrechte Rohr gespannt war, und sah hinab. Die »Pax« zog hin und her; bald längs, bald quer über den Panzer; aber sie genau über ihm festzuhalten gelang nicht.

Er ließ die Tarnvorrichtung spielen. Er wußte, wie von unten der Himmel ausgesehen hatte, und brachte, nachdem er blaue und mattrote Scheiben über die Rinne gelegt hatte, Strom in die Glühlampen. Dann befahl er, die »Pax« im Lot auf 1000 Meter sinken zu lassen. Es war immer noch eine respektable Höhe. Nicht viel geringer, als die Höhe des Brockenhauses über der See: aber bei dieser Entfernung hätte man den Panzer auch nicht einen Augenblick aus der Senkrechten verloren, wenn er nicht plötzlich eine Eigenbewegung angenommen hätte. Man sah, wie sich aus seinen drei Schloten schwerer schwarzer Qualm wälzte, man sah die See vor seinem Bug hoch und höher aufschäumen und hinter ihm das quirlende Kielwasser.

Besser, als die Lage sich so gestaltete, hätte sie sich Fritz Rusart gar nicht gewünscht. Da der Panzer sich von den anderen Schiffen getrennt hatte, hatte man es nur noch mit einem Gegner zu tun.

Nach Verlauf einer Viertelstunde, während deren die »Pax« immer ungefähr über dem Panzer gehalten wurde, ließ er die Tarnvorrichtung plötzlich erlöschen und befahl, das Fahrzeug in ganz langsamem Abstieg bis aus hundert Meter zu senken und dann mit ihm genau das Tempo des Dampfers und genau über demselben zu halten.

James York trat an ihn heran.

Fritz Rusart sah ihn prüfend an.

»Haben Sie Vertrauen zu mir, Herr Rusart?«

»Ich liebe es nicht, gefragt zu werden.«

Es entstand eine Pause, die für jeden anderen als James peinlich gewesen wäre. Sein zur Seite gewendetes Gesicht zeigte nur ernstes Nachdenken. Endlich sagte er: »Ich bitte Sie, Vertrauen zu mir zu haben.«

»Und –?«

»Nehmen Sie mich in Ihre Dienste. Ich wage schon jetzt, davon zu sprechen. Ich kann unklare Verhältnisse nicht vertragen.«

»Wo ist Ihre Heimat?«

»Heimat? Ich habe keine.«

»Sie sind geboren?«

»Ostrowo hat die Ehre gehabt.«

»Und Ihre Stiefschwester?«

»Aus Lüttich.«

»Haben Sie eine straffreie Vergangenheit?«

»Nein!«

»Was lag vor?«

»Körperverletzung.«

»Der Fall?«

»Ich war über die sogenannte Berechtigung in der Notwehr hinausgegangen. Ein Bursche hatte meine Stiefschwester angefallen.«

»Und –?«

»Ich habe ihn zum Krüppel geschlagen.«

»Und –?«

»Ich ernähre ihn jetzt.«

»Gerichtlich verpflichtet? – Aus eigenem Antrieb?«

»Beides nicht! Meine kleine Schwester hat mich so lange gebeten –!«

Fritz Rusart tat ein paar Schritte vor dem erwartungsvollen James auf und ab.

»Was können Sie außer der Berufs-Spionage, bei der, Ihrer Aussage nach, Ihr Geschmack zu kurz gekommen ist?«

»Ich spreche deutsch, englisch, französisch, die nordischen Sprachen und spanisch. Ich habe sehr viel reisen, mich in den verschiedensten Gesellschaftskreisen bewegen müssen. Ich habe mich vom Ladoga-See bis nach Madrid durchgeschlagen. Ich bin von Labrador abgereist, habe mich auf den versandeten Lokomotiven am Panama-Kanal schlafen gelegt, bin über die Kordilleren geritten, den La-Plata hinabgeschwommen und von Buenos-Ayres habe ich mich mittellos wieder nach Europa gearbeitet.«

»Zuletzt?«

»Bin ich in einem Detektiv-Bureau gewesen, bis jetzt.«

»Haben Sie noch irgend etwas über Ihre Person zu sagen?«

»Ja!«

»Was?«

»Daß ich das, was ich über mich gesagt habe, nur dieses eine Mal gesagt haben werde.«

»Der Grund?«

»Hier war's geschuldete Offenheit; – zum zweiten Male wäre es Gaskonnade.«

Das, was Fritz Rusart dachte, aus seinen Zügen zu lesen, war verschwendete Mühe. Und so sehr es James York danach dürstete, irgendein bestimmtes Gefühl darüber zu erlangen, welchen Eindruck er gemacht habe, so sehr ließ ihn Rusarts unbewegliches Gesicht, sein sich immer gleichbleibendes Auge im Stich.

Frau Franziska, Minnie Veleen und die beiden Offiziere beobachteten, soweit sie irgend Zeit hatten, voller Anteil die Gruppe. Wenn sie auch kein Wort der Unterredung verstehen konnten, so war es ihnen doch keinen Augenblick unklar, um was es sich bei derselben handelte.

Fritz Rusart trat an James heran.

»Ich verlange keine Beweise von Ihrer Vergangenheit. – Von Ihrer Zukunft verlange ich: unverbrüchlichen Gehorsam, und – wo geschwiegen werden muß – unverbrüchliches Schweigen. Können Sie dieses beides gegen mich in die Wagschale werfen?«

Ohne Zaudern kam ein warmes, stolzes »Ja!« über James' Lippen.

»Sie stehen von heute ab in meinen Diensten! – Brauchen Sie Geld zur Lösung Ihres bisherigen Verhältnisses?«

»Nein, aber einige Tage brauche ich noch. Laufende Aufträge sind nicht vorhanden; meine Chefs kämen jedoch in Verlegenheit. – Auch erscheint es mir zu formlos …«

»Sie werden für mich an Land tätig sein. – Ich weiß noch nicht, wo ich Sie absetze. Instruktion erhalten Sie.«

Er wandte sich von ihm ab der Kommandokammer zu.

Aufsehend machte ihm Frank die Meldung: »Seit sechs Minuten 100 Meter über dem Panzer. Gleiche Richtung. Er fährt mit 21 Knoten!«

»Und da unten?«

»Aufgeregt und ratlos.«

»Halten Sie die Fahrt!«

So selbstverständlich es war, daß dieses Kommando folgen mußte, ebenso peinlichster Aufmerksamkeit bedurfte es, dasselbe auszuführen. Der Panzer hielt überhaupt nicht mehr Kurs. Frank hatte die Spiegelsignale wegen der fortgesetzt umspringenden Meldungen abbefehlen müssen und selbst Ausguck übernommen. Witt stand an den Hebeln und Ventilen. Bald schoß der Panzer links, bald rechts heraus; bald ging er rückwärts, bald schraubte er sich mit Volldampf vorwärts. Es half ihm alles nichts. Keine Umsteuerung in der Maschine, kein Umlegen des Ruders konnte so plötzlich kommen, – die »Pax« machte sie mit. Frank stand oben wie ein Richtkanonier. Seine rückwärts gehaltenen Hände gaben Signale, die Witt sofort auf seine Apparate übertrug. Frank sah nach unten auf den Panzer, Witt auf Franks Hände; – so war es, als leitete nur eine Person, nur ein Wille die Bewegungen der »Pax«.

James stand neben Frau Franziska.

»Wenn man nicht aktiv tätig sein darf, muß man kritisch tätig sein.«

»Kritik liebt mein Mann nicht,« meinte sie leise.

»O!« erwiderte er sorglos. »Nicht Kritik an ihm. Niemals!«

»Auch nicht an seiner Sache.«

»Auch das nicht. Aber, gnädige Frau, sehen Sie dieses liebenswürdige Verhältnis zwischen uns und dem Panzer da unten …!«

»Liebenswürdig?«

»Ja, der reine flüssige Wüstenritt.«

Sie mußte lächeln.

»Es tut mir leid um Freiligrath,« fuhr er fort.

»Inwiefern?«

»Er wird hier verwässert. Die Giraffe jedenfalls – hier wie dort – ich fühle, sie ist geniert.«

Der Kommandeur des Panzers kochte vor Wut. Nicht das Drohende, nicht das Gefährliche, – das maßlos Lästige, das der da oben ihm zufügte, das ließ ihn die Fäuste ballen, das beleidigte ihn bis in den innersten Nerv. Schon seit einer halben Stunde fast schwebte der andere über ihm. Zuerst so hoch, daß er kaum mit dem Fernglase zu sichten war, – aber ganz genau über ihm; dann tiefer, – auf eine Weile war er ganz verschwunden gewesen; und nun, schon seit zehn Minuten, hing er über ihm, fast an seinen Mastspitzen. Und das erregte in ihm das Gefühl, als ob er gefesselt am Boden läge und ein anderer hielte immer einen schweren Klotz dicht über seinem Gesichte. Ob Freund, ob Feind: es war eine tödliche Beleidigung. Man entriß ihm seine wehrhafte Mannhaftigkeit. Vor Zorn wurden ihm die Augen naß.

Er ließ sich das Sprachrohr reichen.

»Ahoi! Pax!« stieß er hinein.

Im Unterschiff schob sich eine Platte zur Seite. Fritz Rusart, in dessen nächster Nähe der phonographische Apparat stand, lehnte sich heraus.

»Hier Führer der ›Pax‹!«

»Geben Sie den Platz frei, – über mir!« schrie der Kommandeur erbittert.

»Wenn es sonst auch im internationalen Verkehre gefährlich ist,« erwiderte Fritz Rusart sehr zuvorkommend, »zu verlangen, ohne erzwingen zu können, so werde ich doch einem in so liebenswürdigem Tone gestellten Ersuchen stets willfahren. Es lag mir nur daran, mein Herr, Ihnen nachzuweisen, daß nicht ich es bin, der in Ihrem Machtbereich ist. Ihre vorhin getane Äußerung – die ich natürlich nicht als Drohung aufgefaßt habe – bedurfte der Klarstellung. – Gestatten Sie mir einige technische Fragen?«

Der Kommandeur biß die Zähne zusammen. Er war nicht imstande zu antworten.

Fritz Rusart ließ sich nicht beirren. »Unter welchem höchsten Erhöhungswinkel können Sie schießen?«

»Senkrecht in die Höhe schießt nur ein Narr!« schalt der Kommandeur.

»Er schießt sich damit ins Gesicht! Richtig! Und deswegen fehlt den vernünftigen Menschen die Einrichtung dazu. – Und selbst der außerordentlich hohe Winkel von 60° läßt mir gegenüber jedes Gramm Pulver als Vergeudung erscheinen. Vielleicht interessiert es Sie, etwas von meinen Kanonen zu erfahren?«

»Sie haben keine …!«

»Doch! – rauchlos! – und pulverlos!«

»Ja, Sie werfen ein Stück Eisen über Bord, wie man mit einem Ziegelsteine einen Spatz totwirft.«

»Nein. Ich habe Lancierrohre mit peinlichster Visiervorrichtung. Und in gleichem Maße, in dem Ihre Geschosse bei jedem hundert Meter schwächer werden, in gleichem Maße stärken sich die meinigen. In sich selbst. Aus sich selbst. Nachkömmlinge des sagenhaften Antäus. Je näher der Mutter Erde …«

»Auch unser Deck ist gepanzert; nicht nur die Schiffswände.«

»Ich bin nicht Ihr Feind. Ich führe nicht Krieg. Aber diesen Fall vorausgesetzt, würde ich mir niemals erlauben, Ihr Deck zu demolieren. Dabei könnten auch Menschen erschlagen werden. Ich würde aus tausend Meter Höhe je ein Geschoß von 200 Kilogramm in Ihre drei Schornsteine jagen. Es gibt keinen Kiel, der widerstände. Für das Aussetzen der Boote würde verhältnismäßig reichlich Zeit sein; und ich würde mich so mühelos eines Gegners entledigen, ohne seine äußere Schönheit zu beeinträchtigen.«

»Es ist eine Marter, das zu hören!« knirschte der Kommandeur.

»Es ist nichts Beleidigendes in meiner Rede, als nur das Neue an ihr. Und dem unterliegt nur, wer es nicht in sich aufnimmt. Würden Sie die Liebenswürdigkeit haben, mir zu sagen, ob Sie mich vorhin fortwährend gesichtet haben?«

»Zehn Minuten lang ungefähr haben wir Sie nicht gesehen. Wo waren Sie?« antwortete der Kommandeur, der sich bei aller zitternden Erregung nicht losreißen konnte.

»Wo ich nachher war!«

»Wo Sie …!«

»Ja! Ich habe die ›Pax‹ unsichtbar gemacht.«

»Wie?« rief der Kommandeur zurückprallend. »Unsichtbar?«

»Ich habe die unsichtbar gemacht.«

»Ja – wie? – aber wie?«

»Nun, der Schwerpunkt liegt für mich in dem Gelingen des Experimentes. Ich verabschiede mich jetzt. Gestatten Sie noch eine ergebene Versicherung, die sich an Ihre Adresse richtet: Die Verdienste eines Mannes, die sich bis heute gehäuft haben, können doch durch die Form, in der eine neue Zeit an ihn und uns alle herantritt, nicht ausgelöscht werden.«

Die Platte schob sich zu und die »Pax« stieg. Der Kommandeur sah ihr nach und verfolgte sie mit seinen Augen, bis sie als ganz kleiner Punkt seinen Blicken entschwand. Er legte seine beiden Hände dem ersten Offizier auf die Schultern. »O, Kamerad! Das alles hat wehgetan!« Dann sank er auf einen Sitz und starrte, finster brütend, vor sich hin. »Warum konnte es kein Engländer sein?«

»Und wenn es einer wäre und er wäre ein Schuft?«

Der Kommandeur sprang auf. »Kurs zur Küste! Gegen die Ordre! Ich muß sofort zur Admiralität!«

Fritz Rusart hatte dem Panzer keinen Blick mehr geschenkt. Er ließ die »Pax« ihren Weg fortsetzen. Um Brest noch bei Sonnenlicht zu erreichen, dazu war die Zeit schon zu weit vorgeschritten. Deswegen befahl er nach Feststellung der Windstärke sein Fahrzeug bei 1000 Meter Höhe mit halber Fahrt von 50 Kilometern auf Kurs zu setzen.

Die Ablösungen waren geregelt. Während sich Frau Franziska mit Minnie Veleen in einem geschützten Winkel auf Deck niederließ, und Witt mit James an die Entwicklung der kinematographischen Aufnahmen ging, zog sich Fritz Rusart in eine Kammer zurück. Er schrieb bis in die späte Nacht hinein. Weder durch die Signale für die Mahlzeiten, noch durch die Bitten seiner Frau, sich Schlaf zu gönnen, ließ er sich stören.

Morgen früh würde er kräftig genug sein. Vier Stunden Schlaf genügten ihm zur Not. Er wollte bei günstigem Sonnenaufgange die Festung Brest von oben photographieren. Bei diesem Gedanken lehnte er sich in seinen Schreibstuhl zurück. »Nicht angenehm für den Kommandanten; aber nur ein Wurf in dem Gewebe. Welcher Weber weiß, was er webt: Leichentuch oder Taufkleid!«

Am andern Vormittag wollte er James und seine Schwester absetzen. Der Plan zur Verwendung des jüngsten Zuwachses war fertig in ihm.

Der heutige Tag war reich an Vorstößen gewesen. An solchen, auf die er nicht gerade heute gerechnet hatte, denen zu begegnen er aber jeder Zeit vorbereitet war, – bis auf einen.

In seinem Tagebuche stand in einer langen, eingehenden Niederschrift unter anderem zu lesen:

»Jede Erfindung ist ein Ding an sich. Sie der Kritik aussetzen, heißt, sie in ein Verhältnis zu den Bedürfnissen ihrer Zeit bringen. Dieses Verhältnis in das Reale umsetzen, heißt sie verwerten. Und Verwerten ist ein verlogenes Wort. Nicht, weil es relativ ist. Oder nicht schon allein deswegen, sondern weil Wert darin steht und Beute gemeint ist. Weil es der Euphemismus für Ausbeuten ist. Und Beute erinnert an Krieg. Beute ist der Schlußakkord eines Duettes, in dem eine Hymne ein dumpfes Stöhnen überbrüllt.

»Wenn ich den andern nun doch lieben will, wenn ich nicht an mich denken will, sondern an ihn, dann kann mein Weg nicht sein, wie der irgendeines, der etwas erfunden hat. Ein solcher wird von seinem Platze ausgehen und, was er hat, den anderen zeigen, anbieten, zur Verfügung stellen, überlassen. Eine Segnung überlassen, die ihn segnet.

»Er ist ein Punkt. Er wird den Radius entlang gehen. Geht er einen andern Weg, wird er sich auch immer nur aus einer Linie fortbewegen können. Wo er hier und da Interessen trifft, wird er innehalten, um Vorteile zu bieten, die ihm Vorteile bringen.

»Meine Sache steht über dem Suchen. Und wenn ich hinginge, anzubieten, würde ich den einen gegen den andern ausspielen. Und ich würde nicht mehr Herr sein.

»Und hinaus soll diese Segnung doch. In meinem Falle ist die beste mechanische Verteilung die Zentrifuge. Dazu gehört, daß alle, die empfangen sollen, gleich weit von mir stehen. Das kann ich nur dadurch erreichen, daß ich eine Grenze um mich ziehe; eine kreisförmige, die zu überschreiten ich jedem vor einem bestimmten Zeitpunkte unmöglich mache.

»So war meine Absicht. Und ihr werde ich auch weiter folgen, trotzdem sie mir heute – am Anfange und im Einzelfalle – vereitelt worden ist. Nach langer Vorbereitung und unter eingehendem Studium habe ich mir diejenigen ausgesucht, die mit mir, unter mir arbeiten sollen.

»Nun ist dieser eine neu dazu gekommen. James York. – Ohne mein Zutun.

»Was, mag er wohl glauben, habe mich bewogen, ihn aufzunehmen. Sein Egoismus wird ihm sagen: Sein Auftreten, sein Wille, seine Form des Hereinkommens. Und doch war das eine ein Übertölpeln; in dem andern lag das Vagabundentum. Ich hatte die Macht, oder wenn ich das Wort benutzen will, das ›Macht‹ ersetzt und einen stinkenden Beigeschmack hat, ich hatte die Gewalt, ihn wieder hinauszuweisen; dahin, wo die anderen stehen. Weshalb habe ich es nicht getan? – Er mag der Narr bleiben, seinen Vorzügen und Fähigkeiten einen Erfolg zuzuschreiben, der mit ihnen nichts gemein hat, und er mag das Kind bleiben, das glaubt, gute Vorsätze berechtigen zur Belohnung, das Ausrecken eines Armes zum Herunterreißen einer Frucht.

»Ich habe von ihm unverbrüchlichen Gehorsam verlangt. Er hat ihn zugesagt. Was gibt ihm Kraft zum Gehorsam? Sein Egoismus.

»Ich habe von ihm unverbrüchliches Schweigen verlangt. Wer bürgt mir dafür? Sein Egoismus.

»Im Gehorsam und im Schweigen liegt Zuverlässigkeit. Es sind zwei negative Eigenschaften. Ich habe mich gehütet, von ihm Treue zu verlangen. Jene höchste Zuverlässigkeit, die nicht in ihm liegt, seinetwegen; nicht aus ihm herausströmt, seinetwegen, sondern die er hat, meinetwegen.

»Er mag sein, wer er will. Er mag sich entwickeln. Ich werde für ihn sorgen. Und ich werde für ihn Treue haben.

»Aber daß er nun schon bei mir bleibt, das ist: er soll mir eine ständige, lebende Erinnerung daran sein, wie brüchig Grundsätze sind, zu deren Durchführung man andere braucht, und daß es kein noch so sauber gearbeitetes Netz gibt, in dem nicht eine Masche fallen könnte.

»Er soll mir ein Memento sein.«


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