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Drittes Kapitel.

Der Mitinhaber des internationalen Detektivbureaus Samuel & Aménard, Herr Aménard, saß auf seinem Kontorsessel. Auf seinem schwammigen Gesichte lag der satte Schein der Befriedigung. Die letzten Monate hatten Geld gebracht. Er hielt einen stillen Rückblick. Manches feine Geschäft, und ein sehr feines: Es war gewesen ein Mann mit viel Zacken im Siegelring und einem großen Loch in der Tasche, welcher sich gehängt hatte an ein Mädchen mit sehr viel Geld und einem Buckel. Er wollte loskommen. Weil er bekommen konnte ein Mädchen mit ebensoviel Geld und ohne einen Buckel. Nummer 7 der Tabelle. Und eine sehr teure Sache, schon in der Grundtaxe. – Aménard schüttelte schmunzelnd sein Haupt: »Um eine Linie auf dem Rücken eines Weibes!« Nun, die Firma hatte es gemacht. Das Mädchen war auch krumm gewesen in seinem Wandel. Wer ist es nicht! Wenn das Detektivbureau gut ist!

Seine Reflexionen verdichteten sich zu einem Monologe. »Es ist eine verdienstvolle Sache für uns, daß der eine immer wissen will, was der andere ihm nicht sagen will. So ist es schon gewesen vor der Arche Noahs! Lange vorher! Kain ist gefragt worden: ›Wo ist dein Bruder Abel?‹ Der liebe Gott hat es wissen wollen. Kain hätte es sagen können – ohne Spesen! Er hat abgelehnt das Geschäft. Er wird gewußt haben, warum …!«

Die Tür wurde aufgerissen; ungestüm und wild, wie wenn sich der Eindringende in voller Flucht befände. Es war Herr Samuel, der Kompagnon. Sich plötzlich besinnend, machte er die Tür leise und langsam von innen wieder zu.

»Samuel, es ist grotesk, wie du kommst herein!«

»Grotesk! Was ist grotesk?« Samuel wischte sich den Schweiß ab. »Wie kann es sein grotesk, wenn ich hereinkomm'? Ich komme herein eilig, weil ich habe Eile!«

»Und du machst die Tür zu langsam, weil du hast keine Eile!«

»Was hast du auszusetzen, daß du sprichst, ehe ich gesprochen habe?«

»Daß deine Geschäftsinteressen wechseln ihr Tempo auf der Kontorschwelle!«

Samuel schritt durch den Raum, schloß vorsichtig die vier Fensterflügel und ließ sich erschöpft auf einem Aktentritte unterhalb des einen Fensterbrettes nieder. Ununterbrochen fuhr er mit dem Taschentuche über die perlende hohe Stirn.

»Es wird eine große Sache, Aménard!«

»Was wird eine große Sache?«

»Und es ist ein ungeheures Aussehen!«

»Worüber ist ein Aufsehen!«

»Es ist eine große Erfindung!«

»Erfindung!« Aménard spuckte verächtlich aus! »Du wirst alt – und du bist erregt …«

»Ja, ich bin erregt! – und ich kann sein erregt, denn es ist eine Sache, um welche …«

»Ein Mann, wie wir, Samuel, welcher hat ein Geschäft wie wir, darf nie sein erregt: Worüber bist du erregt, Samuel?«

»Wenn du wirst gehört haben, was ich werde gesagt haben, werden wir sehen, wer wird sein erregt: Du wirst sein erregt!«

»Ich habe nicht die Natur!« lehnte Aménard ab. »Wegen einer Erfindung!« – Er spie wieder aus. Er haßte die Erfindungen. Sie waren gut für die Patentbureaus, nicht für die Detektivbureaus.

»James York ist gekommen und er hat es berichtet – und es ist wahr, weil er es sagt – und wir …«

»James York ist sicher!« pflichtete Aménard bei.

Samuel trat näher. Tiefaufatmend legte er seine beiden redegewandten Hände auf den Tisch.

»Es ist ein Mann; ich habe vergessen den Namen, aber ich habe hier das Bild, – und er wird darauf stehen – – siehst du? – Fritz Rusart; – er hat ein Schiff, welches stiegt in der Luft wie ein Vogel; welches eine Last unter sich trägt, wie der Reiher, wenn er den Fisch hat in den Krallen. – Aménard; ein Schiff, welches geht, wohin er will, und welches weg ist, wenn du es eben hast gesehen. Und ist doch noch da! – Welches sich kann machen unsichtbar! – Am Himmel! – Und kann tiefstehen! – Und hochgehen …« Er war atemlos.

Aménards Gesicht war grau geworden. Wie das Herdfeuer durch den Riß in der trügerischen Asche glüht, so schimmerte gieriges Verständnis durch seine fast geschlossenen Lider. Er stand langsam auf. Mit gebeugtem Genick. Wie einer, der seinen Rücken an einer schrägen, nach vorn überhängenden Felskante hochpressen muß.

»Und die Zeitung, welche du hast …?«

»Ja, hier, es steht gedruckt! Es ist ein Schiff untergegangen. Ein Boot von der Marine. Ein Boot zu unter Wasser zu schießen. Und es war nicht wieder zu heben. Und er ist gekommen. Und er hat es gehoben. Mit Drahttauen aus der Luft. Und hat es unter sich gehängt. Und auf dem Wasser entlang hat er es getragen. – Bis es hat geschwommen!«

Aménard machte ein zurückhaltendes Gesicht. Endlich sagte er mit seinen tiefen Kehllauten: »Ist es einer von uns?«

»Nein, es ist nicht der Name!«

»Der Name!« es klang wegwerfend. Aménard nahm das Bild hoch und sah es lange, lange an. »Es ist – nicht das Gesicht! – – Welcher hat eine solche Erfindung, – – er ist Herr über alles!«

»Und hier ist das Blatt!« Samuel fuhr mit den Händen glättend über das Papier. »Kosmopolit heißt es und erscheint in allen Ländern und flattert in allen Straßen herum, wie im Winter die Flocken vom Schnee – und –«, er gab sich einen Ruck – »wir müssen 'ran an den Mann!«

»Wenn es so ist,« meinte Aménard mit gekniffenen Lippen; »er wird sehr nötig haben ein gutes Detektiv-Bureau!«

»Wie wir es haben.«

»Wie wir es haben; denn sie werden hinterher sein hinter ihm; daß sie ihn unschädlich machen; weil es eine große Revolution ist, so groß, wie noch keine gewesen ist, und wird viel Schaden sein. Auch in Aktien, welche lauten auf Schiffe. Wir haben auch welche.«

»Und wir werden Schaden haben.«

»Aber wir werden sein auf seiner Seite! Der Verdienst ist größer!«

Samuels Nase schlug Falten. »Wenn er will haben, daß wir arbeiten für ihn …!«

»Wenn er es nicht will haben, arbeiten wir gegen ihn!«.

»… Arbeiten wir gegen ihn!«

»Beide Parteien werden sein groß!«

Es entstand eine lange Pause. Samuels Augen ruhten in banger Erwartung auf Aménard. Sie fanden dort nur springende Begierde, die sich selbst immer wieder von neuem hochhetzte. Aménards Blicke schossen suchend und forschend in dem nüchternen Kontorraume hin und her, von einer Ecke zur andern.

Sie streiften mit demselben übersichtigen Ausdrucke den Kompagnon wie die hohen Aktenschränke, in denen neben den tausend diskreten Fragen die indiskreten Antworten aufgespeichert waren.

In dem Gehirn des Mannes schossen die Gedanken hoch, wirbelten durcheinander, verdrängten einander; es reihte sich Bild an Bild, blitzschnell und doch zu einem zusammenhängenden Ganzen sich fügend. Er beackerte sein Lieblingsfeld, die Psychologie der Geschichte.

Er hatte ein System gefunden für alle Umwälzungen, denen der Zusammenhang der Menschen und Völker bisher unterworfen gewesen war; und er hegte keinen Augenblick einen Zweifel, daß die schmetternde Fanfare, die jetzt über die Menschheit hinbrauste, bald dieselben Akkorde auslösen würde. Diese Erfindung, gemacht von einem Manne, würde von einem Weibe verbreitet, verkauft, verschenkt werden. Es war ihm zur fixen Idee geworden, daß der Mann der Schöpfer, das Weib der Träger einer wichtigen Sache sein müsse. Und im Zwange dieser Empfindung tastete er nach dieser zweiten Person.

Aber sein Grübeln nutzte nichts. Er wußte noch zu wenig. Erst mußte er mehr erfahren über den Mann. Dazu konnte er aber seinen Kompagnon nicht gebrauchen. Wer war Samuel? Das war ein Mann, der sich mit Gedanken, die klein waren wie er selbst, über die Schwelle von heute zu morgen schob. Er war nicht selbständig und auch kein Instrument. Vielleicht war es James York. Vielleicht auch nicht. Das würde er noch sehen. Er wollte sich noch nicht festlegen. Er würde einen Weg finden und würde einen Instinkt haben für das Weib.

Endlich lehnte er sich zurück. Tief atemholend und mit vielen flackernden Falten auf der Stirn. Was er sagte, klang bald so, als wenn er zu sich spräche, bald, als wenn er seine Worte an eine große, imaginäre Versammlung richtete.

»Die Sache wird sein in Richtigkeit! – Und wir müssen machen einen Plan. Man wird müssen dabei an vieles denken, an alles. Denn man weiß nicht, wie warm die Sonne wird scheinen, welche aufgeht. Aber man muß sich melden! – Ganz vornean! – Wir nicht! – Wir bleiben hinten! – Wir haben James York und wir haben Minnie Veleen, wir! Wenn wir kommen,« er wiegte mit dem Kopfe hin und her und verzog den Mund, »es ist: wir sprechen nicht gut, und wir haben nicht die Gewohnheiten der feinen Leute, daß sie nicht fassen mit den Fingern in das Essen, wenn sie's nicht können kriegen mit dem Messer …«

»Mit der Gabel!«

»Red' nicht! Es genügt auch nicht, daß einer sich kann fein benehmen. Man muß auch sein für die Geschlechter. Politik und Revolution sind nicht gemacht ohne die Weiber. Es hat gegeben eine Semiramis! Wer weiß nicht von ihr! Und es ist gewesen eine Bathseba, welche gebracht hat ihren Sohn auf den Thron Davids. Wo er doch war Außenseiter, und hat niemand auf ihn getippt! – Hinter wen haben sich gesteckt die Philister, daß sie über den Simson kamen? Es ist gewesen ein Weib und hat geheißen Delila. Wer hat zerschnitten das Kuhfell und hat sich erworben viel Land? Sie hat geheißen Dido. Und wenn es nicht wahr ist, ist es bezeichnend. Und wer hat gespielt mit Kaisern und Feldherren von einem Volk, das war berechnend und kalt? Ein Weib! Und hat geheißen Kleopatra. Und hat sie gehabt am Seil, auf dem die Narren reiten. Weil sind die Nächte heiß, und zieht schwül der Dunst vom Süden über die Polster. Und der Verstand schläft ein. Aber nicht beim Weibe, welches hat seine Kraft in der Nacht und weiß von seiner Kraft und denkt an seine Kraft und benutzt seine Kraft, wie der Mann den Verstand am Tage. – Und als gekommen war ihre Stunde, wie ist sie gestorben! Wie nicht sterben kann jeder Mann, wann er will, wie er will! – Sie hat genommen eine von ihren Schwestern und hat sie gelegt an ihre Brüste, welche gewesen sind ein Kissen für durstige Herrscher, und welche sie genannt haben zauberische Halbkugeln; und haben gesagt, sie blühen und glühen wie die Rosen von Schiras. – Und als sie gestorben war an ihrem eigenen Geschlecht, war nur tot das Exemplar, nicht die Rasse! – – – –

»Ich sehe einen Mann, vor dem knieten die Soldaten, die Franzosen, die Völker, die Herrscher, die Welt. Und als seine Stunde gekommen war, da er stürzte, da machten sie auf eine Zelle, und er ging hinein, stumpf! und wartete, bis er zerfiel. Kleopatra gegen Napoleon! und Napoleon ist tot, und Kleopatra lebt; weil sind alle so. – Sie haben spitze Hacken, daß sie sich einstemmen in den Rücken vom Manne, – und langes Haar, daß sie es ihm legen um den Hals. Wovon er betäubt wird, weil sind Salben darin. Und doch: wenn man will können Herr werden über sie, daß sie einem dienen, gibt es ein Mittel. Es ist schwer und selten hat es einer. Aber wer es hat! – Wenn man kalt bleibt, genügt es nicht. Man muß scheinen verwirrt, wenn die Brust schimmert und die seidenen Röcke knistern, welches den Weibern schmeichelt; wovon sie dumm werden und tun, was sie sollen. Sie meinen aber, sie sind die, welche – –! Nicht bloß bei denen, welche befehlen! Und welche sitzen am Tische. Noch viel mehr können manchmal die, welche dienen in der Kammer oder stehen hinter dem Stuhl. Wo überall hinpaßt der James York. An den Tisch und hinter den Tisch. Und – –«

»In die Kammer!«

»Und zu denen in der Kammer. Man muß auch sein können international, welches auch kann der James York. – Es ist eine Sache für alle Völker! Man wird müssen können hocken wie der Türke, wovon einem wehtun die Beine, und essen Reis mit kleinen Stäbchen wie die Japaner, was ich nicht mag – –«

»Und ich nicht kann!«

»Samuel, du unterbrichst mich! Es ist grotesk!«

Samuel fuhr auf: »Was sagst du dieses Wort! Ich mag es nicht leiden!«

Aménard zog sinnend die Schultern hoch. Nach langer Pause meinte er voll Mitgefühl: »Samuel, es ist kein anderes Wort da!«

»Wenn nur ist ein Wort da, wie kannst du es gebrauchen so oft: es wird bald sein alle!«

»Also: werden wir rufen den James York. Ist er hier?«

»Er ist hier.«

»Und die Minnie Veleen. Und werden ihnen geben Instruktion. Sollen sie es beide zusammen hören oder jeder einzeln? Erst er, dann sie?«

»Sie noch nicht. Er soll allein gehen. Wenigstens erst.«

»Samuel, klingle!«

James York, der seine Chefs zu lebenslänglichem Respekt verurteilt hatte, trat ein. Als beide sich vor ihn hinstellten, steckte er seine Hände in die Taschen. Es war in einer Art ein feierlicher Moment. Aber James besaß eine betrübsame Freimütigkeit, eine Sache nur feierlich zu finden, wenn es ihm paßte. Zudem sah er sofort, daß hier eine wohl vorbereitete Szene abgespielt werden sollte; und er hatte den Grundsatz, bei unvermeidlichen Programm- und Gemütsreden den andern möglichst schnell zu unterbrechen. Gefühle lehnte er bei seinen Chefs ab, und Talmigefühle waren ihm lästig.

»James York!« begann Aménard mit der Würde, die ihm stand, wie der Frack einem Schwimmer. »Sie werden wissen, wir haben es immer gut gemeint mit Ihnen …«

»Ich halte das für die Einleitung,« bestätigte James.

»… gut gemeint mit Ihnen,« schluckte Aménard. »Sie haben immer gut verdient bei uns.«

»… warten wir das Urteil einwandsfreier Leute ab.«

»… und Sie können verdienen noch mehr …«

James winkte ab. »Ich habe vorhin auf meinem Schreibtisch einen Käfer gesehn. Sind Sie ein Käfer?«

Aménard sah erstaunt nach der Decke. Seine Augenbrauen schoben sich hoch. »Wie soll ich sein ein Käfer?«

»Der kroch hin und her; bald vor- bald rückwärts; 'mal auch unter einen Bogen Papier. Er wußte nicht, wohin er wollte. Sind Sie ein Käfer?«

Samuel schüttelte den Kopf. »Aménard, was zögerst du!«

Dieser sah seinen Sozius strafend an. Dann wendete er sich wieder James zu. »Wir wollen Ihnen geben einen Beweis unseres besonderen Vertrauens. Es handelt sich um die Erfindung, von welcher Sie gebracht haben die Nachricht an meinen Sozius, Herrn Samuel; wovon wir haben übrigens schon vorher gewußt.«

In James' Augen glimmte langsam das Vergnügen auf.

»Sie sollen hingehen,« fuhr Aménard fort, »daß ich es kurz mache und Sie nicht sagen, ich bin ein Käfer, wie er läuft auf Ihrem Schreibtisch, und sollen dem Manne anbieten unsere Dienste. Wenn es wahr ist, wird der Mann ein gutes Detektivbureau brauchen. Vielleicht zwei Abteilungen: eine für seine Person, eine für seine Sache. Sie können auch sagen, wir wären bereit, zu engagieren mehr Personal.«

»Wir würden es selbst tun,« mischte sich Samuel ein, »aber wir müssen hier bleiben. Wegen der sonstigen Geschäften. Für einen ist es zu viel, und wenn Sie …«

Aménard drängte ihn zurück. »Es wird Ihre Aufgabe sein, daß Sie auch ermitteln, wie es aussieht in der Umgebung des Mannes. Der Mann wird nicht allein sein. Wie ein guter Bote auch richtet sein Augenmerk auf das, was ihm nicht aufgetragen ist in ausgesprochenen Worten, sondern, daß er ausführt seine Sendung im Geiste von dem, der ihn gesandt hat.« Und nun trat er dicht an James heran, und aus seinem Gesicht sprühten die gekniffenen Augen, Verständnis erheischend, Berge versprechend, hinüber zu jenem: »Wenn Sie uns können heranbringen, es soll Ihr Schade nicht sein.«

James York tanzte einen über das bürgerliche Maß hinauswachsenden Cancan und hielt sich die Seiten vor Lachen. Endlich ließ er sich aus einen Stuhl fallen. »Wissen Sie … wissen Sie, was das ist?« Er lachte noch immer. »Wissen Sie das? Grotesk ist das!«

Die beiden Chefs fuhren herum. »Grotesk? Wie können Sie sagen: Grotesk?«

»Grotesk ist es, wenn ein Maulwurf sich ein Glas Bier über seine Sammetschnauze hängt, um mit einem ausgewachsenen Strauß Brüderschaft zu trinken! Das ist grotesk!«

Die Firma Samuel & Aménard bog sich giftig unter der Infamie dieses Fremdwortes. Sie begriff, daß es der Strauß nicht war, der hier serviert wurde.

»Ja!« fuhr James mit liebenswürdigem Hohne fort, »und es ist grotesk, wenn Sie sich an diesen Mann heranmachen wollen. Wenn ich meine Hand hohl und gespreizt auf die Erde stützte und ich wäre so groß, daß sie beide unter der Hand Platz hätten, und ich würde den andern Arm hoch emporstrecken, dann würde ich mit der andern ausgereckten Hand noch nicht einmal die Fußknöchel dieses Mannes erreichen, so groß ist dieser Mann! Stellen Sie sich das Bild vor! Und …«

»Es ist nicht mehr die Zeit, daß es gibt Riesen,« knurrte Aménard.

»Ihre einzige Entschuldigung dafür, daß Sie von dem Manne wissen und doch den Unterschied zwischen ihm und Ihnen nicht sehen, ist, daß Sie so klein sind …«

Aménard wollte ihn unterbrechen, aber James winkte ihm energisch Stillschweigen zu.

»Ich will Ihnen gleich sagen: Ich bin mit dem Manne bereits in Verbindung getreten.«

»So kann er auch nicht sein so groß!«

»Sehr liebenswürdig,« quittierte James den boshaften Einwurf, »und, wie ich glaube, in feste, dauernde Verbindung. Und ich bin geneigt, wofern Sie Brauchbares leisten, mich Ihrer Kräfte zu bedienen.«

Samuel fuhr zurück. »Es ist die Revolution, Aménard. Er engagiert uns.«

»Wieviel können wir verdienen?« fragte der Kompagnon.

»Es kommt auf Ihre Leistung an. Unter Umständen viel Geld. Und – auf eine anständige Weise.«

»Wie heißt anständig! Wenn es ist viel Geld.«

»Wird es anständig sein,« ergänzte Samuel.

James faßte seine beiden hellhörigen Chefs bei den Ärmeln und drückte sie auf ein paar Stühle nieder. Rücksichtslos schob er eine Reihe von Aktenstücken zur Seite und setzte sich auf ein Pult, so daß sein Sitz höher lag als die Köpfe seiner Chefs. Mit seinen baumelnden Füßen schlug er fast an ihre Knie. Samuel war ängstlich, Aménard ärgerlich und mißtrauisch.

»Wenn Sie wollen balancieren mit den Gamaschen, ist es nicht nötig, daß Sie treffen meine Beine.«

»Und wenn ich will treffen Ihre Ohren,« äffte James nach, »ist es notwendig, daß meine Rede kommt von oben.«

Samuel lenkte sanft ein. »Sie wollten uns sagen, wie wir können dienstbar sein einem Manne, von welchem Sie sagen, daß er so groß ist, daß wir nicht können sehen …«

»Mit einem Fernrohr bis zu seinen Waden,« vollendete giftig Aménard, den der sanfte Ton in seines Kompagnons Rede ärgerte.

»Was grotesk ist, wissen Sie jetzt, meine Herren,« begann James, »und …«

»Wir wollen nichts hören von einem Wort, von welchem wir wissen schon zu viel. Wir wollen hören von Verdienst, wenn Sie haben zu reden davon.«

»Hab' ich. Aber erst, wenn mir das paßt.«

Samuel, der Ängstliche, beschwichtigte. »Es wird Ihnen passen. Und es wird uns passen zu warten. Und es wird Zusammenhang haben mit dem Manne.«

»Hat es. Sie bekommen aber kein Wort zu hören, wenn Sie nicht ganz ruhig sind und mich aussprechen lassen!« Wie weggewischt waren aus seiner Rede Ironie und Hohn. Von seinem Gesicht leuchtete nur noch der tiefe Ernst, auf Grund dessen seinerzeit der Menschenkenner Aménard den ihm bis dahin vollständig unbekannten Mann ins Geschäft genommen hatte. »Was grotesk ist, wissen Sie jetzt. Nun sollen Sie noch erfahren, was eine Karikatur ist. Wenn sie das verzerrte Nachbild eines Urbildes, eines Urbegriffes ist, messieurs, dann sind Sie eine Karikatur auf den Begriff Chef.

»Sie haben beide ein Geschäft. Und das Geschäft, das Sie haben, ist ein schuftiges Geschäft. Bleiben Sie gefälligst sitzen! Vielleicht würde ich es nicht so hart bezeichnen, wenn Sie es betrieben hätten; aber Sie haben es nur gehabt, betrieben habe ich es. Sie kennen das Räderwerk; bekümmert haben Sie sich darum nie. Für Sie gab es nur das Aufziehen der Uhr, wenn die Aufträge einliefen, von denen Sie manche noch nicht einmal verstanden haben, und dann den Moment, wenn der Wecker ablief, wenn die Gelder einkamen. So hausten Sie hier als Karikatur. Denn: ohne daß Sie wußten und ohne daß Sie es je sonst erfahren hätten, heute sage ich es Ihnen: Was ich dem Geschäft von seiner Schuftigkeit habe nehmen können, das habe ich ihm genommen. Sie haben hier gesessen, ständig Hunger gehabt nach den Abrechnungen, Geldrollen gezählt, Banknoten gegen die Sonne gehalten. Wie die Summen ans Kontor flossen, woher, das war nicht Ihre Qual, nicht gegen Ihr Gefühl.

»Jeder anständige Mensch hat einen Ekel vor dem, der anonym arbeitet, der auch am hellen, lichten Tage im Dunkeln bleibt. Es gehört dazu, neben einer bemerkenswerten Dosis Feigheit, auch eine niedere Gesinnung, eine Würdelosigkeit. Und mit Bildung hat es so wenig zu tun, daß der größte Mangel an Bildung noch keine Entschuldigung ist. Hier ist eins der Merkmale zwischen dem letzten ärmsten Lumpen und dem Schuft!

»Sehen Sie diese fünf Reihen da an: Namen an Namen, Schuft an Schuft. Das sind Ihre Kunden – unsere Kunden – meine Kunden. Und jeder einzelne eine Leuchte in der Charakterlosigkeit. Und Ihre Firma? hier, diese Stätte? –: die Zentrale dieser Geister, das Sammelbassin einer Kloakenleitung!

»Worin bestand die Haupttätigkeit unseres Geschäftes? An jemanden, der in uns gar keine Gefühle ausgelöst hat, schleicht man sich heran, um ihn zu überwachen – vom Hinterhalte aus – um sein Schatten zu werden; nur sein Schatten, und nie mehr als sein Schatten. Und dann, wenn man sich um ihn herumgelegt hat, ohne daß er weiß, um ihn dann zu verraten! Ohne jedes andere Interesse, weder am Guten noch am Schlechten, als das, für das Schielen aus dem Dunkel bezahlt zu bekommen.

»Sehen Sie, messieurs, wenn uns einer einen Auftrag gab, dann habe ich mich über den hergemacht, der den Auftrag gab; nicht über den andern oder die andere. Sie haben das nie gewußt. Sie haben nur gefragt: ›Haben Sie erfahren?‹ – ›Wissen Sie was, daß wir es können gebrauchen?‹ – ›Es wird Zeit, daß geht ab ein Bericht!‹ Wie oft habe ich Anweisung erhalten: ›Wenn Sie nichts wissen, schreiben Sie wenigstens einen Bericht, aus welchem hervorgehen unsere Bemühungen!‹ Ich habe meine Politik befolgt, nicht Ihre. Erinnern Sie sich des Falles, als Millard Ihrer ehrenwerten Firma den Auftrag gab, nachzuweisen, daß Madame untreu sei. Nicht, ob sie es sei, sondern daß sie es sei. Sie war es nicht; er war es. Und da es auf diese Weise nichts nutzte, wurde ein wundersames Hilfsmittel angewendet, oder – es sollte angewendet werden. – Ich, als pièce de résistance, ich sollte sie in Versuchung führen. Ich, James York! Wer es erdacht hat, weiß ich nicht; es ist auch egal. Wer es mir angetragen hat, waren Sie, Herr Aménard. Es war eine Sache, die ich Ihnen gerade jetzt ins Gedächtnis zurückrufen muß. Ihnen einen Vorwurf zu machen oder gar Ihnen eine andere Gesinnung beizubringen liegt mir fern. Also ich, der gut bezahlte Angestellte der sehr ehrenwerten Firma Samuel & Aménard, sollte den schneidigen Coup ausführen. ›Weil ich so – so – etwas im Wesen habe – und weil ich ein hübscher Kerl bin!‹ Sie geben doch zu, daß ich ein hübscher Kerl bin? Nicht? wie?«

»Es soll keiner sagen, daß Sie nicht sind hübsch!« begutachtete Samuel.

Aménard lehnte ab. »Wie soll ich reden, wenn ich nix reden soll!«

»Nun, ich habe den Spieß umgedreht. Als ich wußte, auf welcher Seite der Giftstoff lag, bin ich zu Madame gegangen. Madame hat bezahlt. Gegen ihren Mann. Die Sache hat sich schnell erledigt. Wie Sie, Herr Aménard, damals sagten, ging es zu schnell. Es kostete aber keine große Mühe, die Tugendkleider vom Leibe zu reißen, bis das elende Skelett bloß dastand. Ein Fall für viele. Und wenn das eine oder das andere Mal weniger verdient wurde, ist es vielfach wieder eingekommen, wenn beide Parteien Schufte waren. Ich habe mir hier in Ihrem Geschäfte nach jeder, auch der kleinsten Arbeit die Hände gewaschen.

»Weshalb ich Ihnen das alles erzähle, können Sie fragen. Um Ihnen zu zeigen, was eine Karikatur von Chef ist. Sie haben morgens meine weiße Weste gesehen: meinen Ekel abends, den haben Sie nicht gesehen; die Jahre hindurch!

»Ich könnte aus Ihrem Geschäfte austreten und Firma Firma sein lassen. Aber ich bin Ihnen verpflichtet. Und nun kommt der zweite Akt …«

»Wird es sein vom Verdienst?« fragte Samuel vorsichtig.

»Der Verdienst der Zukunft, ja! – aber erst das Verdienst der Vergangenheit!«

Aménard sah finster unter das Pult. »Bei dem Vergangenen habe ich nur gehört von dem Entgangenen.«

»Ich spreche von Ihrem Verdienste um mich. Als ich zu Ihnen kam, war ich wie der Fisch, den eine Welle auf das Riedgras wirft. Heraus aus meiner Vergangenheit, ohne Mittel für die Zukunft, unbekannt und hungernd. Mit Instinkten für mich und Verpflichtungen für andere. Ohne Beweise für das, was ich konnte; ohne Nachweise für das, was ich geleistet hatte. – Ich habe mir nie Mühe gegeben, zu ergründen, was Sie bewogen hat, mich aufzunehmen. Aber Sie haben es getan, Sie haben sich meiner erbarmt. Ohne jede kühle Kalkulation, wie hoch der Vorteil auf Ihrer Seite gewesen ist, erkenne ich die Tat an. Und jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo ich mich ihrer erinnern will.

»Weil ich – in Übertreibung gesprochen – lieber mit einem Morde auf meiner Seele herumlaufen will, als daß in irgendeinem Erdenwinkel einer sitzt, der von mir sagen darf, ich sei undankbar gegen ihn. Deswegen habe ich, nun ich mich bewegen kann – zuerst an Sie gedacht.

»Ist es für Sie ein Unterschied, ob Sie durch ein Detektivbureau verdienen oder durch eine Agentur?«

Aménard sah ihn von der Seite an: »Ob ich in die Bücher schreibe – so oder ob ich schreibe – so, – es kommt an auf die Zahlen!«

»Gut! Ganz meine Auffassung von Ihrer Auffassung. Ich habe für diesen Landesteil die Generalagentur zum Vertriebe von Bildern zu vergeben …«

»Von Bildern? Was heißt Bilder! Bilder kaufen die Reichen.«

»Und die meisten haben schon welche!« fiel Samuel ein.

Aménard drängte ihn zurück: »So hat man sie lange stehen! – Und wie sollen sie werden vertrieben? Muß man gehen unter die Leute? Ist es eine Beschäftigung draußen, oder können wir bleiben im Kontor? – Sie werden wissen, wenn Sie haben beobachtet, daß ich nicht bin für das Laufen!«

James York lächelte. Der Übereifer war ihm an Monsieur Aménard fremd. »Sie können seßhaft bleiben. Sie sollen Photographien vertreiben …«

Da schnellte Aménard empor. Er hob seine Hand hoch, ihre fleischige Innenseite gegen James kehrend. Sein Gesicht nahm eine abwehrende Haltung an, und seine Lippen wulsteten sich: »Es wird zu schwer bestraft!«

»Was wird es? – Bestraft? – Zu schwer bestraft?«

»Mancher hat seine Freude dran! – Aber in diesem Lande, – die Polizei will nicht haben, daß sich einer freut an so was. Wenn es auch nur ist Pappe. Und ich bin alt; daß ich nicht mag sitzen hinter dem Gitter und singen das Klagelied …«

»Und essen Brot, wodrauf man sieht, daß es kriecht!« fiel Samuel erinnerungstrübe ein.

James York sprang in dem Momente, als er die beiden Zwangsmoralisten verstand, vom Pulte herunter. »Es sind und bleiben doch dieselben!« schalt er bitter. »Wenn ich nicht mein Programm hätte, und wenn Sie in diesem Programm nicht eine Nummer wären, müßte ich Ihnen den Rücken kehren!« Er ging ans Fenster und sah hinaus. Zuletzt trommelte er gegen die Scheiben.

Samuel machte zu Aménard hinüber Zeichen, die beschwichtigend wirken sollten. Aménard aber gab auf seinen Kompagnon nicht acht. In ihm wühlte der Ärger über die Rolle, die sich James im Geschäfte angemaßt hatte. Und jetzt kam er und löste die Firma auf. Es war richtig: sie hatten sich schwer plagen müssen und manchmal hatten sie gehungert, ehe James angestellt worden war. Und von da ab war das Geschäft bergauf gegangen, rapide; so rapide, wie es jetzt wieder fallen würde, wenn James ging. Aber er hatte ja auch von James eben gehört, daß der seine eigene Politik verfolgt hatte. Da mochte manches Goldstück weniger eingekommen sein. Was hatte er eine eigene Politik zu haben! – Und jetzt wieder hatte er sein eigenes Programm. Hatte er nicht eben davon gesprochen? Nun, Aménard nahm sich vor, ruhig zuzuhören und auch sein eigenes Programm zu haben. Er sah auf. Ein verächtlicher Zug flog über sein Gesicht, als er Samuels Grimassen bemerkte. »Wenn dir tut etwas weh, – im Kopf –: geh zu schlafen; – im Leib –: schluck' Kamillen!«

James York hatte sich ihnen wieder zugewendet.

»Sie sollen Landschaftsbilder verkaufen. Höhenphotographien, die der Mann aufgenommen hat aus der Luft. – Der ›Mann‹, wie Sie immer sagen. Sie sollen eine Hauptniederlage haben. Ihre ganze Mühe ist die Entgegennahme und der Absatz solcher Bilder. – Man wird Sie wegen der Bilder überlaufen, denn nur Sie werden für den ganzen großen Bezirk den Vertrieb haben. Der Verdienst wird Ihnen genau vorgeschrieben. Sie werden ohne Konkurrenz sein, aber unter steter Kontrolle. Sind Sie sich einig? Wollen Sie das annehmen? Fertig zugeschnitten ist alles. Die Vorbereitungen sind beendet. Es sind mehrere hundert Aufnahmen bereits unterwegs. – Oder – wollen Sie Bedenkzeit haben?«

»Ich bin einig!« erklärte Samuel.

Aménard stand auf. »Ich muß haben Bedenkzeit. Man kann nicht auflösen eine Firma in fünf Minuten.«

»Die Firma ist aufgelöst, wenn ich austrete!« unterbrach ihn James York ernst.

»… und man kann nicht übernehmen etwas, wovon einer spricht und man hat gesehen nichts Schriftliches. Wenn Sie sind billig und wollen sein dankbar, werden Sie zugeben, es ist recht, was ich sage.«

»Ich gebe Ihnen zehn Minuten Bedenkzeit,« erwiderte James kalt und ging hinaus.

»Was bist du dawider?« zischelte Samuel. »James York ist sicher! Was er sagt …«

»Du machst Faxen! Du bist wie die Maus, welche ihr Gehirn hat im Schwanz, wenn sie die Nase hat am Speck.«

»Wenn da ist Speck, ist doch da keine Falle! James York ist reell, du weißt …«

»Ich weiß, daß James York ist reell. Und daß hier und da eingekommen sind einige Goldstücke weniger, wo er hat so viel verdient bei uns!« Der Ärger machte ihm die Zunge schwer.

Samuel wollte ihn trösten und gefügig machen. »Wir haben verdient auch sehr gut. Wovon hätten wir gekauft das kleine Häuschen, jeder eins! Und haben früher nichts gehabt! Und es ist doch gewesen ein großer moralischer Zug in unserm Geschäft; wenn wir es auch nicht haben gewußt!«

»Ja! … Schade!«

»Wieso schade?«

»Wir hätten verdient mehr ohne den Zug.«

Beide versanken in Sinnen. Die Zeiger der Uhr rückten immer weiter vor. Bei Aménard jagten sich die Gedanken. Wer schrieb die Preise vor von den Bildern? Und wenn es mal gab keine Bilder? Gab es ein Fixum? Und wenn es eins gab, von wem kam es, und wo war die Garantie? Wer würde kontrollieren? Es war ein Kreis, in dem sich das alles drehte. Und James York? Würde er auch eine Rolle spielen in dem neuen Geschäft? oder würde er auswärts sein? Auf ihn war kein Verlaß. Aménard nahm sich fest vor, die Augen offen zu halten. Und verdrängen wollte er sich unter keinen Umständen lassen. Er wollte heran an diesen Mann. Vielleicht würde es James nicht passen. Er würde immer wissen, daß er sich von jetzt ab vorzusehen hatte vor James York.

Er nahm seine Uhr aus der Tasche und ließ sie achtlos durch die Finger gleiten, so daß sie lose an der Kette hing. Dann stützte er den Kopf in beide Hände und vergrub die Finger in seinen Haaren.

»Aménard, rede, es lauft ab die Zeit. Was hast du zu sagen?«

»Was ich zu sagen hab'? Es ist gewesen unmoralisch von dem James York, daß er gewesen ist moralisch.«

»Was tust du jetzt zanken?«

James trat ein. Mit der Uhr in der Hand. »Ich habe Ihre Erklärung entgegenzunehmen, meine Herren!«

Aménard wollte vorsichtig erst noch mehr hören. »Es sind noch unklar die Bedingungen, und wird es gemacht schriftlich?«

»Ja oder nein?« fragte James York.

»Ich will!« beeilte sich Samuel zu versichern.

»Ich will auch, aber –«

»Ja oder nein?«

»Wenn ich nix anders soll sagen, ich will auch!« stieß Aménard heraus.

»Gut! Es wird alles schriftlich gemacht. Die Abwicklung Ihres alten Geschäftes ist bei dem jetzigen Stande, den ich ja genau kenne, eine Kleinigkeit. Morgen werden Ihnen die Papiere über das neue Unternehmen und Ihr Verhältnis zu ihm vorgelegt werden. Auf Wiedersehen, meine Herren!«

James wollte hinausgehen.

Aménard hielt ihn auf. »Wenn es auch ist eine abgemachte Sache, welche noch wird gemacht werden schriftlich, habe ich doch noch ein Interesse, zu reden mit Ihnen einige Worte.«

James überlegte ein Weilchen. »Bitte!« sagte er endlich.

»Nur für uns beide!«

»So, Herr Samuel –«

»Es ist nicht nötig, daß es hört der Herr Samuel,« erklärte Aménard rücksichtsvoll.

»Ich kann gehen hinaus oder ganz auf die Straße, wenn ich bin im Wege.« Damit ging Samuel auf die Tür zu, dort drehte er sich um: »wenn es nichts ist gegen mich!«

»Wie soll es sein gegen dich. Was hast du zu tun mit meiner Sache?«

»Weiß ich es doch nicht!« erwiderte Samuel und ging hinaus. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen, legte Aménard die Hände auf den Rücken und ging mit ein paar Schritten auf und ab. In seinen Blicken lag für einen Kenner wie James York etwas Unsicheres, Huschendes, und beim Reden arbeitete seine Gurgel mehr als seine Zunge.

»Sie werden haben das Gefühl, daß es viel ist, was Sie anbieten!«

»Ja.«

»Nun, ich will nicht sagen. Was ist für Sie viel, James York –«

»Herr York!«

»Herr York, was ist viel für Sie, braucht noch nicht sein viel für einen andern …!«

»Für Sie?«

»Für mich!«

»Was wollen Sie mehr?«

»Kann ich erst hören etwas?«

»Was?«

»Ist der Mann allein?« Als er James Yorks abweisendes Gesicht sah, meinte er schnell: »Sie sollen nichts sagen, wenn Sie versprochen haben, nichts zu sagen. Aber was jeder wird bald wissen, kann ich wissen schon heute. Sind viele Leute auf dem Schiff?«

»Die Besatzung!«

»Die Besatzung! – – Ein Korb Äpfel! – Es gehen hinein viele und es gehen hinein wenige. Es kann doch nicht sein ein Geheimnis, was alles ist auf dem Schiff. Daß es nicht aufnimmt Passagiere …«

»Nein!«

»Nun, – will ich eben sagen – ist selbstverständlich, und daß es auch nicht eingerichtet ist für Gäste …«

»Nein!«

»Muß ich halten auch für erklärlich. Und daß sind auch keine Frauen bei einem solchen Unternehmen …«

»Weshalb wollen Sie überhaupt das alles wissen?«

»Sie haben noch nicht gesagt ›Nein!‹, daß da Frauen sind.«

»Wollen Sie mir den Zweck dieser Unterredung angeben, sonst muß ich sie abbrechen!«

Aménard wand sich hin und her. Er wollte viel wissen, viel hören, ohne den Endzweck seiner Fragen zu verraten. In diesem James York mußte der Satan stecken, daß er sich bei dem Manne schon eine so sichere Position erworben hatte. Es flog ihm durch den Kopf, ob es nicht besser wäre, ihm klaren Wein einzuschenken und mit seinem Beistande zu arbeiten; aber er verwarf diesen Gedanken sofort wieder, als er sich der Politik seines ehemaligen Angestellten erinnerte. James York mochte moralisch sein, ehrlich war er nicht. Und zudem: offener zu ihm zu sprechen, dazu war ja immer noch Zeit. So beschloß er, vorerst noch seine Filzschuhe anzubehalten.

»Es kann nicht auffallen,« meinte er mit der Miene jemandes, der sich über die Begriffsstutzigkeit des andern nur wundern kann, »wenn man ist Agent und möchte wissen, in welchen Verhältnissen lebt der Fabrikant. Wo doch fällt der Glanz auf mich, wenn er ist bei ihm! Und ich vertrete seinen Namen …«

»Das alles hätte Herr Samuel auch hören können.«

»Ach, der Samuel! Wenn er sich fühlt versorgt, ist er ruhig und denkt nicht nach. Er sieht nicht weiter als lang ist seine Nase. Und ich hab' bei mir oft gedacht: Wie ist sie kurz!«

»Weiter!« ermunterte ihn James, der ihn durch keine Frage unterstützen wollte.

»Nun, der Samuel schwört auf Sie. Es ist ihm genug, daß Sie ihm verschaffen den kommenden Verdienst. Und – ich will nicht sagen, – Sie wissen selbst, ich habe große Hochachtung vor Ihnen; schon, weil Sie gerechtfertigt haben meinen scharfen Blick, daß ich Sie habe aufgenommen in das Geschäft! Das bin ich doch gewesen? Es ist doch wahr? Sie sagten doch, daß Sie sich wollten erinnern daran?«

»Wenn ich es nicht gewollt hätte, stände ich nicht hier.«

»Und hat der Samuel keinen Anteil gehabt, daß Sie aufgenommen wurden bei uns, – eigentlich hat er sich sogar gewundert; wenn ich mich recht besinne, hat er sogar geschüttelt den Kopf! – Ohne Papiere! wissen Sie, was war für uns ein Risiko! – so braucht er auch keinen Anteil zu haben an dem, was – ich –«

»Bitte!«

»Wie soll ich sagen? Sie sollen mir nicht geben etwas, daß Sie vielleicht benachteiligen einen andern; Sie sollen mir nicht verraten etwas, aber ich habe ein Interesse, viel zu hören; wenn es geht – alles! von einem Manne, welcher machen wird einen ungeheuerlichen Weg. Wenn er ist klug und wenn er ist erfahren im Geschäft. Daß nicht die anderen essen, was er hat gekocht. Welcher hat erfunden die Nähmaschine, er ist verhungert. Also: wer er ist, was er ist für eine Person. Ob er ist verheiratet und ob er allein ist in der Erfindung. Ob er hat Kinder. Kann ich nicht sein für ihn begeistert?«

»Weiter!«

»Nun, wer er ist. Und ob ich ihn bald werde zu sehen bekommen, daß er mit mir spricht, und ich werde neben ihm stehen. Wo ich doch bin sein Agent, und stehe da für seine Interessen. Es kann einem denkenden Menschen nicht sein gleichgültig, für wen er arbeitet. Und es kann nicht sein gleichgültig für ihn, wer ich bin.«

»Monsieur haben sich umsonst interessiert. Alle die Fragen nach den äußeren Umständen hätten Sie sich selbst beantworten können. Ihr Chef bin ich! Den ›Mann‹ werden Sie kaum je zu Gesicht bekommen; oder wenn, nur von ferne. Aber – um nicht undankbar zu erscheinen,« setzte er lächelnd hinzu: »Ich bin nicht verheiratet, habe keine Kinder, werde entweder selbst täglich Ihre Kasse revidieren oder durch einen Vertreter revidieren lassen. Ich habe blaue Augen, dunkle Haare, – bin geboren in Ostrowo …«

Aménards Gesicht färbte sich dunkel. »Was ich wissen will, werde ich erfahren, auch ohne Sie! Ich hätte nicht geglaubt, daß Sie haben einen Menschen zum Narren, von welchem Sie in glatten Worten sagen, daß Sie ihm sind dankbar, und reden doch eine Sprache, welche fliegt wie Knollen durch das Zimmer.«

Mit unveränderlich kühlem Lächeln nahm James York diesen Erguß entgegen. »Vielleicht hätten Sie von mir erfahren, was Sie wissen wollen, – wenn Sie mich darnach gefragt hätten!«

»Wenn – ich? Hab' ich nicht?«

»Nein, Herr Aménard, das, was Sie wissen wollten, darnach haben Sie mich nicht gefragt! Sie haben eins bei dieser Unterredung vergessen …«

Aménard sah ihn unsicher an.

»Sie haben –«, dabei tippte James Yorks Finger auf Aménards Brust, »Sie haben einen Detektiv aushorchen wollen. So leicht ist das nicht! Nur das macht mir angenehmen Kummer, daß ich nicht weiß, was Sie wollen. Daß ich's nicht weiß, ist der Kummer, und daß es mich nicht interessiert, ist das Angenehme dabei.«

Aménard trat ans Fenster. Er konnte sich je länger je weniger des Gedankens erwehren, daß es besser wäre, mit als ohne James York zu arbeiten. Aber nun stand er vor einer andren Schwierigkeit. Es wurde ihm mit einem Male klar, wie wenig er die eigentlichen heftig in ihm stürmenden Fragen in Worte kleiden konnte. Er hätte sich aus Antworten ein Bild machen, aus Erklärungen, Beschreibungen Schlüsse ziehen können, – fragen, – ja, was sollte er fragen, wie sollte er fragen! Und dann wieder: James York so ohne weiteres aus den Fingern zu lassen, dazu konnte er sich auch nicht entschließen. Er drehte sich um und sah, wie James, der sich eine Zigarette angezündet hatte, nach seinem Hute griff.

»Wie geht es Ihrer Schwester, Herr York?«

»Fräulein Minnie Veleen ist seit zwei Stunden aus dem Personal der Firma Samuel & Aménard ausgetreten und damit Ihrer Interessensphäre entrückt.«

»Ich werde immer ein Interesse haben für jemanden, für den meine Firma gut genug war, daß er existieren konnte durch sie.«

»Diese Form der Unterhaltung, Herr Aménard, entspricht nicht meinem Geschmack. Weil sie nicht der Zukunft entspricht. Auf Wiedersehen, unter anderen Verhältnissen.«

Aménard sah ihm stirnrunzelnd nach. »Er hat sein Programm. Ehe ich mich entschließe zu etwas, muß ich wissen den Weg zu dem Mann. Unter allen Umständen. Und ich muß mich können bewegen. Der eine leistet seine Dienste bei einer Sache so, der andere so. Ich werde sehen, was mir fehlt, daß ich es kann kriegen: die Serviette beim Essen, und den Satzbau, welchen er nachgeäfft hat. Aber er ist nicht gelaufen barfuß und hat austragen müssen Zeitungen, morgens um fünf, daß die Füße waren steif, wenn man kam zu sitzen auf der Schulbank. Und die Ohren konnten nichts hören, bis die Zehen waren warm geworden in der kalten Schule, wo der Boden war von Ziegelstein. Er wird haben sein Programm. Gut! Ich werde haben mein Programm! Er seins, ich meins!«

Er ging hinüber nach seinem Arbeitstisch und nahm das Blatt hoch: »Kosmopolit«. »Es ist nötig, daß man sich bekannt macht damit. Es ist für die Öffentlichkeit, und es wird nichts darin stehen, was heimlich ist. Was er getan hat, ja, aber nichts von wie! Es wird sein Reklame. Immerhin …«

Er steckte das Heft zu sich und verließ das Geschäft. Auf der Straße traf er Samuel in erregtem Gespräche mit Bekannten. Er winkte ihn zu sich: »Du kannst gehen hinein, Samuel. Ich gehe nach Haus. Das Buch habe ich mitgenommen. Ich behalte mir alles vor.«

»Wie hab' ich zu verstehen: Ich behalte mir alles vor?«

»Wenn du wirst eingeladen zu wem, daß du sollst kommen zu sitzen zu essen, und du sagst ›ja!‹ was machst du da?«

»Was ich mach'? Ich ess'!«

»Und wenn da was ist, was du nicht magst essen?«

»Ich mag alles essen!«

»Wenn aber doch was da ist?«

»Ess' ich nicht!«

»Gut. Ich behalte mir vor.«

Samuel kaute noch mit offenem Munde an dieser tiefsinnigen Erklärung, als Aménard schon um die nächste Ecke verschwunden war. –

Der Pulsschlag der Straße hatte sich geändert. Es war etwas Nervöses in die allgemeine Erscheinung getreten. Über die Unsummen der Einzelinteressen hatte sich eine Decke gelegt. Und das hatte der »Kosmopolit« getan. Bei vielen, die über das Trottoir hasteten, sah man das ominöse blaue Heft aus der Tasche herausragen. Einzelne lasen sogar während des Gehens darin. In den elektrischen Wagen fragte einer den andern: »Haben Sie schon gehört? gelesen?« Völlig Fremde sprachen einander an: »Wenn sich das bewahrheitet …« »Ja! denken Sie: In zwölf Stunden vom Baltischen Meer nach dem Atlantik!« »Wir haben schon nachgerechnet: Das sind siebzig Stunden nach Amerika! Noch nicht einmal drei Tage!« Ein bekannter Verlagsbuchhändler mischte sich ein. »Und dieser Apparat! Diese Form der Bekanntmachung! Die Sache ist ganz einzig aufgezogen! Wien, London, Paris, Berlin: überall zu ungefähr gleicher Zeit. Wenn es noch phantastisch wäre! Aber die Photographien! Die Photographien!« Er schlug den illustrierten »Kosmopolit« auf: »Ich bitte Sie! Es ist, als ob man selbst in solchem Luftschiff säße, so sieht man hinunter in die Tiefe. Sehen Sie nur einmal hier: Der Blick von oben auf die See! Hier in der Ecke der Leuchtturm von Neuwerk. So schräg von oben wie ein Stückchen Streichholz, das man in den Sand gesteckt hat. Und hier der Paketfahrtdampfer! Dieser Koloß! Das reine Spielzeug!«

So schwirrte das Gespräch draußen und in den Cafés und Gasthäusern, und so schwirrte es in den Familien. Die Gebildeten wie der gemeine Mann stürzten sich mit gleichem Interesse auf das Thema.

Es war schon so manches liebe Mal die Nachricht durch die Welt geflogen, daß das lenkbare Luftschiff erfunden sei. Immer hatte es sich um Probefahrten gehandelt, um Experimente, die sehr kostspielig gewesen waren und die doch nur dazu gedient hatten, nachzuweisen, wie klein der Schritt gewesen war, um den man sich der Lösung der Frage genähert hatte. Und nun tauchte dieser Mann auf. Was er brachte, war ein vollendetes Ergebnis. Die Sprache des »Kosmopolit« war jedem Schwunge abhold; sie war unsagbar nüchtern, und bei den beigefügten verblüffenden Bildern standen nur trockene Zahlen über das »Wann und Wo«, aber jedem denkenden Menschen fing das Hirn zu kreisen an, wenn er las und sah. Jedem drängten sich die verwirrenden Perspektiven auf, die Gedanken an die Umwälzungen auf allen Gebieten, im Leben der Stände, der Völker, der Staaten. Welche Werte erhoben sich! Welche ungeheuren Werte würden vernichtet! Was war in Zukunft »fern« – was war »abgeschlossen« – »geheim«?

Solange die Sache im Stadium der Versuche, der Proben geblieben war, hatte man mit regem Interesse von den kleinen Fortschritten oder den großen Fehlschlägen Kenntnis genommen. Und wenn unter pomphafter Ankündigung nach monatelanger Vorbereitung, unter regster Inanspruchnahme des Presse-Apparates in irgendeinem Lande wieder ein solcher Versuch stattgefunden hatte, von dem die Lösung des Problems nach den Ansichten Sachverständiger und nach der unumstößlichen Überzeugung des Erfinders erwartet werden konnte, dann hatte sich der Welt jenes beklemmende Gefühl bemächtigt, das sich beim Menschen dadurch kennzeichnet, daß er ängstlich den Atem anhält und mit groß aufgerissenen Augen vor sich ausschaut, um dann, wenn der Fehlschlag erwiesen war, sich mit tiefem, erlösendem Atemzuge dem altgewohnten Leben wieder zuzuwenden.

»Es war wieder, wie es immer war!« und die physische Sanftmut der Völker, die mehr aus dem gegenseitigen Aufeinanderwirken von Furcht und Egoismus als aus Trägheit besteht, hatte sich bald von dem Stoße erholt.

Nun aber war ein Anprall erfolgt, der wie ein scharfer Schuß hineinkrachte in die Welt der Arbeit, des Genusses und des Besitzes. Wer Verstand hatte und Sehnen in sich trug, jenes natürliche, nach vorwärts und nach oben strebende Sehnen, das sich zum wahnwitzigen Durste, zur fiebernden Gier steigern kann, dem kroch etwas durch die Adern, das unheimlich war; und das verglichen werden mußte mit der Empfindung, die eine stets gefechtsbereite Mannschaft hat, wenn der erste schwere feindliche Rammstoß den eigenen Panzer trifft.

Der von den Vorvätern ererbte Kampf des Lebens, der aus unzähligen Scharmützeln besteht, und bei dem hinter eben niedergezwungenen Gegnern immer wieder neue Gegner auftauchen, drohte ein gefährlich verändertes Gesicht zu bekommen. Aus dem Kriege aller gegen alle schien ein Krieg mit einer schier endlosen Front gegen das Neue zu werden. Ein Krieg mit dem überwiegenden Charakter der Defensive für den einzelnen. Noch nie war das Bewußtsein von dem alles umstürzenden Wesen eines Fortschrittes so schnell in die Runde geflutet, wie bei dieser neuen Erfindung.

In einer beispiellosen Voraussicht war dafür gesorgt worden, daß nicht Ereignis sich an Ereignis drängte, das eine das andere überholend und übertreffend, und sie alle, in ihrem Nacheinanderwirken die Menschheit auf den letzten großen Schlag vorbereitend; in einer beispiellosen Voraussicht war das noch nie gelungene Experiment vollführt worden, unter der Herde von Menschen gerade jene Zahl auszusuchen, welche notwendig war, die Erfindung zu zeitigen und ihr Wesenheit zu verleihen, und welche gleichzeitig geeignet war, diese Erfindung in ihrem ganzen Werdegang zu verheimlichen; und in einer beispiellosen Voraussicht hatte man es jetzt verstanden, das fertige Geschütz vor der breiten Façade aller als Kulturvölker geltenden Nationen aufzufahren, von denen jede einzelne die Mündung auf sich gerichtet sah.

Die Wirkung auf die einzelnen war eine verschiedene, je nach den Diensten, die sie ihren Mitmenschen leisteten; je nach den Forderungen, die sie an ihre Mitmenschen stellten; aber die Dominante in den letzten Akkorden war überall die gleiche.

Dort saß ein Gelehrter, der in seiner weltfremden Stube die neue Mär vor sich liegen hatte. Er wußte nichts von jener Arbeitskraft, deren Eltern Hunger und Durst sind. Mit einem Blicke in die Vergangenheit des Menschengeschlechtes bis hinein in die ältesten Zeiten und mit dem andern Blicke auf die ständige Weiterentwicklung arbeitete er nur unter dem Drucke, der verursacht wird durch den Reiz zum Forschen und die Liebe zum Wissen. Und seine Auffassung, die auf ihrer hohen Warte nicht durch das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Generation, durch das Haften an einem Zeitalter eingeengt war, begrüßte jubelnd in den kalten Aufsätzen des »Kosmopolit« das endlich erreichte, letzte, wichtigste und so lange schmerzlich ersehnte Ziel.

Ihm ging in seiner Wissenschaft nichts verloren, gar nichts. Es war nur zu gewinnen – und wieviel zu gewinnen! Jetzt war das Mittel da, Ziele zu erreichen, um die bisher nur die kühnsten Träume zu gaukeln gewagt hatten. Was galt Material und was galten Menschen, wenn mit deren Aufopferung ein Plus an Wissen zu erreichen war, und mit diesem Plus auch nur ein Fuß breit mehr am Herrschenskreise. Wie viele hatten sich hingegeben und waren hingeschlachtet worden! Hingeschlachtet von einer Natur, die auch im Anorganischen Tatzen hat, um sie in Streberleiber zu graben! Und so hatten sie oft nicht mehr erreicht als rückhaltlose Bewunderung und bestenfalls Gedächtnistafeln seitens derer, die den gewohnten Schwertertanz auf heimischer sicherer Scholle vorzogen.

Nun bedurfte es kaum noch irgendeines Opfers. Kaleidoskopartig glitzerte es dem stillen Manne vor den Augen. Im Observationskabinett hoch in der Luft mitten über dem Vesuv, ob auch die glühende Wut der Steine bis an die Wolken reichte! Was hieß fürderhin noch Rätsel der Antarktis, was war Südpol, was war Nordpol! Was die Gefahren der Wüste mit dem fegenden Samum und dem letzten Rest Wasser aus dem letzten erstochenen Kameel! Was war eine Sturmflut! Der grausige Schrecken wurde zum Schauspiel, die kochende Natur zur Bühne. Wo war die Wolke, die uns eine Sonne verfinstern wollte; wo blieben die Geheimnisse der Täler und Schluchten des Himalaya!

Und man mußte sich immer und immer wieder an die Stirn fassen, um zu fühlen, daß man wach war. Aber jener Mann, der das Neue brachte – wußte man auch nichts von seiner Person, nichts von seinen Verhältnissen –, er schob etwas vor sich her, das jeden Unglauben brach: er überschwemmte mit Beweisen.

Wie dem materiell denkenden Menschen Gold und Edelstein die Faust zur Kralle machen, so preßte sich in diesem Gelehrten der Mensch in seiner ganzen schwachen Habsucht hervor. Rücksichtslos, weil ohne Gedenken an seine Brüder, selbstlos, weil ohne Nutzen für sich, wurde in ihm die zitternde Begierde wach, diese Erfindung sofort und zu allererst der Wissenschaft dienstbar zu machen. –

An anderer Stelle saßen in ernstem Studium Militärs tief über die Zeilen und Bilder des »Kosmopolit« gebeugt. Bis in die ältesten Zeiten hatte es Feindschaften und Kriege gegeben. Zwischen den Einzelnen, den Familien, den Staaten, den Rassen. Und die Austragung bestand in dem Befehden, in dem Kampf. Der Kampf war das Instrument, und die Handhabung dieses Instrumentes war der Niederschlag der Erfahrung aller Vergangenheiten gewesen. Es gab Grundsätze in der Strategie: Xenophon, Alexander, Cäsar, Napoleon, jeder von ihnen hatte einen Teil der Tafeln vollgemeißelt. Sätze, als einzig richtig erkannt, weil erprobt: wohin flogen sie! Die bitterernste Aufgabe des Aufklärungsdienstes, wie wurde sie nun zum Spiel! Wo war das Tal, in dessen deckender Stille man einen Berg umgehen konnte? Was war eine Festung, ein Graben, ein Wall, eine Kanone dahinter: ein Spott! Und – das hatte sich schon gezeigt: Was war ein Panzer?

Die Gedanken, gezwungen von den hastenden Bildern, verstiegen sich zu Hyperbeln. Man würde sich in die Erde verkriechen müssen; tief hinein, wenn man Krieg führen wollte. Wenn es nicht gelang – und kein Preis war hierfür zu hoch! – die Erfindung zuerst und sofort für das eigene Heer, und nur für dieses, zu erwerben. Eine Armee, im Besitze der neuen Errungenschaft, war unbesiegbar; ein Bollwerk gegen jeglichen Feind, ein Instrument zur Eroberung des Erdballs. –

Dort wieder lehnte sich in seinen Sessel ein reicher Schiffsreeder zurück. Er hatte kühl den »Kosmopolit« durchgelesen. Seite auf Seite, Bild auf Bild. Mit der Reserve jemandes, der weiß, wieviel und wie viele von seinem Worte, seinem Entschlusse abhängen, war er Schritt für Schritt den Ausführungen gefolgt. Und als er das Buch vor sich niedersenkte, hatte ihn die verwandte Sprache berückt. Kein Roman, keine Phantasterei, und nicht ein einziges Wort, das versprach – nur von dem, was ist, nur von dem, was geleistet war, stand geschrieben. Und auch schärfster Vorsicht unanzweifelbar.

Es würde ein neues Zeitalter anbrechen. Für die Passagiere. Nur für die Passagiere. Nicht für die Waren. Denn billiger als tragendes Wasser konnte Luft nicht sein. Aber, halt, doch auch bei Waren. Es gibt Umstände, in denen der teuerste schnelle Transport billiger ist als der billigste langsame: Eine ferne Truppe, die versorgt werden muß; ein Schiff, das steuerlos und ohne Proviant auf See treibt. Wie schnell war zu helfen. Und jeder Preis war billig. Bei dem ungeheuren Sichtradius – wie schnell war zu finden. Über Wasser wie über Wüste. Und wo kurze Strecken gegen lange in Betracht kommen, würde man die Erfindung auch ständig für Waren dienstbar machen können. Mit Gewinn an Zeit und so an Geld. Der Panamakanal mit seinen permanenten Geburtsschmerzen würde überschifft werden können, und es würde sich gegen Kap Horn und Magalhaesstraße trotz der Umladung noch ein Saldo zugunsten der Reederei ergeben. Vielleicht würde für London-Wladiwostok nur der Lufttransport in Frage kommen, gegen die Mittellandsee und die beiden Indien. Und hundert Kilometer in der Stunde! Wenn er nur fünfzig fährt!

Je länger der Reeder nachdachte, um so wärmer wurde ihm, um so mehr regten ihn Berechnungen auf, die hart an das Phantastische zu stoßen schienen und doch – bei der erfüllten Voraussetzung – den Boden des Realen nicht verließen.

Zugreifen! Nicht als erster, aber mit als erster! Es wird zu kaufen sein. Nicht vom einzelnen. So viel Geld hatte niemand; aber in der Gemeinschaft. Auch diese konnte die Forderung vielleicht nicht bezahlen; denn der Mann würde kein Narr sein. Aber die Gemeinschaft konnte unerhörte Summen garantieren. Und gleichviel wie hoch: es war immer ein Geschäft! Geschäft war der Morgengruß und das Abendflüstern; Geschäft war das Wachen und der Traum; Geschäft war der Magnet, der zog, und die Peitsche, die trieb. Und hier lag ein Geschäft! Es konnte schamlos sein, nur eine Million zu bieten; und es konnte sinnlos sein, mehr als eine Million zu bieten. Man kannte den Mann nicht. Er sprach mit keinem Worte von sich und seinem Einsatz. Nur die Sache! Nur der Erfolg! Man mußte heran an ihn. Es würde ein Sturm auf ihn sein!

Und der Reeder befahl noch spät in der Nacht seinen Wagen und fuhr zu einem Geschäftsfreunde und, nach kurzer Rast, mit diesem zu einem dritten und vierten. Sie berieten und machten Pläne. Kühl in der Sprache; denn es verstieß gegen besseres Herkommen, aufgeregt zu sein, wenn es um ein Geschäft ging, – aber heiß hinter den Lidern; denn es war ein Geschäft, groß, wie noch nie eins gewesen. Und diesen königlichen Kaufleuten, deren Seelen in der Erde verankert waren, dünkte dieses Geschäft nichts weniger als anderer Leute Seelen das Paradies. Sie kannten »verdienen«; »erdienen« kannten sie nicht. –

Auf der andern Seite der Straße lag die Redaktion eines großen sozialen Blattes. Der Chefredakteur, grau geworden im Dienste des Begriffes, den er Allgemeinheit getauft hatte, und den die Welt draußen zur Masse des vierten Standes, zu dem Haufen der Enterbten, eingeschränkt hatte, durchmaß mit fieberhaften Schritten sein Arbeitszimmer. Bald nahm er den »Kosmopolit« zur Hand, bald warf er ihn wieder auf eins der Pulte. Er stieß die Fäuste über sich in die Luft.

Jetzt konnte der Sturz alles Gewesenen kommen, das Ende aller Macht. Die Knechtschaft, die Jahrtausende gedauert hatte und der zu steuern Unzählige der Besten Gut und Blut geopfert hatten, nun dünkte sie ihm ihrem Ende nahe. Was konnte auf dieser Erde, die allen gehörte, noch ein politisches Land sein! Was nutzte eine gewaltsam hier unten in den Erdleib gepfählte Grenze, da es oben keine gab, und jede Mauer überflogen werden konnte! Was nutzten kriechende Heere, wenn sich oben die fliegende Verbrüderung die Hände reichte! Und nichts anderes konnte es werden als ein Bund, – Glied an Glied, – rund um den Erdball. Und wenn nicht unmittelbar aus der Einsicht heraus, dann mittelbar aus dem Zwange. Denn einer allein konnte nicht im Besitze bleiben; das würde der Staat, der jetzige Begriff »Staat« nicht dulden und nicht dulden dürfen; und ein Staat allein durfte nicht im Besitze sein; das würden die anderen Staaten nicht dulden dürfen. So würde Einsicht walten müssen; alle würden teilhaftig sein, ein Weg zur Erlösung; oder der Weltbrand würde entflammen: auch die Erlösung.

Wer würde Herrscher sein, wenn alle stürmten! Was ist ein Thron, wenn ein Felsblock über ihm hängt? Und wo bleibt das »Herrschen«, wenn der verhaßte Begriff »Untertan« weggefegt ist? Ist noch »untertan«, wer das alte, ewige Recht, zu sein, wo er will, wahr machen kann? Und wird nicht nun endlich in der höchsten Auslegung der Freizügigkeit der vornehmste Teil des Menschen, das »Frei sein«, zum uneingeschränkten Rechte kommen?

Aber, wer war der Mann? Er riß das Heft wieder hoch. Er überflog jede Zeile; er musterte Titelblatt und Umschlag. Erfolglos! Von dem Erfinder alles; über den Erfinder nichts! War dieser Mann sich bewußt, welche unendliche Macht in ihm lag, und war er befangen in der Erziehung seiner Zeit, dann konnte man nicht mit Geld an ihn kommen, und dann würde der Sturm auf ihn, der sicherlich sofort und nur mit Geld unternommen werden würde, nutzlos sein. Denn so viel würde er wissen: beladen mit allen Schätzen dieser Welt, um die er seine Erfindung hergegeben hätte, würde er nur Angriffspunkt für die Nachfolger werden; war er aber großzügig in Gesinnung und empfänglich für die Lehren, die aus der Seele zum Charakter, aus Mitleid zur Gerechtigkeit leiteten, und so auf allen Wegen zur Gleichheit, – dann mußte man zu ihm treten, als Apostel, als Verkünder der Pflicht eines Gesegneten gegen Millionen Beladene.

Über den alten Redakteur war ein Paroxysmus gekommen. Selbst die Rolle des Apostels spielen! Konfuzius, Mahomed, Christus! So viel Anhang zu ihrer Zeit, so viel Vermehrung bis heute – sie wirkten nur in der Religion, und jeder hatte nur einen Teil der Menschheit hinter sich und ein großer Teil blieb überhaupt draußen, und wer wollte sagen, daß dieser der nicht gesegnete sei? Aber sie alle drei würde übertreffen, wer jetzt allen, aber auch allen das brächte, was sie erst zu Menschen machte: die Gleichheit, das Auslöschen von Stark und Schwach, von Hoch und Niedrig, Satt und Arm.

Und hier war es gegeben! Jetzt konnte der Erdball noch einmal geteilt werden. Denn der Preis war zu hoch für einen und der Haß zu groß, um ihn wenigen zu lassen.

Er stülpte seinen Hut auf die nasse Stirn und stürmte hinaus. Er durcheilte lange Straßenzüge, ohne zu wissen, wo er sich befand, ohne daran zu denken, wohin er wollte. Er sah einen Betrunkenen und hätte ihm zurufen mögen: »Erniedrige dich nicht zum Tier! Laß dich dein Leid nicht quälen, bald bist du erlöst!« Er blickte in die erleuchteten Fenster einer Villa. Er konnte die Teilnehmer eines festlichen Mahles sehen, und er konnte das Hoch hören, das einem splendiden Gastgeber gebracht wurde. Und es drängte ihn, hineinzuschreien: »Wie lange noch, und bald werden alle so fröhlich sein, aber mit mehr Recht als Ihr!« Er eilte weiter und sah gen Himmel. Dort oben standen die Sterne in ihrer stillen, starren Pracht. Seine Brust weitete sich. Die Region über ihm war – ja! – wie sollte er es nennen? – sie war kein Ort, sie war kein Fleck, keine Stelle, sie war keine Gegend, – keine Fläche, – sie war das Unfaßbare, das Unbegrenzte, das Fabeltum, von wannen der Segen der Zukunft kommen würde.

Er ließ seine Augen die Straße hinunter bis nach dem Horizont wandern; – wie war es weit! – und durch die Häuser- und Baumlücken zur Seite: wie war es breit, und wie war es hoch! Nun, wo der ungeheure Raum in Berechnung gezogen werden konnte, nun schlich sich das Unermeßliche ins Bewußtsein. Zu welchem elenden Begriffe wurde ein Fetzen Fläche!

Und in diesen schwimmenden Zukunftsbildern eilte er wieder seinem Heim zu; um nichts in seiner Aufregung gemildert. –

Er war auch bei einem Hause vorbeigeschossen, das draußen in der Vorstadt lag.

Hinter den verhangenen Fenstern saß dort Herr Aménard, der Exchef der Firma Samuel und Aménard. Auch er hatte den »Kosmopolit« vor sich liegen. Er studierte ihn mit Liebe und Gewissenhaftigkeit. Flüchtig durchschoß ihn der Gedanke: »Er muß haben viel Geld, dieser Mann, denn sonst würde er haben verringert die Druckkosten durch Aufnahme von Annoncen, welche er bekommen hätte reichlich!«

Er schüttelte diesen Gedanken indessen wieder ab. »Er muß haben überhaupt fürchterlich viel Geld. Er wird lachen auf Annoncen!«

Jedes Wort hatte er durchgelesen, jedes Bild mit einem Vergrößerungsglase beschaut. Zum Schluß erhob er sich und verschränkte die Arme auf der Brust. In seine Stirn gruben sich viele Falten. »Er hat nichts geschrieben über was es kostet! Und hier ist eine Notiz im Briefkasten, welche ist geheim. Was es kostet, wird man noch erfahren. Denn der Mann muß es sagen. Wird er doch sonst nichts! Aber zwei Sachen möchte ich wissen: was besagt diese Notiz und an wen sie ist? Wichtiger, an wen sie ist! Es muß einer sein hier unten, wenn er ist oben. Einer oder – – – eine!«

Am andern Morgen trat er nach einer ruhelos durchwachten Nacht in das Bureau eines Hausmaklers.

»Guten Morgen!«

»Guten Morgen, Herr Aménard!«

»Ich will verkaufen mein Haus!«

»Schön!« Der Buchhalter griff nach den Auftragformularen.

»Mein Haus, Grundbuch Seite 142, Nr. 17 a. Es gehört mir, wie Sie es wissen!«

Der andere nickte. »Es ist durch uns gekauft. Darf ich bitten, auszufüllen?«

Aménard gab ihm zu verstehen, daß er in dieser Sache mit dem Chef selbst sprechen wollte.

»Gewiß will ich Sie sofort melden,« erwiderte der junge Mann, »wenn es eine wichtige Sache ist. Wir sind eigentlich angewiesen …«

»Es ist ein Geschäft!« schnitt ihm Aménard jede weitere Entgegnung ab. »Wenn ich will sprechen privat, gehe ich nicht hierher.«

Herr Baudin, der schnell unterrichtet worden war, empfing den ihm vorteilhaft bekannten Mann sehr zuvorkommend.

»Was höre ich, mein lieber Herr Aménard, Sie wollen schon wieder verkaufen? oder soll es ein Eintausch werden?«

»Kein Eintausch!« erklärte Aménard, indem er sich nach gründlichem Abschluß der Tür ohne Aufforderung in einen Sessel warf. »Ich will verkaufen endgiltig! Und weil Sie mich haben damals bedient, daß ich zufrieden gewesen bin, und weil wir haben Geschäftsverbindung – Sie sind doch gut bedient gewesen durch uns?«

»Immer!«

»Sehen Sie!«

»Und jede Auskunft hat eingeschlagen.«

»Nun sind Sie auch bewahrt worden vor Schaden.«

»Zweifellos!«

»So komme ich zu bitten, daß Sie nicht bloß übernehmen den Verkauf vom Haus, sondern auch vom Gartengrundstück und vom Mobiliar.«

Der Makler hörte aufmerksam zu und sann nach.

»So,« fuhr Aménard fort, »daß es sich vereinigen läßt, daß es geht schnell, und daß ich habe keinen Schaden!«

»Die Firma wird ihr äußerstes tun. Sie werden das Inventar ausgenommen haben.«

»Sie sollen es tun!«

»Auch das. Sie werden dabei anwesend sein?«

»Nein, ich werde nicht sein anwesend.«

»Nicht?« meinte Baudin nachdenklich. »Nun gut, wir werden die Verkäufe aber trennen müssen. Am liebsten wäre es uns, wenn Sie doch anwesend wären, wenigstens bei der Mobilientaxe. Es ist nicht so recht eigentlich unser Geschäft.«

»Wie kann ich sein anwesend, wenn ich nicht bin hier!«

»Ah, Sie wollen verreisen? Und Ihr Kompagnon?«

»Der Herr Samuel bleibt hier. Mit dem soll gemacht werden die Abrechnung. Die Firma hat sich geändert,« warf er nebenbei hin.

»Geändert?« Herr Baudin horchte auf.

»Ja! Wir haben aufgegeben das Detektivbureau. Wir haben aufgemacht ein Geschäft; es ist eine Agentur, wir verkaufen Bilder.«

»Und davon sprechen Sie so beiläufig?« fragte der andere aufs höchste überrascht. »Also Bilder? Mit einem Male Bilder? Und so plötzlich?«

»Photographien!«

»Photographien? Eine Agentur? Wie heißt der Fabrikant, wenn ich mir die Frage erlauben darf; ich meine, wie heißt der Photograph?«

Aménard griff in seine Tasche und holte den »Kosmopolit« heraus; dann nahm er von einem Nebentischchen ein zweites Exemplar des Heftes, das auch in dieses Kontor geflogen war, legte sie beide Zusammen und schob sie seinem Gegenüber hin. »Es ist diese Sache, diese Bilder.«

Baudin sprang sprachlos auf und starrte Aménard ins Gesicht.

»Ist es etwas Wunderbares?« fragte dieser unendlich kühl.

»Ja, ja, ja! Das ist es, Herr Aménard! Das ist es!« Er ging nach der Tür, um sich von ihrem Abschluß zu überzeugen. Dann meinte er mit verhaltener Stimme: »Wir Geschäftsleute brauchen Diskretion und lieben Diskretion. Aber wie Sie sie bewahrt haben, das ist wahrhaft bewundernswert. Sie müssen doch schon seit Wochen an der Sache gearbeitet haben, und wir, und die ganze übrige Welt wissen erst seit vierundzwanzig Stunden, was los ist. Und davon noch wenig genug. Wie heißt er doch? Fritz Rusart! Hauptbureau Hainburg, Hermannstr. 12. Sie reisen nach Hamburg?«

»Vielleicht reise ich nach Hamburg, vielleicht auch nicht, vielleicht reise ich hin wo anders!« Baudin nickte rücksichtsvoll. Beide verständige Männer wußten, daß Herr Aménard nach Hamburg reisen würde.

Mit der tüchtigen Geschäftsleuten eigenen Fähigkeit, schnell zu denken, überschlug der Makler, wieviel dem Aménard die neue Sache mindestens bringen mußte, wenn er sein so brillant gehendes Detektivbureau dafür schlank auffliegen ließ. Und er sah in der Tatsache, daß Aménard überhaupt die Verbindung mit dem Ingenieur Rusart hatte anknüpfen können, einen neuen Beweis eminenter Begabung als Detektiv und Geschäftsmann.

»Ich kalkuliere: man kann Ihnen nur von Herzen Glück wünschen!«

»Es ist eine sichere Sache, sonst hätten wir die Hände gelassen davon,« meinte Aménard nachlässig.

»Natürlich, natürlich!«

»Man ist nicht mehr in den Jahren, daß man geht aufs Probieren!«

»Ich bewundere Sie! Ich bewundere Siel An den Mann heranzukommen! An diesen Mann, der sich so konsequent verschleiert! Oder – haben Sie ihn schon vorher gekannt?«

»Nichts haben wir gewußt vorher von ihm!« Aménard fegte mit beiden Händen jede Kenntnis weit weg. »Es ist richtig: er ist sehr zurückhaltend. Wie man es auch sein muß bei einer solchen Sache!«

Der Makler ging erregt auf und ab. Endlich nahm er das Heft zur Hand. Unschlüssig blätterte er eine Weile darin. »Sie kennen natürlich den Inhalt genau?«

»Es ist nicht ein Wort darin, wovon ich nicht wüßte!«

»Dann können Sie mir vielleicht sagen, was diese Chiffre-Notiz hier im Briefkasten bedeutet – wenn es Ihnen genehm ist, heißt das, selbstverständlich –, ich habe schon über eine Stunde dabei zugebracht. Probiert oder probieren wollen, aber …«

Aménard hatte mit scharfem Blicke festgestellt, daß er, Satz um Satz, her gesprochen wurde, in dem Ansehen des Maklers gestiegen war. Er hielt es für unanständig, diese Beförderung zu unterbrechen. Die Stufenleiter hieß: Auftreten – Ansehen, Ansehen – Kredit, Kredit – Kapital!

»Es ist chiffriert!« gab er verständig zu.

»Ja, eben …«

»Und für den, welcher den Schlüssel hat …«

»Ganz richtig! Dann ist es natürlich eine Kleinigkeit.«

»Ja, man kann es lesen so weg, vom Blatte!« belehrte Aménard mit einem Lächeln, dessen überschüssige Lieblichkeit durch die Gesichtsform gemildert wurde, »aber nicht jeder hat den Schlüssel …«

»Nein, nein, allerdings nicht!«

»Es soll nicht haben jeder den Schlüssel,« betonte Aménard wichtig und mit etwas sich hebenden Schultern.

»Ein ganz verfluchter Kerl!« sagte sich der Makler. »Er hat den Schlüssel. Aber es ist vergeblich. Er sagt doch nichts!« Deswegen sprang er vom Thema ab. »Es liegt Ihnen sehr viel daran,« meinte er laut, »Ihren Verkauf schnell, möglichst schnell in Ordnung zu bringen?«

»Ja, ich muß haben Bewegungsfreiheit!«

»Sie werden aber immer mit unserer Stadt in Verbindung bleiben?«

»Wo ist das Hauptgeschäft – und meins ist hier! –, ist die Heimat!«

»Ich will Ihnen einen Vorschlag machen. Die Firma kauft Ihnen Haus, Grundstück und Mobiliar ab. Es ist etwas Außergewöhnliches, wenn ein Makler das tut; so ungewöhnlich, wie wenn ein Lotterie-Kollekteur selbst Lotterie spielt, aber in Anbetracht unserer Verbindungen und Ihrer Umstände …«

»Sie sollen nichts tun wegen meiner Umstände, wo ich Ihnen doch nichts konnte sagen!« wehrte sich Aménard schamhaft und wohlwollend.

»Nun, nun! rund heraus: Nennen Sie mir die ganze Forderung!«

Aménard senkte seinen Kopf. Seine Blicke schwirrten zwischen feinen Stiefeln hin und her. »Nicht deswegen, aber weil Sie es doch müßten wissen sowieso. Für das Haus habe ich gegeben – Sie erinnern sich – 17 000; ich bin zufrieden, wenn ich kriege ebensoviel wieder, und für den Garten mit der zweiten Straßenfront, welchen ich gekauft habe aus der freien Hand, muß ich haben 12 800, und für das Mobiliar muß ich rechnen 3200, was macht«: er hatte die Zahlen notiert, dabei aber wohlweislich die anderen Papiere in der Tasche gelassen, auf denen seine erste niedrigere Aufrechnung stand, »was macht 33 000!«

»33 000 … Ich kenne Haus und Garten und Ihre Einrichtung. Gut, wir wollen nicht feilschen um ein paar Scheine. Wir nehmen es Ihnen ab!«

Aménard stand auf. »So geht es schneller, als –; ich danke Ihnen!«

»Sie können morgen früh das Geld haben! Und wie steht es mit den Umschreibgebühren?«

»Nun, die Gebühren! Ich will sagen, ich habe die Preise so gestellt – Sie geben zu, daß ich billig bin gewesen in der Forderung« – er wollte dem andern nicht die Gelegenheit nehmen, sich anständig zu zeigen.

»Gewiß! Wir sind ja auch schnell handelseins geworden!«

»Nun will ich sagen, daß ich nichts zu tun haben will mit den Gebühren!«

Baudin lächelte. »Meinetwegen! Wir schlagen's wohl wieder heraus. Es ist ja keine Summe. Also bis morgen! Die Akten machen wir fertig!«

Dann schüttelte man sich die Hände.

Als Aménard auf die Straße trat, sah er zum blauen Himmel empor. »Welcher da oben herumfliegt,« meinte er zu sich, »er hat eine sehr verständige Notiz in seinem Briefkasten, wenn ich sie auch nicht kann lesen!«

Im Weitergehen traf er Bekannte. Sie grüßten und wollten ihn anreden. Aus den Droschken und elektrischen Bahnwagen heraus wurde ihm zugewinkt. Es überkam ihn ein leiser Schatten von Verwunderung, daß man auf ihn heute so besonders acht habe, aber er ließ sich durch nichts aufhalten. Es drängte ihn, möglichst bald sein Heim zu erreichen, um an die Ausführung seiner Pläne zu gehen. War er Haus und Garten so leicht los geworden, seine Schiffahrts-Aktien wolle er noch viel leichter loswerden. Im nächsten Zeitungskiosk erstand er ein weiteres Exemplar des »Kosmopolit«. Ihm war es um die Photographie des Mannes zu tun. Er wollte sie stets in zwei Exemplaren bei sich haben. Es war eine Art Versicherung, der Ausfluß eines unbestimmten Gefühls. Er wußte, daß er die Bilder gebrauchen würde, aber er wußte noch nicht, wann, und nicht, wo. »Auf alle Fälle. Ich kann ihn treffen, ich werde ihn treffen. Daß ich kann sagen: Der ist es! Du bist es! Wenn es auch ist ein umgekehrtes Verhältnis, daß ich habe seine Legitimation.«

Beim Passieren einer der Hauptstraßen sah er von weitem eine große Menschenansammlung. »Es ist gefallen ein Pferd, oder es predigt einer, was beides ist albern fürs Stehenbleiben.« Als er näher gekommen war, benutzte er das gegenüberliegende, noch einigermaßen gangbare Trottoir und lugte über den Troß hinweg.

Plötzlich wurde ihm der Kragen zu eng. Er riß die Augen auf. Die Menge, die immer mehr anschwoll, hatte sich vor zwei außerordentlich großen Schaufenstern gestaut. In diesen hing in geschmackvoller Anordnung und Ausstattung Bild an Bild, Photographie an Photographie. Und über dem ganzen Geschäftsraum zog sich ein Schild hin, das in vornehmer Einfachheit gehalten war und das in großen Schriftzeichen die Inschrift trug: »Fritz Rusart, Ingenieur, Hamburg. – General-Vertreter Samuel & Aménard.«

Der Geschäftseingang war verschlossen und verhängt. Es war von außen eine Einrichtung in großem Stile. Und »alles so, wie es die seinen Geschäfte haben«.

Herr Aménard pfiff den Atem mühsam durch die Zähne. So hatte er sich das nicht gedacht. Als wäre er selbst Publikum, ging er auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf und nieder mit wankenden Knien und sein vis-à-vis mit den Augen verschlingend. Dann stieg er wieder ein paar Stufen an einem der Hauseingänge empor, um besser zu sehen, und er hielt sich an einer Türlaterne fest, um so vielleicht einen Einblick in das Innere des Lokales zu gewinnen.

Es war doch verblüffend, was fertig gebracht hatte der Mann, welcher hieß James York und welcher genannt sein wollte der Herr York. »Er hat recht, ich werde immer zu ihm sagen ›Herr‹ York! und werde mich vorsehen.« Er kletterte wieder von seinem Postament herunter, nur mühsam einen Platz am Boden gewinnend.

Die Menge wuchs immer mehr an. Die Hinzukommenden drängten und preßten sich auf die Vorderleute. Jeder wollte sehen, keiner weichen. Und so hatte sich binnen kurzer Zeit ein breiter Keil quer über die Straße getrieben, mit der Spitze gegen das Geschäft. Der Verkehr war gehemmt; kein Fuhrwerk konnte passieren, kein Mensch sich bewegen. Der öffentlichen Sicherheitsmannschaft blieb nichts anderes übrig, als, gleichermaßen, wie man von Verschütteten das Erdreich fortschaufelt, von den letzten Kreisen allmählich nach vorn gehend, Person um Person von der Masse loszulösen und zum Weitergehen zu zwingen, Gefühl mit Energie verbindend.

Auch nur ein vorübergehendes Mittel. Denn wenn bisher nur das Laufpublikum durch die ungewohnte Fensterausstattung angezogen worden war, verbreitete sich nun nach Ablauf von kaum einer Stunde das Gerücht in allen Stadtteilen, und es ergoß sich ein Strom von Neugierigen nach dem Geschäft. Und die Arbeit begann von neuem.

Da gellte ein Schrei mitten aus dem starren Menschenhaufen heraus. Ausgestoßen von einem, der, in herzbeklemmendem Drucke eingeengt, ebensowenig einen Blick auf die Schaufenster werfen konnte wie die meisten anderen, und der, in krampfhafter Anstrengung, sich Luft zu verschaffen, den Kopf ins Genick geworfen hatte.

»Da – da – da oben! Da fliegt er!«

Wie ein elektrischer Schlag zuckte es durch die Masse. Alle Köpfe ruckten nach oben. Mit offenem Munde und bewegungslos starrte jeder in die Luft. In einer Höhe von 500 Metern und in langsamer Fahrt zog die »Pax« über das Gesichtsfeld. Ein grauer Koloß, an den Seiten mit schwirrenden Schatten versehen.

Der Bann, der über der Masse lag, dauerte nur so lange, als der majestätische Flug der »Pax« sichtbar war. Als das Luftschiff hinter den Dächern der hohen Häuser verschwunden war, hob plötzlich ein Wühlen unter der Menge an. Es stieß alles durcheinander. Rücksichtslos und halb wie im Taumel suchte sich jeder Bahn zu brechen. Es galt, möglichst schnell die nächste Querstraße zu erfassen und von dort aus wieder den Blick auf das neue Wunder.

Auch Herrn Aménard hatte das Fieber ergriffen. Er krallte mit zitternder Hand nach seiner Brusttasche, um sich zu vergewissern, ob sich dort noch die beiden Exemplare des »Kosmopolit« befänden, und stürzte dann inmitten des Haufens davon; halb an seine Vordermänner sich festklammernd, halb von den Nachstürmenden gestoßen. Er empfand keine Mißhandlung an seinem Körper, keinen Tritt an seinen Füßen. Er hatte seine Jahre vergessen, und er wußte nichts davon, daß er »nicht mehr war für das Laufen«. Er hatte nur das Gefühl, als ob der da oben ihn an einem Tau nach sich risse, und als müßte er immer springen, um nicht an der Erde entlanggeschleift zu werden.

Durch die nächste Querstraße gelangte man auf einen freien Platz. Er bildete die größte unbebaute Fläche innerhalb der Stadt. Auf allen Seiten von hervorragenden öffentlichen Gebäuden umgeben, wies er als einzigen Schmuck das in seiner Mitte stehende Reiterdenkmal des verstorbenen Landesfürsten auf.

Über diesen Platz flutete der Sonnenschein eines Frühlingstages. Der tiefe, in durchsichtigem Blau schimmernde Himmel spannte sich wolkenlos über die Erde.

Und mitten in dieser azurnen Glocke hing die »Pax«. Sie hielt unbeweglich still. Als einziger Punkt, an dem die Augen haften konnten, als einziger Punkt, der den Blick am Irren ins Endlose hemmte. Die »Pax«, dieses allen Bekannte und nirgends Gekannte, – dieses Etwas, dessen Leistungen verblüfften, entzückten und ängstigten, versprachen und drohten, – dessen Wesen fremd, dessen Erscheinung unbegreiflich war. In Sonnenschein gebadet und umkränzt von breiten Funken, die die Strahlen auf den zurückblitzenden Schraubenflügeln hervorriefen.

Unten auf dem Platze brandete es. Schulter an Schulter standen die Menschen, dicht nebeneinandergepreßt. Wie in einer zähflüssigen Masse, die dicht vor dem Kochen ist, entstand bald an dieser, bald an jener Stelle eine wühlende Bewegung, die aus dem Grunde zu kommen und an den Ort gebannt schien, an dem sie an die Oberfläche gestoßen war, wie Blasen, die im Schlamme steigen, langsam und gequält; das einzige Lebenszeichen und der einzige Beweis, daß dort in der steifen Masse nach Luft gerungen wurde, daß in diesem schwarzen Grunde stürmisch klopfende Herzen schlugen.

Die Balkone der umliegenden Gebäude, der Gesandtschafts- und Botschafter-Hotels, der Ministerien füllten sich. Die Fenster der breiten Fronten öffneten sich, und aus jedem lugten Köpfe nach oben. Nur kurze Zeit, und man sah auch auf den Dächern kriechende und balanzierende Gestalten.

Und jeder der vielen Tausende hatte das Gefühl, als müsse irgend etwas geschehen, als könne es mit dem bloßen Schauspiel nicht sein Bewenden haben. Man erwartete die Vorführung einer Leistung oder eine Kundgebung von oben. Aber Minute auf Minute verstrich, und die Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Allmählich schmerzte das Genick, und die Lider wollten sich auf die angestrengten und geblendeten Augen legen. Und doch konnte sich keiner entschließen, den Blick auch nur auf Sekundenlänge abzuwenden, schon aus Furcht, gerade in diesem einen Momente etwas Wichtiges einzubüßen.

So verging fast eine halbe Stunde. Niemand zeigte eine Spur von Ermüdung, keiner wandte sich zum Gehen, kein Laut des Unwillens, kein übler Scherz wurde hörbar unter dieser Masse, die aus den verschiedensten Gesellschafts- und Berufsklassen zusammengesetzt war. Nicht nur, daß jedes Ventil zu fehlen schien, das die immer stärker werdende Spannung hätte auslösen können: mit der Spannung wuchs im Gegenteil bei jedem der feste Vorsatz, auszuharren. Denn daß der Mann dort oben an diese eine Stelle sich festgebannt hielt, lediglich, um zu sehen, lediglich, um eine Aussicht zu genießen, dieser Kombination wäre zu allerletzt Raum gegeben worden.

Plötzlich verschwanden die blitzenden Schraubenflügel. Sie wirbelten herum. Die »Pax« drehte sich auf der Stelle und zog dann im Kreise über dem Platze entlang, sich seinen Dimensionen anpassend, um im Anschluß daran in nach oben sich verjüngender Spirale zu steigen. Immer kleiner wurde sie, immer enger der Kreis. Zuletzt hielt sie in doppelter Höhe genau über ihrem ersten Standort.

»Er ist weg!« schrie einer.

»Ja, verschwunden, wahrhaftig weg!« ein anderer.

»Nicht doch, ich kann ihn ja noch sehen!«

»Wo denn?«

»Dort, hier oben, gerade über uns!«

»Nicht doch, das ist Täuschung, weil man so lange hingestarrt hat.«

»Aber nein, ich sehe ihn doch noch!«

»Ich auch, aber nur wie einen Schatten.«

»Ja, ganz schwach! Nun ist er wirklich fort!« Er fuhr mit dem Tuche über die vor Anstrengung tränenden Augen und sah dann wieder hinauf. »Nein, er ist wirklich weg!«

»Wie heißt ›weg‹?« sagte der eingeklemmte Aménard zu seinem Nachbarn. »Weg! Wie kann er sein weg: Er hat sich gemacht unsichtbar!«

»Unsinn! Was heißt das?«

»Nun, will ich sagen: Er ist noch da, bloß, daß wir ihn nicht können sehen!«

»Das ist Geschwätz! Wie soll er das denn machen?«

»Weiß ich's?« Leise setzte er hinzu: »Und wenn ich's müßt', der Gott meiner Väter sollt' mich bewahren, daß ich's täte sagen!«

Ein tausendstimmiger Schrei durchzitterte die Luft. Die »Pax« war wieder da! Ganz plötzlich und tief wie zuerst, und sie sank noch weiter. Sie kam noch näher. Was sich an ihr dem Auge bot, war nun genau zu erkennen. Der Hauptkörper, ein massives und doch schlankes Ganzes, der gigantische Rahmen, die schillernde Reihe von Metallflügeln. Fast jede Faustbreite war zu unterscheiden.

Sie sank tiefer und tiefer. Zuletzt schwebte sie nur noch in Kirchturmhöhe, und in dieser Höhenlage schwamm sie über den Platz, bis sie genau über dem von hohen Säulen getragenen und weit vorspringenden Balkon des Präsidialgebäudes stand.

Auf diesem Balkon hatte sich der Oberpräsident, Freiherr von Nyuwskill, mit seiner Familie eingefunden. Im Hintergrunde sah man die obersten Chargen der Regierung versammelt. Zuerst war das Geräusch so vieler eiliger Menschentritte Veranlassung gewesen, einen Blick zum Fenster hinauszuwerfen, und als sich zu einer gewissen Neugier die Verwunderung über die ausnahmelos nach oben gerichteten Gesichter gesellt hatte, war man von den Arbeitspulten und den Diplomatentischen aufgestanden und an die Fenster oder auf die Balkons geeilt.

»Die ›Pax‹!«

»Die ›Pax‹!«

»Das ist sie!«

»Ja, das muß sie sein!«

Die Erde war groß, und grenzenlos im Raume schien das Luftmeer. Und daß sie gerade hier sich zeigte, ausgerechnet hier, welches glückliche Ereignis! Jeder empfand etwas wie stille, ängstliche Freude.

Hinter Sr. Exzellenz, dem Herrn Oberpräsidenten, stand sein Sohn Ferdinand und eine zu Besuch anwesende Nichte, Brigitte Mendelssohn. Der junge Freiherr senkte sein Glas, durch das er unablässig die »Pax« beobachtet hatte, und legte seine Hand auf den Arm seines Vaters. In ihm wühlte ein Gedanke. »Herr Gott! was für ein Feld! Wenn ich mit Ihm Verbindung hätte!« meinte er in verzückt-gequältem Tone.

»Die kann man ja anknüpfen,« ließ sich Brigitte ruhig hören, ohne in ihrer Beobachtung nachzulassen. »Mensch braucht Menschen!«

»Ja, aber ich – glaube –!«

»Und noch dazu du, bei deiner Stellung als Legationssekretär!«

Seine Exzellenz wandte sich zu seinem Sohne. Über das Gesicht des alten Diplomaten flog ein trüber Schein. »Inwiefern Verbindung, mein Junge – für dich! – Deines Schriftstellerns wegen?«

»Ja!«

»Tam – tam! Ferdinand! Was ich dir immer gesagt habe, – nun fühlst du es selbst; du hast die Reklametrommel nötig, und das ist schlimm!«

» Cher Ferdinand!« Brigitte drehte ihm ihr feingeschnittenes Gesicht zu. »Konntest du nur mühsam schreiben, was war und was du kennst, mit der Sache da oben, mit der wirst du erst recht nicht fertig!«

»Ach!«

»Was hat das dort überhaupt mit Poesie zu tun?«

»Ihr versteht mich nicht!«

»Doch!« Aus ihren Augen brach ein Lächeln, das ihn schmerzte. »Doch! Sage mir nur eins: willst du ihn, oder soll er dich berühmt machen?«

»Rechenseele!« schalt er.

»Nun sage noch: ›Philister‹!«

»Nein, das sage ich nicht! Weil …«

»Weil du zu vornehm bist, ich weiß, ich weiß!«

»Nein, das habe ich wirklich nicht gemeint. Aber, Vater, du siehst doch, sie ist es, die wieder zankt!«

Brigitte sah unbekümmert durch ihr Fernglas. »Nichts«, sprach sie nebenher, »klingt schöner, als wenn du sagst: ›Vater, du siehst doch, ich habe recht!‹«

Er trat hinter sie und sagte ganz leise mit bebenden Lippen:. »Brigitte, kannst du es nicht lassen?«

»Ich kann es lassen,« erklärte sie bestimmt, »und vielleicht tue ich's auch!«

»Nun, also …«

»Aber vielleicht wird dir's wenig gefallen!«

»Gibst du etwas drum, daß es mir gefällt?«

»Nein!« sie drehte den rotblonden Kopf halb herum, »auf Haß gebe ich nur bei großen Leuten etwas!«

»Und – wenn ich dich haßte?«

Ihre weißen Zähne schimmerten ihm entgegen. »Hassen? Du?«

»Ja! – Ich! – Dich!«

»In der Liebe Lyriker – was soll er im Haß sein?«

»Und wenn ich dich haßte?« fragte er nochmals und eindringlich.

»Würde es mir gefallen! ›Es‹, nicht ›Du‹!«

Er neigte sein Gesicht. »Jakob diente um Rahel sieben Jahre …«

»Ja!« lachte sie leise.

»Ich will …«

»Und als die sieben Jahre um waren, hat ihm sein Schwiegerpapa die andere aufs Sofa praktiziert. Bist du immer so glücklich im Vergleichen? – Ah! sieh! Jetzt geschieht etwas!« Sie drängte ihn zurück.

Auf der Unterseite der »Pax« hatte sich eine Platte zur Seite geschoben. Es wurde ein Kopf sichtbar. »Das ist er!« – »Das ist er! Nach der Photographie!« flüsterte es durcheinander. Die mit guten Gläsern Bewaffneten wurden energisch, aber erfolglos bestürmt. Jeder hielt krampfhaft sein Perspektiv fest.

Man sah, wie etwas durch die Öffnung hinausgehalten wurde, und dann fing dieses Etwas an zu sinken. Es schien an einem sehr feinen Tau befestigt zu sein, das oben langsam abgerollt wurde. Je näher es kam, je deutlicher erkennbar: ein Heller, polierter, viereckiger Kasten mit Messingbändern, und das Tau, an dem er hing, erwies sich als ein Paar feiner umsponnener Drahtschnüre.

Die auf dem Balkon Versammelten traten unwillkürlich auseinander. Das geheimnisvolle Kästchen senkte sich tiefer und immer tiefer auf ihre Köpfe. Es war schon ganz nahe; mit den ausgereckten Armen fast greifbar. Jetzt glitt es zwischen ihnen hindurch und berührte sanft den Boden.

Alles trat in leisem Erschrecken zurück, denn mit diesem Momente schien die Sperrvorrichtung einer Reihe von Federn ausgelöst zu sein, und die Seitenwände klappten auseinander. Es wurde ein Metallbügel sichtbar, an dem der im Innern befindliche Apparat hing. Bei der atemlosen Stille, die ringsum eingetreten war, hörte man ganz deutlich das feine Ticken eines Uhrwerks.

In sich unwillkürlich aufdrängender Erinnerung an die unheilvolle Rolle, die schon zu verschiedenen Zeiten Höllenmaschinen gespielt hatten, zögerte jeder heranzutreten. Es konnte eine sehr gefährliche Gabe sein, die auf so wunderbare Weise von oben kam. Man kannte den Charakter dieses Mannes nicht, und man kannte nicht seine Absichten. Konnte er nicht der Meinung sein, – wenn er alles, was hier versammelt war, vernichtete, – er hätte ein System gestürzt? Und wenn es weniger war, wenn er nur an einem System rütteln wollte, würden sie nicht die ersten Opfer sein?

Brigitte hatte die Arme auf dem Rücken verschränkt. Sie besaß die Gabe, mit einem fliegenden Blicke die Stimmung aus Gesichtern zu lesen. Bon Jugend auf gewohnt, durch ihr blendendes Äußeres Bewunderung zu erregen und Sympathien zu gewinnen, hatte sie die Beobachtung machen müssen, daß das andere Geschlecht das an ihr nicht vertrug, was über die äußere Linienführung und den Teint hinausging: die kritische Veranlagung und das Bestreben, ebensoviel Mensch wie Weib zu sein. Die Männer wollten in dem Weibe nur die Venus sehen, die Gesellin »der Stunde«. Eine Pallas Athene, schöner als die Schaumgeborene selbst, war ihnen unbequem, erschreckte, erkältete sie. Die Männer besaßen eine Selbstherrlichkeit. Die Beleidigung liegt im Worte. Sie hatten sie sich selbst gegeben, und sie war tönern und anmaßend. Sobald sich nicht mehr Weib dem Manne gegenüberstellte, sondern Mensch sich dem Menschen gesellen wollte, zogen sie sich zurück. Ihr Mut war kein Mut mehr: er wurde schamhafter Zwang, wenn ein Weib Mut hatte; ihre Kraft war keine Kraft mehr: sie wurde eifersüchtiger Ehrgeiz, wenn ein Weib Kraft zeigte.

Sie erinnerte sich ihrer beiden Lehrer: des wissenschaftlichen und des musikalischen. Beide waren in sie vernarrt gewesen, vernarrt so weit, daß Lehrsätze wie Akkorde zum Stammeln wurden. Aber, was beiden hätte das Wichtigste und Vornehmste, das Innerlichste sein müssen: das eine zu sagen, das große Wort des Mannes, das aus der Tiefe klingt, nein, dazu hatten beide nicht den Mut gehabt. Es hatte ihr nichts gemacht. Und Ferdinand? In ihrem Gehirn mischte sich ein wunderliches Gleichnis. Wenn eine Mädchenseele, die liebt, in einen Hund fährt, der kriecht: dieses Wesen möchte sich so benehmen, wie Ferdinand es ihr gegenüber tat. Er war alles eher, nur kein Mann. Sie barg kein Ideal im Herzen, aber sie trug eine große Erwartung in sich herum. Und dessen war sie sich bewußt: Wenn der kam, der ganz Mann war im Gegensatz zu Knecht und ganz Mensch in Harmonie mit Weib, dann würde sie Weib und Knecht sein können mit allen ihren Gaben, mit aller ihrer Kraft.

Sie überflog mit ihren Augen die Anwesenden. Was sah sie hier wiederum! Hier in diesem kritischen und doch nur anscheinend kritischen Momente? Lauter Männer! Es war richtig, der Kleidung nach. An deren Mannheit war der Schneider schuld. Bei den »Verantwortlichen«, den »Ersten« nur Scheu vor dem Neuen, nervöse Besorgnis vor den möglichen Folgen eines jeden selbständigen, hinaustragenden Schrittes, Angst um das liebe »Ich«; und bei der »zweiten Garnitur«?: die deutliche Neigung hervorzutreten. Sie war aber nur jener Mut, den eine Art neugieriger Sorglosigkeit verleiht. Und diese wurde durch das Genieren in Schach gehalten, das, im Bewußtsein nachgeordneter Stellung, es für unpassend halten mußte, sich bemerkbar zu machen, wo Höhergestellte sich zurückhielten.

Dieses allgemeine Zögern war nur von der Dauer einer Minute gewesen. Es hatte aber genügt, auf Brigittes Gesicht ein Lächeln hervorzurufen, in das leiser Hohn gemischt war. Sie sah zu dem Freiherrn Ferdinand hinüber. Ihre Blicke trafen sich. Die Art, wie sie die Lippen schürzte und die Augenbrauen zusammenzog, trieb ihm das Blut ins Gesicht. Er machte eine Bewegung, an den Apparat heranzutreten. Sein Vater hinderte ihn. »Was willst Du? Warte ab I«

Da schob sich Brigitte an beiden vorbei und bückte sich zu dem Kästchen nieder. In diesem Augenblicke wurde es gehoben, bis es sich in Höhe ihrer Brust befand. Von oben mußte man sehr genau beobachten und messen können. Eine feine Glocke schlug an, eine Platte schob sich zurück, und es erschien ein Etikett mit der in der Landessprache abgefaßten Inschrift: »Ich bitte den Fernsprecher zu benutzen! Man schiebe die Zelluloidwand zur Seite!«

Sie befolgte die Anweisung.

»Brigitte!« In dem Tone, mit dem ihr Onkel ihren Namen aussprach, lag eine nur schwach unterdrückte Verurteilung ihrer selbständigen Handlungsweise.

»Hältst du mich für unvorsichtig, Onkel?« fragte sie kühl zurück, indem sie den jetzt allen sichtbaren harmlosen Fernsprechapparat durch Drehen in die richtige Lage brachte.

Man drängte sich nun heran.

Der Oberpräsident legte ihr die Hand auf den Arm. »Du exponierst dich, Brigitte! Laß mich, bitte, eintreten!«

»Allerorten dem Verdienste seine Krone!« Ihre Art: je schärfer die Ironie, desto liebenswürdiger der Klang, wurde auch hier übel von ihm empfunden, aber die Umstände ließen ein Eingehen auf den Ton nicht zu. Er hob das Hörrohr ans Ohr und wollte sich melden. Da fiel sein Auge auf einen Expreßboten, der sich durch die bis auf den Boden des Balkons reichende Glastür drängte und dann, hinter den anderen sich herumwindend, seine Aufmerksamkeit dadurch zu erregen suchte, daß er, ein großes Schreiben hochhaltend, ihm steif in die Augen sah.

Er gab dem in nächster Nähe stehenden Bureauchef einen Wink, den Boten abzufertigen, und drückte dann seinen Kopf an den Apparat. Sofort hörte er rufen: »Hier Fritz Rusart, Ingenieur, Hamburg.«

»Hier der Oberpräsident.«

»Wer war die Dame, die eben vom Apparate zurücktrat?«

»Weshalb?«

»Ich verzichte auf die Auskunft! Exzellenz, ich bitte um eine Liebenswürdigkeit. An der Rückseite des vor Ihnen hängenden Apparates befinden sich drei Pappkartons. Die Nummer A bitte ich dem in der Guillandstraße eröffneten Geschäfte von Samuel & Aménard, zu Händen des Herrn James York zu übermitteln! der Karton B ist für Ihr geodätisches Institut bestimmt, und den Karton C, Exzellenz, bitte ich Sie, selbst entgegenzunehmen. Es sind entwickelte Photographien der letzten dreiviertel Stunden.«

»Einen Moment!« Der Oberpräsident drehte den Apparat und hob die drei flachen Kartons heraus. Sie waren mit Buchstaben versehen und A und B auch mit Adressen. »Ich habe alles gefunden! Es wird mir ein Vergnügen sein, Ihre Wünsche zu erfüllen. Für das liebenswürdige Präsent danke ich verbindlichst! Sie sind nach allem, was wir wissen, und jetzt auch gesehen haben, vollständig Herr über Ihr Fahrzeug –.« Er ließ eine Pause eintreten, wartete aber vergeblich auf eine zustimmende Antwort. »Weshalb lassen Sie die Entfernung so groß sein? Kommen Sie doch her zu uns! Meines Erachtens ist reichlich Platz zum Landen vorhanden. Unser Balkon ist sehr hoch und springt weiter vor als alle anderen. Sie würden Ihr Fahrzeug anlehnen können.«

»Platz wohl, doch augenblicklich keine Zeit, Exzellenz.«

»Ich muß das recht bedauern.«

»Das Bedauern teilt sich zwischen uns; doch bitte ich zu bedenken, daß unsere Zusammenkunft nur den Charakter landläufiger Konversation tragen würde.«

»Nicht doch!«

»Sicherlich!«

»Nun, und wenn auch!«

»Eine Stunde, ohne Gewinn für Sie!«

»Interessiert es Sie gar nicht, zu hören, wie man über Sie und Ihr Unternehmen denkt und spricht?«

»Soweit ich davon nicht unterrichtet werde, kann ich es mir denken!«

»Unterrichtet? Nach den Aufsätzen Ihres Kosmopolit sind Sie doch ständig in der Luft!«

»Das ist ein Irrtum! Noch fast jede Nacht habe ich ein- oder zweimal vor Anker gehängt.«

»Und wo zuletzt?«

»Weshalb die Frage?«

»Diesmal bin ich es, der verzichtet. Geben Sie gar keine Aussicht, daß wir uns einmal von Person zu Person sehen?«

»Es ist nichts ausgeschlossen! So kann ich es auch nur als einen Wunsch meinerseits bezeichnen!«

Über das Gesicht des alten Freiherrn zog ein feines Lächeln. »Haben Sie schon irgendeinem diplomatischen Stabe angehört?«

»Inwiefern?«

»Die letzte Antwort zwang zu der Annahme …«

»Wenn Diplomaten die Gepflogenheiten haben, etwas zu sagen, was zu nichts verpflichtet, so haben Nichtdiplomaten wenigstens das Recht dazu!« Fritz Rusarts Stimme klang so ernst und so wenig verbindlich, daß sich über das Gesicht des Oberpräsidenten unwillkürlich ein zeremonieller Schatten legte.

»Es ist mir, in ehrlichem Bekenntnis, ein Vergnügen, diese augenblickliche Verbindung – aber, Herr Ingenieur, Sie werden noch weitere Wünsche haben, denn die eben beanspruchten kleinen Dienste hätte Ihnen auch jeder andere leisten können. Und ich habe den Eindruck, als hätten Sie sich geflissentlich mein Haus zu einer Verständigung oder wenigstens Anknüpfung ausgesucht.«

»Ganz recht, Exzellenz!«

»Nun, also, sehen Sie!«

»Aber nicht, um mehr zu erlangen, als um was ich schon gebeten habe. Für den Fall jedoch, daß Sie dem Interesse an der Person genügend abgewinnen könnten, ohne das Interesse an der Sache in den Vordergrund zu schieben, würde ich Ihnen einen Besuch in Aussicht stellen.«

»Sie sagen mir da etwas außerordentlich Angenehmes!«

»Bitte! Bedingung ist der allerengste Kreis, und die Stunde, die ich wähle …«

»Aber zugestanden' alles zugestanden!«

»Ich danke! Sie werden Nachricht erhalten!«

»Also vorherige Anmeldung?«

»Ja!«

»Es ist aber nicht nötig! Ich gebe Befehl, Sie jederzeit …«

»Nicht doch, davon bitte ich abzustehen! Ich erinnere nur nochmals an die Hauptbedingung. Und ich möchte um Ihre Zusicherung bitten, daß von diesem Besuche keinerlei Nachricht weitergegeben wird, bis ich mich anmelde. Der Apparat, den Sie benutzen, hat nur ein Hörrohr. Auch kann ich von hier aus genau beobachten. Es weiß niemand aus Ihrer Umgebung Bestimmtes von meinen Worten.«

»Nein, ganz recht! Eigentlich: Bestimmtes weiß ich auch nicht!«

»Immerhin! Ich bitte, meine Zusage trotz ihrer Unbestimmtheit geheim zu halten!«

»Es wird geschehen. Ich bedaure, die letzten Worte, die ich Ihnen sagen wollte, nicht aussprechen zu dürfen.«

»Dann spreche ich sie: Auf Wiedersehen!«

Der Oberpräsident trat zurück und gab dadurch den Apparat frei. Glatt und geräuschlos hob sich das Kästchen in die Luft.

Nach Verlauf weniger Minuten war die »Pax« den Blicken der Beobachtenden entschwunden. Sie war nach einem Ausstieg in die Höhe von tausend Metern nach Osten gezogen. Zuletzt noch ein Heiner Punkt, tauchte sie bald in den flimmernden Dunstgürtel hinein, der den Horizont umkränzte.

Das Volk verlief sich. Und wenn sich auch eine gewisse Erregung nicht legte und das Gefühl nicht verloren ging, etwas Seltsames und Großes erlebt zu haben, glich das Bild von Stadt und Straßen und Menschen doch bald dem gewohnten Betriebe. –

In der Ober-Präsidialkammer wurde dem Chef das Expreßschreiben überreicht.

Eine Regierungsnote. Als er die ersten Worte überflogen hatte, stand er auf und trat, trotzdem niemand außer ihm im Zimmer war und sein Gesicht beobachten konnte, in eine der von schweren Portieren verhängten tiefen Fensternischen. Er hatte das Gefühl, als wenn ihn jemand bei einer Sache ertappt hätte. Weniger Unrecht als Blamage – weniger betrogen als düpiert.

Das Schreiben wies auf die neue Erfindung. Es war das erste amtliche Schriftstück, in dem der neuen Sache Erwähnung getan wurde. Dafür aber war das Eingehen um so intensiver. Dem allgemeinen Hinweise war eine Charakteristik des Erfinders beigefügt, die diesen als eine, wenn auch vorläufig nicht sicher erkennbare, doch anscheinend gefährliche Existenz hinstellte. Er habe sich allerdings in einem Falle, bei der Hebung des Torpedobootes, als hilfreich für andere erwiesen, wenn man auch selbst in diesem Falle nicht in der Lage wäre, die Möglichkeit abzuweisen, daß diese Hilfe nur seinem eigenen Interesse und geschäftlichen Vorteile zuliebe geleistet sei, aber in allem übrigen zeige er eine so bewußte und systematisch durchgeführte Ablehnung, mit allen für das heutige Leben ausschlaggebenden Faktoren in Verbindung zu treten, daß man nicht anstehen dürfe, ihn als eine für die Zukunft vielleicht drohende Erscheinung zu betrachten. Es sei bei den geheim angestellten Erkundigungen weder eine amtliche Behörde, noch eine industrielle Körperschaft, noch ein sonstiges Forum von irgendwelchem öffentlichen Gewichte ermittelt worden, an das er mit seiner Erfindung herangetreten wäre, das er für seine Erfindung interessiert, oder das er um Vermittelung weiterer Schritte gebeten hätte.

Seine Art und Weise, die Erfindung, die ihm, wie nicht angezweifelt oder gar widerlegt werden könne, in einwandfreier Vollendung gelungen sei, geheim zu halten, zwinge dazu, ihn unter möglichst eingehende Beobachtung zu stellen, und sei eine Rechtfertigung für jeden irgendwie geformten Versuch, seine Absichten zu eruieren.

Die Erfindung trage den Stempel einer aufsteigenden Macht. In der Hand eines einzelnen könne sie jedoch leicht zu einer umwälzenden werden. Und sie drohe dieses sogar bei jemandem, der seine Absichten geflissentlich verschleiere. Der »Kosmopolit« habe genauester Prüfung keine Handhabe geboten, da er selbst in technischer Beziehung jede Aufklärung vermeide.

Der Ober-Präsident wurde angewiesen, nach Möglichkeit dahin zu wirken, daß, wo immer in seinem Bezirke sich der Erfinder mit seinem Apparate zeige, ihm möglichst ohne Verletzung allgemeiner Grundsätze, aber doch so daß er sich dem Zwange nicht gut entziehen könne, der Weg zu den öffentlichen Gewalten nahe gelegt würde.

Die Sitzung eines Ministerrates in Deutschland, dem Geburtslande des Erfinders, habe zu dem gleichen Entschlusse geführt. Und wenn auch die inoffizielle Bekanntgabe der englischen Admiralität nach dem Berichte des Kommandanten Trilberry von einer möglichen Fahrtdauer von 36 Tagen spreche – eine Angabe, die vom Erfinder selbst herrühren solle und nicht geprüft werden könne –, so müsse doch angenommen werden, daß diese nur eine Not- und Höchstleistung darstelle, und daß das normale Intervall zur Niederlassung auf den Erdboden ein bedeutend kürzeres sei. Dementsprechend wüchsen auch die Chancen der Begegnung.

Ganz besonders habe befremdet, daß sämtliche Kriegsministerien Photographien der verschiedenen Landesfestungen erhalten hätten.

Dieser letzte Punkt könnte Anlaß zum strafrechtlichen Einschreiten gegen den Erfinder bieten, aber man hielte es für opportun, die prozessualische Auffassung nach Möglichkeit latent zu lassen; besonders, da man bei den zufälligen Treffgelegenheiten die technische Übermacht auf seiten des Erfinders vermuten müsse.

Der Oberpräsident wischte sich die feuchte Stirn mit dem Taschentuche ab. Dekret, sekret! Anfassen, nicht zufassen!

Und wie stand es? Der andere war bei ihm gewesen, man konnte es so nennen, und nicht bei ihm gewesen. Er hatte mit ihm gesprochen, gesehen hatte er ihn nicht. Aber mehr als er, ohne den Erlaß zu kennen, erreicht hatte, hätte er auch sonst nicht erreicht. Und diese Masse da oben an zwei mit Seide umsponnenen Drähten festzuhalten, daran konnte nur das Hirn eines Narren denken.

Was er immer tat, wenn ihn ein Gedanke eindringlich beschäftigte, das tat er auch jetzt. Er ging ein Weilchen mit über der Brust gekreuzten Armen auf und nieder und schlug dann den Weg zu seinen Privaträumen ein. Seine besten Gedanken kamen ihm stets, wenn ihn das Dienstaroma nicht umschwebte.

Er fand drüben die Freifrau, seinen Sohn und Brigitte. Die beiden letzteren in das Studium der Photographien vertieft. Er trat zu feiner Frau und strich ihr über das Haar.

»Hat denn das für dich kein Interesse, Therese?«

»Doch,« entgegnete sie mit einem komischen Seufzer, »aber die Kinder zanken schon wieder, und du weißt ja –«

»Du wartest in der Loge ab, bis sie wieder einig!«

»Onkel! Komm doch, bitte, einmal her!« Brigitte schob ihm ein Photogramm hin, das er mit Eifer ergriff. »Sieh, das ist der Sèvresplatz, wie er vorhin aussah, mit den mehr als tausend Menschen, Mann an Mann von oben ausgenommen. Und was siehst du? Fast nur Gesichter. Einen schwarzen Pudding, mit unzähligen weißen Scheibchen dekoriert.«

»Ja, es sieht wirklich so aus!« Er lachte.

»Der Vergleich stammt aus der praktischen Küche!« kritisierte Ferdinand.

»Nun, nimm hier das Glas! Siehst du, das hier, – das sind wir. Das ist unser Balkon! Guck mal durch! Machen wir nicht alle den Eindruck, als wären wir verwachsen? Sieht so ein Mensch aus?«

»Von oben eben ja!« warf Ferdinand ein. »Deswegen lernen ja auch die Großen dieser Welt die Menschen nie richtig kennen. Weil sie immer auf der Höhe stehen. Und weil sie die anderen stets so anders als sich selbst, so krumm, so aufblickend sehen.«

»Ferdinand!«

»Nun ja! und deswegen meinen sie' selbst aus ganz anderem Stoffe geformt zu sein!«

Brigitte richtete sich auf. Sie sah ihn mit erstaunten Augen an. »Wer bist du? Was bist du?«

»Nichts, was ich nicht schon gestern gewesen wäre!«

»Das war ja aber gar nicht lyrisch! Das war ja verständig, und nicht nur verständig, das war geistreich, und noch mehr, das war boshaft!«

»Ich habe wieder gehört, daß lyrisch und verständig Gegensätze sind. Und inwiefern war es boshaft? Gegen wen?«

»Nun, gegen die Aufblickenden. Die oben können doch nichts dafür. Zu einem Herrischen gehören viele …«

Er ließ sie nicht ausreden. »Hörst du, Vater –«, wandte er sich verstimmt an diesen, »wie der Spottvogel flötet?«

»Begrabt doch den Streit, Kinder! Es ist wirklich Besseres zu tun! Wir haben etwas erlebt; Ihr – ich – wir alle; etwas, das großes Licht werfen wird und große Schatten …«

»Doch nur großes Licht!« warf Brigitte ein.

»Keine Schatten?«

»Nein, nur Licht. Schatten wirft das andere, das sich ihm entgegenstellt!«

»Sie ist immer rechnerisch,« sagte Ferdinand, »und sie wird es bleiben. Was du gesagt hast, Vater, ich habe es verstanden.«

»Die Sache bekommt aber eine Wendung. Es wird jedem persönlich interessant sein, mit diesem Manne in Verbindung zu treten. Jetzt ist es mir dienstlich außerordentlich wichtig geworden. Und da hat man die schönste Gelegenheit verpaßt. Man hätte etwas Sicheres verabreden können oder es wenigstens versuchen – –«

»Du hast ein Schreiben von der Regierung?«

»Woraus schließt du?«

»Reine Vermutung, Vater! Aber wer weiß, ich glaube nicht, daß er sich auf irgendeine Verabredung eingelassen hätte.«

»Möglich, möglich auch nicht! Nun fehlt jede Verbindung.«

Der alte Herr wanderte nachdenklich auf und ab. Endlich blieb er vor seinem Sohne stehen. »Das Ärgerliche ist ja, daß alle Welt weiß oder bald erfahren wird, daß ich mit ihm gesprochen habe …«

»Daß das Raffinement sämtlicher Diplomatenschulen nicht vermocht hätte, diesen Hecht an zwei Angelschnüren aus der Luft zu holen, wird dir jeder glauben. Der Faden ist nun einmal gerissen.«

Brigitte nahm die beiden geschlossenen Kartons und hielt sie dem Onkel hin: »Hier ist ein neuer Faden!«

Er lächelte: »Von dem ich mir nichts versprechen kann!«

»Ich auch nicht!« meinte Ferdinand. »Hat man das Ding der Firma hingeschickt, – ist's nach wie vor. Man kann sich da doch nicht heran- und hineindrängen.«

»Das tut man auch nicht!« Brigitte schob die Kartons wieder behutsam über die Tischdecke.

»Sondern?« Alle drei sahen gespannt nach ihr hin. Der Freiherr trat dicht an sie heran. »Nun? sondern? Was meint die Wildkatze, das man tun soll?«

»Man läßt die Firma sich herandrängen – und hier hinein!« Brigitte kreuzte die Arme über dem Rücken. Sie machte dem Onkel eine kleine ironische Verbeugung. » Mon dieu! Man benachrichtigt einfach die Firma und ersucht sie, die Sachen zu holen. Ihr hier oben ersucht die da unten! Und nicht von drüben, aus dem Dienstzimmer des Herrn Oberpräsidenten, nein, von hier, aus diesem Salon. Wie ich die ›da unten‹ kenne, verspricht das noch ergiebiger zu werden!«

Einen Moment herrschte stilles Schweigen. Der alte Herr ließ überlegend seine Finger durch den grauen Bart gleiten: »Frauenrat nach Frauenart!« sagte er endlich.

Ferdinand runzelte die Stirn. »Es ist gar nicht so übel! Aber sie hat auch wieder das richtige Wort, das Krämer-Wort ›ergiebig‹ daneben gestellt; lyrisch ist das freilich nicht.«

Der alte Herr schien nichts von dem Urteil gehört zu haben. »Es ist mir einigermaßen gegen –, gegen das Gefühl. Aber was tut hier Gefühl und Form! Auch entspricht's eigentlich nicht dem Auftrage!« Er drehte sich entschlossen um: »Trotzdem! – Ich tu's! – Sie sollen her!«

* * *

Im Geschäftslokale der Firma Samuel & Aménard herrschte ein sehr lebhaftes Treiben. Die äußersten Anstrengungen der bedienenden vier jungen Leute vermochten den Anforderungen des Publikums kaum zu genügen. Die Stühle für die Wartenden mußten immer von neuem besetzt werden. Im Hintergrunde befand sich ein nur durch eine Barriere abgeteilter Raum: das Kabinett der Chefs. Hier saß Samuel. Er sah aus wie eine Katze, die sich endlich in ein weiches, warmes Lager hineingekauert hat, nachdem sie dreimal um sich selbst herumgekrochen ist. Er fühlte sich überaus glücklich. Seine Blicke schweiften vom Direktionstische nach den Wänden, von dort über die Barriere in den großen Verkaufsraum; sie überflogen die vielen eleganten Schiebladen und Kassetten, die gesamte prunkvolle Einrichtung; sie verfingen sich in den glitzernden Kristallampen und in den Spiegelwänden. Zuletzt streiften sie hinüber zu dem betreßten Portier, vor welchem er abgenommen hatte den Hut! Was er nicht wollte wieder tun! – Hatte er doch gesehen, daß die jungen Leute nur hoben den Finger an die Krempe! Und die wußten doch die Form. Er wollte es auch so machen – das heißt, wenn er hinsah zu dem Manne. Im Vorbeigehen! Aber er wollte nicht hinsehen. Er wollte nicht einmal mit dem Finger grüßen. Damit doch war ein Unterschied. Wie er es gesehen hatte vorhin bei dem Aménard! Der war gekommen mit den Händen in den Taschen und dem Elfenbeinstock nach oben und hatte gar nicht gegrüßt. Und hatte jeder gleich gewußt: das ist einer von den Chefs! – Aber sonst, der Aménard! Er kannte ihn nicht wieder, und er konnte ihn nicht verstehen. Es war in ihn gefahren etwas Unnatürliches: wo er konnte sitzen, stand er; und wo er konnte stehen, ging er! – Wie jetzt drüben in der Ecke, wo er redete mit dem guten Menschen, dem James York. Er hatte den Hut auf dem Rockkragen und fuhr mit den Händen herum, mehr als sonst. Als wenn er wollte jonglieren. Und war zu dick schon zum Turnen.

Jetzt kamen sie herüber. Der James York mit dem Gesicht, wie er es kannte, wenn er war hochmütig. Und der Aménard, – was mußte er sehen! Er hatte Augen, welche aussahen, als wenn sie schwammen in Bouillon! Und das Gesicht! Wie war es gedunsen, mit roten Flecken!

Die beiden traten durch die Barriere. »Das Geschäft wird pünktlich fünf Uhr abends geschlossen,« ordnete James an, »von fünf bis sechs täglich werden die neuen Eingänge in die Kartons geschichtet. Von sechs bis sieben Uhr bleibt nur der Kassenführer zur Abrechnung noch hier!«

»Der Samuel wird sich's merken!« stieß Aménard heraus. »Oder –, schreib dir's auf; daß es wird bekannt gemacht beim Personal! Wissen Sie, ich bin noch außer mir, daß ich – ich – mußte stehen, in der Masse, – wie ›Er‹ kam von oben und verkehrte mit der Regierung. Wissen Sie, wenn ist ein Gedränge und einer hat einen Buckel, soll er bleiben zu Haus! Aber wenn ist ein Quetschen wie heute und ist da so einer und wird einem gedrückt gegen den Leib, – ist es ein Unglück. Ich habe nicht können jappen. Und wenn ich bekomme einen Kropf, wird es mir leid tun; aber ich werde mich nicht wundern. – Und ich möchte wissen, was das gewesen ist für ein Kasten, welchen er hat 'runtergelassen zu der Regierung!«

»Es war ein Telephon!«

»Ein Telephon!« Aménard wurde giftig. »Wenn Sie sagen, eine Schüssel mit Marzipan, – ist es ebensogut!«

»Inwiefern? Er wollte sich unterhalten.«

»Sich unterhalten? Wieso? Wissen Sie etwas darüber? Es kann sein,« meinte Aménard etwas ruhiger. »Wenn Sie das wissen, wissen Sie auch worüber!«

»Ja!«

»Kann man es wissen?«

»Nein!«

»Aber es ist gewesen wichtig?«

»Nein!«

»Wie heißt nein? Wie wird der Mann machen solche Experimente, wenn es nicht wichtig …«

»Wichtig an sich – ja; aber nicht wichtig für Sie!«

»Sie können nicht wissen, ob eine Sache ist wichtig für mich oder nicht! Aber wenn Sie es mir sagen, Herr York, will ich Ihnen sagen, ob es gewesen ist wichtig für mich!«

»Nun ja, wenn Sie mich so drängen: Er wollte sich erkundigen, ob ein Panzerschiff mehr Brucheisen abgibt als fünfundachtzig Lokomotiven.«

Aménard prallte zurück. »Ich hab' gewußt, daß schon ist etwas im Werke!« Er dachte mit Schrecken und schwerer Sorge an seine Schiffahrt-Aktien. »Ich habe keine Papiere in Schiffen«, log er, »und nicht in Lokomotiven; aber wer welche hat, – wenn sie werden Aktien in Brucheisen, – er kann sich drehen Fidibusse …«

»Dann geht Sie die Sache ja auch gar nichts an!«

»Geht mich gar nichts an!« bekräftigte Aménard.

Der Portier ließ einen betreßten Diener herein. Einer der jungen Leute nahm ihm das verschlossene Couvert ab und überbrachte es James York. Dieser entließ den auf Antwort harrenden Boten mit dem Bemerken: »Sagen Sie Seiner Exzellenz, die Firma würde in einer Stunde die Ehre haben!«

Nach einiger Überlegung schob er das Schreiben den beiden anderen hin. »Der Oberpräsident bittet um den Besuch der Firma. Das bin ich! Er hat Photographien zu übergeben, und er fürchtet, daß ein mit dem Transport Unbekannter Schaden anrichten könnte!«

»Er ist ein verständiger Beamter!« entschied Aménard.

»Ich werde hingehen und einen von den jungen Leuten werde ich mitnehmen …«

»Sie werden mich mitnehmen, Herr York!«

»So?«

»Ja, mich, ich bitte Sie darum! Ich will auch tragen das Paket. Es wird nicht sein so groß!«

»Nein, es ist nur klein,« meinte James sinnend, »aber was wollen Sie dort?«

»Wo ich bin der Chef! Wenn Sie auch über mir stehen! Es geziemt sich, daß ich komme zu verkehren mit vornehmen Leuten. Und Sie werden mir geben Instruktion, was ich zu sagen habe, und wie ich zu reden habe mit ihm!«

James steckte sich seine unvermeidliche Zigarette an. »Stehen Sie mal auf!«

Aménard erhob sich.

»Gerade stehen!«

Aménard richtete sich auf. Er streckte seine Brust heraus und steckte seine Nase in die Lust. James' Blicke glitten prüfend über sein Äußeres. Er schüttelte mehrfach den Kopf. »Schade!« sagte er endlich, den Rauch durch die Finger blasend, »es geht nicht!«

»Wie soll es nicht gehen?«

»Es geht nicht! Ihre Hosen sind zu kurz!«

»Werde ich stehen devot –, sind sie länger!«

»Und Ihre Hände? Solche Hände sind bei der hohen Regierung einfach unmöglich.«

»Ich werde sie waschen!«

»Wennschon!«

»Mit Parfüm!«

James sah ihn zweifelnd an.

»Und werde kaufen noch Handschuhe – jetzt – sofort – unterwegs.«

»Nun, dann mag es gehen!«

»Und wie habe ich anzureden den Mann?«

»Den Herrn!«

»Den Herrn?«

»›Blutsauger‹ und ›alter Knabe‹ dürfen Sie nicht sagen!«

»Und ›Wechselbalg‹ auch nicht! Sie sollen mir nicht sagen, was ich nicht soll sagen; sondern Sie sollen mir sagen das andere! Und nicht zuviel Worte, daß ich sie nicht vertausche!«

»Sie haben den Herrn mit ›Exzellenz‹ anzureden!«

»Exzellenz! – Exzellenz! – Exzellenz!«

»Ich möchte Ihnen aber etwas anderes raten!«

»Was?«

»Sagen Sie gar nichts!«

Aménards Augenbrauen schoben sich zusammen. »Bin ich eine Mumie? Nein, ich bin keine Mumie! Und es ist vorteilhaft für das Geschäft und für mich, wenn ich mich lerne benehmen. Wo ich es doch kann Lernen, weil Sie sind dabei und wissen, wie man sich benimmt in allen Kreisen.«

»Wollen Sie es nicht lieber wie Herr Samuel machen und ruhig aus Ihrem Stuhle sitzen bleiben. Es wird ja für Sie gesorgt!«

»Der Samuel! Samuel ist ein Plätteisen! Ist es kalt, steht es im Winkel; ist es heiß, muß es geschoben werden!«

»Ich will nicht, daß du sprichst so von mir!«

»Ich habe dich nicht wollen beleidigen, Samuel. Der Gott meiner Väter soll mich bewahren! Wo du bist mein Freund und bekommst meine Gelder zur Verrechnung! Aber es ist doch so!«

James schob sich dazwischen. »Ich muß Sie daraus aufmerksam machen, daß, wer da oben mitspielen will, seine Violine vorher gestimmt haben muß. Vorher! Hören Sie? Dort erst lange mit den Wirbeln knarren, – das geht nicht!«

»Will ich Ihnen etwas sagen: machen wir es kurz, daß nichts kann kommen zu passieren; ich sage ›Exzellenz‹ und das andere sagen Sie! Wie ist es aber, wenn da ist eine Frau? heißt sie auch ›Exzellenz‹?«

»›Exzellenz‹ patzt da oben überall,« meinte James kaltblütig. »Überall. Die Hauptsache ist die Hochachtung, die muß Ihnen nur so aus den Augen sprühen. Können Sie das Feuerwerk liefern?«

»Sie werden sehen, was ich Ihnen sage: Ich werde sprühen!«

Eine Stunde später waren beide unterwegs; James York nicht, ohne vor dem Hinaustreten eine eingehende Musterung seines Begleiters abzuhalten.

»Der Einband geht,« war sein lakonisches Urteil gewesen. »Für Hintertreppen-Lektüre ist aber die hohe Regierung nicht.«

Unsicher und nachdenklich trottete Aménard immer einen halben Schritt hinter ihm her. Das war wieder so eine Bemerkung, welche er machte immer, wenn er wollte sagen viel und reden wenig. Und man konnte sich giften darüber. Der James York nahm eine Bosheit zwischen zwei Finger und schnickte sie fort. Es war ein Spiel. Und der andere, welchem er sie zugeschnickt hatte, mußte sich wischen das Gesicht, weil da ein Fleck gekommen war. Aber jetzt war keine Zeit zu spielen, und es war gefährlich, Flecke zu machen. Sie waren unterwegs im Geschäft und jeder hatte zu sein einig mit dem andern.

Er sah ärgerlich auf James' Rückseite. Plötzlich schoß er den halben Schritt nach vorn und zischte leise: »Sie haben nicht nötig, zu warnen vor der Lektüre! Ich sage nur ›Exzellenz‹.« Dann tauchte er wieder zurück und roch an seinen Händen. »Durch die Handschuhe durch!« sagte er, »aber es kommt auf die Spesen.«

Endlich standen sie vor dem großen offenen Portal. Es war Aménard schon unangenehm, daß gleich hinter den Säulen Marmorstufen lagen. Da er unsicher darüber war, ob er auf den Läufer oder den Marmor treten sollte, und da ihm beides »zu schade« dazu schien, schob er sich etwas zur Seite. Auch behagte ihm das Gesicht des Bedienten nicht, der auf dem Absatz in der halben Höhe der Treppe unter einem vielarmigen Leuchter stand. »Es ist ein Knecht,« damit tröstete er sich und nahm das vornehmste Gesicht an, das er nach Vergewaltigung seiner Muskeln hervorbringen konnte. Der »Knecht« kalkulierte auf hochgradigen Rheumatismus.

»Zu Seiner Exzellenz, dem Herrn Oberpräsidenten!« James York legte seine Karte auf die dargebotene Silberschale.

»Exzellenz haben schon befohlen, die Herren hereinzubitten.« Damit eilte der eine Diener hinweg, während ein zweiter den beiden Besuchern beim Ablegen half und sie dann in ein Empfangszimmer leitete. Dort wanderte James über den Teppich, und Aménard blieb an der Tür stehen, etwas vornübergebeugt und in der Stimmung hin und her geworfen. »Wollen wir haben Geld,« knurrte er, »daß sie einen vorher martern? Nein, wir sind gebeten, zu kommen zu holen, was uns gehört; denn das sind Martern! Wo er ist doch auch bloß ein Mensch! Stellt einen hier hin und einen dort hin und einen, der zieht einen aus, und einer, der lauft fort mit dem Papier. Und guckt einen alles an, daß man meint, es ist zerrissen die Hose oder ist eingebeult der Hut. Und haben nichts zu tun, als stehen herum. Vier Mann für den einen. Gott, du Gerechter! Und ist er doch nur Beamter und kriegt sein Geld von uns. Denn wer zahlt die Steuern?«

»Sie sollen nicht schimpfen!« fuhr James York ihn an.

»Was, wer hat geschimpft? Ich habe geschimpft?« Aménard sah sich erschrocken um. »Hat es wer gehört? Meine Handschuhe sind zu eng, daß ich mußte stöhnen. Aber wenn ich was rede, ich will versinken auf diesem Platz in die Erde, wenn ich was anderes rede als ›Exzellenz‹.« –

Während diese beiden nach kurzem Warten in den Salon gebeten wurden, wo sie den Oberpräsidenten mit Frau, Sohn und Nichte vorfanden, durchraste der Ostexpreßzug die Niederung, die die Stadt in meilenweiter Ausdehnung umgab. Mit roten Augen durch den Nebel des Tieflandes schneidend, rollte er im zischenden Spiele der Räder an diesen Mittelpunkt des Verkehrs heran. In einem Coupé erster Klasse befand sich als einziger Insasse Attila von Schwind. Er hatte das Licht vollständig abgedämpft und sah, in eine Polsterecke gelehnt, durch das Fenster auf die vorüberjagende Landschaft. Dunstgebilde wechselten mit seltsam geformten Baum-Silhouetten; dann wieder ein langer Streifen braunschattierten Ackerlandes, dessen Furchen einen grauen Schleier trugen, und in regelmäßigen Intervallen schoß ein Lichtschimmer vorbei: die Hütte eines Bahnwärters.

Baron von Schwind rechnete. In einer guten Stunde mußte er seinen Bestimmungsort erreicht haben. Er hatte vorhin bei Licht den Plan der Stadt, die er noch niemals betreten hatte, studiert. Die Anweisung, die er erhalten hatte, ließ für unvorhergesehene Zufälle keinen Spielraum, auch nicht eine Minute; aber es war selbstverständlich für ihn, daß alles im heutigen Programm klappte. Die chiffrierte Instruktion war ausführlich gewesen. »Mir kommt es darauf an« hatte Fritz Rusart geschrieben, »daß wir mit der Mittellinie eine Fühlung nehmen. Mit solchen Personen, die nicht selbständig handeln dürfen, und denen doch eine Verantwortung auferlegt wird. Dazu ist ein Akt, wie ihn Paradigma d gibt, vorzunehmen. Überwiegend gesellschaftlich, wenig geschäftlich; in keiner Weise verpflichtend.« Dann folgte die lose Instruktion über den Gesprächsinhalt und eine nach Minuten geregelte Anweisung über Anfahrt, Dauer der Unterredung und Abfahrt.

Es ist schon für eine Normal-Intelligenz keine besondere Leistung, sich mit mehreren Angelegenheiten zu gleicher Zeit zu beschäftigen. Während Baron Schwind vor sich selbst das Programm der nächsten Stunden entwickelte, spielte sein zweites, das latente Bewußtsein nach einer andern Richtung. Er wußte, daß im Nebencoupé ein Mann saß, der ihm schon seit mehreren Tagen wie ein Schatten folgte. Von Stadt zu Stadt, von Hotel zu Hotel. Es war niemals ein Aufdrängen gewesen, kaum, daß er sich bemerkbar gemacht hatte, ja, bei der einen oder andern Gelegenheit war er offensichtlich bestrebt gewesen, sich zu decken. Attila aber, dessen Aufgabe als Voraussetzung unermüdliche Umschau und stetes Wachbleiben hatte, war seiner doch jedesmal ansichtig geworden; mochte er sich am entferntesten Ende des Perrons aufhalten oder im Hotelsaal seinen Kopf hinter der größten vorhandenen Zeitung verbergen. Auch ein mehrfaches Wechseln der Kleidung und Kopfbedeckung hatte ihn nicht vor dem Erkanntwerden geschützt. Hager und zäh! das war der Gesamteindruck. Und von feiner Form im Benehmen. Und Schwind hätte in ihm schon einen von seinem Ressort ausgeschickten Generalstabsoffizier vermutet, wenn nicht noch eine Frau im Spiele gewesen wäre. Jener arbeitete mit einer Frau zusammen. Zweifellos! Sie war nie neben ihm und fuhr auch stets in einem Frauen-Coupé, aber wo immer er auftauchte, war sie auch zu finden. Schwind war in gleichgültiger Lässigkeit an ihr vorübergewandert. Es war kein verkleideter Mann. Sie hatte Frauenhände. Er kannte sich aus. Und das Haar war lang und natürlich. Die beiden sprachen nie miteinander; sahen einander kaum an, und wenn, dann nur, wie der Fremde den Fremden ansieht; aber durch mehrfache Wiederholungen war ihm aufgefallen, daß die Frau, sobald jener die Handschuhe auszog, denselben Platz einnahm, den der andere vorher innegehabt hatte; sei es, daß er an einem Fenster gestanden, auf einer Bank gesessen oder an irgendeiner Säule, einem Pfosten gelehnt hatte. Indes hatte er trotz schärfster heimlicher Beobachtung nie sich vergewissern können, ob sie beide auf diese Weise durch schriftliche Zeichen verkehrten.

Heute würde er ihnen ein Schnippchen schlagen. Ohne daß er ihretwegen sich Mühe gab, würden sie seine Spur verlieren.

Er stützte das Kinn in die Faust. Auch diese beiden gehörten in das große Programm. Nicht als Personen, sondern als Nummern. Das ernste Spiel hatte begonnen.

Sein Sinnen schweifte zurück in die Vergangenheit. Jetzt vor wenigen Wochen hatte er vor seinem alten Onkel, dem Erbonkel, dem Edlen Freiherrn Mehrholm von Schwind gestanden. Der hatte ihm nach dem Abendessen im trauten Beisammensein die Hand auf die Schulter gelegt. »Attila! – Junge! – bleibe doch bei uns! – Sieh, Tante und ich, wir haben keinen größeren Wunsch!«

Sie waren seine einzigen Verwandten und kinderlos. Er hatte gelächelt. »Onkel, ich kann mich doch noch nicht vergraben! Und – das ist das Schlimmste: ich kann mich hier auch nicht nützlich machen! Gar nicht! Die Landwirtschaft –«

»Nein – davon verstehst du nichts! Das hast du aber auch nicht nötig. Ich halte mir den Inspektor weiter. Und seh' auch selbst nach. Aber: unsere alten Tage – und du bist der Letzte!«

»Ja! – und Attila –« war Tante eingefallen, »willst du denn gar nicht daran denken, dich – dich seßhaft zu machen?«

»Sie meint, dich zu verheiraten, mein Junge!«

»Ach, ich habe kein Vermögen.«

»Du hast Vermögen! Du hast es! Du weißt es doch!« hatte da der Onkel ernsthaft und nachdrücklich betont.

»Wenn schon! Ihr werdet Euch doch meinetwillen nicht aufs Altenteil begeben. Und wenn Ihr schon wolltet –«

»Wollen wir auch nicht. Wir können doch zusammen – du und deine Familie.«

Er hatte den Kopf geschüttelt. »Wozu habe ich etwas gelernt? Doch nicht, um es brach liegen zu lassen.«

»Nein – damit es dich erhält im Falle der Not. Wir hätten dich aber nie im Stich gelassen. Und wer konnte wissen, daß wir unsere beiden Kinder verlieren würden. Du bist Ingenieur geworden. Sieh', Ingenieur ist –«

»Nun, was ist es?«

»Ist doch nur ein Handwerk. Und du bist adelig.«

»Verträgt sich das nicht?«

»Wenn es doch nicht nötig ist!«

»Schon einer von uns ist Handwerker geworden, wie du es nennst.«

»Ja doch, ich weiß! Sogar Maler ist er geworden.«

»Nun, Mehrholm,« hatte die Baronin den Abtrünnigen verteidigt, »er ist aber trotzdem sein Lebtag ein anständiger Mensch geblieben!«

»Gebe ich zu. Und ich freue mich ja auch, wenn ich etwas von seinen Sachen sehe. Und sein Name hat einen guten Klang; aber den hatte er schon so wie so.«

Als er sich damals bei dieser Stelle mit der Hand über die Stirne gefahren hatte, wie um etwas wegzuwischen, hatte der alte Herr gemeint: »Sieh, Junge, es ist doch der verkehrte Weg. Die von den Bürgerlichen, die Hervorragendes, ganz Besonderes leisten, werden durch die Gnade ihrer Souveräne in Anerkennung ihrer Leistungen in den Adelstand erhoben, also dahin, wo wir schon stehen.«

Gegen diesen Feudalsinn zu kämpfen, war nicht möglich gewesen. Es hätte den alten Herrn auch nur betrübt, ohne ihn zu bekehren. Aber ganz und gar nicht durfte ihm angedeutet werden, welcher Aufgabe sich der Letzte seines Stammes nun schon seit langen Monaten gewidmet hatte, einer Aufgabe, die er zugleich zum Inhalte seiner ganzen Zukunft erhoben hatte.

Handschlag und Manneswort hatten ihm die Zunge gebunden. Aber hätte er auch sprechen dürfen, und hätte er mit aller Beredsamkeit, deren seine Liebe zur Sache, seine Bereitschaft bis zum Selbstopfer fähig gewesen wären, ihm ein umfassendes Bild, das Weltpanorama seines Vorhabens entworfen, der alte Herr, inkrustiert in Vorurteilen, hätte nur eine Rede gehabt: »Attila, ich bin in Trauer! Der Letzte unseres Geschlechtes wird ein Abenteurer!«

So aber waren sie auseinandergegangen mit warmem Händedruck. Und der letzte Satz? »Hier ist der Sitz der Väter! Wann immer du willst, zieh ein!« und das letzte Wort? »Kehre wieder!«

Ein gedämpfter Pfiff hallte an sein Ohr. Er sah nach der Zeit und nahm seine Sachen an sich. Sie bestanden aus einem doppelten und zwar in der Mittellage mit zähem Leder gefütterten Mantel und einem Stoßdegen. Der Zug rollte langsamer und hielt bald in der taghell beleuchteten großen Halle.

Baron Schwind stieg die Waggonstufen hinunter. Mit einem Blicke, der gleichgültig und zufällig erschien, sah er die Wagenreihe entlang.

Aus dem Fenster des Nebencoupés schob sich ein kleiner, höchstens zollgroßer runder Spiegel hervor, dicht am Fensterrahmen und für Augen, die nicht auf scharfer Wacht waren, kaum wahrnehmbar. Schwind wußte, daß ihn nur das im Nebenraum herrschende Dunkel hinderte, dem spionierenden Verfolger durch den Spiegel in die Pupille zu sehen.

Die Zahl der aussteigenden Passagiere war nicht groß. Er mischte sich unter sie und trat wie jeder andere durch die Hallen auf den großen freien Platz vor dem Bahnhofe. Das übliche Schreien und Anpreisen unbeachtet lassend und auf jede Hilfeleistung der Dienstleute und Träger verzichtend, begab er sich in die Stadt. Der Weg dauerte nur eine Viertelstunde, und er legte ihn ohne jedes Nachfragen zurück, da ihm die Straßen und Plätze nach Lage und Namen aus dem Studium des Planes geläufig waren.

In dem Hotel, das ihm durch die chiffrierte Instruktion zugewiesen war, ließ er sich ein Zimmer geben und untersuchte hier ungesäumt seine Apparate und Waffen. Er fand alles in Ordnung. Und als er sich darauf restauriert hatte, setzte er sich nieder und schrieb ein Billet. Er hatte nicht nötig, dem Texte besonderes Nachdenken zu widmen. Er schrieb ihn aus dem Gedächtnisse; denn auch der Inhalt des Briefes war vorgezeichnet worden. »Exzellenz! Es wird mir ein Vorzug sein, mich heute abend um halb zwölf bei Ihnen vorzustellen. – Fritz Rusart.«

Das Couvert versiegelte er mit Wachs und drückte ein Petschaft darauf. Die Prägung zeigte eine Eule, die auf einem zerbrochenen. Schwerte hockte.

Pünktlich um halb elf ließ er dann das Schreiben nach dem Präsidialgebäude bringen. –

Dort herrschte schon geraume Zeit eine vergnügte Stimmung. Eine Stimmung, die ein Nachklang ist, und die um so mehr innerlich wärmt, je feiner der Takt ist, der die Lustigkeit vorher unterdrückt hat. James York und Aménard waren schon seit fast einer Stunde nicht mehr anwesend, aber das fremdartige Element, das durch den Besuch in diese elegante Atmosphäre getragen worden war, hatte noch nicht aufgehört zu schwingen. Aménard wirkte nach. Selbst die ernste Brigitte konnte in der Erinnerung ab und zu ein Lächeln nicht unterdrücken. Er war zu komisch gewesen. »Schade um Nero!« sagte sie.

»Um Nero?«

»Ja, daß er draußen war; er hätte auch noch eine Verbeugung erwischt!«

Die Freifrau, eine geborene Mendelssohn, meinte endlich mit Bedauern, daß sich diese Art Glaubensgenossen wirklich nicht wundern dürfte, wenn man sie nicht ernst nähme. Und daß der andere, der ein charmanter junger Mann zu sein schiene, diesen mitgebracht habe, könne sie überhaupt nicht begreifen!

»Er ist übrigens ein auffallend hübscher Mensch!« sagte Brigitte.

»Hübsche Männer sind meist Affen!« Ferdinand erklärte das mit einer wegwerfenden Geberde.

»So ist er doch nicht!« verteidigte ihn Brigitte.

»In einer Stunde kann man einen Menschen nicht erkennen, und eine Stunde lang kann sich jeder verstellen. Laß ihn hübsch sein und laß ihn auch nicht affig sein! Mir ist er zu ironisch. Allerdings nur unter der Oberfläche. Man fühlt es doch heraus. Aber dir ist so etwas ja gerade sympathisch!«

Brigitte lächelte. »Man muß die Menschen einteilen in Instrumente für stille und in solche für vergnügte Stunden …«

»Instrumente sind sie bei dir also alle?«

»Ja, alle für alle! Und für vergnügte Stunden kann ich mir keinen besseren denken, als diesen andern; den alten meine ich.«

Seine Zähne gruben sich in die Lippen. »Das bist du wie du bist. Du verwechselst über und mit. Vergnügt über – ist nicht: vergnügt mit! Aber sie sind ja Instrumente! Nun, und der andere, der junge …?«

»Ach, der junge …!«

»Du hast ja eine ganz reizende Einteilung, Kindchen,« lachte die Tante. »Woher stammt denn die?«

»Ja, eine Über-Einteilung, Mama!« zürnte Ferdinand, »sie hat sie, weil andere sie nicht haben!«

Brigitte schüttelte den Kopf. »Ich meine, sie drängt sich von selbst auf! Was sieht man alles im Leben und in der sogenannten Gesellschaft. Wenn da ein Mann unterhält durch Geist, anscheinend Geist, und Witz, anscheinend Witz, – so ganz sicher bist du nie, daß er es nicht angesammelt hat, – mühsam; wie der andere die Schmetterlinge oder Mineralien, die er dann mit einem Male zeigt; oder wenn es nicht so ist, wenn er es in sich hat, dann weißt du nie, ob er sich nicht mit der Berechnung des Effekts abquält und ob er, wenn er einen Funken sprühen läßt, nicht in ängstlicher Ökonomie seinen Puls fragt, wann der zweite Schlager kommen darf; damit er für bestimmte Zeit mit seinem Vorrat reicht. Also Angst in der Lust! – Hier, bei diesem Aménard? Nix von alledem! Der braucht nichts zu sagen! Der braucht nichts zu tun! Er braucht nur zu fein! Wie er da steht – du mußt lachen! – du mußt!«

»Sie hat recht!« Der alte Herr legte sich behaglich in seinen Lehnstuhl, »er ist ein ganzes Inventar fürs Zwerchfell, vom Stiefel bis zur Stirn. – Aber leider, – und das ist mir die Hauptsache,« er wurde wieder ernst, »sind wir mit unserm Vorhaben nicht besonders weit gekommen. Dieser Herr York! Er ist nicht so dumm, als seine Schönheit vermuten läßt; die reine Sphinx! So viel wissen wir, daß die Firma ihre Instruktionen aus Hamburg erhält …«

»Und auch, lieber Vater, daß sie in keiner direkten Verbindung mit dem Chef steht, mit dem Erfinder.«

»Oder sie geheim hält!« warf Brigitte ein.

»Nun, Herr York wird sich finden lassen oder wiederkommen. Dazu, Ferdinand, mein Junge, scheint es mir ganz praktisch, wenn du auch einmal die Firma hier aufsuchst!«

»Geh ich mit, Ferdinand!«

»Den jungen, recht hübschen Mann wiedersehen?«

»Nein! Bilder kaufen und lachen.«

»Zum Lachen geht man doch nicht in einen Laden. Sind deine Mitmenschen denn alle dazu da, daß du über sie spottest oder sie auslachst, während sie ernst sind!«

»Nun denn, – nimm den andern Grund!«

»Welchen?«

»Wegen der Schönheit! Übrigens ist es mir nicht ganz leicht gefallen, ein ernstes Gesicht zu behalten. Daß ich es getan habe, darf ich mir bei dieser Karikatur als Verdienst anrechnen!« Sie drehte ihm den Rücken. »Onkelchen, mach' nicht solch finsteres Gesicht!«

»Ja, du sagst das! Aber je mehr ich nachdenke, um so weniger befriedigt mich der Besuch, – und ihr tändelt inzwischen im Zank!«

Die Röte des Unmutes stieg Brigitte in das feine Gesicht. Ihre Lider verengten sich, und zwischen ihre Augenbrauen grub sich eine tiefe Furche. »Wie sehr auf mir der Ernst des Lebens liegt, wißt ihr! – So bin ich das Lachen wenig gewohnt. Wenn ich dann einmal lache, freut's mich, wie es euch freuen könnte! – Und bei Ferdinand? Kann ich ihm gegenüber mich anders wehren als ›tändelnd‹, wie ihr das nennt? Ich will jeden Streit vermeiden! Ich will es!«

»Und du bist doch sonst immer für Kampf!« warf Ferdinand fast erschreckt durch diesen Ausbruch ein.

»Streit ist kein Kampf!«

»Ja – und,« er holte tief Atem, »Brigitte, dein Tändeln tut weh, ist kein Scherz!«

»Nein, eine Wehr!«

»Ich wollte dich nicht kränken!« Damit reichte er ihr die Hand hin.

Sie legte einen Augenblick die ihrige hinein. »Ich bin auch nicht gekränkt!«

Bekümmert trat er zurück. »Ich wollte, du wärest mir böse!«

Sie sah ihn erstaunt an.

»Ich meine,« vollendete er, »Du wärest nicht so schnell wieder gut!« Er trat ganz nahe an sie heran. »Und du legst noch ein paar Wochen zu. Du bleibst noch hier! Nicht? Eltern, helft mir doch!«

»Das kann ich nicht! Das weißt du ja so gut wie ich! Wir sind keine Lilien!«

»Du bist doch eine!« flüsterte er, nur ihr vernehmlich. Dann wandte er sich ab, denn ein Diener trat ein. Dieser überbrachte Schwinds Billet. Erstaunt ob der ungewohnt späten Sendung nahm der Freiherr das Couvert entgegen. Er sah auf das Siegel. »Das Wappen kenne ich nicht! Merkwürdig!« Als er gelesen hatte, sprang er mit einer Elastizität, die die anderen in Verwunderung setzte, auf und sah hastig nach der Uhr. »Nicht möglich!« rief er mit einem Gesichte, in dem Verblüffung und freudige Erwartung stritten. »Er kommt! Er kommt selbst!« Er hielt das Billet hoch.

»Wer? Wer?«

»Er!«

»Er?«

»Und heute noch! Nachher! Gleich! Hierher!« Er ging lebhaft auf und nieder. »In einer halben Stunde! Mitten in der Nacht. Diese Zeit! Dieser Mann! Es sind Umstände … und der Beweggrund geheimnisvoll wie die Umstände. Es kann nichts sein, und es kann viel sein.« Er trat wieder an den Tisch. Nachdem er lange und nachdenklich auf das Papier in seiner Hand gesehen hatte, las er den Text vor.

»Ein stolzes Billet!« meinte Ferdinand.

Sie starrten alle auf das Schreiben, als hofften sie, das Papier könnte mehr verraten, als die wenigen Worte, die geschrieben standen.

»Ein Mann ohne Floskeln! Aber – wie ist es hergekommen?« Der alte Herr schellte einem Diener.

Durch weiteres Nachfragen war nur zu ermitteln, daß ein unbekannter Bote das Couvert überbracht hatte und gleich wieder abgetreten war.

»Ich hätte mich gar nicht gewundert, wenn es durch den Kamin gekommen wäre!«

Brigitte nahm das Blatt hoch und studierte angelegentlich die Schriftzüge. »Das kommt von oben, und schreibt von oben!« meinte sie nach einem Weilchen. »Onkel, wir werden anwesend sein dürfen? Bitte!«

»Ferdinand jedenfalls! Ich will einen Zeugen haben!«

»Ach, dann können wir auch dabei sein!«

»Vielleicht ja! Ich weiß ja noch gar nicht, wie es sich entwickelt!«

Es wurde Vermutungen und Überlegungen aller Art Raum gegeben. Wo er in der Zwischenzeit gewesen sei, ob er mit dem Luftschiffe käme, ob er die Nacht hindurch bliebe, wo sein Luftschiff während des Besuches sich festlegen würde, wie sich die ganze Unterhaltung gestalten könnte, und ob – diesen Gedanken regte Brigitte an – ob es nicht möglich sein sollte, bei dieser wundersamen, gleichsam hereingeschneiten Gelegenheit auch einmal das Luftschiff zu besteigen und zu besichtigen. Während sich Gründe und Gegengründe jagten, und eine Vorstellung die andere verdrängte; während Brigitte vorschlug, schnell einmal auf das flache Dach zu steigen und Umschau zu halten und Ferdinand dies wegen der rabenschwarzen Finsternis als zwecklos hinstellte; während die Freifrau an Bewirtung und Fremdenzimmer dachte und der alte Herr in begreiflicher Erregung eine Reihe von Fragen vor sich aufmarschieren ließ, die er unbedingt stellen wollte und mußte, machte sich der Gegenstand ihres Interesses langsam auf den Weg.

Schwind wollte vor einem öffentlichen Café noch ein Exemplar des »Kosmopolit« erstehen. Sie waren aber alle vergriffen. Das letzte hatte eine halbe Stunde vorher Aménard gekauft, der mit James York desselbigen Weges gezogen war. Aménard war zufrieden mit seinem Besuche bei der Regierung. »Es war nichts passiert.« Und das zweite Mal wollte er sich beinahe getrauen, allein hinzugehen. Er sprach fortwährend. Er konnte es verlangen; als Entschädigung. Und er hätte wohl die Entschädigung mit hohen Zinsen einkassiert, wenn nicht James York, der von Anbeginn still gewesen war, ihm auf sein unausgesetztes lästiges Schwatzen endlich Schweigen geboten hätte. Ihm war der Redeschwall wie eine Brandung ans Ohr geschlagen; zischend und gurgelnd. Und peinigend! Er hatte einzelne Worte herausklingen hören: »Es läßt sich lernen alles, und dieses ist nicht schwer! Mit einem goldenen Bleistift in den Fingern drehen …«

»Seien Sie still!«

Ihn beschäftigte die junge Dame. Was war es weiter, als eine von den vielen; und nun war es doch so eine ganz besondere. Wo überall auf diesem Erdhaufen er sich schon Herumgetrieben hatte, vom Amazonenstrom bis zum Manzanares und vom Manzanares bis zur Wolga, – diese gab es nur einmal. Solche Augen, solches Haar, solches Gesicht hatte er noch nicht gesehen. Wie eine Madonna! Er schlug Aménard auf die Schulter.

»Sie sehen überall nur Geschäft! Sie alter Kerl! Sie armer alter Kerl!«

»Ich sage Ihnen, ich habe gesehen alles! Alles! und Sie sollen mich nicht schlagen auf die Schulter, mit welcher ich gewesen bin heute im Gedränge. Was habe ich nicht gesehen?«

»Schön wie eine Madonna!«

»Wer? – Die Junge? – Die Brigitte?«

»Sprechen Sie den Namen nicht so aus!«

»Werden Sie nicht wild! Wir sind auf dem Wege von einem Geschäft! Was wollen Sie wild werden? Ist nicht ein Name etwas, was jeder kann aussprechen?«

»Nein, nicht jeder!« James schüttelte ihn.

»Gott, du Gerechter! Hab' ich gesehen das Frauenzimmer eine Stunde und werde geschüttelt wegen ihr! Was kann noch werden?«

Er erhielt einen Stoß. In James' Augen lag Widerwillen. »Gehen Sie jetzt nach Haus, die Bilder haben Zeit bis morgen früh!« Damit drehte jener sich um und ging weg.

Aménard war überrascht. Er wollte ihm nacheilen, besann sich aber wieder. »Wenn der war in solcher Stimmung!« Blinzelnd ließ er sein Auge nach dem Davoneilenden spielen. »Er ist verliebt! Er soll sein verliebt! Aber nicht zu sehr, daß er wird dumm! … Madonna nennt er sie!« Er trottete weiter. –

Die Treppen, die James und Aménard vorher hinuntergestiegen waren, stieg Baron Schwind jetzt hinauf. Oben im Familienzimmer war die Meldung schon erfolgt. Die Uhr zeigte genau halb zwölf.

Der Oberpräsident ging nach dem Empfangssalon hinüber. Wie jeder andere hatte auch er sich Fritz Rusarts Bild im »Kosmopolit« mit intensivem Interesse angesehen; und so war er auf das Gesicht vorbereitet. Aber auch einem ganz bestimmten Benehmen und Auftreten sah er entgegen. »Sei sicher,« hatte sein Sohn gesagt, »wir werden etwas Gedämpftes zu sehen bekommen. Den Parvenu, der kein Parvenu sein will. So das Versteckte! Dem läßt sich schlechter begegnen als dem Bewußtseinsprotzen!« Er hatte ihm recht gegeben. Es war anzunehmen, daß es so sein würde. Auch aus der ganzen Haltung des »Kosmopolit«. Brigitte hatte mit den Schultern gezuckt und geschwiegen. In Unbehagen. Dergleichen »Diagnosen aus der Dunkelkammer« waren ihr zuwider. Man konnte warten und man würde ja sehen. Daß bei der Position, die dem Manne durch seine verblüffende und umwälzende Erfindung gegeben war, nicht alles normal und nach Schema erscheinen würde, ja, daß vielleicht eine Dosis Protzentum unterlaufen würde, – sie wollte es nicht leugnen – aber damit rechten? Und noch war keine einzige Handhabe zu einem solchen Urteil gegeben. Sie verstand nur nicht, daß der Mann überhaupt hierher kam. Wenn sie in seiner Lage wäre, – auf die Bitten eines Oberpräsidenten hin, – nein! Was mochte er sich von dem Besuche versprechen? Oder sollte es doch so sein: Ein Erfinder, ein Ingenieur, ein Mann, der mit Hand und Kopf arbeitete, der die Hochschule genossen hatte, aber doch durch Handwerkstätten gegangen war; der den Kittel hatte tragen müssen; dessen Hände und Gesicht vielleicht manches Mal den Schmutz der Arbeit hatten aufweisen müssen: sollte der die Gelegenheit ergreifen, in eine Familie hineinzuschneien, nur, weil er wußte, sie gehörte zu den ersten des Landes? Sollte er so wenig wissen, was er war durch sich selbst? Es würde ihr sehr leid tun. Dann war er in einer Beziehung doch nur Knecht.

Es würde sich bald zeigen. Sie hörte die gedämpften Schritte herüberkommen. Der Diener schlug die Falten zurück.

Alle waren gleichermaßen überrascht, als der alte Herr seinen Gast hereinführte. Eine große Gestalt, ebenmäßig in der Form; fern von allem Massigen und doch mit Eigengefühl daherschreitend. In dem Ernste, mit dem er sich ohne Zögern, aber auch ohne jede Hast an die Frau des Hauses wandte, lag etwas Gewinnendes. Seine Verbeugung zeigte die Ehrerbietung eines Mannes von Selbstbewußtsein, und nichts an ihm ließ daraus schließen, daß die ihm sicher ungewohnte Pracht des Raumes und die Anwesenheit von Frauen, deren Zugehörigkeit zu der besten Gesellschaft er kennen mußte, ihn genierte oder verwirrte.

Er küßte der Oberpräsidentin die Hand. »Exzellenz! es sei mir in Gnaden gestattet, vorerst für diese nicht landesübliche Stunde des Besuches um Entschuldigung zu bitten. Gestützt auf die liebenswürdige Erlaubnis des Herrn Oberpräsidenten …«

Lächelnd fiel sie sofort ein: »Die Gäste meines Mannes, Herr Rusart, sind Gäste des Hauses, zu jeder Stunde.«

Der Oberpräsident übernahm schnell die Vorstellung seines Sohnes und seiner Nichte. Dann trat er vor seinen Gast und ihm beide Hände reichend, begrüßte er ihn zum zweiten Male; nun mit jener Courtoisie, die feine alte Leute so bestrickend macht: »Meine Frau, wie ich, wie wir alle, sind Ihnen dankbar, daß Sie Ihre Zusage so schnell wahrgemacht haben. Seien Sie uns nochmals von Herzen willkommen.«

Schwind verbeugte sich und erwiderte den Händedruck. »Wie immer ich mich mit der jetzigen Pause auf meinem Wege abzufinden haben werde, – ich werde nicht vergessen, daß ich, wenn auch nur flüchtige Minuten, in einer Familie, in einem Heim gewesen bin!«

»Wenn man es hört,« die Freifrau bot ihm einen Platz an, »möchte man beinahe Bedauern über eine Erfindung haben, die Ihnen die Heimat nimmt …«

»Nun, nun,« schwächte der Ober-Präsident ab, »Kosmopolit heißt Weltbürger, heißt überall heimisch.«

»Und überall heimisch, heißt ruhelos!« Schwind sagte das mit einem Tone, dem jedes Gefühl fehlte, Bedauern, wie Sehnen. In dem Spruch, wie er ihn hinwarf, ernst und ohne besonderen Akzent, lag das Fazit eines Rechenexempels.

Der alte Herr strich sich mit der feinfingerigen Hand über die Augenbrauen. »Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, werter Gastfreund?«

Und Baron Schwinds Zustimmung aus seinem Gesichte lesend, fuhr er fort: »Es ist alles so wunderbar, so märchenhaft, Sie sitzen hier mitten zwischen uns – –«

»Wie der Schnee in der Maiennacht!« unterbrach ihn Schwind, ohne zu ahnen, daß er einen anwesenden Lyriker persistierte.

»Nicht doch!« Der alte Mann lächelte zu seinem Sohne hinüber. »Aber nicht einer ist unter uns, dem nicht das Herz übervoll von Fragen wäre, Fragen, von denen man in Interesse und Wißbegier nicht weiß, welche zuerst tun; von denen die eine die andere immer übersprudeln möchte – – aber trotzdem: zu Ehren der Überlieferungen der Gastfreundschaft: lassen Sie uns auch mit keinem Worte das streifen, was uns und alle Welt heute bewegt! Es hieße, einen Gast belästigen – –«

Schwind hob die flache Hand. Sein Gesicht zeigte ein Lächeln; aber selbst in diesem Lächeln war der Ernst noch vorherrschend. »Nicht so, Exzellenz! Ein Besuch ist keine Offenbarung! Aber stellen wir auch keine unmögliche Aufgabe! Das dritte Wort wäre doch die ›Pax‹; das erste ›Woher‹, das zweite ›Wozu?‹ Über jedem Satz, der gesprochen würde, schwebte ein anderer. Einer liebenswürdigen Familie einen solchen Zwang auferlegen, wäre Undank und hieße die Danaiden modernisieren. – Und wenn Ihnen das Beruhigung gibt: mein liebstes Thema ist ›mein‹ Thema.«

»Nun denn,« der Oberpräsident legte sich dankbar und fröhlich gestimmt in den Sessel zurück, »zuerst die Elsafrage: woher?«

»Sie haben die ›Pax‹ nach Osten schwimmen sehen. Ich komme von Osten. Sie gehen nicht fehl, wenn Sie einen Rekognoszierungsritt annehmen.«

»Einen in der Luft! Und wie sind Sie auf die Straße gelangt? Mein Sohn – er wies hinüber, »in begreiflicher Erregung über Ihr Billet wollte er auf die Plattform unseres Daches steigen, um Ihre Ankunft beobachten und zuerst melden zu können. – Es ist eine Art Fieber im Hause …«

»Verzeihung, Papa, den Vorschlag machte Brigitte. Ich – im Gegenteil …«

»Ach, richtig! Brigitte war es …«

Schwind wandte sich an diese: »Mein gnädiges Fräulein, Sie interessieren sich auch für die Technik und ihre Versuche?«

»Die Zeiten, da Bertha spann, sind vorüber. Heute an der Technik vorübergehen, ist doch mutwillige Blindheit!«

»Ein Satz, den ich, von einer Dame gesprochen, bewundere; zu dem ich aber nicht Stellung nehmen möchte, weil ich zu sehr Partei bin!«

Dem Präsidenten brannte schon das Feuer auf den Nägeln. Wenn Brigitte vorher darauf hingewiesen hatte, es könnte vielleicht möglich sein, die »Pax« nahe zu sehen oder gar zu besteigen, so war in ihm derselbe Wunsch nicht weniger heftiger. Aber es galt doch, vorsichtig zu sein. Der erste Blick in dieses eigentümliche Auge hatte ihm das Gefühl eingegeben, als ob es hier Mauern gäbe, gegen die jeder Ansprung verfehlt wäre. Und dieses Gefühl war wieder sehr lebendig geworden durch die letzten Worte. Sein diplomatisches Feingefühl sagte ihm, daß der Gast trotz des Konzilianten in der Form die letzte Frage, »auf welche Weise er hierher gelangt sei,« absichtlich umgangen habe. Sie also nochmals stellen, hieße etwas verderben. So mußte er erst neutralen Boden gewinnen.

»Ich habe mich schon gefragt,« meinte er laut, »ob denn jeder, den der Zusammenhang mit Ihrer Erfindung auf Ihr Fahrzeug bannt, auch zu Luftfahrten geeignet ist; ob er frei von Schwindel bleibt.«

»Nun, die Gewohnheit tut darin wohl einiges. Im übrigen, wie Sie wohl auch aus dem ›Kosmopolit‹ ersehen haben, Exzellenz, ist niemand gezwungen, die Tiefe mit den Augen abzumessen. Die ›Pax‹ trägt rings herum Spiegel.«

»Gerade die, sollte ich meinen, vermehren das empfindliche Gefühl. Denn sogar vom sichersten Platze innerhalb des Fahrzeuges, soweit ich mich orientiert erachten darf, sieht man durch sie in die Tiefe.«

»Ganz recht, aber die Beobachtung hat gelehrt, daß die Materie des Spiegels, – also der Spiegel an sich, wie unser deutscher Philosoph Kant sich ausgedrückt hätte – die Tatsache, daß man dicht vor sich das greifbare Glas hat, der Schwäche entgegenwirkt. Und zudem – Schwindel ist Schwäche, und diese Schwäche läßt sich durch Selbstzucht abgewöhnen. Sehen Sie über Bord eines Ozeandampfers, eines der ungefügen Riesen, die hundert Fuß vom Wasserspiegel ihr Promenadendeck haben, und denken Sie daran, welche Tiefe Sie unter sich haben bis zum Meeresgrund, ohne sie zu sehen. Nichts anderes zuguterletzt als von Bord der ›Pax‹ in den Wolken. Und bei klarer Aussicht, wenn Sie die ganze Entfernung abmessen können, ist die Aussicht viel zu sehr jedes Interesse anspannend, als daß für Schwächen Platz wäre. Das wird auch überwunden wie die Seekrankheit – und bedeutend schneller. Überdies sind die Spiegel keine Medizin, sondern ein Schutz. Bei den außerordentlichen Geschwindigkeiten sind sie das beste Mittel, die unter den Füßen fliehende Außenwelt zu beobachten, ohne sich dem fegenden Luftstrom auszusetzen …«

Brigitte unterdrückte gewaltsam die Erregung, die das Wesen Schwinds, seine vornehme, kühle Art zu sprechen und seine Ruhe in der Behandlung eines so die Nerven anspannenden Themas in ihr hervorgerufen hatte. »Ich wollte wirklich, ich könnte einmal eine solche Fahrt mitmachen. Es muß herrlich sein. Und es wird ja wohl auch einmal so weit kommen.«

Alle lachten, bis auf Schwind.

»Meine Cousine meint fraglos wegen der Spiegel!« Ferdinand wollte den »direkten Anschnitt«, von dem er wenig erbaut war, hinwegscherzen.

»Ganz recht!« ließ sie ihn aber sofort abfallen, »nur wegen der Spiegel, durch die man nie sich selbst sieht!«

Schwind sah vom einen zum andern. Der Mann machte den Eindruck eines Träumers. Ein übersichtiges, verschwimmendes Auge; aber doch mit einem Zuge im Gesicht, der von steter Angst sprach. Vielleicht war er ein unglücklich Liebender. Und sie sah aus wie Scheherazade. Die, welche den andern mit Märchen über die Stunden täuscht. Sie war auch schön, wie Scheherazade gewesen sein mußte. Aber der Mann konnte ruhig sein. Er hatte wenig Zeit gehabt für Frauen und nie Sinn für Märchen. Und wenn der andere hier augenscheinlich als nervöser Hüter eines Schatzes saß – darüber konnte er ruhig sein: Attila von Schwind kam ihm nicht ins Gehege. Nur mutete es ihn peinlich an, daß ein Mann sich so wenig im Zaume hielt. Ihr Wunsch war nach Sachlage und Gelegenheit doch durchaus natürlich. »O,« sagte er, »nicht nur irgendeinmal, – sondern in gar nicht zu ferner Zeit wird es so weit kommen. Nur muß, da die Erfindung für die Welt ist, die Welt erst gesprochen haben.«

Bei diesem Satze Schwinds griff der alte Herr zu; aber er bemühte sich, den Inhalt seiner Worte durch einen gewissen Salonklang abzudämpfen.

»Es ist doch eigentlich, um kaufmännisch zu sprechen, noch kein Angebot erfolgt, Herr Rusart!«

»Von wessen Seite, Exzellenz?«

»Nun von Ihrer, des Erfinders Seite!«

»Wer davon spricht, wird sich fraglos auch ein Bild von der Form des Angebotes gemacht haben, Exzellenz!«

»Nein!« Der Oberpräsident schaute ihm sinnend in die Augen, »nur einen Versuch dazu! Einen erfolglosen!«

»Dann kennen Sie kein Äquivalent?«

»In der Materie nicht! Und sentimental? Welcher Erfinder ist sentimental! Es gibt unkaufmännische und unpraktische Erfinder; – aber sentimentale?«

»Die Forderung eines Gefühls kann unter Umständen jede mögliche materielle Leistung übersteigen. Aber es handelt sich doch um anderes: Was der Allgemeinheit im weitesten Sinne dienen kann und auch dienen soll, – belieben Sie zu hören: auch dienen soll! – muß von der Allgemeinheit taxiert werden. Nicht Partikularismus, sondern Kosmopolitismus; nicht das Zugreifen eines einzelnen, sondern das Interessiertsein der Allgemeinheit; nicht Konkurrenz der Staaten, sondern Konferenz der Staaten hat geboten zu erscheinen!«

Der Oberpräsident hatte jedes Wort begierig aufgesogen. Er zweifelte nun keinen Augenblick mehr daran, daß der Mann, der vor ihm saß, Satz für Satz mit programmatischer Absicht ausspräche; und gewillt, aus diesem Programm die Offenbarung, die jener vorhin abgelehnt hatte, herauszuschälen, sah er sich schon als verdienstlichen Vermittler und als gefeiertes Bindeglied zwischen dem Erfinder und der übrigen Welt.

»Meinen Sie aber,« fragte er, »daß in diesem einzig dastehenden Falle eine Konferenz einig werden könnte?«

»Die Konsequenzen einer Uneinigkeit würden auf die Konkurrenz hinauslaufen.«

»Und die Konsequenzen einer Konkurrenz?«

»Würden, wofern der Besitz der Erfindung als unter allen Umständen erstrebenswert erkannt wäre, und wofern der Erfinder – gestatten Sie, daß ich in der dritten Person spreche – nicht geneigt ist, sie einem einzelnen oder einer Partei auszuliefern, ihm den Schutz gewähren, der das Fortleben des kranken Mannes am Bosporus, die Existenz der Schweiz, den Luxemburger Thron sichert!«

»Und Sie oder – wenn Sie wünschen – der Erfinder wird niemanden zwingen können!«

Schwind beugte sich vor. »Es soll das wohl eine Frage an mich sein, Exzellenz?«

»Nun, es wäre mir angenehm, wenn Sie aus meiner Behauptung eine Frage machten, – ohne sich belästigt zu fühlen.«

»Keineswegs! – Also – der Erfinder als Einzelwesen könnte die Einigkeit erzwingen oder nicht – man kann es dahingestellt sein lassen. Er unterscheidet sich von den eben erwähnten Staaten, Balkan, Schweiz, Luxemburg durch ein ganz wesentliches Moment: jene sind stabil, bestenfalles! – er wächst! – Und es wird ihm wenig daran liegen, eine Arbeit zu tun, die, wenn schon Interessen vorhanden sind, mehr in den gegeneinander ausgespielten Interessen der anderen liegt!«

»Nun – und? Woher soll dann die Einigkeit kommen, wenn die andere Partei – die Gesamtheit nicht einig wird?«

»Der Zwang zur Einigkeit besteht! Er besteht!«

Der Oberpräsident runzelte die Stirn.

»Er besteht im Wachsen des Erfinders!« fuhr Schwind kühl fort, »und in seiner Ablehnung jeder Partei!«

»Das Ablehnen jeder Partei halte ich für die Schwäche des Erfinders!« entgegnete der Oberpräsident, empfand aber einen tödlichen Schreck, als er seinen Gedanken in laute Worte gekleidet hatte.

»Scheinbar,« antwortete Schwind, dem ebensowenig wie den anderen das Stutzen des alten Herrn entgangen war. »Sicher nur so lange, bis er der Gesamtheit gewachsen ist. Und daß dieses Wachsen niemand, nicht der einzelne, nicht die Partei, nicht die Gesamtheit hindern kann, ist Sache des Erfinders. Und es bedeutet keine Mühe für ihn.« Zum ersten Male am heutigen abend klang leise ein Stolz durch seine Rede. »Aber«, fuhr er fort, »die Staaten könnten die Einigkeit erzwingen. Zwei gegen den dritten; drei gegen den vierten. Noch hat es keine Konföderation gegeben, bei der es nicht Unzufriedene gab. Und doch war es eine Konföderation. Der moderne Staat, dessen Begrifflichkeit jedem von uns so nahe liegt, dessen erschöpfende Erklärung in gegossenen Buchstaben bei seiner Kompliziertheit so außerordentlich schwer ist, steht und fällt mit seinen Finanzen. Und die Finanzen eines Staates bestehen aus seinem Vermögen, seinen Schulden, seinem Kredit. Die politische Wehrfähigkeit eines Staates ist seine finanzielle Wehrfähigkeit. Lassen wir die Einnahmen aus direkten Steuern beiseite: aber Post, Eisenbahn, Zoll, Schiffahrtsabgaben, sie alle sind wichtige Ziffern auf dem Kredit-Konto gegenüber der übrigen Welt. Und wenn bei Einführung der neuen Erfindung die Einnahmen aus Post, Eisenbahn und Schiffahrt fürs erste in das peinliche Gebiet der sonst einem Finanzminister unbekannten und in das Gebiet der Gefühle gehörenden Imponderabilien hinüberschwanken, werden die Zölle vollständig ausradiert. Ein kurzer Blick auf die Erfindung und ihren Einfluß auf die Umgestaltung der Dinge zeigt, daß, sobald die Welt aus der Kontrolle über die Fläche in die Beherrschung des Kubus tritt, der Begriff »Zoll« ein Unding ist.

»Der Staat nun, der ohne Einsicht und Voraussicht sich vom allgemeinen Zusammengehen ausschließt, – der wird auf seinen Ruin hinarbeiten. Und wenn der Handel mit Ländern an den Börsen zugelassen wäre, würden mit solchen Ländern nur die Spekulanten à la baisse ein Geschäft machen!«

Der Oberpräsident hatte Mühe, seiner inneren Erregung Herr zu werden. Der da vor ihm saß, sprach diese fürchterlichen Sätze mit einer Ruhe aus, die, ohne in den Plauderton zu verfallen, doch eine gewisse elegante Gleichgültigkeit an sich trug. Und etwas Tigermäßiges; das Spielen der Kraft.

Brigitte hatte während der ganzen Zeit kaum das Auge von Baron Schwind gewandt. Sie konnte es tun, ohne gegen den guten Ton zu verstoßen; denn die eine direkte Anrede ausgenommen, hatte Schwind sie nur einige wenige Male und dann ganz flüchtig angesehen. Er war wirklich der erste Mann, der nichts nach ihrer Schönheit fragte. Sie wußte nicht recht, woher es kam, daß sie sich über ihn und sein Auftreten freute und auch darüber, daß er ihrer Voraussetzung und Hoffnung entsprach. Würde ohne Affekt, Stolz ohne Hochmut! Sein Ernst war nicht gemacht, seine Liebenswürdigkeit nicht süßlich und seine Rede ohne Phrasen. Es war nicht genug, um einen Menschen zu taxieren, aber es war genug, um an einem Manne Eigenschaften auszuschließen, die ihr besonders fatal waren. Ein einziges Mal war etwas von seinem Machtbewußtsein zum Durchbruch gekommen: bei jener Stelle, als er erklärt hatte, nichts könnte ihn auf dem Wege zur Größe hindern.

Er hatte die Worte mit mehr innerlichem Leben als alles andere gesprochen. Ohne Anmaßung und ohne Drohung; aber selbst wenn eins von beiden in ihnen gelegen hätte, sie hätte diese Worte nicht missen mögen. Auch das gehörte allerwegen zum Manne, daß er wußte, wieviel er wert war.

Der Diener reichte Erfrischungen herum. Schwind beugte sich vor der Freifrau, dem gastfreien Sinne des Hauses den Trunk widmend. Der alte Herr sprang sofort ein. »Ich bringe dieses Glas«, sagte er, »einem Manne, der, so wichtig er werden mag für die Entwicklung, – eine so einzige Stelle er in dem einnehmen mag, was wir das gigantische Ringen um die Beherrschung des Erdballes nennen, der, bei der Wichtigkeit seines Ichs, doch das Vertrauen zu uns gehabt hat, sich allein, ohne Schutz und Trutz, in unsere Mitte zu begeben!« Er hielt Schwind sein Glas hin. Alle waren aufgestanden, um mit ihm anzustoßen.

»Mit nichten!« sagte Schwind und trank zurücktretend sein Glas aus. »Am höchsten steht die Schöpfung, die ihres Schöpfers nicht bedarf! Meine Sache ist nicht wie ein Geschlecht, das auf zwei Augen steht. Wer mich hat, hat nichts. Nicht nur in übertragenem, auch in figürlichem Sinne.« In seiner gleichgültigen Sprache war ein leiser Hauch von Schärfe nicht zu verkennen. »Man lehrte mich, daß ich von Staube wäre und zu Staube würde! – Wer mich anfaßt, wird mit mir zu Staub!«

Die anderen sahen ihn stumm und verständnissuchend an. Da tat er ein paar Schritte ins Zimmer hinein, und ohne dem Umstande Beachtung zu schenken, daß er dadurch in die Nähe Brigittens kam, schob er seine Manschetten ein klein wenig vor, so daß die goldenen, in der Mitte mit einer Spitze versehenen, gewölbten Knöpfe sichtbar wurden. »Ich trage eine Summe von Elektrizität bei mir, die die Kraft jedes einzelnen bricht. Ich kann sie nicht nur entladen; ich kann sie auch ohne augenfällige Bewegungen regulieren. Genehmigen Sie die Probe!«

Mit Ausnahme von Brigitte waren die anderen unwillkürlich mit einem Gefühle furchtsamer Unsicherheit zurückgetreten, und ehe noch irgend jemand Zeit zu einer Äußerung fand, hatte er seine Arme ins Zimmer gestreckt, seine Hände gefaltet und dabei die goldenen Knöpfe einander genähert. Mit scharfem Knall sprang der blaue Funke von Gelenk zu Gelenk.

Ferdinand riß Brigitte zurück. »Weshalb??« fragte sie ihn, in Stimme und Haltung nicht verhehlend, wie wenig sie mit dieser Sorgsamkeit für ihre Person einverstanden war.

»Ich bedaure, Ihnen einen Augenblick der Ängstlichkeit verursacht zu haben …«

»Mir nicht!« verteidigte sich Brigitte.

»Nein, dem Herrn Baron!« Schwind wandte sich an alle. »In diesem Heim stehe ich der Kultur gegenüber. Ein Experiment ist keine Tat. Ich kann auch in die Hände der Unkultur fallen. Die Fähigkeit zum Sterben haben wir alle. Ich muß die Möglichkeit eines schnellen Sterbens haben! Dies hier –«, er strich mit beiden Händen in der Luft vor seinem Körper herunter, »die ultima ratio! Und! wenn ich nicht bin, – was ich erfunden habe, lebt!«

Sein Auge suchte die große Standuhr. »Jetzt aber –, darf ich mit einem Dank für die flüchtige Stunde eine Bitte aussprechen: Die ›Pax‹ ist da! Befehlen Sie, Exzellenz, meine Garderobe nach dem Balkon zu bringen? Ich möchte von dort einsteigen!«

Er sah in weit geöffnete Augen, und seine Worte begegneten maßlosem, fast verwirrtem Erstaunen. Ohne zu beachten, daß die vier Mühe hatten, sich von ihrer Versteinerung frei zu machen, schritt er hinüber zu der Freifrau, küßte ihr die Hand und wollte sich dann zu Brigitte wenden, um Abschied zu nehmen. Diese aber legte die Hände auf die hochatmende Brust. »Wir kommen mit nach dem Balkon!« stieß sie hervor, »oder dürfen wir nicht?«

Nun zog ein feines Lächeln um seinen Mund. »Wie kann ich, – der Fremdling! – –«

»Der Herr über alles!« hauchte sie, kaum verständlich.

Man ging hinüber nach dem Teil des Hauses, in dem die Diensträume lagen. Je mehr man sich ihnen näherte, um so kälter wurde die Ausstattung. Die Tritte hallten durch die langen und hohen Korridore. Es war alles schweigsam; aber der einzige Kühle war Schwind. Den anderen schlug das Herz in der Brust wie ein Hammer. Sollten sie dieses Wundergeschöpf also doch zu sehen bekommen!

Der Diener, der Schwind in die Garderobe geholfen hatte, wollte auf des alten Herrn Geheiß die großen Leuchter auf den Balkon bringen. Schwind lehnte es ab. »Still, wie ich gekommen bin!« meinte er. Die Türflügel öffneten sich und man trat hinaus. Mit suchenden Augen und tastenden Füßen. Brigittens Lider zitterten. Unten auf dem Platze brannten die Laternen und Kandelaber. Aus den Fenstern der umliegenden Gebäude drang hier und da noch ein Lichtschein heraus. Sonst lag der weite Platz verödet da; kaum, daß noch vereinzelte Stimmen verspäteter Nachtwandler durch die Stille drangen. Der Himmel war in tiefe Finsternis gehüllt.

»Sie würden,« meinte Schwind leise, »vergeblich suchen! – Sechzig Meter über uns hängt die ›Pax‹, und dort«, er wies in eine Ecke des außerordentlich großen balkonartigen Vorbaus, »ist mein Fahrzeug!«

Sie gingen hinüber und standen vor einem kastenförmigen, anscheinend stählernen Rahmen, dessen Umkleidung zufällig die gleiche Höhe mit der Balkonmauer hätte. So war es gekommen, daß ihnen der Gegenstand entgangen war; denn der Oberbau bestand nur aus vier gegeneinander verankerten dünnen Stäben. Die eine der dichten Wände ließ sich zum Eintreten öffnen. Von dem oberen Quadrat stieg ein Drahtseil in die Luft. Seinen Lauf zu verfolgen, war selbst für durstige Augen unmöglich. Es tauchte nach oben in die Nacht.

Schwind klinkte die kleine niedrige Türwand auf. »Wie eine Sänfte!« setzte er auseinander, »nur mit dem Unterschiede, daß man in dieser hier stehen muß, und daß ihre Polsterung außen liegt. Gegen den Stoß auf den Boden und gegen seitlichen Anprall. – Sie hat noch etwas Unangenehmes: Das ist die Drehung, die der Draht ab und zu macht. Es sind ja aber stets nur kurze Fahrten.«

Er reichte allen die Hand, überall kam ihm heißes Blut entgegen. Dann trat er in die Hängesänfte.

»Und ein Wiedersehen?« fragte der alte Herr.

»Ich gehe jetzt auf einige Zeit hinüber, nach meinem Deutschland. Nach dem Harze, Exzellenz.«

»O, der Heimat meiner Nichte! Sie siedelt in den nächsten Tagen wieder über.«

Schwind sah Brigitte fragend an. Sie erwiderte den Blick, ohne die Lippen zu öffnen.

»Das Wiedersehen mit jedem Mitgliede einer so liebenswürdigen Familie wird mir immer ein Vorzug sein. Und wenn nicht, bitte ich um ein gutes Andenken.« Er zog an einer Schnur und bat die anderen, etwas zur Seite zu treten. Die Sänfte schurrte ein halbes Meter über den Balkon. Schwind lüftete noch einmal den Hut. Dann wurde er in die Luft getragen.

Die vier sahen nach oben. Ihm nach. Die Umrisse wurden schnell schwächer. In kurzer Zeit mischten sich die schwarzen Tinten.

»Wie ein Märchen aus ›Tausend und eine Nacht‹« Ferdinand sagte es, indem er sinnend die Arme über der Brust kreuzte.

»Ja,« antwortete der alte Herr, »nur ist's kein Märchen.«

Brigitte war still. Sie konnte ihre Augen immer noch nicht von der Höhe abwenden. Suchend irrten ihre Blicke in der Finsternis entlang. »Er mochte wohl schon auf seiner ›Pax‹ sein.« Tief hob sich ihre Brust. Dann drehte sie sich kurz entschlossen um und ging in den Saal zurück.

»Es ist ihr zu kalt hier draußen – und für uns auch!« Der alte Herr folgte mit den übrigen und legte allen nahe, ihr Lager aufzusuchen.

Er selbst setzte sich an seinen Schreibtisch und schrieb. Er schrieb die ganze Nacht. Seite um Seite bedeckte sich mit Buchstaben. Von Zeit zu Zeit stand er auf. Er war sich bewußt, kein Wort zu schreiben, das von der lauteren Wahrheit abwich; und doch konnte er sich der Besorgnis nicht erwehren, daß über seiner ganzen Arbeit der Schein des Abenteuerlichen, Märchenhaften liegen würde. Auch wußte er, daß eine alte, sonst bewährte Erfahrung ihn hier trügen würde: die mit erregten Nerven und in der Stille der Nacht gefertigte Niederschrift würde morgen – auch unter dem grellen Lichte der Sonne – genau dasselbe Gesicht tragen. So mußte, zu seiner eigenen Rechtfertigung, sein strengstes Streben sein, daß das eine Gefühl, das immer schattenhaft mitwogte, nicht zum Ausdruck kam: das Gefühl, daß er selbst eine weithin klingende Saite in diesem Spiele mitspielte. Er kämpfte um die nackte Sachlichkeit – und es wurde immer wieder wie ein Traum.

Attila von Schwind war hundert Meter in die Luft gehoben worden. Dann trug ihn die »Pax« über die Stadt hinaus in die Felder. Eine gute Wegstunde von dem Aufstiege entfernt, ließ Fritz Rusart den Scheinwerfer spielen, ohne seinen unter ihm hängenden Kameraden in den Bereich des Lichtkegels zu bringen. Sobald er sich über die örtliche Lage orientiert und gefunden hatte, daß er sich an der beabsichtigten Stelle befand, brachte er die »Pax« zum Sinken und setzte Schwind wenige Kilometer vor der nächsten Eisenbahnstation mitten auf einer Chaussee sanft nieder. Auf das von unten gegebene Signal stieg die »Pax« wieder, das Seil mit der leeren Sänfte einholend, und Schwind wanderte den Lichtern zu, die ihm von ferne die Stadt wiesen; dieselbe Stadt, an welcher er heute abend ohne Aufenthalt mit dem Expreßzuge vorübergefahren war.

Er überschlug den Verlauf der letzten Stunden. Die Gestalten der beiden Verfolger waren seinen verstohlen forschenden Blicken nicht entgangen. Er hatte sie, jede für sich gedeckt durch Säulen- und Estradenschatten, bemerkt, ehe er in das Haus des Oberpräsidenten eingetreten war. Wie schnell sie seine Spur wiederfinden würden, daran würde er ermessen können, wie breit ihre Operationsbasis war.

Die Ausführung des ihm gewordenen Auftrages dem Oberpräsidenten gegenüber konnte er als gelungen hinstellen. Geradesoviel hatte jener erfahren, als nötig war, um bei verständiger Weitergabe der Unterhaltung der anderen Partei klarzumachen, daß es seinerzeit geboten sein würde, die Aktivität nicht auf seiten des Erfinders zu suchen. Und der Oberpräsident war ihm als ein verständnisvolles Sprachrohr erschienen. Mit der Fähigkeit, auf die Sache einzugehen, hatte er das diplomatische Geschick verbunden, auf Fragen zu verzichten, von deren Beantwortung er die Überzeugung haben mußte, daß sie umgangen werden würde. Auch gab der Aufenthalt in der Familie der Absicht den Schein der Gelegenheit.

Seine stark ausschreitenden Schritte brachten den einsamen Wanderer bald in die stillen Straßen der Stadt. Trotz des Umstandes, daß er, ohne jemanden zu fragen, leicht eins der ihm bezeichneten Gasthäuser hätte erreichen können, zog er es vor, die wenigen Stunden bis zum Passieren des Frühzuges in dem Wartesaale des Bahnhofes zuzubringen.

* * *

Brigitte hatte sich halb entkleidet auf ihr Lager geworfen. In ihr, der jede Aufmerksamkeit überlästig war, hatte es einen Sturm entfacht, daß gerade dieser Mann über sie hinwegsah. Sie hatte das Gefühl, daß die Beachtung ihres Äußeren bei ihm der Weg gewesen wäre, daß er auch zur Entdeckung ihrer inneren Fähigkeiten gelangt wäre. So sehr es ihr an ihm gefiel, daß er auf Larven und Masken nichts gab, sie empfand es doch beinahe als eine stechende Zurücksetzung. – Wer weiß auch, wie er überhaupt über die Frauen dachte! – Und wenn auch! An jedem Manne, der schlecht von Frauen denkt, sind nur Frauen schuld. Das Urteil war richtig zu stellen, der Glaube war zu heilen, wenn die kam, die anders war, als seine Erfahrungen.

Sie besaß einen brennenden Ehrgeiz, und sie hatte mit ihrer Äußerung zu Ferdinand recht gehabt: »Ich bin keine Lilie!« Die da nicht säen und nicht ernten! – – Ein armer Seitenzweig der reichen Mendelssohns! Sie wollte heraus aus einer Misere, die nur in den Augen der anderen keine war. Zur Lilie fehlte ihr das Talent. Sendungen aus Hamburg, Berlin, Brüssel an ihre Mutter empfand sie immer als Almosen. Nun war der erste Mann erschienen, zu dem sie sich durch ihren Verstand und ihre Forderungen an das Leben hingezogen fühlte, dessen gesamtes kühlbewußtes Auftreten ihr imponierte, dessen Zukunft ein Meer von Licht war.

Namen, die durch die Geschichte klingen, sind sie nicht auch von Frauen begleitet? – Und was war ein Name! Der Träger schafft ihn. Mendelssohn! – Mein Gott! – Mendelssohn! – Fritz Rusart! – Wer hat von ihm vor Wochen gewußt! – Niemand! – Und heute hallt er durch die ganze Welt! – Und eine ganze Dynastie, die die Träger ihrer Namen auf die Gipfel der Generationen stellt, ist manchesmal nicht so viel wert wie ihr erster Begründer, der aus dem Dunkel auftauchte.

Fritz Rusart – fuhr es ihr durch die zuckenden Gedanken – einen so bezwingenden Eindruck er als Mann machte, ist zweifellos auch wert, als Mensch geliebt zu werden.

Sie warf sich von einer Seite auf die andere. In die beglückende Zuversicht, ihn in ihrer Heimat wiederzusehen, mischte sich eine peinigende Furcht: Sie würde es sein müssen, die ohne jedes Zutun seinerseits an ihn herantrat; und trotz ihres Sehnens, trotz ihres Ehrgeizes, bei allem ihren Suchen und ihrer Erwartung: – von ihrer Weiblichkeit wollte sie nichts vergeben.

Die Zunge klebte ihr am Gaumen, und die Augen brannten ihr. Zwischen die Gedanken an die nächste Zukunft schob sich in ihrem Gehirn immer wieder das Greifen in die Gegenwart: Wo mag er jetzt sein, dieser Herr und Herrscher?!

Nach Stunden schlief sie ein; ohne sich auszukleiden. Ihr versinkendes Denken zeigte ihr noch sein Bild, und ihre Lippen murmelten: »Ich seh' dich wieder!«

Wenig mehr als zweitausend Meter von ihr entfernt lag Herr Aménard in seinem Bette. Er trug eine Nachtmütze. »Wo es nicht darauf ankommt bei Nacht! Weiß doch jeder selbst, ob er ist Mann oder Frau! Und die Geschäfte! Wo stecken sie? Inwendig! Na, also!« hatte er die Anwesenheit des weiblichen Möbels entschuldigt. Er schlief nicht. Seine Beschäftigung bildete die Rekapitulation des ganzen Tages. Der Besuch beim Präsidenten. Feine Leute das! Dergleichen wollte er öfter unternehmen; aber auf eigene Faust. Wegen der Übung zur Selbstständigkeit auf Teppichen und zwischen Vasen. Zuletzt erinnerte er sich des Nachhauseweges. Sein Gesicht verzog sich zu einem feisten Schmunzeln. Er streckte sich in den Federn und warf beide Arme in die Luft. »Wie? – Madonna nennt er sie, und Mendelssohn heißt sie! Immerhin, wenn es soll geben eine neue, Gott meiner Väter! – was soll ich sagen! – weshalb soll sie nicht heißen Madonna Mendelssohn! Aber, ob er sie wird machen berühmt? Er wird sich schneiden! Es sind nicht die Zeiten, daß es gibt etwas auf Madonna! Ich glaube, ich nehme sie auf in das Programm. Muß ich aufpassen auf drei: auf den Mann! auf den James York! auf die Madonna!«


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