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Viertes Kapitel.

Soweit die Welt auf den Begriff »Politische Kultur« Anspruch machte, war sie in Aufruhr. Repräsentiert durch die Sondergemeinschaften, die sich Staaten nannten, mußte sie aber bald bei dem wütenden Rennen nach vorn und dem Schielen zur Seite bemerken, daß sich Nebenströmungen geltend zu machen suchten. Nebenströmungen, deren Aussicht auf Erfolg nach den von Fritz Rusart im »Kosmopolit« bekanntgegebenen Grundsätzen nicht geringer einzuschätzen war, als die jeden realen Angebotes.

Während in England unter dem Zwange seiner Devise »Da ich groß bin, muß ich wachsen!« auf englisch: » Honni soit, qui mal y pense!« die unbedingte Notwendigkeit erkannt war, die Erfindung, gleichviel auf welche Art, in die Hände zu bekommen, und während man dort bereits in Finanz- und Geschäftskreisen, die für Einsichtige schwer von den Offiziellen zu trennen waren, den Weg der Gewalt und der Überlistung als den einzig gangbaren ansah, hatte sich im lieben Deutschland aus einem Wirken, das bisher unter dem Drucke der Verhältnisse nur platonisch bleiben mußte, eine Vereinigung an die Oberfläche gewagt, die sich in ihrem idealen Streben des Sieges sicher fühlte; weil sie sich nach den letzten Ereignissen in einer großzügigen Auffassung mit Fritz Rusart eins glaubte.

In Hanseatenkreisen war man zuerst an den Erfinder herangetreten. Man hatte in kaltsinniger Berechnung den Geldwert der Sache ausgeschaltet und war in erzwungener Rücksichtnahme auf die an sich wenig Verständnis und gar keinen Beifall findende ideale Gesinnung des Erfinders diesem gegenübergetreten.

Es hatte nur auf dem Wege der Schrift geschehen können. Jede persönliche Berührung war ausgeschlossen. Der Ansturm auf die Werft, auf der sich die beiden neuen Fahrzeuge mit Riesenschritten dem Zeitpunkte der Ablieferung näherten, war vergeblich gewesen. Man hatte sich endlich überzeugt, daß es nicht geschäftliche Diskretion war, die die Werftbesitzer jeden persönlichen Zusammenhang mit Fritz Rusart ablehnen ließ, und das gleiche Resultat ergaben offene und versteckte Versuche in der Agentur.

Man hatte nur festgestellt, daß täglich, zuzeiten stündlich Telegramme eintrafen, die chiffriert waren. Und wenn auch durch geeignete zweifelhafte Elemente der Schlüssel ausgekundschaftet wurde, war man dadurch doch um keinen Schritt weitergekommen. Der entzifferte Inhalt hatte fraglos in allen Fällen nur Decksätze ergeben, und Wohlfahrt erwies sich jeglicher Ausforschung unzugänglich. Die Gleichmäßigkeit seines höflichen, kühlen Benehmens wurde nur durch seine Verschlossenheit übertroffen.

Durch die angestrengte Arbeit sich folgender Tage und Nächte war eine Denkschrift zustande gekommen, um deren Redaktion sich die hellsten Hanseatenköpfe bemüht hatten.

Man wußte, daß man weder der Tölpelhaftigkeit noch dem Profithunger gegenüberstand. So sah man von jedem Angebote ab. Die Könige des Handels betonten ihr zweifelloses Vorrecht, zuerst gehört zu werden, wenn diese Erfindung eines Deutschen der Welt dienstbar gemacht werden sollte. Sie wiesen darauf hin, daß es Hanseatengeist gewesen sei, der die deutsche Flagge über die Meere getragen habe, und daß es weitsichtigem kaufmännischen Wagemute als Verdienst zugeschrieben werden müsse, wenn jetzt allerorten das schwarz-weiß-rote Banner mit Achtung oder zum mindesten mit Neid begrüßt werde. Es lag etwas Imponierendes in dem schwerblütigen Stolze, mit dem man sich auf die Hansa berief, den Städtebund, der, entstanden lediglich zur Sicherung eines profitablen Handels und aus dem jämmerlichen Gefühle, daß Kaiser und Reich zu schwach zum Schutze waren, bald bewies, daß die berufsmäßige Courtage und der ständige Verkehr mit Gewinnchancen Manneseigenschaften wie Tapferkeit, Kühnheit und Bereitschaft zum Bluten und Darben für andere nicht ausschlossen.

Die Denkschrift, die nach Auffassung ihrer Verfertiger in glücklichster Form Reales und Ideales verband, rückte zuletzt die zur Zeit bestehende Ordnung in den Vordergrund.

Wie keiner etwas Besonderes schaffen könne, er habe denn das nötige Handwerkszeug, so böte sich auch Fritz Rusart in dem Zusammengehen mit Hamburgischen Erfahrungen, Einrichtungen und Fähigkeiten die beste Gewähr, seine Erfindung ohne Vergeudung von Zeit und Kräften in das Verkehrsgetriebe einzuschalten und, wenn eingeschaltet, dort zur Herrschaft zu bringen.

Die Speicher mit ihren Lagerräumen, die Lade- und Löscheinrichtungen, die Zufuhr- und Verteilungswege, die Erziehung eines großen Teiles der Bevölkerung zur praktischen Betätigung im Warenverkehr und nicht zuletzt Verbindungen mit anderen Centren des Warentausches, die schon so alt und festgefügt waren, daß sie traditionell genannt werden durften: alles dies könne bei Bereitschaft zur Einsicht nur zu einer Verständigung führen. Es gäbe noch einen Grund zur Annahme des Anerbietens: Deutsche Errungenschaft, deutsches Wissen, deutsche Leistung müßten deutsch bleiben.

Der Mehrzahl der Beteiligten war der Weg unsympathisch. Weil er zu breit und zu öffentlich war. Man war es gewöhnt, wichtige Handlungen, Einleitung zu Abschlüssen von großer Tragweite in größter Stille vorzunehmen. Einigen auch – ihrer waren allerdings nur Vereinzelte – mißfiel die Art und Weise, weil durch sie in ihren Augen dem Erfinder zu viel Ehre angetan und er vielleicht mehr als nötig über die Wichtigkeit seines Besitzes aufgeklärt würde.

Wenige Tage darauf brachte der »Kosmopolit« die Antwort; einen Leitartikel mit der Erlaubnis unverkürzten Nachdruckes. Und wie er einen Sturm im internationalen Blätterwald erregte, so rief er bei den zunächst Beteiligten tiefgehende Entrüstung hervor. Es war die glatte Ablehnung.

Sie selbst machte erbittert, aber die eingehende Begründung verursachte erstauntes, verständnisloses Kopfschütteln. Man konnte plötzlich nicht begreifen, daß man mit diesem Manne als mit einem ernsthaften Faktor gerechnet hatte; und einen Augenblick später ballte man die Faust, weil man mit diesem Manne rechnen mußte.

So zog auch hier, in kühlen oder erregten Reflexionen, im Hintergrunde langsam der Gedanke an Gewalt oder List empor. Nur erschien er noch wie fernes Wetterleuchten, im Gegensatz zu England, wo er Programm war.

Von Fritz Rusarts Niederschrift im Tagebuche hatte niemand eine Ahnung.

»Die Ringmauer, die ich um mich gezogen habe, hatte schon an verschiedenen Stellen einen Anprall auszuhalten. Da das Verhältnis zwischen der Stärke des Walles und der des Angriffes lediglich von meinem Willen abhängt, gehen diese Angriffe über ein weiteres als ein symptomatisches Interesse nicht hinaus.

»Vor mir liegt der Hanseatenbrief. Er schillert in drei Farben: er ist eine diplomatische Note, eine Offerte und eine Ermahnung im Stile partikularistischer Talmimoral. Gegenüber meinem Programm, dem die Großzügigkeit zu erhalten mein unabänderlicher Wille ist, erscheint er plump und brüchig.

»Sein Wesenskern ist, wie bei allen anderen Anerbietungen, der in schmeichelnde Sentimentalität eingekleidete Egoismus. Für sich wollen sie mich haben! – Für sich! – Mit dem Hebel der ›Pax‹ in den Fäusten wollen sie knechten. Die ungeheure Masse derer, die die Spuren schwerer Tritte auf ihrem nassen Rücken tragen, würde sich ins Ungemessene vermehren. Die Pluto-Oligarchie würde dynastisch werden.

»Wenige Erinnerungen können unglücklicher sein, als die an die Hansa. Sie war ein Instrument zur Abwehr; heute wollen sie ein Instrument zum Angriff haben. Die Kraft zur Abwehr entspringt Pflichten, die Kraft zum Angriffe Begierden.« –

Der »Kosmopolit«, dessen Exemplare in ungeheurer Auflage verschlungen wurden, brachte die nüchterne Absage. Aber nur die Eingeweihten selbst wußten um die Adresse. Fritz Rusart hatte es vermieden, so zu schreiben, daß man den Aufsatz als Antwort auffassen konnte. Die Arbeit zeigte die Form eines zur allgemeinen Kenntnis zu bringenden sozialen Essays.

»Es wird als in dem Wesen der Erfindung liegend erscheinen, daß sie bestimmt ist, Allgemeingut zu werden. Die außergewöhnliche Schwierigkeit geordneter Einführung verbirgt sich wohl niemandem. Und als Berufene, diese Einführung ins Werk zu setzen, mag in den Augen der meisten nur eine Kaste in Frage kommen, die eine Verkehrsschulung im großen hinter sich hat. Der Großkaufmannsstand! Er wird als solche hingestellt und betrachtet sich als solche. Das neue Verkehrs- und Transportmittel wird am besten handhaben, wer die bisherigen in langjähriger Erziehung meisterhaft zu benutzen und in eine strenge Ordnung zu bringen verstand.

»Es gibt eine Disziplin des Denkens, die besticht. Es gibt Schlüsse, die in ihrer Logik unanfechtbar erscheinen. Sie tun es aber nur, solange man die Voraussetzung dieser Schlüsse für eine unerschütterliche Grundlage hält.

»Es ist nötig, weiter auszuholen. Der erste Verkehrsweg war der getretene Pfad. Als man Lasten bewegen wollte, die mehr als Manneskraft beanspruchten, erfand man die unter die Last geschobene Rolle. Sie erzwang sich den breiteren Weg. Und ihm folgte der ebene Weg. Es bedurfte nicht vieler Gehirnarbeit, um alles nutzlose Material an der schwerfälligen Walze auszumerzen. Es entwickelte sich die dünne Achse mit den auf sie geschobenen Rädern, deren Umkreis sich mit der Dicke der früheren Rolle deckte.

»Der Verkehr wurde erleichtert und dehnte sich mehr aus. Es entstanden Fahrstraßen und an ihnen Stationen: für die Menschen Wirtshäuser, für die Waren Lagerhäuser. Schon zu einer Zeit, als das Wasser noch ein oft mühselig umgangenes Hindernis war. Die Notwendigkeit erzwang sich den ausgehöhlten Baumstamm, den Urahnen jedes modernen Schiffes. Das trennende Wasser verband. Und es trug, ohne den Verbrennungsprozeß des menschlichen Muskels zu beschleunigen. Ein Gewinn, der zu gleicher Zeit einen glatten Weg, eine verhältnismäßig gefahrlose Beförderung und eine Ersparnis an Arbeitskraft lieferte. Der Gewinn war so groß, daß man sich beeilte, vorhandene Wasserläufe zu verbinden, nicht vorhandene durch das Graben von Kanälen zu ersetzen. Das lastentragende Element wirkte einschneidend. Wo immer es in Erscheinung trat, heftete sich der Fortschritt an seine Fersen; wo immer es fehlte, mußten sich Unbequemlichkeit und Langsamkeit und auch das Risiko in Permanenz erklären. Auf der einen Seite: die Metamorphose des Baumstammes zum Ozeanflieger; auf der andern Seite: eine Karawane zeigt heute noch den Typus, der ihr in den Tagen der Rampsiniden eigen war.

»Wenn der Zug des Menschen zum Menschen in dem Gesetze liegt, das ihm befahl, die Erde zu bewohnen und sie sich untertan und dienstbar zu machen, ist es nur eine Folge des Gesetzes, daß getrennte Menschen sich ihr bestes gegenseitiges Bindemittel angliederten, sich am Wasser ansiedelten.

»Übersieht man die Weltverkehrskarte: die Zentren findet man heute am Meere oder vom Meere aus durch Wasser erreichbar. Ein Zustand, den das seit Urväter-Zeiten befolgte Streben, sich einander zu nähern, zeitigen mußte.

»Nun ist der Gedanke aufgetaucht: den Verkehr ermöglicht und immer intensiver gestaltet zu haben, sei ein Verdienst; und weil dieses Verdienst sich in den großen Handelsstädten am meisten verdichtet habe, gebühre diesen auch das Anrecht an die neue Erfindung. Hier erwidern wir: die Prämisse fällt; Zwang ist nirgend ein Verdienst!

»Der eine Einwurf! – Man kann ihm die Subjektivität vorwerfen.

»Wir weisen aber auf einen andern Einwurf hin, dessen Objektivität abzulehnen, niemandem das Recht zugestanden werden kann: Die Erde ist der Menschheit überliefert. Man kann ein scheinbares Paradoxon aufstellen: Wasser ist nur das Bindemittel, weil es das Trennungsmittel ist. Es ist unmöglich, von irgendwo die Berechtigung herzuleiten, aus wasserarmen oder vollends wasserlosen Stellen der Erde Einöden zu machen, denen jede Pflege seitens der Menschen entzogen werden darf; Einöden, bei denen man nicht versuchen soll, sie dem Menschen dienstbar zu machen. Wir sehen heute eine Verschiebung zugunsten der Erdränder; im Innern: zugunsten der Flußränder.

»Das neue Verkehrsmittel muß den Gedanken nahelegen, diese schwerwiegende Verschiebung wieder auszugleichen, ein nach bestimmten Richtungen überfallendes Schwergewicht wieder zu verteilen. Und was heißt das anders, als Länderstrecken, in ihrer Ausdehnung wesentliche Teile der festen Erdfläche, ihrer Bestimmung zuzuführen; die ungeheure Anzahl der Menschen, welche bei dem verderblichen Zusammendrängen den wenigen Besitzern der Erde botmäßig werden mußten, wieder zu Herren der Erde zu machen; gleich jenen, aber in weiser Beschränkung jedes einzelnen.

»Ein Ziel, das nicht zu erreichen wäre, wenn in dem an sich schon krampfhaften Arbeiten der heutigen Verkehrshochburgen durch Überlassung der neuen Erfindung noch mehr Dampfspannung erzeugt würde.«

An anderen Stellen, als an der, die sich Adresse fühlte, wirkte der Aufsatz verblüffend.

Regierungen wie Koalitionen und Einzelstreber, alle sagten sie: »Endlich!« Es war keine Beschreibung, sondern eine Meinung. Es war ein Lüften des ärgerlich empfundenen Schleiers; ein Programm; ein Lichtstrahl, der in das Dunkel fiel.

Man sah einander an und zwinkerte mit den Lidern. Wo mit dem Worte zurückgehalten wurde, zuckten die Schultern. Nur, wo man sich ganz unter sich glaubte, hieß es bedeutungsvoll: »Es ist ein pathologischer Fall!« Die Bequemsten machten eine Anleihe bei dem spanischen Philipp und nannten Fritz Rusart »einen sonderbaren Schwärmer«.

Die Wüste Gobi, das Hochland von Tibet, die sibirischen Steppen, die Sahara, Arabia petraea und die Lüneburger Heide – man suchte sich im Gedächtnis und auf der Karte die endlosen Stätten aus, die »Er« segnen wollte. Der Berliner sagte: »Janz nette Sache! Aber, Jott sei Dank! des kann eener nich alleene!« und der Hamburger: »Ich habe noch nichts was von gemerkt, daß das Gleichgewicht gestört ist!« In London fiel der Ausdruck: »So muß er sein! Nun wird er reif für uns!«

Die hohe Diplomatie aller Länder war auf scharfer Wacht. Sie unterließ nichts, was geeignet war, sie mit Fritz Rusart in Fühlung zu bringen, nichts, was ihr trotz aller sich türmenden Schwierigkeiten seine Beobachtung möglich machte; schwieg aber über alle Schritte. Die Masse harrte aufgeregt der Entwicklung. Nur zwei waren es, die sich ohne Scheu, teilweise lärmend, in den Vordergrund schoben.

Die eine war die deutsche Sozialdemokratie. Es waren bewegte Zeiten. In langjährigem Mühen hatte man es verstanden, den Arbeitern den Begriff »Internationalität« einzuschwatzen. Das zweite Fremdwort folgte in dem ebenso wohlklingenden »Solidarität«. Es war das nur möglich gewesen bei dem Charakter, der den Deutschen vor anderen abzeichnet. Man kann nicht von einer Auszeichnung sprechen. Bei der Gründung der Partei hatten Brüderlichkeit und Gleichheit als Schlagworte grassiert. Das war lange her; und schon seit manchem Jahr beobachteten Außenstehende mit viel Behagen, daß die Leitung der Brüderlichen nur der Abklatsch eines sonst verhaßten Absolutismus war. Nichts erschien befremdender, und nichts war erklärlicher. Das Verhältnis zwischen Programm und Beschlüssen wirkte grotesk. Das Selbstherrliche konnte sich, wo immer es auftrat, in seiner Äußerung nicht von Straßenschmutz und Marktstaub freimachen. Wer in jenen Tagen eine sozialdemokratische Versammlung mitmachte, erhielt den Eindruck, als wäre die gesamte Politik auf den Hund gekommen. Es war aber nur die ständig in der Zone des Nebels herumgeführte Sozialdemokratie auf die Rosa Luxemburg gekommen. In dieser Partei sinnlos affektierter Gleichheit hatte man über die weise Regel: » mulier taceat in politicis!« hinwegschreiten müssen. Eine Konsequenz der Anhänger kapernden Phrasen.

In keinem Staate hatte man so viel Übung im Erdrosseln von Meinungen wie hier. Und gegen das sichtbare Abbröckeln wußte man sich unter den Brüdern auch nicht anders zu helfen, als durch eine erbarmungslose Hand.

Die Arbeiterschaft war mißtrauisch geworden. Die ständige Verhetzung hatte man mit prickelnder Zunge eingesogen. Sie stand im Einklang mit den Gefühlen des Hasses gegen den Besitz. Aber als die durch immergeforderte und immergewährte persönliche Opfer des einzelnen erreichte millionenstarke Stimmenzahl nichts brachte als den leeren Begriff des Repräsentativen, als eingesehen wurde, daß die Partei den Haß nicht besänftigen wollte und ihn nicht befriedigen konnte, da erhoben sich hier und da, erst leise, dann immer lauter Stimmen, die nach Erfolgen fragten. Der sonst nur dem sein eigenes Geld wagenden Unternehmertum ins Gesicht gespieene Ausdruck »Arbeitergroschen« wurde ein als Umlaufsmünze scharf geprägter Vorwurf gegen die Parteileitung.

Der einbeinige Stuhl des Absolutismus stand in einem Redaktionszimmer. Auf dem Tische lag ein Kalender. Fast durchweg rote Zahlen. Und darunter jedesmal ein neckisches Frage- und Antwortspiel. Heute: Was ist Disziplin? – Der Maulkorb der anderen.

Wie sonst von »Oben« her auf diskretem Wege die schwersten Indiskretionen der Tischplatte zugeflogen waren, so hatte sich heute von »Unten« her ein »maßlos frecher Wisch« eingeschlichen.

Man hatte sich einer parlamentarischen Eingangsform bedient. Jener Form, die dringend und emphatisch klingt, die aber doch nur in Fällen angewendet wird, in denen künstliche oder ehrliche Entrüstung von dem Gefühle eigener Ohnmacht überwuchert wird. »Was gedenkt eine hohe Regierung zu tun, angesichts der Übergriffe – – – – – – Wie gedenkt eine hohe Regierung den schweren Mißständen abzuhelfen, die – –«; aber dann war man bald in die subjektive Atmosphäre gesunken, und was sonst Klage war, das war hier Brüllen des Zorns. » Quousque tandem, Catilina! abutere patientia nostra!«

»Was gedenken unsere Führer zu tun angesichts dieser Gelegenheit, eine Sache für das Proletariat aller Länder zu gewinnen? Eine Sache, die geeignet ist, den Ausgleich zu erzwingen! – Die, die uns vermöge ihres ergaunerten Kapitals blutrünstig schinden, zu erniedrigen und uns ein menschenwürdiges Dasein zu verschaffen?

»Die Arbeitergroschen haben euch jetzt feist genug gemacht; laßt uns nun Taten sehen! Die Regierungen wissen nicht anzubeißen. Das seht ihr doch. Und der Mann will. Er hat eine anständige Gesinnung. Er ist für uns. Er hat es geschrieben. Wenn wir jetzt alle auswandern, – der Mann wird uns helfen. Platz ist genug in der Welt. Dann wollen wir 'mal sehen, wo die Großmaulkapitalisten bleiben. Verhungern müssen sie, zwischen ihren Geldsäcken! Mit ihrem Petroleum können sie sich ihre Bärenschinken braten, und in ihre Schiffe können sie sich allein setzen, in die leeren Schiffe, und können mit ihren Geldstücken Marmel spielen, wie die Jungens. Ein Goldstück und eine Auster, immer abwechselnd. Denn was wollen sie anfangen ohne uns? Was heißt Arbeiter? Wer arbeitet! Wer baut die Schiffe, wer die Bahnen, wer küpert die Fässer, wer holt Kohlen aus der Erde –?

»Worunter leiden wir? Der Mann schreibt ganz richtig: Es ist kein Gleichgewicht da! Das Wort soll stehen! Damit hat er's getroffen, und wir haben ihn verstanden. Überall ist kein Gleichgewicht da. Was zahlen wir für Wuchermieten! Was ist ein Hauswirt? Wie kommt er zu seinem Hause! Woher hat er sein Haus! Hat er dafür gearbeitet? Nein! Und wenn er uns mit Mieten schraubt, was gibt er dafür? Ein Gauner ist er! Nimmt etwas und gibt nichts. Und wie mit dem Gauner und seinem Hause, steht es mit der ganzen Welt. Die großen Halunken haben sich schon in den Besitz der Welt geteilt. Und jetzt sind sie unter sich. Und jeder begaunert den andern. Und wer's am besten kann, da sind die anderen die Dummen. Und zuletzt wird einer die ganze Welt besitzen, und das ist der Obergauner.

»Und das muß anders werden! Wir machen nicht mehr mit. Wenn unsere Führer uns jetzt nichts nutzen, nehmen wir andere; dann fliegen sie! – Zeigt jetzt, daß ihr ein Herz habt für uns! Ihr habt unsere Groschen! Nun sollt ihr unser Kopf sein! Geht zusammen mit dem Manne!

»Arbeiter aller Länder! Genossen! – Ihr hört es: der Tag ist nahe, wo der Arbeiter wieder Mensch sein kann, wo der dumpfe Druck der Jahrtausende gelöst werden kann, wo die Stumpfheit aufhören darf! Und wenn unsere Führer uns jetzt rufen, so werden wir ihnen folgen. Es geht zum Licht!

»Proletarier aller Länder! Vereinigt euch!« –

Der Autokrat, der Greis mit den Jugendgesten, schleuderte das Machwerk auf den Teppich. »Elend! – keine Unterschrift! – dieser Ton! – mir! – uns!« Er stieß mit dem Fuße gegen das Papier. Der Flügeladjutant und Mitschreier im Streit hob es auf. Mit überlegenem Gesichte und etwas lächelnd. Er besaß einen Mund, der auf das landesübliche Verhältnis zu den übrigen Gesichtspartien verzichtet hatte, und eine Nase, die Kinn, Kragen und Weste vor jedem Witterungseinflusse schützte. Er hatte sich unentbehrlich zu machen gewußt und sich zuletzt an den Diktatorsessel herangepürscht. Er war eine schätzbare Kraft, denn er hatte sich durch rücksichtsloses Trainieren in den Besitz einer Lunge gesetzt, durch die jedes Pferd zum chancenreichsten Steepler geworden wäre.

»Es ist eine Gegenströmung!« schrie er.

»Um das zu wissen, braucht es keines langen Nachdenkens!«

»Das wollte ich hören!«

»Wieso?«

»Es ist keine Gegenströmung!«

»Nun?«

Der Flügeladjutant ging, heftig gestikulierend, in dem Zimmer auf und nieder. Die Strategie verbot es ihm, sich dem andern zu sehr zu nähern, denn dadurch hätte jeder von beiden Raum für das Schwingen von Armen und Beinen verloren. Die Worte rasselten wie Erbsen, die man auf ein Kuchenblech wirft.

»Empörend! Lächerlich – aber durchsichtig für uns! – Ein Streich von oben! – Spitzelwerk! – Nichts als Spitzelwerk! – Aber zu dumm, zu dumm! Sie haben den Stil nicht getroffen! Hätten so Arbeiter geschrieben? Glauben Sie das? – – – – Wenn unsere Kerls schreiben wollen, dann nehmen sie sich einen, der schreiben kann, und dann wird's besser! Aber wenn die oben so was fälschen wollen, dann langen sie nach dem Arbeiterstil, was sie so nennen, und dann wird's so'n Machwerk. – Lesen Sie doch: ›Die Arbeitergroschen haben euch jetzt feist genug gemacht!‹ – Würde das einer riskieren? Wo es noch nicht mal wahr ist! Nein! – Sie sind in Verlegenheit, Sie wissen mit dem Manne nichts anzufangen und wollen uns in die Front drücken. – Aber ich denke, wir lachen ihnen was! Wir stellen sie an den Pranger! Die Geschichte zu durchleuchten, ist gar nichts für uns. Das könnte ihnen so passen! Drei Fliegen mit einer Klappe: unsere Leute aufhetzen, uns unter die Füße bringen und dann die große Kastanie selbst schlucken! – Feines Manöver, wie sie glauben! – würdig kapitalistischer Gesellschaft. – – Und doch: Nie« – er beugte sich weit über den Tisch und schrie die Worte hinaus – »nie hat jemand plumper zu seiner eigenen Blamage beigetragen –!«

»Ich sehe was anderes!« unterbrach ihn der Alte. »Eine gute Sache für uns. Was sie da ausgeklügelt haben – müssen wir bloß richtig ausnutzen! Wir müssen erst mal tun, als ob wir uns im geheimen schon lange damit beschäftigt haben. Da liegt die Hauptsache drin! Schon lange! Aber im geheimen! Der ewige Friede – –«

»Witz! – der ewige Friede! – Das ist eine Gehirnqualle!«

»Der ewige Friede wird natürlich nicht erreicht! – was so genannt wird –, nicht! – aber was anderes: eine Art Ruhe – aus der ewigen Angst, die dann die anderen haben müssen.« Der Autokrat streckte seinen Zeigefinger weit von sich, in die Luft hinein. »Mir scheint, diese Sorte hat den eigenen Totengräber gespielt. Wenn wir die Erfindung in die Finger kriegen, dann haben sie ausgewirtschaftet. Und sie muß her, sie muß! – Und –«, er reckte sich auf und warf sich in seine Parlamentspose, »wie wir das ausbauen, das wird der erste Nachweis des Zukunftsstaates, das wird der Kollaps der kapitalistischen Weltanschauung sein. – Wir müssen nun dafür sorgen, daß die Masse der Anteilnehmer eine ungeheure ist. Die Besitzenden sind ja doch für sich. Jeder bekämpft den andern. Wie die Geier um das Aas! – So kriegt's keiner! und wird's nie einer kriegen. Aber von unseren Leuten, da kann's keiner für sich erwerben und für sich gebrauchen. Da steht jeder zum andern. Alle zusammen – und uns hilft der Haß, der gesät ist. Und der Hunger! – Die beiden geben den nötigen Kitt! – Gehorchen tun sie – –«

»Bis auf die, die keine Beiträge zahlen! – Die immer noch draußen stehen!« klang es höhnisch.

»Die brauchen wir nicht! – Aber die Unterdrückten aller Völker – –«

»Die Franzosen wollen wir erst mal ausnehmen! Da ist's nichts mit dem Zusammengehen. Wenn die die geringste Aussicht haben, ihn selbst zu fischen, schäumt ihnen die grrrroße Nation zwischen den Zähnen heraus! – Na, und England –«, es war ein giftiges Lachen – »dieser Geschäfts- und Profitknochen – –«

Der Alte wies ihn zurück. »Ich weiß, wie es steht! – Die englischen Arbeiter gehen mit uns! – und die französischen auch! – Zum Teufel! Wir sind doch die ersten! – In unserer Mitte geht doch der Teig auf – –«

»Wahrhaftig! Der anständigste Bissen, der je einem Verhungerten vor dem Schnabel gebaumelt hat!«

»Wir sind unserer Genossen drüben vollständig sicher. Die Versammlungen – –«

Der andere drehte sich im Kreise herum und stürmte über den Teppich. »Gehen Sie mir doch weg! Die Versammlungen! Davon können wir doch nicht reden, wenn wir unter uns sind. – Ein paar Kerls, die zuverlässig sind, weil sie bezahlt werden; ein Haufen, der in den Kraal reingetrieben wird, und einer, der die anderen dahin bringt, wo wir ihn hingebracht haben. Gebt mir eine Stunde Redefreiheit und laßt den Eid weg – denn vor diesem Popanz wackeln noch die meisten –, und ich will jeden an den Galgen bringen, jeden Raubmörder freikriegen! – Ich verpflichte mich, dieselbe Versammlung heute für, morgen gegen zu verhetzen – –«

»Eben, da liegt's! Das muß man können. Und uns gelingt's natürlich. Wir haben die Fruchtschale immer voll Obst! – Also – –«

»Ja, reden!. Aber wie 'rankommen?«

Der Alte kniff die Augen boshaft zusammen. Es war doch verächtlich, wie der andere an offenen Lücken vorbeirannte. »Alles, was einen Herrn hat,« sagte er leidenschaftlich, »trägt den Samen der Auflehnung schon in sich. Und er hat Mannschaften! – oben auf seiner ›Pax‹ – und noch viel mehr wird er unten haben. Das kann keine Schwierigkeiten machen!« Er ging erregt auf und nieder. »Wissen Sie noch? Der Kaiser der Sahara? Alle Welt hat gelacht! Und hat den Burschen für einen kompletten Narren gehalten! Der hat, scheint's, nur einen Vorakt durchgespielt! Und man – –«

Er wurde unterbrochen. Man brachte Telegramme herein. Eine ganze Reihe von ihnen trug dieselbe Nachricht. Der Aufruf, der auf den Tisch geflogen war, war auch in den verschiedensten Gegenden zu gleicher Zeit angeschlagen worden. Da man ohne Vormeldung war, das Druckwerk auch keine Unterschrift trug, drahtete man um Anweisung, wie man sich zu verhalten habe.

Telegramm um Telegramm überreichte der alte seinem jüngeren Genossen. Endlich hatten sie alle durchflogen.

»Oder doch?«

»Niemals!« antwortete der Junge, »niemals! Das ist kein Arbeiterstreich! Aber auf breiter Grundlage haben sie gearbeitet. – Das ist ja gerade gut! – Das haben die dummen Kerle ja für uns getan! – Los, ans Werk!«

Und sie setzten sich hin und berieten und schrieben und telegraphierten.

Wie sie bald erfuhren, war ihnen eine andere Partei ernsthaft ins Gehege gekommen.

In einem Saale des Patriotenhauses zu Lübeck saß eine Anzahl ernster, würdiger Männer zusammen. Auf dem langen Beratungstische lagen vor dem Platze eines jeden Tabellen, Zeichnungen, ein Atlas und einige Exemplare des »Kosmopolit«.

Es war die geistige Elite der Bodenreformer, die der alarmierende Ruf des Führers hier versammelt hatte. Jeder für seine Person eine volkswirtschaftliche Kapazität.

In keinem vereinigten Streben ehrlicher Männer war das Mißverhältnis zwischen Theorie und Praxis ein so schreiendes als bei diesem. Man hatte sie schon zu ihrem Schmerze Zwangsplatoniker getauft.

Nationales Elend war für sie nur eine Episode. Um ihm abzuhelfen, wären sie stets bereit gewesen, ihr Letztes herzugeben, wie auch die letzten Kräfte der Nation aufzurütteln. Aber über dem nationalen Elend, das in ihren Augen fiel und stieg und stieg und fiel, sahen sie das soziale Elend, das unaufhaltsam stieg.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der niemand den Erdboden mit dem Begriffe des Besitzes hatte verbinden können, in der der Gedanke, Bodenrecht zu haben, etwas Gesuchtes, begrifflich nicht Verständliches gehabt hätte. Woher hätte die Berechtigung kommen sollen? Weil man auf der Erde geboren war? Das war man auch in der Luft! Weil man sie abgeweidet hatte? Man hatte auch geatmet!

Außerdem verhinderte schon das Verhältnis weniger Menschen zu großen Flächen das Auftauchen eines solchen Gedankens. In der Würdigung fällt »Viel«, wenn es auf wenige kommt. Und wo immer man sich befand, Mutter Erde gab, was man brauchte; an Gras für das Vieh, an Früchten für die Menschen. Und felsige Strecken erschienen an sich schon wertlos.

Mensch und Vieh waren auf die freiwilligen Gaben des Erdbodens angewiesen. Und da die Natur pausierte, wäre Bodenbesitz nichts gewesen als Beschränkung der Lebensfähigkeit aus Beschränkung der Bewegungsfreiheit; die Seßhaftigkeit, die Vorläuferin des Besitzes, nichts als Bereitschaft zum periodischen Mangel.

Als aber die Fähigkeit entstand, den Boden zu zwingen, mehr oder anderes zu bringen, als die ungestörte Natur geboten hätte; als mit dem Bearbeiten des Bodens, mit seiner Pflege, dem Säen und Ernten sich Zeiträume ergaben, die ein Abwarten erforderten; als vor allem der Begriff des erarbeiteten Vorrates erwuchs, da waren die ersten Spuren der Seßhaftigkeit gegeben. Und mit ihnen in den Augen der Zeitgenossen auch jedesmal das Anrecht an den gepflegten Boden.

Der Besitztitel gründete sich auf die geleistete Arbeit. Es war dann nichts Erhebliches, auch nichts Befremdendes mehr, die Perioden zu überbrücken. Wer von den Winterstürmen oder der regensprühenden Zeit bis zum Spätherbst auf einer Scholle gearbeitet und sich dort eine Hütte gebaut hatte, dem wurde von keinem Nachbarn versagt, an gleicher Stelle auf gleiche Mühen zu warten.

Aus dem erarbeiteten Besitze ergab sich der ererbte. Wo Neigung zu Vergrößerungen oder Veränderungen eintrat, wurde aus dem ererbten der eingetauschte, der erkaufte. Immer noch stand Besitz im Verhältnis zu den Kräften des Besitzers.

Mit dem Momente, in dem sich ein Besitzer zuerst der Kräfte eines andern zur Pflege und Ausnutzung seines Erdbodens versicherte, entstand der erste Hörige. Ein Wesen, das eine Unterkunft aber kein Schollenrecht, ein Asyl aber kein Heim hatte.

Nachzuforschen, wann jener Zeitpunkt eingetreten sei, ist vergeblich. Die Zeiten sind verschwommen. Es ist auch nicht von Wesenheit für die Entwickelung bis heute. Aber es ist wichtig, ihn in die Staffelung einzureihen. Mit blutroter Schrift. Er besaß das Verhängnisvolle eines jeden unscheinbaren, auf hoher Berghalde lagernden Schneekornes.

Dem außerordentlichen Anwachsen der Menschheit und ihrem rücksichtslosen Kampfe unter sich blieb es vorbehalten, aus jenem Anfange riesengroß wachsen zu lassen, was heutiges Elend ist.

Einem verschwindenden Teile als Bodenbesitzern steht die ungeheure Masse gegenüber, die, heimatlos im Ursinne, jenen wenigen tributpflichtig ist. Und aus diesem Verhältnisse schob sich der weithin sichtbare Angriffspunkt der Bodenreformer heraus. Durch die Komplikationen des Sichzusammendrängens der großen Masse erwuchs den wenigen Besitzern in ihrem Grund und Boden ein ständiger Wertzuwachs, ein ständiges Anschwellen des Reichtums, für das diese Besitzer weder Gehirn noch Faust geregt hatten.

Der immobile Besitz ist eine Beschränkung der persönlichen Freiheit. Der Mensch soll frei sein. Der Lawinenweg liegt offen vor uns. In Urväter-Zeiten waren alle frei. – Heute gibt es Herren und Knechte. Knechte, die hörig sind – Herren, die unfrei sind. Der Tag, an dem die Lawine in Talgründen auseinanderstürmt und -stäubt, wird ein wundersam schreckliches Bild geben: Der ganze Erdboden wird einem Einzigen gehören; alle werden Knechte sein – dieser Eine nur der einzig Freie! Denn der, dem alles gehört, der ist so frei, wie es alle waren, als niemandem etwas gehörte.

Besitz ist Recht! – Gewordener Besitz gewordenes Recht! Man kann die Tragödie von Jahrtausenden nicht ausradieren. Aber darüber hinaus? – Mehr als Recht?? –

Hier setzte das Programm der Reformer ein: Der wachsende Besitz das größere Recht! Es ist eine Konzession! Aber eine scharfe Trennung mußte zwischen innerem und äußerem Wachsen gemacht werden; zwischen quantitativ und qualitativ, konkret und abstrakt.

Verdankte der Herr des Besitzes den erhöhten innerlichen Wert, das heißt den Wert, der nur qualitativ in Erscheinung trat, den Besitzlosen, dann hat er, da das Quantum unverändert blieb und seine Verminderung gegen Rechtsgefühle verstoßen würde, an dem in das Reale umgesetzten Mehrwert jene teilnehmen zu lassen, die ihm zu diesem Wertzuwachs verhalfen.

Und da sich das nicht auf einzelne Menschen beziehen wird, hat er der Allgemeinheit einen Teil von dem zu geben, was er durch die Allgemeinheit gewonnen hat. Er soll Tributpflichtigen Tribut zahlen.

Nicht der ist der Reichste, der das meiste Land sein eigen nennt; nein! wenn darin nur wenige wohnen, kann er weit übertroffen werden durch den, der bedeutend weniger Boden, diesen aber dort besitzt, wo viele sich zusammendrängen. Die größten Grundbesitzer in den Ural- und Wolganiederungen sind nicht so reich wie der Herzog von Westminster, dem ein viel kleinerer Grundbesitz gehört. Dafür liegt dieser aber in der Londoner City. Und um seinen Wert auszudrücken, bedarf es einer zehnstelligen Zahl.

Die Bodenreformer waren über den Wert fast des gesamten bewohnten Erdbodens durch zuverlässige Tabellen unterrichtet. Es hatte vieler Mühen und vieler selbstloser Mitarbeiter bedurft, um das Riesenmaterial zu bewältigen. Es waren vergleichende Übersichten angefertigt. Nach Bevölkerungsdichte und Wert einer Bodeneinheit. In den Karten war die blaue Farbe vertreten. Vom Weiß über das hellste Blau zum Blauschwarz. Je dichter die Menschheit, je höher der Bodenpreis, um so mehr vertiefte sich der Farbenton. Zu den Generalkarten kamen die Spezialbilder. Das Anwachsen eines in der äußeren Erscheinung gleichgebliebenen Besitzes während zweier Generationen um fünfhundert Prozent war keine seltene Erscheinung. Es gab Beispiele von Wertzuwachs, die über einen Zeitraum von hundertundzehn Jahren zwölfhundert Prozent aufwiesen. Der Verdienst, dem das Verdienst fehlte.

Der Vorsitzende, eine in politischen Kreisen hochgeschätzte Persönlichkeit, der eine ernste Sittlichkeit gegenüber den Rechten der Zeit mit einem flammenden Herzen gegenüber den Forderungen der Zeit verband, schlug die Tabellen um und ließ die Blätter des »Kosmopolit« durch seine Hand gleiten.

»Wir stehen im Zeichen des Frühlings! – Vielleicht geht es zur Sonne! –

»Es kann heute bei den bekannten Ereignissen, bei dem zuckenden Wühlen, das wir überall der neuen Erfindung gegenüber sehen, an der Zeit erscheinen, unser Programm hier vor uns selbst noch einmal aufzurollen. Das Programm mit den Beweggründen seiner Entstehung, mit den Mitteln, die es vorschlägt. Wir wollen aber auf Einzelheiten verzichten. Nur der Grundton soll durchklingen.

»Für uns ist der Zusammenhang des Menschen mit dem Boden, auf dem er wird, lebt und vergeht, etwas Heiliges. Der Boden ist der Menschheit etwas Gemeinsames. Er ist Gemeingut wie die Luft, wie der Himmel. Jeder Bodenbesitz des Einzelnen ist eine Entweihung.

»Es ist eine schwer zu beantwortende Frage, ob die Verhältnisse den Charakter des Menschen zu Abwegen gezwungen haben, oder ob der Charakter des Menschen so tief bedauerliche Zustände geschaffen hat. Wir – von unserm Standpunkte – geben der zweiten Annahme das größere Gewicht. Denn einem würden auch die Draußenstehenden nicht widersprechen wollen: genau wie die Erde, auf der wir doch sein müssen, würde auch die Luft, deren wir doch ebenso bedürfen, schon registrierter Besitz, schon Gegenstand des Tauschhandels und des Schachers geworden sein, wenn nur das technische Mittel gegeben wäre, faßbare Besitzgrenzen zu schaffen.

»Daß dieses Mittel fehlt, ist nicht Verdienst der Menschheit.

»Es ist kaum eine Hyperbel, wenn wir sagen, so mancher von unseren Bodenspekulanten mag schon mit Ingrimm daran gedacht haben, daß sich das Luftmeer nicht parzellieren läßt. Zur Not kann der Mensch ja auf der Erde wandeln ohne Anrecht an eine Stätte; – ein wie sicheres Mittel zur Herrschaft hätte man in der Hand, wenn man den Luftraum kaufen, die gekaufte Luft versagen könnte, da wir doch ohne Luft nicht leben können. Ein solches Mittel in der Faust der Habgier –: ein Instrument, das die schlimmsten Quälmittel, die menschliches Gehirn ersinnen konnte, in Schatten stellt.

»Für die übrige Welt, die raubtierartig auf Beute lauert, wollen wir die neue Erfindung nicht überschätzen. Fritz Rusarts Errungenschaft kann weder die Luft verteilen, noch wird sie die bisherigen Beförderungsmittel überflüssig machen. Sie wird sie in großem Stile ergänzen. Und an manchen Stellen verdrängen.

»Die Beurteilung verlangt Nüchternheit. Und wir, die wir für unsere Personen keinen Gewinn von der Sache haben wollen, mögen wohl die Berufensten sein, an sie heranzutreten.

»Als zum ersten Male die Nachricht auftauchte, hegte jeder Zweifel. Der Zweifel schwand. Wir sahen in die Wahrheit. Sie blendete. Es war zu groß, was sich bot.

»Und wie die anderen für sich, so haben wir für uns, für unsere Bestrebungen gleich erwogen, welchen Einfluß sie haben könnte, welchen Weg die neue Erfindung gehen müßte.

»Meiner hat sich, je mehr ich in die Sache eindrang, um so größere Hoffnung bemächtigt. Fritz Rusarts Art, sich eisern gegen alles zu verschanzen, was seine Sache ausnutzen wollte, war wie ein Licht, dem man entgegenwandelt. Nun aber – nun! – nach seiner letzten Schrift ist aus der Hoffnung Zuversicht geworden, aus dem Glauben eine Überzeugung: Fritz Rusart ist Geist von unserm Geist!«

Man trat in die Beratung ein. Es war eine von Feuer durchglühte Debatte. Sie wurde in jener vornehmen Form geführt, die die ständige Begleiterin der Selbstlosigkeit ist.

Jetzt, da die beste Aussicht zur Verwirklichung des Programmes geboten wurde, drängte sich von selbst der Hinweis auf, weshalb bisher nichts hatte erreicht werden können; weshalb man nie einen Sprung, immer nur schwache Anläufe hatte sehen müssen.

Die Masse der Besitzlosen war schwach. Die, welche in den Staatsgefügen den Ausschlag gaben, hätten den Sprung gegen sich selbst machen müssen; sich selbst schwächen.

Dieser Regulator hatte immer versagt. Und das war das Selbstverständliche, das den Reformern das Platonische anhängte.

»Woher kommt nun unser Mut?« fragte der Führer. »Es entsteht uns in der neuen Erfindung ein selbsttätiger Regulator. Ohne Angriff auf die Besitzenden, ohne ausdrückliche Belastung des Besitzes wird der Ausgleich mechanisch geschaffen. Von außen kommen und außen bleiben. Wir strebten die richtige Bewertung durch Belastung an –: Jetzt wird sie kommen durch Entwertung. Und niemand wird sich beklagen dürfen.

»Im schlimmsten Falle können sie, in Verkennung des Vorganges, sagen: Es ist eine Gegenspekulation. Ein Gedanke, der erbittern kann; der aber gerade diesen Charakteren verständlich ist. Das Experiment wird in jener Form vor sich gehen, wie man sie anwendet, wenn man bei einem angeschwollenen Strome für Abfluß sorgt.

»Was bei uns als Tat ersehnt wurde, wird jetzt ›Verhältnisse‹ heißen. Und das wird bei den Schmerzen des Überganges jenen ein Trost sein. Unser Ziel wird erreicht!«

Der Führende wurde beauftragt, sofort die einleitenden Schritte zu einer Verständigung mit Fritz Rusart zu unternehmen.

Es wurde beschlossen, eine persönliche Zusammenkunft zu erbitten. Die Wahl von Ort und Zeit sollte dabei Fritz Rusart überlassen bleiben.

Das Gesuch mit seiner eingehenden Begründung ging schon im Laufe des nächsten Tages bei der Generalagentur ein. Der Sekretär der Bodenreformer, der sich vorsichtshalber die Übergabe selbst hatte angelegen sein lassen, konnte aus Wohlfahrts Munde nur die Zusicherung empfangen, daß eine Antwort erfolgen würde. Ob durch den »Kosmopolit«, durch die Agentur oder durch Vermittlung der Landesposten, darüber erklärte Wohlfahrt nichts sagen zu können.

Am empfindlichsten traf die Eröffnung, daß »der Herr«, den Wohlfahrt selbst nur wenige Male, und seit dem Auftauchen der »Pax« überhaupt nicht mehr, gesehen habe, ihm so wenig wie jedem andern die Möglichkeit einer persönlichen Zusammenkunft je in Aussicht gestellt habe. Ja, noch darüber hinaus: Wohlfahrt zögerte nicht, diesen Teil des Gesuches als nahezu vergeblich hinzustellen. »Der Herr« habe gelegentlich zu erkennen gegeben, daß jede darauf hinauslaufende Bitte in überwiegenden Fällen einer Einengung seiner Bewegungsfreiheit gleichkommen würde.

Der Sekretär entfernte sich. Sein Kopf suchte einen Ausweg aus diesem Dilemma. Er wußte, daß man allgemein, nicht nur in der Hansestadt, fiebernden Pulses mit dem Tage rechnete, an dem die beiden auf der Werft liegenden Fahrzeuge zur Ablieferung gelangen würden. Irgendwer mußte erscheinen. Und es war nicht anzunehmen, daß Fritz Rusart, der die erste Abnahme persönlich vorgenommen hatte, beim zweiten Male diese Rolle irgendeinem andern überlassen und anvertrauen würde.

Wenn ein persönliches Treffen im übrigen so sehr in Frage gestellt wurde, dann galt es, unter allen Umständen wenigstens nach dieser Richtung wachsam zu sein. Die Verbindung mit der Werft mußte in jeder Art gesichert werden.

Der Parteiführer zögerte auch keinen Tag, den Schritt zu unternehmen.

Er wurde im Hinblick auf persönliche Bekanntschaft und seinen politischen Namen sehr höflich empfangen. Aber die Höflichkeit, die unverkennbar bald in eine formvolle Liebenswürdigkeit überging, brachte ihm nichts als einen negativen Erfolg. Die Abnahme stand dicht bevor. Das erfuhr er sofort.

»– – aber einen bestimmten Tag? – Wir sind vollständig im Dunkel!« sagte der Werftdirektor. »Die Forderungen an uns sind einesteils so genau umgrenzt, daß wir verpflichtet sind, einen bestimmten Fortschritt im Bau zu einer bestimmten Stunde eines genau bezeichneten Tages vorzuweisen – andererseits ist uns über den Schlußakt nur mitgeteilt worden, daß genaue Anweisung rechtzeitig erfolgen würde.«

»Was sind es eigentlich für Fahrzeuge? – Beide nach dem Modelle der ›Pax‹?«

»Es liegt keine Veranlassung vor, hier mit dem zurückzuhalten, was zur Kenntnis jedes Werftarbeiters kommen mußte. Beide Fahrzeuge sind kleiner. Eins ist schwerer als das andere, und dieses wiederum ist schlanker. Für das Prinzip der Fortbewegung sind sie beide wie die ›Pax‹ gebaut – hier und da allerdings Abweichungen, anscheinend untergeordneter Natur. Wir können sie Ihnen nicht erklären, weil wir selbst ihren Zweck nicht kennen!«

»Meine Herren! Die Welt steht vor einem Rätsel! – Wie kann das Rätsel so lange ungelöst bleiben!! – Wie ist das möglich? – – Da so viele Mitwisser – – –«

Der Direktor lächelte. »Sie sind im Irrtum! Wir bauen nur das Gehäuse. – Das Werk setzt Rusart ein. Ohne daß wir es wissen; ohne daß wir es sehen oder hören. – Sie könnten uns den Auftrag geben, einen komplizierten Kohlenkasten zu bauen. Wenn Ihre Zeichnungen so peinlich genau wären, wie die Fritz Rusarts, wenn sie so jeder kleinsten Anforderung entsprächen, würden wir den Kasten bauen. Und Sie könnten ihn benutzen zu Zwecken, die mit dem uns angegebenen in gar keinem Zusammenhange stehen!«

»Nun, bei der ›Pax‹ war man nicht vorbereitet. Man weiß doch längst, daß er im dritten Hafen durch Einfügung seiner Erfindung das Fahrzeug fahrfertig gemacht hat. Dieser Vorgang kann doch dieses Mal unmöglich unbeachtet und unbeobachtet vorübergehen – –«

»Nein – das kann er nicht! Und das ist ja auch die Hoffnung vieler. Gerade darüber sind Anfragen von höchsten Stellen und aus den verschiedensten Ländern an uns ergangen. Wir zweifeln auch nicht, daß die Werft Tag und Nacht von Hunderten von Augen bewacht wird!«

»Wer macht die Pläne? – Das muß doch ein Mann von gediegener Sachkunde sein!«

»Man vermutet, er selbst!«

»Ingenieur ist doch nicht Schiffsbau-Ingenieur!«

Der Direktor zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls spricht nichts dagegen, daß er sie selbst gemacht hat. Die Zeichnungen zu den beiden neuen Bauten tragen dasselbe Datum wie die der ›Pax‹. Müssen also nach langem Plane verfertigt sein. Ein weiterer Neubau ist uns außerdem in Aussicht gestellt!«

»Und der Tag der Abnahme?« forschte der Politiker.

»Ich kann nur wiederholen: Wir wissen ihn nicht!«

»Er muß aber nahe sein!«

»Das ist er! – Man kann ihn aus eine Reihe von Tagen bestimmen. Nach der Fertigstellung hat Herr Rusart noch neun Tage freie Liegezeit. Kontraktlich ausbedungen! – Innerhalb dieser Zeit, dürfen wir rechnen, werden wir die Fahrzeuge los!«

»Bei der Abnahme der ›Pax‹ haben Sie ihn gesehen?«

»Ja! – Er stand unter uns, wie aus dem Boden gewachsen!«

»Wie??«

»Niemand wußte, wie er auf den Platz gelangt war, auf dem wir ihn plötzlich sahen.«

»Mein Gott! Meine Herren, die Zeit der Wunder ist doch eigentlich vorüber. Aladins Lampe und Sesam, tue Dich auf …«

»Augenscheinlich ist sie noch nicht vorüber!« meinte der Direktor vielsagend lächelnd.

Der Ober-Ingenieur machte eine abwehrende Geste. »Sie ist vorüber; sie ist auch nie gewesen! Es ist eben kein Wunder. Wenn wir erst wissen, worin die Erfindung besteht, wird nicht mehr Wunderbares sein an ihr, als am Telephon und Phonographen. Oder –: das sind dann auch Wunder.«

»Immerhin wird es ein Ruhm für die Werft bleiben!«

»Ja – das wird es! Es gibt auch schwere Lasten. Da wir nur den einen Teil herstellen! Ein einziges Millimeter an der Dicke einer Stahlstange, die kleinste Abweichung in der Krümmung einer Wand kann die ganze Arbeit in Frage stellen. Wir können den dazu passenden gegenständigen Teil niemals heranprobieren!«

Der Besuch sah sinnend über die zahlreichen in großen Glasgehäusen stehenden Schiffsmodelle. Ganz vergeblich, hierhergekommen zu sein! Er kam sich vor wie düpiert. Es galt, sich einen Abgang zu sichern, in dem das Unangenehme des offenbaren Mißerfolges nicht mehr zu Tage trat.

Endlich wandte er sich an die beiden anderen.

»Ich will mit Ihrem Herrn Auftraggeber kein Geschäft machen! Sie kennen mich!« Der Direktor verbeugte sich. »So darf ich Sie vielleicht um eine Liebenswürdigkeit bitten: Lassen Sie mich es wissen, sobald Sie die Stunde der Abnahme erfahren!«

Schon wieder dieses verlegene Achselzucken.

»Soweit wir dazu imstande sind und … ermächtigt werden, … gern!«

»Ja, wie stehen Sie denn mit ihm in Verkehr?«

»Nur durch die General-Agentur in der Hermannstraße!«

»Wie alle Welt! Ich hätte eine andere Verbindung erwartet. Nun, immerhin! – sind Sie so liebenswürdig, an meine Bitte zu denken?«

»Aber natürlich! Es würde uns ein Vorzug sein.«

Man schied voneinander. Draußen stand der Besucher einen Augenblick kopfschüttelnd still. »Zu begreifen ist es nicht! Der Mann hat ein merkwürdiges Talent, sich die Zungen anderer zu verpflichten!«

Der Direktor trat mit dem Ober-Ingenieur in das Bureau des letzteren. »Es ist eine fatale Sache! Die Leute glauben einem einfach nicht. Man sieht es an den Gesichtern. – Der hat uns auch nicht geglaubt!«

»Ja, und ein neugeborenes Kind ist an seiner Dummheit nicht unschuldiger als wir.«

»Was mag er nur mit den Abänderungen an dem einen Bau vorhaben?«

»Mit den Rohren, die außenbords nach unten gehen?«

»Ja!«

»Man sollte es wissen, und man weiß es nicht. – Das eigentümlichste Verhältnis, das je zwischen Werft und Schiffseigner bestanden hat. – Es werden Geschützrohre sein – –« Der Oberingenieur sah durchs Fenster. »Da kommt schon wieder so ein vermaledeiter Fremder. Frägt überall herum. Sieht hierher! – Richtig, er kommt herauf. Ein patenter Kerl! Sehen Sie einmal! Ist das nun frech oder zuversichtlich? Schiebt den Portier beiseite!«

»Wir wollen äußerst auf der Hut sein, Ehlers!«

»Schon seit Tagen tauchen hierherum fremde Gestalten auf. Am merkwürdigsten war die letzte englische Deputation. Zum Studium der deutschen Schiffsbauten. Wenn wir nicht den Bau VII für Hamburg-Brasilien auf dem Helgen gehabt hätten, hätte ich ihr am liebsten den Zugang abgesperrt. Sie haben meistens nach den beiden Rusartschen geschielt.«

Der Bureaudiener kam herein. Mit einer offenen Karte und einem verschlossenen Couvert. Der Direktor las: »James York.«

»James York? Kenne ich nicht!« meinte er verstimmt zu Ehlers. Seine Mienen veränderten sich sofort, als er das Couvert erbrochen hatte. »Wir lassen bitten! Ins Kabinett!« wies er den Diener an. »Wir kommen sofort!« Er zeigte dem andern das Schreiben. Ehlers fuhr auf: »Die Runen! – die Runen Fritz Rusarts! – Ein Bevollmächtigter! Schnell hin zu ihm!«

»Eine Botschaft aus der Luft!« Sie eilten hinüber. James York war am Abend vorher auf dem Zentralbahnhofe angekommen. »Incognito«, wie er von sich sagte. So brauchte er auch nicht für ein Gefolge zu sorgen. Denn den Aménard, der die Fahrt mitgemacht hatte, rechnete er nicht. Er führte ihn nicht in den Spesen auf und veranlaßte auch seine Unterkunft in einem andern Hotel.

Der Mann wurde ihm überhaupt seit einiger Zeit sehr lästig. Bei den drei oder vier Besuchen im Hause des Oberpräsidenten hatte es der Aufwendung seines ganzen Witzes bedurft, um diese Klette von den Rockschößen abzuschütteln.

Die Besuche waren erbeten worden. Und niemand hatte sie lieber abgestattet als James. Er hatte gedurstet nach diesen Gelegenheiten.

Nicht, daß er zu irgendeinem besonderen Ziele gelangt wäre! Vielleicht war alles nur schwimmende Hoffnung! Aber er war trunken geworden und immer trunkener. Die Italiener hatten ihre Madonna, die Deutschen ihre Loreley. Brigitte war ihm beides. So ernst wie sie konnte keine sein, keine so lachen wie sie, so berückend! Sie war die verkörperte Verführung, und doch dachte er an sie wie an etwas unsäglich Keusches.

Er war immer ein Mann gewesen, im Grunde seines Wesens von vornehmer Gesinnung; aber sein Leben war ein stetes Reiben an rauhen Flächen; und seine Mitmenschen hatten sich redliche Mühe gegeben, ihm nachzuweisen, daß die Ideale nur in der Phantasie lebten. Die Menschenverachtung, die sich in der Vorsicht vor Menschen äußerte, war ihm von außen gekommen. Sie war aufgedrungen.

Nun fühlte er es wie einen Segen in sich aufgehen. Das ganze Sein kam ihm wertvoller vor. Daß man den oder jenen Menschen lieben konnte, – auch ohne die Liebe, die ein Rausch ist, – das war ihm wahrlich nicht fremd; auch ihm hatte ein gütiges Geschick Menschen in den Weg geführt, die ehrlicher Neigung wert waren, – so spärlich das Schicksal sie auch säte! – aber nie hätte er geglaubt, daß ein Mensch den andern anbeten könnte. Der Begriff »heilig« gehörte für ihn in eine Religionsform. Und weil er deren so viele gesehen hatte, hatte er sich keiner gefügt. Jede bekämpfte den Wert der anderen; und schon im Kampfe lag der Unwert.

Jetzt mußte er die Augen schließen, und eine Heilige erschien ihm. Er sah sie vor sich stehen in aller Schöne.

Und er fühlte noch den Händedruck, als er beim letzten Male von ihr gegangen war. Den ersten und einzigen, den er von ihr erhalten.

Aménard war damals gleich darauf fortwährend um ihn herumgeschlichen. Und als er ihn gefragt hatte, weshalb er nicht an seine gewohnten Geschäfte ginge, hatte er gegrinst: »Wo ist ein Geschäft? Hier kann auch eins sein. Meine Geschäfte sind nicht in einer Branche allein. Sind doch Sie auch verändert! Ich habe gesehen, daß Sie sich haben gegeben die Hände. Und wie lange es dauert, bis Sie sich werden waschen die Hände, daran werde ich wissen, wie sehr Sie sind verliebt.«

Statt aller Antwort war er vor den Augen des widerlichen Kerls gleich an die Waschvorrichtung getreten und hatte sich die Hände gespült. So bitter leid es ihm auch tat. Aber er wollte sein Innerstes nicht preisgeben. Und er hatte trotz seines schmerzlichen Gefühles gelacht. Und der Witz des andern? –: »Hätten Sie gesagt: ›Narrenspossen‹ – und nicht sich gewaschen! – Jetzt ist es Theater!« – Und dabei wieder dieses billige Grinsen.

Brigitte hatte Interesse an ihm gewonnen. Das war schon sehr viel. Bei dem Unterschiede in den Gesellschaftsklassen. Sie, eine Mendelssohn, Nichte eines der höchsten Beamten, von Jugend auf von Luxus und Feinheit umgeben; er, der Detektiv, der sich manches liebe Mal von einem Tag in den andern hineingehungert hatte.

Von nichts hatte sie mit ihm lieber gesprochen, als von der Rolle, die er in dem Rusartschen Unternehmen spielen würde. Und er fühlte noch heute ihren weiten Blick, als er ihr erzählt hatte, daß er auch schon auf der »Pax« gefahren wäre. Er hatte sie zugleich bitten müssen, auf Näheres zu verzichten, weil er Fritz Rusart Stillschweigen gelobt hätte. Aber er war von da ab für sie nicht mehr der Inhaber irgendeines Geschäftes gewesen, sondern ein Mensch von Zukunft.

Und wenn ihm der Zusammenhang mit Fritz Rusart dazu verhelfen würde, daß er vor Brigitte treten konnte, dann wollte er den Tag segnen, an dem er Minnie verleitet hatte, mit ihm in die See zu springen. – Treu sollte ihn der Herr befinden. In allen Lagen. Schon, weil in ihm die Vorstellung lebte, daß er sich seine Heilige nur verdienen konnte, wenn er der Besten einer geworden wäre.

Brigitte war wenige Tage vor ihm abgereist. Nach ihrer Heimat am Unterharz. Er hatte zur Seite des Bahnhofes am Gitter gestanden. An das Coupé zu treten hätte ihm Belästigung geschienen. Als der Zug schon im Rollen war, hatte er noch einen Blick von ihr erhascht; und sie hatte grüßend genickt und das Bukett vor ihm gesenkt.

Und wie war sie gütig! Von jener Güte, die vom Herzen stammt. Nie war ihr ein scherzhaft loses Wort über Aménard entfallen, der doch auch harmloser Kritik schon die breiteste Scheibe bot. Dieser Mensch hatte überhaupt unbegreifliches Glück. Eine Erscheinung wie der junge Baron, distinguiert und zurückhaltend, schloß sich ihm an. Als er diesen zuerst gesehen hatte, war eine leise Antipathie in ihm aufgestiegen. Augenscheinlich kein Mann der Kraft und der Tat, war er doch ein Rivale; bis er sich überzeugt hatte, daß jener nicht zu denen gehörte, die für eine Brigitte etwas sein konnten. Und dann hatte er, freier im Urteil, bald gefunden, daß der junge Baron ein Mensch von außerordentlich reichem Innenleben war; einer von denen, die auf Kosten der Aktivität vertieft sind.

Um so mehr hatte es ihn mit immer steigender Verwunderung erfüllen müssen, daß ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Menschen möglich war. Er hatte bemerkt, daß der Baron zu verschiedenen Malen zu Aménard gegangen und manche Stunde bei ihm geblieben war. Als er einmal nach dem Grunde des Besuches gefragt hatte, hatte Aménard nur gesagt: »Weshalb soll dieser nicht kommen zu mir, wo es kann jeder! Dieser kommt, weil er hat die Gedanken und ich die Erfahrung. – Und – wenn Sie's noch nicht wissen: Ich bin mitleidig! – Ich hab' ihm versprochen, daß ich will lesen seine Gedichte!« –

Er hatte ihn ausgelacht. »Sie? – Gedichte?« –

»Wieso?« – hatte Aménard erwidert. »Homöopathisch natürlich! – Er wollte selbst welche lesen. Davon bin ich losgekommen. Es ist eine schlechte Sache. Ich kann nicht hören, wenn einer weint und hat keine Schmerzen. Das kommt mir vor albern! – Ich habe gelesen eins, was er gemacht hat: »An die Entschwundene!« Und bin gerannt ins Geschäft. Ans Kassabuch. Daß ich wieder kam in Ordnung. Es soll in Indien oder wo welche geben, die stecken sich Hölzer durch die Muskeln oder stehen ein Jahr auf einem Bein. Und haben's auch nicht nötig. Überall gibt es Kranke. Dort sind sie so. Bei uns sind sie so!«

Und diesen Mann, diesen Aménard mit dem allezeit quergestellten Gedankengang, hatte er nun bei sich. Jetzt, in einer Lage, die keine irgendgeartete Teilung der Interessen vertrug. Es wäre schwer gewesen, ihn vollständig abzuweisen, und er hatte eigentlich auch um weiter nichts gebeten, als daß er ihn in der General-Agentur in der Hermannstraße einführte. Dann, so hatte er versprochen, wollte er ganz seiner Wege gehen.

Länger hätte er ihn auch keineswegs geduldet. Er war es gewohnt, allein zu stehen. Und wie er heute hier stand, hätte er selbst einen gestatteten Begleiter abgelehnt. So aber hatte Fritz Rusart ihm befohlen, allein zu handeln. Ohne sichtbare äußere Hilfe, ohne verborgene Deckung. Und er war stolz darauf. Keine gefährliche Fahrt, – aber eine selbstständige Vertretung. Keine Probe, sondern ein Teil des fortschreitenden Programmes. Und wie er jede Probe bestanden hätte, so würde er auch diese Aufgabe restlos lösen.

Er stand nun hier in dem Kabinett. Der Einrichtung nach war es nur für Besuch von besonderem Werte reserviert. Er sah sich in dem Raume um. Nichts deutete darauf hin, daß man sich in einem industriellen Etablissement befand. Draußen der Lärm rastloser Hämmer und das Zischen glühender Nieten, das Ächzen gigantischer Kräne und das Klirren grobgliedriger Ketten – hier ein stiller, vornehm ausgestatteter Salon. Durch die feingewebten Fenstervorhänge konnte man einen Blick auf den verkehrsreichen Elbstrom und gegenüber auf die breite Front Hamburgs werfen. Von dem lebhaften Pulsschlage der Werft selbst war hier nichts zu verspüren.

Es näherten sich Schritte. Der Direktor und der Oberingenieur traten ein. Sie verbeugten sich nach dem ersten Schritt. Dann begrüßten sie ihn.

»Von Wolfert, Direktor dieser Werft! Und dies: Herr Oberingenieur Ehlers!«

James York nickte mit der Würde, die für ihn zu seinem Auftrage gehörte. »Bin ich bei den Herren genügend legitimiert?«

Der Direktor faltete das Beglaubigungsschreiben auseinander. »Ja – mein Herr! – hier unsere Hälfte!« Er hielt vor James' Augen an das überbrachte, durchschnittene Papier die andere Hälfte, die auf Fritz Rusarts Anweisung im Geheimschrank der Werft gelagert hatte. Das ganze Blatt war mit einer Wellenlinie in der Diagonale durchschnitten. In der gleichen Linie, in der Fritz Rusart mit großen Zügen seinen Namen niedergeschrieben hatte. Die beiden Hälften paßten aneinander.

»Ich habe das Ersuchen zu stellen, die beiden Neubauten, die morgen mittag fertig sein müssen …«

»Um zwei Uhr! – wie bei der ›Pax‹ –«

»Von zwei Uhr ab zur Verfügung des Herrn Rusart zu halten. Die neun Tage freier Liegezeit werden dadurch nicht berührt. Jeder Neubau darf von morgen mittag zwei Uhr ab nur noch auf dem Kiel liegen und durch Unterstützen und den Sperrklotz gehemmt sein. Die Seitenstützen sind zu entfernen. Wir haben uns darüber vergewissert, daß die Pläne überall innegehalten worden sind. Die Salon- und Kajüteneinrichtung bei Bau B, bei der der Werft Spielraum gelassen war, hat Herrn Rusart befriedigt. Wieviel Zeit brauchen Sie, um das Freisein der Ablauffläche von passierenden Fahrzeugen zu erreichen?«

»Die Behörden sind zu benachrichtigen! Wenn auch irgendwelche Nachrichten an die Blätter nicht erwünscht –«

»Nein!«

»Immerhin brauchen wir die Barkassen der Hafenpolizei! – Vierundzwanzig Stunden!«

»Ich habe nur zwei Stunden zu bewilligen!«

Der Direktor war keine Sekunde im Zweifel, daß jede Gegenvorstellung nutzlos sei. Es galt, dem Verlangen nachzukommen. Er dachte angestrengt nach. Seiner Verlegenheit half Ehlers ab.

»Wir werden Schleppdampfer mieten und sie ›auf Ordre‹ vor der Werft liegen lassen!«

»Das würde bei der Wachsamkeit, die von allen Seiten geübt wird, bemerkt werden; – was augenscheinlich unserm Herrn Auftraggeber unerwünscht ist –«

»Das trifft zu –,« sagte James, »aber am Wachen können wir sie nicht verhindern. Die Werft ist von Spionen umgeben; sie haben sich in mehreren Treffen herumgelagert. Und die Leute sind nicht ungeschickt. Das Wasserreservoir, das Ihren Schornstein in der Mitte seiner Höhe umkränzt, hatte ich selbst für einen glücklichen Beobachtungsposten,« und ohne sich um die Verblüffung in den Gesichtern seiner beiden Zuhörer zu kümmern, fuhr er liebenswürdig fort: »Sie blamieren den Burschen am besten, wenn Sie einen guten Feldstecher hinaufschicken. Also: mieten Sie die Dampfer; jedoch erst, wenn Sie bis neun Uhr morgens Anweisung erhalten haben!«

»Woher, mein Herr, wissen Sie, daß sich sogar auf unserem Schornstein …?« konnte sich der Direktor nicht enthalten zu fragen.

James lächelte. Statt aller Antwort fragte er unvermittelt: »Wie denken Sie über das Schreiben des Kriegsministeriums?« Der Direktor fuhr zurück: »Kriegsministerium?«

»Ja! – Des Kriegsministeriums!«

Leugnen half nichts. Ja, wenn man gewußt hätte, wie weit Fritz Rusarts und seiner Leute Kenntnis ging! »Wenn Sie von ihm Kenntnis haben, werden Sie auch wissen, daß wir abgelehnt haben!« sagte der Direktor endlich.

»Ja! – und es war richtig! Trotzdem es eine honore Sache in honorer Form war. Und für Sie ein glänzendes Geschäft. Schreiben Sie jetzt nach Berlin, der Erfinder würde es sich zu einem besonderen Vorzüge rechnen, eine kleine Anzahl der Herren aus den leitenden militärischen Kreisen zu einer Probefahrt einzuladen. Zwei Tage und zwei Nächte. Von einem Punkte Deutschlands bis zum Sinai. Aus der Fahrt entsprängen weder Verpflichtungen noch Rechte. Die Einzelheiten des Programmes würden noch folgen!«

Die Zuhörer holten tief Atem. »So wird endlich Deutschland …?«

»Es werden mehrere Staaten vertreten sein!«

Das Frühstück, das die Herren ihn baten bei ihnen einzunehmen, lehnte James York ab. »Ich möchte vielmehr einen Gang durch die Bauten machen. Und wenn Sie nicht anderweitig in Anspruch genommen sind, würde ich um Ihre Begleitung bitten!«

Nichts kam dem Oberingenieur gelegener. Wenn der Direktor innerlich den Ausfall des Frühstücks bedauerte, weil er gehofft hatte, bei dieser Gelegenheit, die schon so manchem die Zunge gelöst hatte, Verschiedenes zu erfahren, unter anderem, woher dem Besuch die Kenntnis vom Schreiben des Kriegsministers kam: so war für den Oberingenieur der Gang durch die beiden Schiffe sehr erwünscht wegen der Aufklärungen, die in sein Fach schlugen, die jener würde geben können, und die er mit brennender Neugier erwartete.

Er sah sich bitter enttäuscht. Auf dem einen Bau verweilte James York nur kurze Zeit. Ein Gang über Deck und ein pausenloses Durcheilen des Unterschiffes, das war alles. Man befand sich auf dem kleineren, aber stärkeren Bau. James Yorks Gesicht und die Richtung seiner Augen wurden scharf beobachtet; aber es war nicht möglich, irgendwelche Schlüsse zu ziehen, ob dieser oder jener Teil des Schiffes für ihn von größerem Interesse sei. Sein Schrittmaß blieb immer das gleiche, ob er bei den außenbords hängenden Rohren, in denen Ehlers Geschütze vermutete, vorbeikam, ob er durch die Kammern ging, oder ob sein Blick dem rings um das Deck laufenden Metallrahmen galt.

Anders bei dem zweiten Bau. Länger und schlanker, bot dieser in seiner Erscheinung mehr Eleganz. Es war viel Holz verwendet worden. Das allein schon gab dem Schiffe etwas Anheimelndes, Warmes. Die Kajüten, die sich James York sämtlich öffnen ließ, wiesen eine Einrichtung auf, die denen der ersten Passagierdampfer nicht nachstand. Besonders machte sich als Unterschied gegen den Schwesterbau bemerkbar, daß bequeme Schlafkabinen und eine verhältnismäßig große Küche vorhanden waren. James ging nach Backbord hinüber. »Die Damen-Abteilung,« sagte er.

»Wir haben es nach den allgemeinen Anweisungen über die Ausstattung vermutet! Es wird ein Passagierfahrzeug?«

»Ja!«

»Und über die Geschwindigkeit? – Wir haben ein so großes Interesse daran! – Wirklich nicht geschäftlich!«

»Oh, Sie können es erfahren. Gleiche Geschwindigkeit mit der ›Pax‹ – 100 Kilometer in der Stunde. Nur ist die Fähigkeit, sich in der Luft zu halten, bedeutend geringer. Zweihundert Stunden wird das Fahrzeug haben.«

»Und dann? – Muß es wieder zum Ausgangsorte zurück?«

James lächelte und kniff die Augen halb zu. »Es kommt darauf an, wo die Aeronauten ihre ›Kohlen‹-Depots haben. – Und wieviel!« – Er sah zum Himmel; sich langsam umdrehend, als wenn er das Wetter betrachten wollte. In Wahrheit war sein Augenmerk auf einige Gerüststangen gerichtet, die, weit höher als der Neubau, in den Luftraum über demselben hineinragten. Hilfsträger für elektrische Bogenlampen. Er prüfte sie mit den Augen auf ihre Stärke. Sie würden kaum hindern. Schlimmstenfalles würden sie zertrümmert werden. Um nichts zu verraten, schwieg er, so gern er auch ihre Entfernung veranlaßt hätte.

»Sollte es nicht möglich sein,« fragte Ehlers mit angenehmer Zurückhaltung, »daß uns einmal die Teilnahme an einer Fahrt gestattet würde? – Man könnte uns doch den innerlichen Zusammenhang zugestehen!«

»Die Liste ist noch nicht aufgestellt. Ich will Herrn Rusart den Fall vortragen!« Er wendete sich plötzlich um. »Weshalb, Herr von Wolfert, haben Sie die Tatsache, daß das Kriegsministerium sich an Sie gewendet hat, nicht zur Kenntnis des Erfinders gebracht?«

»Das Angebot enthielt eine Einladung an Herrn Fritz Rusart. Und solcher haben wir sehr viele erhalten! – Unter ihnen auch einige, die eine verzweifelte Ähnlichkeit mit Fallen hatten. Auch sie haben wir verschwiegen. Weil nun in dem Schreiben des Kriegsministeriums für den Fall einer Verständigung in versteckter Form eine Vermittlungsgebühr in Aussicht gestellt wurde, deren Höhe sogar in loyalster Weise in unser Ermessen gestellt wurde, verbot es uns ein gewisses Zartgefühl, diesen Fall für ungefährlich zu halten!«

»Es fiel uns allerdings andererseits auch schwer, anzunehmen, daß der preußische Kriegsminister Fallen stellt!« sagte der Oberingenieur.

James sah ihn von der Seite an; er fand den militärischen Patriotismus etwas reichlich. »Sie unterschätzen den Mann!«

»Unterschätzen?«

»Er stellt die Falle nicht, wenn er weiß, daß sie rostet. Sonst hat auch er die kulturüblichen lockeren Grundsätze. Lassen Sie ihm die Wahl: einen guten Spion oder ein Regiment Soldaten! – Das Regiment können Sie verauktionieren! Er nimmt den Spion!«

»Ja – im Kriege!«

»Wann haben wir nicht Krieg!« warf James hin. »Der Unterschied ist nur der: das eine Mal bekommen die Gesandten Ferien und die Soldaten keinen Urlaub. Das andere Mal ist's umgekehrt. – Ein Würgen ist ständig in der Welt. – Ihre Werft – eine zernierte Festung; der Erfinder – eine Person, auf die die ganze Welt fahndet! – Haben Sie unter den Arbeitern irgend etwas Verdächtiges bemerkt?«

»Nein!«

»Der bekannte Aufruf ist doch auch hier angeschlagen worden!«

»Ja, aber erst, als ein Streik uns nicht mehr geniert hätte!«

»Sie haben nur Arbeiter unter den Arbeitern?«

Der Direktor witterte leisen Hohn. »Der Fall mit der ›Pax‹ hat uns damals ja eines andern belehrt. Trotz großer Vorsicht und Mühe: wir haben auch diesmal keine fremden Elemente bemerkt. Herr Rusart hat es bei der ›Pax‹ gewußt. Denn er hat seine beiden Leute selbst aus dem Haufen der Arbeiter herausgerufen. Er wird es auch jetzt wissen! – – Wird er selbst herkommen?« fragte er nach einer Pause.

»Ja«

»Und die ›Pax‹?«

»Muß die ›Pax‹ bei einem Ablaufe zu Wasser anwesend sein?« lautete James' doppelsinnige Gegenfrage.

Die drei standen an Deck. Rechts und links und hinter ihnen lag die Werft. Jenseits der Elbe konnten sie mit ihren Blicken das ganze Ufer bestreichen. Bon der Seemannsschule und der Kaiserlichen Seewarte bis zu dem mit dem Zeitball gekrönten Quaispeicher. James tippte mit dem Fuß gegen das glänzende Holz, das den Deckbelag bildete. »Sie haben zweifellos den letzten ›Kosmopolit‹-Artikel gelesen?«

»Den über unsere Neubauten? – Ja!«

»Die Kasten, die wir jetzt unter unseren Füßen haben, würde man uns stehlen oder rauben. Hunderte von – sagen wir – gefesselten Energien liegen auf der Lauer. Das Fieber geht so weit, daß man sich um gedruckte Gesetze, um Moral nicht kümmern will! Nicht will! Aber eins schützt uns! Und das ist ihre Fessel: alle die Augen, die nach uns dreien jetzt sicherlich durch gute Fernrohre spähen, haben den Artikel auch gelesen: diese braven Kasten hier unter uns sind eine tote Sache. Das Edelwild erhält den haut-goût erst durch die Füllung.« Er sah nach der andern Seite hinüber. »Und die Männer mit den langen Augen sind lauter Feinschmecker!«

»Wir haben uns bei dem eigenartigen Verhältnisse jedes Fragen untersagt; auch da, wo gerade uns ein Interesse kaum hätte verdacht werden können. – Es lag das in den Voraussetzungen, die Herr Rusart gleich bei der ersten Anknüpfung bei uns aufstellte. – Aber – nun sind wir in Sorge! – Recht in Sorge!«

»Wovor?« Es klang nachlässig.

»Die Stille ist zu dumpf. Wir wissen davon, daß ein Strom von Fremden hereingeflossen ist. Aber nicht wie sonst, wenn wir vielleicht eine Ausstellung hatten. Oder der Zirkus kam. Daß die Hotels überschwemmt waren und die Fremdenlisten unheimlich anschwollen. – Diesmal ist alles in unscheinbare Privatquartiere gezogen! – Da drüben hinüber I«

James nickte. »In dem früheren wüsten Viertel! Das Sauberkeit liebende Stadtväter vor Jahren dem Lichte zugänglich gemacht haben. Und in dem sie den guten Geschmack besaßen, ihre glorreiche Vergangenheit in den Schildern an den Straßenecken wieder aufleben zu lassen. Ich kenne die Gegend! – Aber ob die Leute dort wohnen oder in den Hotels –«

»O, das Zimmer im Hotel können sie nicht beliebig benutzen – –«

»Bombenfabrikation?«

Der Direktor zuckte mit den Schultern und schwieg.

»Ihre Besorgnis ist unnötig. Wer sich einer Sache bemächtigen will, sprengt sie nicht in Fetzen!«

»Aber wer einen Menschen in die Gewalt bekommen will, einen Menschen, der nützlich ist, wenn man ihn hat, – aber unter allen Umständen ein Schädling, wenn man ihn nicht hat – und wenn man alle Mittel, ihn zu fangen, aussichtslos sieht –! Es gibt Leute – ich möchte jetzt, nun gerade, da die Abnahme nahe bevorsteht, recht sehr daraus hinweisen – die einen Fritz Rusart, wenn sie ihn nicht lebend bekommen können – tot wissen wollen. Hat er daran gedacht? – Hat er gar keine Furcht?«

»Der Mann ist zu kalt zur Furcht!«

»– – Aber die Vorsicht!«

»Übt er! –«

»Nun, von uns ist eine große Beunruhigung genommen, wenn wir die beiden Fahrzeuge erst in seiner Hand wissen.«

»Die Angst um einen Starken ist eine frivole Beschwerung des Gemüts!« –

Der Direktor mußte lächeln. Bald wurde er aber wieder ernst.

»Dürfen wir auf Befragen erklären, daß Herr Rusart zur Abnahme persönlich erscheinen wird?«

»Ja! – mit dem gefühlvollen Zusatze, daß die Kenntnis niemandem nutzen kann. Er wird keine Zeit zu Audienzen und Interviews haben – –«

»Oh –!«

»Weil er eine Bombe für keinen Polstersessel hält! – Ihre ganze Sorgfalt muß darauf gerichtet sein, daß die beiden Neubauten nicht von Unbefugten betreten werden. Und der Kreis der Befugten ist sehr begrenzt. – Ich verabschiede mich jetzt. – Ich werde durch eine Allee von geschliffenen Linsen spazieren. – Und mein Hotelwirt wird entzückt sein über die Nachfrage nach Zimmern. Da ich aber nicht dafür aufzukommen pflege, wenn meine Nachbarn die Türen zu meiner Klause anbohren, habe ich kein Interesse am Emporblühen seines Geschäftes!« –

James verließ die Werft. An dem Anlage-Ponton wandte er sich nochmals zu seinen Begleitern. »Vergessen Sie nicht, dem Manne auf dem Schornstein das Ungesunde seines Sitzes nachzuweisen!« –

Es waren zwei Brüder im Reich. Beide hochgeehrt. Der Finanzminister und der Kriegsminister. Die Talente waren ungleich verteilt: Der eine hatte eine Kuh im Stalle, und der andere litt an Magenerweiterung. Ein häßliches Leiden; weil es einseitig macht. Dieses Talent lebte nur noch von Milch, konnte sie aber in erschrecklichen Mengen vertragen. Vielleicht hätte sich der Fall schon bis zum Trauerrand ausgewachsen! – aber: an wen wendet man sich in seiner Not zuerst? – an seinen Bruder! Wen läßt man zuletzt verhungern? – seinen Bruder!

Wenn sie beide vor der Kuh standen und über die Milchquelle strichen, sagte der Kriegsminister: »Bester, davon mußt du dich nicht täuschen lassen! – Das wird ja immer wieder voll!«

Er kam auch nur in kritischen Zeiten. Er war froh, wenn er die gefüllten Milchkannen daherwandeln sah.

Der Finanzbruder stand einmal am Fenster. Da zog er die Augenbrauen hoch, sehr hoch; beinahe bis an die Haarwurzeln. Er hatte den Kriegsminister kommen sehen.

»Mir ist so eigenartig zu Mute!« sagte der Eintretende. Am Druck der Hand war die sogenannte verschämte Sehnsucht zu fühlen.

»Eigenartig zu Mute?« antwortete der Herr der Finanzen gedehnt. »Das ist ein bedenkliches Symptom! – Auch bei Kriegsministern! – Du – wirst doch nicht etwa – –?«

»Ein Projekt kriegen? – Unsinn! – Aber mir ist, als ob meine gesamten Eingeweide verschwunden wären, und ich hätte nur noch einen Magen! – Mein ganzer Leib ein Magen!«

»Pfui Teufel!« knurrte der Finanzminister. Das galt nicht dem Magen, sondern der erhöhten Milchforderung. Aber was half das alles! – Er ging in den Stall, stellte sich vor die Kuh und sprach in ihrem Jargon mit ihr. Er verstand den übelsten Satz schmackhaft zu deklamieren.

Der Diner-Motive gibt es viele. Man geht zum Essen aus Hunger, das Normal-Motiv; – aus Liebe, weil die andere da ist; aus Eifersucht, weil der andere da ist; es gibt schnöde Genußsucht; man kann essen aus herangezüchteter Anlage zur Völlerei, aus Haß, aus Rache.

Die Milchkuh hörte den Sermon an. Sie war moralisch. Sie fraß aus Pflichtgefühl. Aber die Sanftheit des Vorganges sollte getrübt werden. Die Wiesen erhoben ein mörderisches Geschrei, als die Kuh, der Mehrforderung entsprechend, ihre Tagesrationen einrichtete. »Bald wäre nicht mehr ein einziger Grashalm zu finden! – – Und woher etwas wachsen sollte, wenn fortwährend nur gefressen würde!« –

Der Lärm der grünen Wiese klang bis zum grünen Tische. Dort saß der Finanzminister und schwamm im Abstrakten. Was nicht jeder könnte: Reisen machen, ohne den Schreibstuhl zu rühren – er konnte es. Er lehnte sich zurück, schob die Beine weit nach vorn und spazierte die Wiesenraine entlang, kroch durch Knicke und hüpfte über Be- und Entwässerungsanlagen, griff auch mal mit seinem Arm in eine nackte Weidenkrone und zog sich hoch. Des besseren Überblickes wegen.

»Es gibt doch eigentümliche Wiesen,« sagte er kopfschüttelnd, »ganz eigentümliche Wiesen! Sie haben Stellen, an die meine Kuhzunge noch gar nicht herangereicht hat. Aber mitgeschrieen haben sie doch. Es wäre ungerecht, wenn man ihnen den Grund zum Schreien noch länger entzöge!«

Und er gab den Grund.

Galt es doch vor allem, das teure Leben des Bruders zu erhalten

Da geschah ein wundersam Ding.

Die Brüder begegneten sich auf dem Wege. Sie hatten einander also besuchen wollen.

»Was ist's? Wolltest du zu mir?«

»Ja! – und du? – zu mir?«

»Ja!«

»Das ist doch – –! Was trieb dich?«

»Hast du die Vorboten des Sturmes nicht gefühlt? Er wird mir die Wiesen verderben! Und – –«

»Und ich«, sprach der Kriegsminister finster, »habe schon die ersten Windstöße geschluckt. Und davon ist mir die Milch im Magen schlecht geworden!«

»Was tun? In unserer Not!«

»Laß uns zum Throne gehen!«

* * *

Die Vorträge, die die beiden Minister bei dem Kaiser hielten, liefen beide auf dasselbe hinaus. Jeder zitterte für sein Ressort. Wenn einer in Zeit und Ausdehnung unübersehbaren Kalamität und dem schließlichen Zusammenbruche vorgebeugt werden sollte, müßte unbedingt die Erfindung in den Reichsdienst gestellt werden. Jeder Tag des Zögerns wäre verhängnisvoll.

Der Finanzminister, eine von seinem kaiserlichen Herrn hochgeschätzte Kraft, wies nach, daß der Erfinder, sofern man ihn gewähren ließe, ihm die bisherige Einnahmequelle aus den Zöllen verstopfen würde. Und zwar in gleichem Maße verstopfen würde, als bei ihm die Zahl der Transportmittel für Waren anwüchse. Er habe nur nötig, im Frachttarif unter dem Zollsatze zu bleiben. Es wäre ein Prozeß, nach und nach, aber mit einer Sicherheit im Fortschreiten, die dem raffinierten Erdrosseln durch einen geübten Henker gleichkäme.

Man sei damals in den Besitz einer Abschrift des Berichtes gelangt, den der Freiherr von Nyuwskill an seine Regierung erstattet habe. Aus diesem ginge unzweifelhaft hervor, daß der Erfinder sich genau bewußt gewesen sei, welche Waffe er in Händen habe. Wenn der Berichterstatter in einer persönlichen Eingenommenheit für diesen Rusart von dessen edlen Eigenschaften, von einer vornehmen kosmopolitischen Gesinnung, von einem Altruismus spräche, so seien diese Eigenschaften – ihr Vorhandensein überhaupt vorausgesetzt! – für alle anderen bewundernswert und vor allem günstig, für Deutsche aber bei einem Deutschen schwer bedauerlich. Es fehle an dem tiefen Zuge zum eigenen Vaterlande.

Man könne sich mit sentimentalen Klagen nicht aufhalten. Die Gefahr kreise über dem Lande, und die Umwälzung stehe vor den Toren.

Trotz eines gewiß möglichst kleinmaschigen Nachrichtendienstes sei es noch nicht möglich gewesen, die jedesmaligen verschiedenen Landungsplätze des p. Rusart festzustellen. Bei seinem Manövrierfeld sei er in der Lage, jeder Kontrolle zu spotten. Man habe ihn mittags über eine Gebirgsfalte in den Sudeten aus Böhmen nach Schlesien hineinschwimmen sehen; man habe ihn von der Liebigshöhe in Breslau beobachtet, wie er den Kurs nach Osten hielt, und am selben Tage abends habe er fast eine Viertelstunde über dem Straußberger-See in der Mark gestanden. Er sei unzweifelhaft noch in der Nacht irgendwo gelandet. In Marxdorf, am roten Luch, hätten die Bauern ein schnell vorübergehendes, außerordentlichen Schrecken erregendes Rauschen wahrgenommen, das die Fenster hätte klirren und die Luft in den Kaminen fauchen lassen; sie hätten, als sie nach der ersten Lähmung hinausgestürzt wären, einen ungeheuren Bolzen hinter dem Dorf in der Luft gesehen. Er wäre in den nahen Kieferwäldern verschwunden. Das ängstliche und abergläubische Volk hätte nichts Eiligeres zu tun gehabt, als wieder in die Betten zu kriechen.

Aber bei verständigen Leuten habe sich die feste Überzeugung herausgebildet, Rusarts Eröffnung, er könne sich sechsunddreißig Tage in der Luft halten, beziehe sich nur auf die ausnahmeweise angespannte Schwimmfähigkeit seines Schiffes. Wenn sich hier auch Theorie und Praxis in Berechnung und Leistung decken mögen, so sei doch bei allem Nachsinnen kein Fall zu erdenken, der die sechsunddreißig Tage oder einen auch nur halb so großen Zeitraum erzwänge. – Man habe das Recht, anzunehmen, daß der Aufenthalt in der Luft wertlos sei, wenn er nicht dieselbe Rolle spiele wie die Eisenbahnfahrt, die Fahrt zu Schiffe. Er müsse Mittel sein, nicht Zweck. Dieser Auffassung sei auch zweifellos Rusart, den seine Aufsätze als einen geistig sehr hochstehenden Mann charakterisierten. Von der Lösung also einiger wissenschaftlicher Probleme abgesehen, die ein ausgedehntes Verweilen in der Atmosphäre rechtfertigen, müsse der springende Punkt immer die Beobachtung sein: weshalb und womit steigt er, und weshalb und womit landet er; also nicht sein Schiff und die technische Errungenschaft, die in ihm liege, sondern Ort und Zeit von Auf- und Abstieg und die Landung.

Nun sei jede einzelne Fahrt vom Auslande her mit einer Landung im Inlande symptomatisch für die zukünftigen schweren Schädigungen des Reichsfiskus und der Finanzen der einzelnen Staaten. Der bekannte Bericht sei in der einen Behauptung gar nicht zu widerlegen, daß die geregelte Erhebung der Zölle mit der Einführung des Raumbegriffes falle. Diese Erhebung kenne in ihrer ganzen historischen Entwickelung und in der jetzigen daraus entsprungenen Form nur den Flächenbegriff, und dieser sei umsäumt oder durchzogen von Kontrollinien. Der Kubus sei nicht zu bewachen.

»Und Ihr Plan?« fragte der Kaiser, der am Fenster stehend dem Vortrage mit verschränkten Armen zugehört hatte.

»Wo die Arbeitsleistung nicht zu bemessen ist, Majestät, muß die Faust belastet werden!«

Der Kaiser sann nach. Sein kluges, energisch geschnittenes Gesicht sah fragend hinüber. »Das hört sich ungerecht an!«

»Geruhen Majestät sich das Nähere vortragen zu lassen. Daß das Luftschiff sich betätigen darf, dafür muß es, – jedes einzelne –, uns für das entschädigen, was uns durch seine Leistung entgeht. Der Erfinder wird zur Verbindung mit uns veranlaßt. Die in Hamburg liegenden beiden Neubauten sind zur Abnahme fertig. Wir sind durch unsere Detektivs und den Gesandten bei den Hansestädten eingehend informiert. Es wird sich dort Gelegenheit bieten, den Erfinder – wie darf ich mich ausdrücken – anzuhalten, sich der Regierung zu stellen. Principiis obsta! Das eine Schiff, das er bereits besitzt, die beiden, die er jetzt in Gebrauch nehmen will: sie sind nicht die Gefahr! Noch nicht! Sie sind die Drohung. Man muß das Zusammengehen mit dem Erfinder versuchen, auf alle Art; und wenn nicht – –«

Der Kriegsminister fiel ein. »Mit Gewalt! Majestät!«

Die kaiserliche Stirn umwölkte sich. »Die Gewalt, wenn von ihr gesprochen werden soll, hat nur der Stärkere!«

»Noch sind wir es. Majestät!« – verteidigte sich der Kriegsminister. – »Ich glaube nicht, daß dieser Rusart Vorstellungen und Hinweisen auf seine Pflicht als Deutscher zugänglich sein wird. – Seine Haltung und die lange Reihe seiner Aufsätze sprechen nur dafür, daß er in einer kindlichen Auffassung die ganze Welt glücklich machen will. Ich habe das Gefühl, als ob er partiell unreif sei.

»Mir scheint aber überhaupt der Schwerpunkt an anderer Stelle zu liegen als meinem Kollegen von den Finanzen. Rusart ist ein Friedensschwärmer. In der Geschichte haben wir bereits eine ganze Kollektion von diesen Beglückern und Aposteln. Außer dem Unfug, der in der praktischen Unerfüllbarkeit des Sehnens nach dem ewigen Frieden liegt, haben sie nennenswerten Schaden nicht angerichtet. Weil sie keinen anderen Besitz hatten als ihre billige Gesinnung und keine andere Waffe als ihre Zunge.

»Und das Recht zu schwatzen, hat außerhalb der Kriegsartikel ja leider jeder.

»Was diesen Mann jedoch so gefährlich macht und ihn von den Leuten, die mit der Friedensschelle auf den Gassen herumklingeln, unterscheidet, das ist, daß die Macht, die ihm zusehends wächst, alle Welt so begehrlich macht. Er selbst wird sie nicht mißbrauchen, weil er sie nicht gebrauchen wird; er ist zu sehr internationaler Narr! – aber sie wird ihm entrissen werden. Es gibt keinen Kulturstaat, der nicht jetzt in Hamburg auf der Lauer läge. Und sein Nachfolger im Besitze, dieser und dieser allein, der ist die Gefahr! – Der wird hochgehen und alles unter seine Botmäßigkeit zwingen.

»Mich geniert nicht der Mann, sondern der, der nach ihm kommen wird. Und deswegen müssen wir dieser Zweite sein. Wir selbst werden uns nicht genieren – –«

Ein feines Lächeln zog bei diesem doppelsinnigen Satze über die Züge des Kaisers.

»Eine Kugel«, fuhr der Kriegsminister fort, »senkrecht in die Höhe geschossen, fällt mit derselben Geschwindigkeit in den Lauf zurück, mit der sie ihn verlassen hat. Der Bruchteil einer Sekunde, den sie bewegungslos oben in der Luft schwebt, teilt ihre Laufbahn in zwei Hälften. Jeder Schuß kostet Geld. Und zwar ist das Teure die erste Hälfte. Diese haben wir bis jetzt immer leisten müssen. Pulverladung, Geschoß, Geschütz und Geschützabnutzung. Rusart nimmt die zweite Hälfte in Anspruch und macht es verblüffend billiger. Gar keine Pulverladung und ein Geschütz, das der Abnutzung so gut wie nicht ausgesetzt ist; fehlt doch vor allem die Explosion und der den Rücklauf verursachende, schädigende Stoß bei der Entladung. Benutzt der Besitzer – ich sage nicht: der Erfinder, Majestät! – benutzt der Besitzer Brisance-Geschosse, so zerfetzt er mühelos von oben mit einem Schusse eine marschierende Kompagnie, ein geschlossenes Bataillon. Und seine Erklärung, er würde, um die äußere Schönheit eines Panzers nicht zu beeinträchtigen, die Kugeln von zweitausend Meter Höhe in die Schornsteine jagen und so das Schiff zum Sinken bringen, läßt zwar bezüglich seines ästhetischen Gefühls auf Hang zur Schönrednerei schließen, ist sachlich aber nicht zu bezweifeln

»Ein Stahlgeschoß aus zwei Kilometer Höhe mit senkrechtem Einschlag in den Schornstein kostet jedesmal an der Stelle den Kiel. Außerdem wird die Maschine zerschmettert. Und keine Deckpanzerung, keine Panzerkappe über den Schornsteinen würde nutzen. In artilleristischen Kreisen ist man seiner Behauptung, vermittels des von ihm benutzten Teleskop-Visiers vermöge er noch auf zweitausend Meter eine Treffläche von neun Quadratmetern zu verbürgen, näher getreten. Diese Behauptung ist nach dem Berichte nicht anzuzweifeln. Auf viertausend Meter garantiert er fünfundzwanzig Quadratmeter.

»Und er hat recht. Je größer die Rasanz unserer Flugbahn, um so mehr haben wir anwenden müssen, um die Schwerkraft zu überwinden. Sie ist unsere Gegnerin. Unser Geschoß wird immer müder. Sein Geschoß wird immer stärker und schneller, weil Geschoßbahn und Schwerkraftlinie sich decken. Der einzige Faktor, mit dem er zu rechnen hat, ist Seitenwind. Daher seine relativ außerordentlich hohe Treffsicherheit.

»Als Eure Majestät mich zum ersten Male in der Rusartschen Angelegenheit zum Vortrage befahlen, war Eurer Majestät besondere Frage, ob die Erfindung zum Patent angemeldet sei – – –«

Der Kaiser nickte. »Wegen des § 5 – –«

»– wonach Eurer Majestät Regierung dann ein Patent nicht zur öffentlichen Wirksamkeit kommen läßt, wenn es im Interesse von Heer oder Flotte oder im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt benutzt werden soll. Es würde solchen Falles die Abfindung des Patentinhabers von Staatswegen erfolgen. Der Mann hat kein Patent genommen. In Nummer 7 des ›Kosmopolit‹ schreibt er, der Grundgedanke eines Patentes sei der Schutz, den es gewähre. Diese Überlegung würde jedem klar machen, daß seine an sich zweifellos patentfähige Erfindung nicht patentbedürftig sei.

»Wenn alles zusammengestellt wird, kommt ein erschreckendes Fazit für unsere Verteidigungs- und Angriffs-Errungenschaften heraus: Je mehr Soldaten, je mehr und bequemere Zielobjekte. Denn verbergen kann sich eine Armee nicht. Und eine Panzerplatte an unseren schweren Schlachtschiffen hat nicht mehr Wert als ein Eisenblech. So sind die ungeheuren Ausgaben, die in verständiger Erkenntnis ihrer Notwendigkeit gemacht worden sind, vergebens gewesen.

»Der Weg durch das Patentgesetz geht nicht zu dem Manne. Aber ich behaupte, daß der gesunde Gedanke, der aus nationalem Interesse in den Paragraphen 5 gestellt ist, nicht auf dieses Gesetz beschränkt ist. Bei einer Erfindung, die so außerordentlich wertvoll ist, und die, wenn sie nicht in Reichshand kommt, uns außerordentlich schadet, kann ihre zwangsweise Erwerbung nicht davon abhängig gemacht werden, ob der Mann ein Patent nachgesucht hat.

»Eurer Majestät darf ich auf Grund meiner sicheren Informationen melden, daß nicht nur der Kontinent und England und Amerika, daß sogar China und ganz besonders Japan in Hamburg stark vertreten sind. Keiner wird auch nur einen Augenblick zaudern, den Weg der gesunden Gewalt zu betreten. Die Fahrzeuge können sich noch nicht in der Luft halten. Wie die ›Pax‹ müssen sie erst präpariert werden. Diese Zeit des Präparierens ist die späteste, die benutzt werden kann. Dann sind aber auch alle da.

»Der Hauptpunkt meines Vortrages ist, ob es nicht Eurer Majestät kaiserlicher Wille sein möchte, die Schiffe noch auf der Werft zu beschlagnahmen, den Ablauf durch einen Kordon von vorgelegten Staatsfahrzeugen unmöglich zu machen und die Werft durch das Regiment ›Hamburg‹ besetzen zu lassen. Die ›Pax‹ ist ein Modell. Sie hat sich bewährt. Bekommt er aber die anderen nicht, – mit der ›Pax‹ allein kann er nichts anfangen! – so wird er sich zu einer Verständigung bereit finden lassen müssen!«

Der Kaiser schritt sinnend auf und nieder. Endlich blieb er vor seinem Kriegsminister stehen. »Ich will nicht Gewalt, – – noch – nicht! Wenn ich ihm seine Schiffe nehme, ist das zweifellos ein Gewaltakt. – Und er nutzt nichts, mein lieber Minister! Der Mann geht in einen andern Staat und baut dort! Wird er ›von Einem‹ gehindert, ›der Andere‹ empfängt ihn mit offenen Armen!«

Der Kriegsminister trat einen Schritt vor. »Majestät, auch der Mann muß verhaftet werden!«

»Verhaftet? – – Der Mann? – Der gesetzliche Grund dazu?«

»Er hat ein halbes Dutzend unserer Festungen photographiert. Man kann nicht wissen: jeder Offizier aus Brest könnte sich in Küstrin und Thorn zurechtfinden!«

»Er hat die Photogramme nur den betreffenden Regierungen übermittelt. Wir wissen das. Wir haben auch keine fremdländischen Festungsbilder erhalten!«

»Sehr wohl, Majestät! Wieder einer seiner bedauerlichen Züge! Er hätte verständiger und patriotischer gehandelt, uns mit den ausländischen zu bedenken! – Aber er darf unsere Festungen überhaupt nicht photographieren!«

»Ich habe auf die damalige Meldung hin befohlen, daß das nicht Gegenstand einer strafrechtlichen Verfolgung werden sollte. Ein in den Augen aller Welt nicht zu erledigender Steckbrief hätte meiner Justizverwaltung nur etwas Lächerliches angeheftet. – Bei diesem Befehle soll es bleiben! – Vorläufig! –

»Meine Herren! Ihren Standpunkt teile ich nicht! Er ist richtig, aber nur von Ihren beiderseitigen Ressorts aus. Ich werde erst noch den ganzen Ministerrat hören. Und wohl auch den Staatsrat einberufen!« – Der Kaiser stand vor seinen Ministern still und wies mit der Hand nach seinem hochbeladenen Arbeitstische. »Dort liegt der ›Kosmopolit‹! Es fehlt keine Nummer! Ich habe sein eingehendes Studium in mein schon reichlich bemessenes Arbeitspensum eingefügt, und ich habe diesen Rusart verstanden. Vielleicht liegt es daran, weil ich kein Ressort zu verwalten habe. – Er ist ein großzügiger Mensch! – Aber er ist sehr gefährlich! – Nicht, weil er unreif ist, – nein, weil unsere Zustände nicht reif sind für seine Ideen. – –

»Es ist nicht ein Haupt- oder Seitengang seiner Gedanken, auf dem ich ihm nicht an der Hand seiner Aufsätze gefolgt bin und wo ich ihn nicht kontrolliert habe. Ich sage Ihnen, der Mann ist groß. – Und es ist schlimm für uns und für ihn, daß wir sagen müssen, er ist zu groß!« – Mit der ihm eigenen Plötzlichkeit und Härte im Ton wandte sich der Kaiser nur an den Kriegsminister. Er sah ihn mit seinem Adlerauge scharf an. »Haben Sie schon einmal eine verhaftete Idee gesehen?«

Der Angeredete beugte den Kopf. »Majestät –«

»Nein!« sagte der Kaiser kurz.

»Majestät – –«

Der Kaiser winkte mit der Hand. »Was unserm Finanzminister das lenkbare Luftschiff unheimlich macht, – daß es nämlich nicht in ein Gehege paßt, nicht ummauert, nicht festgehalten werden kann, – das hat es nur gemein mit jeder Idee. – – Und diese Eigenschaft der Idee ist das Herrlichste an ihr; denn sonst ginge es den Vesten von uns am schlechtesten. Es kommen in dieser Welt auf einen ›Kopf‹ zu viel ›Einmaurer‹!« – Er sprang ab. »Wie erklären Sie es, daß es bisher nicht gelungen ist, diese rätselhaften Notizen im Briefkasten des ›Kosmopolit‹ zu entziffern, die dort immer an dritter Stelle stehen!«

»Dieser Umstand, Majestät, ist auch ein Gegenstand des eifrigsten Interesses des Kanzlers. Das Geheimbureau hat trotz ununterbrochenen Probierens nur vier Worte entziffern können. Zwei Zahlen, das Wort ›Einfluß‹ und den Ortsnamen ›El Akaba‹ – auf der Sinai-Halbinsel.«

»Man entziffert doch sonst Telegramme!«

»Ich war bei dem Chef der Geheimabteilung, Majestät! Er erklärte mit großer Sicherheit, daß Rusart sich eines ganzen Systems von Schlüsseln bedienen müßte. In einer Notiz! Seiner Vermutung nach befänden sich in den einzelnen Sätzen Worte, die, in ihrer Bedeutung sinnlos, nur den Zweck hätten, den für die folgenden Stellen anzuwendenden Schlüssel zu bezeichnen, und die nur so lange Geltung hätten, bis ein neues Wort auf einen neuen Schlüssel hinwiese. Ein Berg von Schwierigkeiten!«

»Doch nicht unüberwindlich!«

»Nein, aber eigentlich nur einem glücklichen Zufalle – oder vielmehr einer erforderlichen, fraglos sehr großen Reihe glücklicher Zufälle überlassen!«

»Und noch immer weiß man nicht, an wen sie gerichtet sind?«

»Nein, Majestät! – Da würde die Kenntnis des Inhaltes natürlich sehr von Nutzen sein. – Frau Reinecke, die Hand in Hand mit dem Geheim-Kommissar von Weigert handelt, hat uns schon bedeutende Dienste geleistet. Sie hat vor allen Dingen festgestellt, daß sich Rusart durchaus nicht immer auf der ›Pax‹ aufhält. Er ist tagelang auf dem Erdboden, scheinbar ohne jede Verbindung mit der ›Pax‹. Die Perioden, in denen er ihr entschlüpft war, waren häufig und wechselten zwischen Stunden und einer Woche. Und jedesmal war die Vermutung nicht von der Hand zu weisen, daß er sich nachts von seinem Luftschiffe hat aufnehmen lassen. – Der eine Fall in den Niederlanden ist ja später durch den Bericht des Ober-Präsidenten zur Sicherheit geworden. Rusart muß auf seiner ›Pax‹ technisch geschulte, zuverlässige Kräfte haben. Man weiß auch noch nicht, wie er die Leitung des Luftschiffes von seinem jeweiligen Aufenthaltsorte unterrichtet. Die ›Pax‹ schwamm noch ostwärts von Krakau, er befand sich in Trier; die ›Pax‹ ging mit Kurs zu West nach Wien und zog über den Semmering, er fuhr über Köln, Bremen, Harburg in die Lüneburger Heide. Die Reinecke konnte ihm nur dadurch auf den Versen bleiben, daß sie sich in Moorjungen-Kleidung warf und im Heidegestrüpp, ungesehen von dem Leiterwagen aus, dem Rusart nachrannte. Ein Torfbauer, ein Bienenzüchter, ein Maler, der auf der Suche nach Vorwürfen für sein Skizzenbuch ist, konnte sich nicht harmloser in einer verfallenen Hütte einrichten als er. Am nächsten Morgen war er weg. Die Reinecke hatte eine Nacht durchgemacht, wie ein Soldat auf Vorposten. Gewacht, gefroren und gehungert. Rusart wurde am selben Nachmittage von Dresden aus gemeldet. Und ist nun seit siebzig Stunden nicht wiederzufinden. Er muß oben sein!«

Der Kaiser wandte sich an seinen Schreibtisch und nahm einen Karton aus einem Umschlage. »Kennen Sie das?«

Die beiden Minister sahen auf das Bild. »Eine Landkarte, Majestät!«

»Nein, eine Luftkarte. Das Dreieck Striegau, Reichenbach und hier über Waldenburg nach Hirschberg. Wie die Seekarte Inseln, Riffe, Untiefen, zeigt diese Karte jede in die Luft ragende Erhöhung, Hügel, Berg, Felsen, jeden Kirchturm mit seiner Höhe. – Das Tiefengelände ist zwar erkennbar, aber nur schattenhaft angelegt!« Der Kaiser zeigte die Adresse.

»An Seine Majestät den Deutschen Kaiser, Berlin, Schloß«

»Es ist mir bei der Wichtigkeit der Sache vom Zivilkabinett umgehend zugestellt worden. Aufgabeort ist Siegendorf, Poststation bei Liegnitz.«

»Würden Majestät allergnädigst die Frage gestatten: Ohne Anschreiben?«

»Nackt, wie es hier ist!«

»Der Mann ist von einer gefährlichen Selbstständigkeit.«

»Weil ein Anschreiben fehlt?«

»Weil er solche Karten anzufertigen vermag und anfertigt. Meine Auffassung geht dahin, er muß mit Gewalt in die Hände der Regierung gebracht werden. Hätte ich Vollmacht, ich alarmierte die gesamte Artillerie und, wo immer er sich zeigte. – ich holte ihn herunter!«

»Haben Sie schon einmal eine erschossene Idee gesehen? – Seien Sie sparsam mit meinen Kugeln!« – Er reichte beiden die Hand. »Der eine will einmauern, der andere herunterschießen. – Ich verkenne nicht, daß äußerste Eile im Handeln not tut. Halten Sie sich bereit! Sie werden bald Nachricht bekommen! – Ich danke Ihnen!«

Die Minister beugten sich tief über seine Hände. Ehe sie unten in ihre Coupés stiegen, tauschten sie noch ihre Gedanken.

»Daß es bewegte Zelten sind, – macht nichts!« – sagte der Kriegsmann, »aber es ist nichts Frisch-froh-fröhliches! – So infam gedrückt alles!«

»Bruderleben – es geht alles vorüber! – aber wenn ich an die Milch denke, die ich habe auftreiben müssen! Die schöne, schöne viele Milch!«

»Ja – und daß sie nun sauer wird – –«

»Eisenblech! – hast du oben gesagt; und ›zerfetzte Bataillone‹!«

»Der Mann kann ja mit Gold und Ehren überschüttet werden, wenn er tut was wir wollen!«

»Warten wir auf Majestät! Hat uns schon öfter 'rausgerissen! – Die viele Milch! Es wäre schrecklich!«

* * *

Der Kaiser durchmaß unablässig das Zimmer. Er rauchte eine Zigarre und ließ den qualmigen Dunst langsam zwischen den Lippen hindurchgleiten. Er wußte weder, daß er rauchte, noch, daß er auf und nieder ging. Die historische schwere Falte zwischen den Augenbrauen und mit etwas verengten Lidern, machte er den Eindruck eines Mannes, der sich beharrlich anstrengt, in eine Materie einzudringen, und dem sich fortwährend ein Hindernis entgegenstellt.

Man sprach von Interessenpolitik nur mit einem gewissen verächtlichen Zucken der Mundwinkel. Man wollte mit dem Worte etwas Häßliches bezeichnen; etwas, dessen Wurzel Gierigkeit, dessen Krone Brutalität war. Man machte immer viel Lärm von diesem Baume im Garten des andern. Dabei steht er überall.

Und das soll so sein! Das Gedankenkreisen, dessen Mittelpunkt die eigenen Interessen sind, ist dem Menschen von der Natur genau so mitgegeben, wie Knochen, Sehnen und Blut.

Wo man das zufällige Verständnis für die Interessen des andern hegt, – und nur aus dem Grunde hegt, weil die beiderseitigen Interessen dasselbe erstreben, – hat man für die Gier des andern in eigener Schamhaftigkeit das schöne Wort »Gesunder Egoismus« erfunden. Gierig ist alles. In den überwiegenden Fällen ist freiwilliger Verzicht Krankheit oder Schwäche; für den Rest Berechnung im Austausch der Interessen.

Wo die Dichte verschiedenster Interessen es unmöglich macht, daß Stamm neben Stamm hochwächst wie in einer Baumschule, wird der Zusammenstoß eintreten und aus ihm der Kampf sich entspinnen.

Aber unter der Erde! In der Natur sind es die Wurzeln, die einander ersticken. Und der Gärtner merkt erst am Eingehen eines Baumes, daß ihm der nährende Boden entzogen wurde. Nichts ist schlimmer an einer Gefahr, als ihre Verborgenheit. Das hat man eingesehen. Und deshalb hat man es bei der Menschheit anders eingerichtet. Im Zusammenleben der Menschen macht sich der Kampf in den Spitzen bemerkbar, sofort, wenn er beginnt, in den Wurzeln zu toben Diese Spitzen der Interessen sitzen im Parlament. Und das Einzigerträgliche an einem Parlament ist seine Eigenschaft als Gier-Ventil. Man könnte sich nicht mit dem Gedanken an ein Parlament aussöhnen, wenn in diesem hundertarmigen Polypen die Masse Verstand und Einsicht so weit geltend machen wollte, daß sie es wäre, die das fortwährende Ausgleichen übernähme.

Die Masse ist stumpf. Und die Erwählten werden immer nur die Instinkte ihres Bodens haben.

An einer Maschine sind Wasserstandsglas und Manometer segensreiche Teile. Je komplizierter die Maschine, je mehr voneinander getrennte Abteilungen, um so mehr Manometer und Ablaßventile. Es wird Sache des Führers sein, gewissenhaft überall hin zu hören und zu sehen.

Im Parlament zischen die Ventile; in der Faust der Regierung liegt der Regulator.

Der Kaiser sah düster vor sich hin. Ihm drängte sich ein wenig angenehmes Bild aus. Eine Ebene mit Abstufungen, aus der sich über Nacht und Tag ein Berg herausgehoben hatte, der auch den höchsten Punkt überragte. Und damit hatte sich der bisherige Zustand verschoben. Die Rolle, die bisher den Parlamenten zugestanden hatte, mußten jetzt die Regierungen übernehmen, und was bisher Sache der Regierungen war, das drohte das Recht des Mannes auf dem Berge zu werden: Das Abwägen der Interessen. Der Kaiser kannte sich und seine Fähigkeiten genau. Und weil er wußte, daß er sich richtig einschätzte, konnte er auch aus der der Allgemeinheit gestellten, schwierigen Gleichung eine ganze Reihe von Unbekannten ausschalten.

Er würde nie diese Art Konkurrenz, dieses Auf-der-Lauer-liegen mitmachen. Und so interessierte es ihn nicht, welche Schleichwege und Listen die anderen anwandten. Das Niveau war zu niedrig. Wo immer er ein charakteristisches Wort geprägt oder ein durch die Geschichte der Zeiten gezogenes Wort gesprochen hatte, – anfangend von dem » Suprema lex regis voluntas!« über das » tamen!« bis zu dem kühlsicheren »Hier ist die beste Friedensbürgschaft!« – das er gerufen hatte mit der Faust auf dem Kanonenrohr – überall hatte ein innerer Appell die Tonfärbung gegeben: »Steh drüber!« Und wenn irgendwo, machte hier der Ton die Musik.

Er war selbstbewußt. Noch immer war es jeder, in dem, wie bei ihm, außerordentliche Eigenschaften in seltenem Maße vereinigt waren; jeder, dem weites Gesicht und Erfahrung die Erkenntnis seiner Zeit gebracht hatten; jeder, der, wie er, nur eine Richtschnur kannte: den Willen zum Besten, den Weg zum Rechten. Nicht anders und nicht besser ließ sich jene wunderbare Mischung erklären, die durch sein ganzes Auftreten ging: Güte und trotziger Stolz.

Daß die Berliner fortwährend nörgelten, daß die Deutschen mit der von ihnen gepachteten Gründlichkeit alles breittraten, was an Kleinigkeiten an ihm ihnen nicht behagte, daß die Franzosen ihn vergötterten, daß das gesamte Ausland mehr auf ihn, als auf den eigenen Souverän sah, daß überall draußen mit einer Stellungnahme gewartet wurde, bis er gesprochen hatte, er wußte das alles! – »Steh drüber!« hieß der stille Appell.

Und so wußte er auch, daß jetzt alles nach Deutschland schielte. Nach Hamburg, nach Berlin. »Wie steht der Kaiser zu der Erfindung? Niemals waren Agenten und Detektivs so generös aus Geheimfonds bedacht, so mit Dispositionsgeldern überschüttet worden als jetzt.

Es war kein Staat von irgendwelchem Range, der nicht durch seine geheimen Leute auf fiebernder Wacht lag. Und diese armen Kerle hatten es schlecht. Sich an ein Visierobjekt heranzupürschen? – bah! – Schulaufgabe! – aber neben dem Visierobjekt noch ein großes Visierfeld unterm Rohr zu halten – ein Visierfeld, in dem überall Gegner versteckt lagen – das hieß hier die Aufgabe! – Es galt eine über alles Erlebte und Ersonnene hinausgehende algebraische Gleichung zu lösen: Man kannte X als relative Größe, und man wußte, daß eine große Reihe von Unbekannten festzustellen war; aber man kannte nicht die Zahl der Unbekannten, und man mußte jeden Augenblick darauf gefaßt sein, daß eine der Unbekannten plötzlich an Stelle von X trat. Ständig die Erfindung und ihren Urheber zu beobachten, und keinen Moment einen der Vielen außer acht zu lassen, die zum sehnigen Sprung aus dem verdeckten Hinterhalte bereit waren! Arme Schützen! Arme Mathematiker!

Dem Kaiser war Rusart nicht nur interessant und wichtig; er war ihm sympathisch. Weil er das Verwandte in ihm fühlte. Es gibt etwas, was untrüglich den Mann kennzeichnet: Das ist sein Niveau! Und das erkennt man schnell. Cecil Rhodes hatte nur eine Audienz in Berlin gehabt. Diese kurze Zeit hatte genügt, um den scharfsichtigen Kaiser zu dem Ausspruche zu veranlassen: »Das ist ein Mann!« Den Erfinder Fritz Rusart hatte er noch nicht gesehen; er hatte aber jedes seiner Worte gelesen. Und es war ein Zusammenklingen gewesen. Durch alles, was jener geschrieben hatte, ging auch der tiefe Grundton: »Steh drüber!«

Alle Welt sah in der hamburgischen Situation die günstigste Gelegenheit, über Fritz Rusart herzufallen. Es mußten für ihn Stunden der Hilflosigkeit werden. Und es gab nur einen Umstand, der zugunsten seiner Sache ausgelegt werden konnte: So groß hier immerhin die Zahl der Rüden war, jeder mußte nach allen Seiten beißen; schon oft die Rettung eines Gehetzten. Aber auch das traf nur ein, wenn man die Gleichzeitigkeit des allgemeinen Angriffs auf ihn voraussetzte. Fand irgendeiner Mittel und Wege, den andern im Überfall zuvorzukommen, so erschien Rusarts Schicksal besiegelt. Und mit ihm das seiner Erfindung.

Der Kaiser drückte auf den Taster an seinem Schreibtisch. Der diensttuende Flügeladjutant erschien. »Ich lasse den Herrn Reichskanzler zu mir bitten!«

Dann nahm der Herrscher seine einsame Wanderung wieder auf. Er rang darnach, sich ein recht klares Bild davon zu machen, wie sich die Zukunft gestalten würde.

Rusart hatte Ungeheures mit seiner Erfindung geleistet. Gab man ihr dieses Epitheton, so mußte man die Folgen als »ungeheuerlich« bezeichnen. In der Erfindung war Rusart positiv; sobald man aber von ihm etwas über die Angliederung der Zukunft an die Gegenwart hören wollte, versagte er, wurde er negativ: bis auf den einen, doch recht dürftigen Hinweis, daß er Verkehrs-Zentren auflösen wollte. Man hätte daraus schließen können, daß er Anhänger jeglicher Dezentralisation sei. Aber selbst dieser Hinweis litt zu sehr unter Hypothesen. Zum Seßhaftwerden gehört Unterhaltfinden. Und diese Forderung wird noch nicht durch bloße Verkehrsmöglichkeiten erfüllt. Es fehlen die realen Gegenwerte und die Art ihrer Anschaffung. Auch das Luftschiff würde Proviant und Waren nicht umsonst vermitteln können.

Rusart selbst, sagte sich der Kaiser, würde unmöglich die Erfindung einbürgern können. Dazu fehlte ihm der weitgreifende Apparat, wie er sich im Staatsgetriebe darstellt. Und sein Verlangen: »Staaten-Konferenz« würde ihn, wenn ihm ganz unglaublicherweise nachgekommen werden könnte – bestenfalles nur der halben Erde gegenüberstellen. Das war aber nicht die Erfüllung seines Programms. Als ehrlicher Vertreter seiner niedergeschriebenen Ansichten, die doch ein innerliches Bekenntnis waren, konnte er die politisch unmündigen Völker von der Wohltat seiner Erfindung niemals ausschließen! Und tat er es doch, schloß er doch einen Pakt mit den Staaten der halben Erde: was war damit erreicht? Welche Rolle wollte er vielen Staaten gegenüber spielen, die er nicht auch einem gegenüber hätte spielen können! Das Gesunde einer Absicht kann wahrlich in ihrer Moral, in ihrer Menschenliebe liegen; zu gleicher Zeit kann sie innerlich brüchig und morsch sein, weil Einblick in reale Verhältnisse und Fühlung mit ihnen fehlt.

Die Kardinalfrage: Was war, wenn die Erfindung Allgemeingut geworden wäre? – Jeder hätte eine Hauptwaffe mehr in seiner Rüstkammer. Fritz Rusart mußte fern von aller Einsicht in menschliches Trachten und menschliche Gier sein, wenn er glaubte, diese Waffe mehr sei ein Schritt zum Weltfrieden oder gar dessen vollständige Erlangung. – Nein! – und nochmals nein! – und immer nein!

Der Kaiser sah zurück in die Zeiten. Die Ruderbänke waren durch die Segel abgelöst, die Segel durch den Dampf verdrängt worden. Rolands Schwert, das Rüstungen durchschlug, ist ein nutzloses Ding geworden. Der Revolver, kleiner und leichter, war länger. Und die Panzerplatte ist nur so lange Schutz für Leib und Leben, als die Panzergranate nicht reicht, sie zu durchschlagen.

Was war gewonnen? Manches alte Waffenstück zog in das Museum, das eine oder das andere in die Ruhmeshalle, – aber die alten Ziele, um die man von Anbeginn gekämpft hatte, waren geblieben. Einzig die Arena, in der der Kampf tobte, war verlegt worden. Die Erfindung – hingestellt als Errungenschaft, als Fortschritt, als Wegweiser zum endlichen Weltfrieden – wurde zur Geißel der Menschheit. Und wer vor ihr flüchten wollte, und das mußte nach wie vor jeder, der nicht zwischen kämpfenden Heeren zerrieben werden wollte, wohin konnte er sich nur flüchten? – In die Erde, tief in die Erde! – In Stickluft und Nacht! – Der Fluch des Kubus!

Der Kaiser sah in seinem lebhaften Geiste den Kampf in der Luft. Hoch und höher hoben sich die verderbentragenden Luftschiffe. Es galt, immer über dem Gegner zu stehen, ihn von oben zu vernichten. Er sah ihr Ziel verfehlende, in die Tiefe niederschießende Kugeln, er sah ganze Schiffe sich in den Wolken überschlagen und als zerschmetterte Masse alles unter sich begraben, was sie in ihrem Sturze getroffen hatten.

Wer sehen konnte, der sah etwas Schreckliches voraus:

Das letzte Ergebnis dieser Waffe, von welcher ihr Schmied wähnte, sie verbürge den ewigen Frieden, konnte sein, daß auch nicht eine Stelle auf dieser Erde mehr blieb, wo Friede herrschte.

Wenn die Erfindung der Menschheit übergeben würde, wäre das nichts anderes, als einem Tiger die Pranken schärfen.

Der Kaiser sah sich um. Er kannte seine Zeit wie wenige. Wohin er auch blickte, er wußte keinen, von dem gesagt werden durfte, er sei so groß, um nicht noch größer werden zu wollen. Und so waren sie alle Rivalen.

Und wenn man die Wirkung der neuen Erfindung nach dieser Richtung verfolgte, dann schrak man zurück, und es blieb nur noch ein Weg offen, ihr das Verderbenbringende zu nehmen: Sie durfte gar nicht in das Blachfeld getragen werden. Sie mußte in die Hand eines Mannes kommen, der stark war gegen die Außenwelt und stark gegen sich; eines Mannes, an den sich niemand wagte, und der, trotz dieses Zaubermittels in seinem Besitze, den Sirenenklängen von Weltherrschaft sein Ohr verschloß.

Der Blick des Kaisers leuchtete auf. Die Gegenwart steht immer unter ihrer eigenen Kleinlichkeit. Und Zeitgenossen sind stets Kammerdiener ihrer großen Leute. Jahrzehnte, manchmal Generationen müssen verrauschen, ehe ein klares Urteil gereift ist. Und eine Persönlichkeit hebt sich dann erst mit ihren gigantischen Maßen aus der Ebene der Geschichte heraus, wenn alles Persönliche von ihr gefallen ist.

Man würde über ihn sagen mögen, was man sonst wolle – eins würde ihm ein anderes Geschlecht zuerkennen müssen: er hatte Frieden gehalten; er hatte manches Pulverfaß beiseite gerollt, nach dem sich schon eine Frevlerfaust mit gieriger Lunte gereckt hatte. Die Masse hatte noch nie gewußt, was Frieden heißt. Sie hat ihn nur genossen. Er ist eine hundertäugige Wacht. Und auf dieser Wacht hatte er gestanden. Ein ganzes Leben lang. Und allerwegen in Ehren. Für sich und sein Reich.

Wie er in jeder Stunde darnach strebte, daß er vor reinem Urteile rein dastände, so wollte er auch jetzt den Weg gehen, den seine Zeit nicht verstehen würde, der aber der allein richtige war.

Seine Minister! – Was war ein Minister? – Die Spitze einer Pyramide. Er sah weit, weil er hoch stand. Aber seine Wesenheit wurzelte in dem zu ihm aufsteigenden Koloß; und der schwerste seiner Schritte ließ höchstens die Grundfläche der Pyramide schwingen. Und wenn seine Bodenständigkeit sein größter Vorzug war, war es ungerecht, seine Unfähigkeit, in weiteren Gebieten Wurzeln zu schlagen, zu tadeln. Eine Reihe von Pyramiden machen noch kein Land, eine Reihe von Ressorts kein Reich.

Man hatte sich oft gewundert, daß er so viel auf Reisen war; nur die, die seinen Begriff vom Heim nicht kannten. Ein schlechter Hausvater, der nicht jede Kammer seines Hauses kannte. Die Fläche, in der er wurzelte, war sein ganzes Vaterland. Und Patriarch und patria sind verwandt.

Jetzt zog wieder eine Gefahr für sein Heim hoch. Die gesamte Welt drängte sich auf einen Weg; er allein wollte einen andern Weg gehen. Und er wußte, daß dieser der richtige sein würde; der, der einzig das Gute ohne das Böse, den Fortschritt ohne das Verderben bringen würde. –

Der Reichskanzler wurde gemeldet. Der Kaiser schritt ihm entgegen. Sein ernstes Gesicht erhellte ein liebenswürdiger Zug.

»Ich habe Sie zu mir bitten lassen, mein lieber Fürst, der Rusartschen Sache wegen. Ich werde nach Hamburg fahren.«

Der Kanzler richtete sich auf. Weniger Erstaunen als Schrecken im Gesicht. »Majestät! davon bitte ich abstehen zu wollen!«

»Weshalb?«

»In Hamburg hat sich eine Hochflut gefährlicher internationaler Intelligenz zusammengefunden. Und es hieße unserer treuen Hansestadt Stunden schwerster Besorgnis auferlegen, wenn sie jetzt auch noch die Verantwortung für Eurer Majestät Sicherheit tragen müßte.«

»Für die können wir selbst sorgen! Übrigens hat Hamburg eine vorzügliche Polizei.«

»Fraglos. – Sogar für außergewöhnliche Fälle. Aber hier liegt ganz anderes vor: Die alarmierende Nachricht, es sei ein ergiebiges Goldfeld entdeckt worden oder man habe Diamantgruben gefunden, hat niemals annähernd so zündend wirken können, als jetzt die überall bekannte Möglichkeit, in den Besitz des Luftschiffes zu kommen. Und wenn es nur Abenteurer wären, Existenzen, die wild leben und auf einen wilden Tod gefaßt sind; aber die dort sind, Majestät, das sind Leute mit langen Systemen.

»Wenn einer nur für sich gräbt und schleicht und lauert, der ist leicht abzufangen. Und die Gefahr ist vorüber. Die Leute in Hamburg aber stehen fast durchweg in Sold. In hohem Sold. Und das Gefährlichste an ihnen ist nicht der Eigennutz, sondern der Patriotismus. Der. Patriotismus, Majestät! – Was gilt diesen Leuten die Person eines fremden Herrschers? Nichts! Mehr noch: sie ist ihnen Mittel zum Zweck. Und sie werden keine Sekunde zaudern, wenn sie dadurch, daß sie sie aus der Welt schaffen, eine Verwirrung anrichten, die ihnen gerade ermöglicht, schnell nach ihrem Ziele zu greifen! – Es sind nicht internationale Personen nur da, es sind internationale Sektionen. – Für einen, der fällt, stehen zehn auf. Und wenn der Kaiser fällt – Majestät! – dieser Kaiser – –« Sein Gesicht wurde todernst.

Der Kaiser winkte mit der Hand. »Wir haben das Regiment ›Hamburg‹, das Regiment ›Wilhelmina‹ meine fünfzehnten Husaren; wir nehmen noch Polizei mit.«

»Eine Kugel ist länger als eine Lanze. Das Deutsche Reich ist groß. Jeder einzelne Teil hat das Recht, darum zu bitten, daß sein Kaiser sich nicht exponiert!«

»Aber ich will den Mann sprechen!«

Der Kanzler drehte den Kopf zur Seite. In tiefem Sinnen ermaß er die Tragweite jedes Wortes. Endlich sagte er gepreßt: »Ich will es auf mich nehmen, ihn Eurer Majestät zuzuführen, wenn es überhaupt möglich ist!«

»Nicht nur ich will, ich muß ihn sprechen!«

»Dann sei mir allergnädigst die Frage gestattet: was versprechen Eure Majestät sich von einer Unterredung mit Rusart?«

Der Kaiser sprang auf. In lebhaftem Tempo floß ihm die Rede über die Lippen. »Ich will ihn darüber belehren, daß seine Prämissen alle falsch sind; daß Gemeingut ein Nonsens ist, solange er nicht ein Normalwesen schaffen kann; daß Kosmopolitismus wie ein Gigant aussieht, aber nur von weitem, und daß er tönern ist und bei dem Tritt des ersten energischen Fußes zerbirst; – weil er eine alles überragende Einheit sein will und nichts ist, als die Verleugnung jeder einzelnen Einheit! – Ich will dem Manne sagen, daß sein Wissen außerordentlich, seine Leistung größer ist, als je eine seit den ersten Anfängen öffentlicher Kultur, – daß er aber trotzdem hilflos bleibt wie ein Kind und ein Spielball für die anderen, wenn er sich nicht mit der Kraft paart! – Mit der Kraft, die aus dem Kenner der Menschen den Benutzer der Menschen macht. Und die hat er nicht!!«

Der Kanzler sann lange nach. Viel zu lange für seinen kaiserlichen Herrn. Endlich schüttelte er den Kopf. »Rusart wird jeglicher Belehrung unzugänglich bleiben – –!« sagte er langsam.

»Das wird er nicht.« Die Stimme des Kaisers klang sehr bestimmt.

»Majestät – – –.«

»Ihm ist überall nur offener oder versteckter Egoismus entgegengetreten.«

»Man hat ihm Anerbietungen gemacht, Majestät, die das glänzendste Los eines Staubgeborenen weit übertreffen. Geruhen Majestät sich daran zu erinnern, daß der unglückliche Ausdruck gefallen ist: ›Beherrscher der alten Welt!‹ – und die milliardenschwere Einnahme.«

»Das gerade ist es, was einen Kopf wie diesen zurückstößt! – ob einer ihm gegenüber Egoist oder selbstlos ist, davon spricht er nicht. Nirgends! – Aber er will verhüten, daß einer in dieser Sache den anderen gegenüber Egoist ist, diesen anderen, von denen er eben sagt, sie seien gleichberechtigt! – Er will nicht hören, was man ihm für die Erfindung bietet, sondern, was man mit ihr anfangen, wie man sie verwenden will!«

Der Kanzler sah überrascht auf. Er vermochte nicht gleich etwas zu erwidern; aber je mehr er nachdachte, um so mehr erkannte er, daß der Kaiser wieder den Schwerpunkt der ganzen Sachlage getroffen hatte. Und nur der Kaiser! Nirgendwo anders hatte man sich um das Verhältnis der Bewerber untereinander gekümmert. Jeder hatte nur geboten, was immer zu bieten war. – Wie in einer Auktion! – Nur, daß hier jeder weit über sein Vermögen bot, weil er mit Hilfe des erstandenen Objektes bezahlen wollte.

Er griff in seine Aktenmappe. »Majestät, wenn auch nicht der Erfinder, so tritt uns doch seine Erfindung näher. Ich habe hier ein Schreiben der Hamburger Werft. Sie schreibt im Namen Rusarts. Er ladet zu einer Probefahrt ein. Eine merkwürdige Route! – Von Deutschland nach dem Sinai. Zwei Tage und zwei Nächte. Zwei deutsche Seeoffiziere!« Er überreichte das Schreiben.

Der Kaiser, der mit lebhafter Geste nach dem Schreiben gegriffen hatte, las es durch. Seine Stirn verfinsterte sich. »Wieder diese unselige Selbstsicherheit! Die Tour soll mit dem zweiten Fahrzeug unternommen werden, und das hat er noch gar nicht in der Hand. An diese Sache dürfte man erst herantreten, wenn der Tag der Abnahme glücklich vorüber ist. – Ich kann übrigens die Fahrt nicht mitmachen!«

»Nein! – das können Majestät nicht!« sagte der Kanzler erleichtert aufatmend.

»Weshalb nicht?« war die Gegenfrage, die einen leisen Anflug von Lustigkeit hatte.

»Majestät! – kein Platz für ein Gefolge –«

»Ich habe im Manöver schon mal mit einem Kammerdiener gehaust – –.«

»Majestät – – –.«

»Schon gut!« wehrte der Kaiser lächelnd ab. »Ich fahre ja nicht mit! – Also, wenn es so weit ist, will ich selbst die Offiziere bestimmen!«

Er hob das Schreiben wieder vor die Augen. »Zwei Deutsche, und von England, Frankreich, Italien, Rußland, Österreich auch je zwei, sind zwölf; Schweden, Norwegen, Dänemark, Spanien, Portugal und Japan je einer, das sind sechs, zusammen achtzehn Passagiere. Aufstieg und Zeit noch offen. Angabe vierundzwanzig Stunden vorher! – Könnte lediglich der Japaner nicht zur Zeit eintreffen!«

»Er wird schon dort sein!«

»Und wo bleibt die ›neue Welt‹?« –

»Majestät! – Sie hat ihm die ›alte‹ versprochen!«

»Also! – Ist Ihnen das kein Fingerzeig?«

»Ja! – Nicht zu viel zu versprechen.«

»Nein, mein lieber Fürst!« sagte der Kaiser bedeutsam, »sondern nicht zu versprechen, was anderen gehört! Das ist unstreitig groß an dem Charakter dieses Mannes, daß er nicht duldet, daß andere an ihn verkauft werden!«

Er griff zu Tinte und Feder. In großen Zügen ließ er die Buchstaben auf dem Papier entstehen. Als er geendet hatte, lehnte er sich zurück. »Es ist die Disposition. Der Senat in Hamburg ist davon zu verständigen, daß wir in diesem besonderen Falle die Werft durch vier Kompagnien unseres Regimentes ›Hamburg‹ absperren lassen werden. – Die Mannschaften mit scharfen Patronen. Die übrigen Bataillone bleiben konsigniert. Von unserer Marine werden zwei Avisos den Hamburger Hafen anlaufen. Der eine ankert unter Dampf vor der Werft, der andere in dem Hafenbassin, das Rusart zur Armierung seiner beiden neuen Schiffe bestimmen wird. Dies durch Sie, mein lieber Fürst, an den Senat; und an den Kriegsminister zur Anweisung an das Generalkommando des neunten Korps. – Das Schreiben an Rusart und an die Werft wird vom Zivil-Kabinett ausgehen!« Er erhob sich. »Es hat alles größte Eile! – Und denken Sie daran: ich will den Mann sprechen!« Er ging mit dem Kanzler nach der Tür.

»Der Mann, Majestät, macht viel zu schaffen!«

»Das ist kein Standpunkt! – Wie dann,« – sagte der Kaiser sehr ernst, »wenn er weniger Philosoph. mehr Kaufmann wäre! – Und weniger Liebe hätte, mehr Profitgier! – Wie sehr, wie sehr müßten wir uns dann hüten!! – – Sind wir die Reichsten??«

James York lustwandelte über den Jungfernstieg in Hamburg. Seit einer Stunde. Es war ein mäßiges Gedränge. Immerhin, nach den Caféhausgästen und den Trottoirflaneuren zu urteilen, mußte es in dieser Stadt viel Arbeitslose geben. Er beobachtete die Menschen, die Droschken, die Blumen, die Dampfer; und fand, daß zehn Minuten Interesse schon ein koulantes Angebot war.

Plötzlich drehte er sich um und sprach den einige Schritte hinter ihm gehenden Herrn im reinsten Englisch an: »Um Ihnen die Mühe zu ersparen –« sagte er gleichgiltig, »ich gehe jetzt in dieses Café; trinke einmal Bouillon mit Ei und einmal Bouillon ohne Ei. – Ich lege Wert auf diese Reihenfolge! – Dann lasse ich mir eine Zeitung reichen und lese sie nicht. – Dann steige ich in eine Droschke und fahre nach dem Asyl für Obdachlose.«

Der Angeredete sah ihn erst verblüfft und dann mit unverhohlenem Ärger an. Nachdem er sich unter dem Drucke der Verlegenheit zu einem Lüften des Hutes verstanden hatte, verschwand er wortlos.

»Er denkt, – ich denke, ich bin ihn los!« sagte James zu sich, »aber ich weiß, wo sein Kamerad steht! ›Gott meiner Väter!‹ würde Aménard sagen, ›wie soll ich nicht wissen, wo der andere steht! – Steht er doch drüben vor dem Schaufenster; und guckt sich nicht an die Sachen, welche sind hinter der Scheibe, sondern guckt er hierher! Wie soll ich ihn nicht sehen! – Bin ich ein Strauß? – Ich bin kein Strauß!‹« –

Er führte mit ruhevollem Herzen das Programm aus. Erst mit Ei, dann ohne Ei. Darauf die Pseudo-Lektüre. Durch die Droschke ließ er sich nach dem Asyle für Obdachlose fahren. Hier meldete er sich bei dem Hauskastellan.

»Haben Sie Obdachlose hier?«

»In welcher Eigenschaft fragen Sie?« war die vorgeschriebene höfliche Antwort im traditionellen groben Ton.

»Sie werden es mir nicht ansehen –,« erwiderte James geschmeidig, »ich bin ein geborener Menschenfreund!«

»Zu Faxen habe ich keine Zeit!«

»Dann sind Sie mein Mann! – Ich mache mir auch nichts aus dem Theater!« Er schlug ihm herzhaft auf die Schulter. »Zeigen Sie mir mal Ihre Schutzbefohlenen!« Zu gleicher Zeit wollte er ihm ein Zwanzigmarkstück überreichen.

Der Kastellan ließ die gesetzlichen Falten auf seinem Gesichte ausmarschieren. »So was gibt's hier nicht!«

»Na eben!! – Weil's so was hier nicht gibt, soll's so was hier mal geben.« Er schob das Goldstück auf das schmale Schreibpult. »Und nun, Cerberus, Zeigen Sie mir mal Ihre Herde!«

»Schmidt heiß' ich!« Mit den Schlüsseln in der Hand ging der Kastellan auf das Hintergebäude zu. »Suchen Sie wen?«

»Ja, ich suche wen!«

»Wen denn?«

»Ja – den suche ich ja eben!«

Der Kastellan hielt ihn für verrückt. Er schüttelte den Kopf. »Hier ist doch keine Menagerie! – Ich muß doch erst wissen, zu wem Sie wollen!!«

»Richtig! – Sie sind auf dem historischen Wege! – Kehren wir also wieder um. Ich habe mir immer sagen lassen, ein Deutscher besteht aus Akten und Fleisch. Also erst mal die Akten, dann das Fleisch. – Ich habe mich so lange auf der Glatze dieses bejahrten Erdhaufens, mitten in Afrika, aufgehalten, – wissen Sie,« er sprach geheimnisvoll und vertraulich, »da wachsen auf Strecken, zehnmal so groß wie Deutschland und mindestens elfmal so groß wie Ihr Asyl, keine Haare! – Nicht ein einziges Haar! – Und da habe ich ganz vergessen, wie wichtig das ist, daß man wenigstens Akten hat. – Sie werden den Zusammenhang verstehen. Also geben Sie mal her! – Das ist natürlich giftsicher, was Sie hier in den Akten haben, das haben Sie auch im Asyl?«

»Freilich! – Was wäre das sonst für 'ne Ordnung!«

»Jeder muß hier erst seinen Namen nennen, ehe er ›bedacht‹ wird?«

»Wegen der Verbrecher!«

»Bekommen die kein Asyl?«

»Auch. – Aber wo anders. – Hier haben wir es bloß mit arme Leute zu tun!«

»Da steht zum Beispiel: Nr. 4. Emil Gottlieb Frohner mit Frau und zwei Kindern. – Führen Sie mich mal hin zu dem! – Was ist der?«

»Zimmermann oder so was! – Die Leute sagen das nicht immer.«

»Schön, macht nichts!«

»Wenn er da ist! – Er wollte auf Arbeitsuchen gehen.«

»Das werden wir ja sehen!«

»Kann ich ihn nicht hierherbringen? – Vor die vielen anderen?«

»Mir ebenso recht! – Und noch lieber! – Aber mit seiner Frau!«

Der Kastellan verschwand. James nahm das Zwanzigmarkstück und legte drei Fünfmarkscheine auf das Pult.

Im großen Saale schritt der Kastellan durch die Reihen der Bänke. »Der Emil Frohner! – Wo ist der?« schrie er.

»Hier!«

Er trat dicht an ihn heran. »Sie sollen mitkommen. Und Ihre Frau auch. Da ist ein ganz Verrückter. Der will Sie sprechen. In die Sahara wachsen keene Haare, hat er gesagt. Det wär' die Glatze von den Globus. – Ich sage man bloß: Sehen Sie sich vor! Es kann ja was Gutes sein! Gewiß! – So was bratet manchmal vom Himmel! – Kann sein, kann sein auch nicht!«

Die Frau wollte ihre Kinder nicht allein zurücklassen. Das vierjährige nahm sie an die Hand, das einjährige auf den Arm. So standen sie alle vier bald vor James York. Dieser musterte sie einige Augenblicke. Es kam ihm vor allem darauf an, daß der Mann kein Trunkenbold war. Und den Eindruck machte der Mann nicht.

»Sie heißen Frohner?«

»Ja!«

»Und das ist Ihre Familie?«

»Ja!«

»Ehe ich weitere Fragen an Sie stelle, habe ich Ihnen zu erklären, daß ich hier im Auftrage jemandes stehe, der Leuten, die durch die Ungunst der Verhältnisse in allgemeinen Verfall geraten sind, wieder die Existenzmöglichkeit geben will. Bedingungen sind: Ehrlichkeit, fester Wille zur Arbeit und – frei von Trunksucht. Im übrigen unterwirft sich der, dem geholfen werden soll, bezüglich des Aufenthaltsortes dem Willen meines Auftraggebers. – Ist Ihnen klar, was ich gesagt habe?« Seine Stimme klang hart.

»Ja!« sagte der Mann bedrückt. »Was soll denn werden?« Seine Angehörigen drängten sich ängstlich an ihn heran.

»Was sind Sie?«

»Tischler und Zimmermann – hab' ich gelernt.«

»Selbständig?«

»Als Geselle konnt' ich nich so viel verdienen für uns viere.«

»Nun ja! – und als Meister?«

»'n Gesellen konnt' ich nich halten, und alleine konnte ich's nich schaffen. Mal zu viel und denn mal 'ne Flaute. Da blieben sie ganz weg – –«

»Wie kamen Sie hierher?«

»Wir wohnten bei so'n Schinner von Hauswirt, die so viel wie möglich 'rauskriegen woll'n vons Haus. Und da haben wir denn die Möbel versetzt und alles und zuletzt die Betten, daß wir man in 'ne Wohnung wären. Und da hat er uns 'rausgeschmissen.«

»Haben Sie denn dem Manne nicht Ihre Lage auseinandergesetzt?«

»Die Sorte läßt keinen nich vor. Da haben sie ihren Vize dazu, daß der die Leute auf die Straße jagt. Wie die Hunde!«

»Und haben Sie denn nicht versucht, eine andere Unterkunft zu bekommen?«

»Da fragt jeder erst, von wo komm' Sie denn? Wo ha'm Sie vorher gewohnt? Und wenn's so ist, daß man keenen Stuhl mehr hat, nimmt eenen keener mehr uf. Da bleibt man überall draußen!«

»Was wird denn nun mit der Familie?« fragte James den Kastellan.

»Es sind Oldenburger. Wenn der Mann nicht bald Arbeit bekommt, werden sie abgeschoben. Nach der Heimat.«

»Und dort?«

»Das geht uns nichts an.«

James trat zu der Frau. »Haben Sie nichts mitverdienen können?«

»Meine Frau hat gearbeitet von morgens bis abends. Was kriegt denn so 'ne Frau für alles Gerackere! – Und denn kamen die Göhren!«

Die Frau drängte sich hinter ihren Mann. Ihre Augen waren naß. »Kann der Herr uns vielleicht helfen? – Arbeiten wollen wir – –«

»Wenn eener helfen will, tut er nich so viel fragen!«

James überhörte den verbitterten Einwurf. Er sah dem Tischler in das verhungerte Gesicht. »Sie sind mir fremd, ich Ihnen auch. Vertrauen gegen Vertrauen. – Ich will Ihnen helfen. – Verstehen Sie etwas von Landwirtschaft?«

»Ja, was man so – –; aber meine Frau, die ist vons Land!«

»Sie sollen ein kleines Häuschen haben; eine Kuh, eine Ziege und ein Stück Land. Und sollen fürs erste eingerichtet werden. Sie haben nur die Verpflichtung, das für sich in Ordnung zu halten. Können Sie darauf eingehen?«

Der Zimmermann sah ihn lange an. Sein Blick wurde tränenschwer. Die Frau starrte mit offenem Munde herüber, als sähe Sie eine Geistererscheinung. Keines von beiden antwortete. Aber in ihren Gehirnen arbeitete es. Endlich rangen sich dem Manne die Worte aus dem Munde: »Es wird da noch was bei sein, was – –«

»Nun, was – –?«

»Was uns der Herr nicht sagt! – Da ist ja kein Vorteil bei für den Herrn – –«

»Doch, der ist dabei! Aber der hat nichts mit Ihnen zu tun! Sehe ich aus wie einer, der andere erwürgt?«

»Nach's Gesicht – –«

»Kann man nicht gehen! – Richtig! – Das kann sehr täuschen, aber –« James griff in seine Brusttasche. »Hier, nehmen Sie erst mal das!« Er hielt ihm einen Hundertmarkschein hin.

Der Mann streckte beide Hände steif zu Boden. »Nu ist's erst recht gefährlich!« sagte er ganz leise; mehr zu seiner Frau. Sie hatte aber in der letzten Nacht aus tiefstem Herzen gebetet, und in ihr wohnten nur Gedanken an Erhörung. »Nimm's!« sagte sie.

Da streckte er die Faust aus.

»Sie brauchen es nicht wiederzugeben!« sagte James, »und das hier«, er schob seinen Lackstiefel nach vorn, »ist kein Pferdefuß! – Haben Sie überhaupt keine Sachen? Können Sie mitkommen, wie Sie da gehen und stehen?«

»Zwei Kopfkissen aus dem Kinderwagen liegen noch im Saal. Da hat die Kleinste drauf geschlafen!«

»Wollen Sie die mitnehmen?«

Der Mann zögerte.

»Ja!« sagte die Frau.

»So machen Sie sich zurecht! In einer halben Stunde hole ich Sie ab. Halten Sie mal Ihre Hand her!« Er zählte der Frau einige Goldstücke hin. »Dafür, und wenn es nicht reicht, nehmen Sie von dem Hundertmarkschein, den ich Ihrem Manne gegeben habe, kaufen Sie sofort für sich und die Kleinen Kleidung und ein bißchen Proviant. Und beeilen Sie sich!«

Er drehte sich um und trat an das Pult zu dem Kastellan. Dieser war zuerst ganz erstaunt über sein verändertes, verständiges Wesen gewesen und stand nun verblüfft da und starrte auf die drei Fünfmarkscheine. James nahm einen von den Scheinen an sich. »Wunderbar!« sagte er trocken, »der Aufenthalt hier muß unangenehm sein. Selbst dieses Zeug verflüchtigt sich.«

Da griff der Kastellan schnell nach den noch übrig gebliebenen beiden Scheinen und steckte sie in die Tasche.

James lachte. »Daß der Schaden immer erst Schulmeister spielen muß! – Aber es ist deutsch: je größer und offener eine Sache daliegt, um so mehr genieren wir uns zuzufassen. Und erst, wenn andere bei der festen Arbeit sind, stürzen wir uns in Angst und Gier auf den Rest!«

Nach einer halben Stunde packte er die Familie in eine Droschke und brachte sie nach der Werft. Dort schien man auf ihre Ankunft vorbereitet zu sein. Man stellte den Leuten einen luftigen Raum zur Verfügung, der in einfacher Form mit allem nötigen Hausgerät versehen war, und wies sie an, ruhig das weitere abzuwarten. Sie hatten vorläufig keine andere Verpflichtung, als auf der Werft zu bleiben und sich mit niemandem, den sie nicht kannten, in irgendein Gespräch einzulassen. Für Nahrung und Getränk hatten sie auch nicht zu sorgen, denn die Mahlzeiten für die ganze Familie wurden von der Werft pünktlich und reichlich geliefert.

Der Tischler hatte sein Mißtrauen noch nicht überwunden; aber seine Frau suchte ihn zu beruhigen. »Wenn's nur der eine wäre: aber da sind doch so viele! Der auch, zu dem sie Direktor sagen. Und alle offen und freundlich!« Sie nahm ihn bei der Hand. »Das kann doch nichts Schlimmes sein, was dahinter steckt!«

Zuletzt ließ sich der Mann bereden. Begreifen konnte er gar nichts von allem. – Aber mit der augenblicklichen sorgenlosen Lage zog doch eine stille Freude in ihm ein. »Ich bin neugierig, was sie von uns wollen!« Er rieb die beiden Fäuste aneinander. »Wie das wohl ablaufen tut!«

»Können wir nich auch mal Glück haben?«

»Gott – ja doch! Man ist es bloß nich gewohnt!«

James stand bei dem Direktor. »Ich bin mit vier Droschken gefahren. Ein anständiges Gefolge. Allerdings ein bißchen auseinandergezettelt.«

Der Direktor lachte. »In den anderen saßen die anderen.«

»Ja, und als wir in die Barkasse stiegen, blieben sie am Ufer. Mit schielenden Augen und geklemmtem Schwanze wie der Fuchs, wenn Frau Ente abschwimmt.«

»Unheimlich rührig!«

»Jetzt sind sie natürlich bereits auf der Höhe. Ein klein wenig zu spät!«

Der Direktor erzählte, daß gestern abend ein Schreiben des Generalkommandos eingelaufen wäre, und daß heute schon in aller Frühe der kommandierende General selbst der Werft einen Besuch abgestattet hätte. Er schilderte die näheren Umstände. Auch daß Seine Exzellenz verwundert gewesen wäre, ein so starkes Aufgebot von Kriminal-Polizisten vorzufinden. »Wozu?« hätte der General gesagt. »Die Leute sind hier weniger nötig als drüben. Wir sperren die Werft ab. Wer will dann noch her?«

»Ja, wenn Rusart damit einverstanden ist!« hätte er erwidert.

»›Rusart! Wer ist Rusart! Seine Majestät hat befohlen, die Werft abzusperren. Und sie wird abgesperrt!‹ – Was sollte ich machen! Ich holte den Plan her, und dann wurden die Soldaten auf dem Papier verteilt. – Es ist kein angenehmes Gefühl für uns. Herr Rusart hat bis jetzt eine so intensive Abneigung gegen alles gezeigt, was nach Hilfe und Bevormundung aussieht, daß ich fürchte, die ganze Maßnahme wird seinen Unwillen erregen – –«

»Diesmal nicht!« sagte James. »Er hat das Anerbieten dankend angenommen. Wohlfahrt wird Ihnen noch heute nachmittag das Schreiben übergeben!«

Der Direktor faßte sich mit beiden Händen an den Kopf. »Angenommen? – Ja, – dann wären wir ja aus aller Not! – Oh! und unsere Angst, am Tage der Abnahme würde uns die Werft demoliert!«

»Ich halte das alles für übertrieben! So vollständig kann doch selbst solche zusammengewürfelte Spielergesellschaft nicht ihren ganzen Kulturschliff ablegen!« antwortete James ironisch.

»Kein Stein wäre auf dem andern geblieben! Nicht ein Stein!«

»Ich kann nicht begreifen, wenn man das will, wie Soldaten das hindern können! Auch nur bewaffnete Menschen!«

»Nur?«

»Nichts als bewaffnete Menschen.«

»Oho! disziplinierte Waffen! Ich bin froh, von Herzen froh, daß sich die Sache so gestaltet.«

»Ich habe die Empfindung, als ob ich mich nicht auf die Soldaten verlassen würde.«

»Er tut es!«

»Herr Rusart?«

»Ja! So sagten Sie doch?«

»So sagte ich.« Im übrigen schwieg sich James York tiefsinnig aus. Er vermied es aber auch, seinem Partner unnötig Zeit zum Nachsinnen und Fragen zu lassen. »Es gibt ein Schönheitsgefühl, das für die Absperrung der Werft spricht!« warf er nach einer Pause leicht hin.

»Das verstehe ich nicht!«

»Ein Braten sieht in einer garnierten Schüssel besser aus, als in einer nackten!«

»Welcher Vergleich! Sie kennen unsere Soldaten schlecht!«

»Ich kenne die, die sich an die Tafel setzen wollen. Eine reelle Ausschmückung reizt den Appetit.«

»Nun,« der Direktor lachte aus vollem Halse, »diese Garnierung verhindert das Essen; – und weiter wollen wir ja auch nichts.«

James sprang ab. »Haben Sie wegen der Beleuchtung schon die nötigen Anordnungen getroffen? Von Dunkelwerden an?«

»Ja! wenn es auch auffallen wird, daß wir fertiggestellte Bauten noch beleuchten.«

James' Stirn zog sich zusammen.

»Immerhin,« fuhr der Direktor schnell fort. »Wir sind natürlich der Anweisung sofort nachgekommen. Es sind sechs Kabel gelegt für sechs Bogenlampen. An jeder Seite drei. In dem Zwischenraume zwischen den beiden Schiffen ist es wohl nicht nötig.«

»Ich habe Ordre, auch dort um Beleuchtung zu bitten. Jede Lampe muß mit einem Schirm versehen sein, der das Licht nach oben abblendet, damit die Beleuchtung vom jenseitigen Ufer aus nicht so sehr auffällt. Sie soll aber unter allen Umständen so ausreichend sein, daß man jeden, der über den Platz um die Schiffe geht, ebensogut sofort entdeckt, wie jemanden, der etwa versuchen wollte, heimlich die Schiffe zu besteigen!«

»So vermutet doch Herr Rusart selbst, daß …«

»Was – daß?«

»Nun, daß die Soldaten sehr angebracht sind!«

»Noch mehr! – er hat angeordnet, daß diese zu seiner Sicherheit von dem deutschen Kaiser getroffene Maßregel in breitester Form zur Kenntnis der Öffentlichkeit gebracht wird.«

»Bekanntgeben? – diese Sache? – mehr als sie schon an sich Aufsehen erregen wird?«

»Und das wird ein leichtes sein!« fuhr James unbeirrt durch den erstaunten Einwurf fort: »Für jede von ›geschätzter‹ Seite stammende Nachricht wird die Tagespresse sehr dankbar sein. Und da der ›Kosmopolit‹ nichts davon bringen wird, soll die Werftleitung diese Mitteilungen lanzieren! Heute haben wir Montag! Die Absperrung soll Donnerstag früh sechs Uhr beginnen. Die beiden Avisos laufen Mittwoch nacht ein!«

Der Direktor machte ein nervöses Gesicht. »Je mehr wir der Öffentlichkeit zu wissen geben, und je früher wir das tun, um so mehr können doch die anderen auf Gegenmaßregeln sinnen.«

»Persönliche Bedenken müssen bei Rusartschen Anordnungen zurücktreten. Wir alle wissen nicht so viel wie er!«

Die Antwort war eine sehr steife Verbeugung. –

Am Dienstag brachten die Morgenausgaben sämtlicher Zeitungen zum Erstaunen der Leser die hochinteressante Nachricht, daß auf Grund des Eingreifens Seiner Majestät die Werft, aus der die Rusartschen Neubauten lagen, von Militär besetzt und durch Militär abgesperrt werden würde. Und zwar von Donnerstag früh an. Und daß zu gleicher Zeit zwei Avisos der Kaiserlichen Marine den Hamburger Hafen anlaufen und sich dem Erfinder für ihm geeignet erscheinende Verwendung zur Verfügung stellen würden. Es ging ein Ruck durch alle Kreise. Man kannte den Kaiser. Und bei der ohnehin vorhandenen Kombinationswut zweifelte niemand daran, daß Seine Majestät persönlich anwesend sein würde, und bald glich Hamburg einem Ameisenhaufen, in dem der unbedachte Tritt eines Fußgängers jede Ordnung aufgelöst hatte. Sagte man sich erklärlicherweise einerseits, daß angesichts dieser Maßregel vor Donnerstag von einem Ablauf keine Rede sein könne, so war man doch in anderer Beziehung ohne jeden Zweifel, daß man, gehe es wie es gehe, und koste es was es wolle, noch vor dieser militärischen Maßregel zum Ziele gelangen müsse. Denn auch nur der Versuch, einen von deutschem Militär gezogenen Kordon zu durchbrechen, war sinnlos. Jeder hatte die Empfindung, daß nicht ohne Absicht mit einer gewissen warnenden Betonung darauf hingewiesen war, daß die zur Verwendung gelangenden Mannschaften mit scharfen Patronen ausgerüstet sein würden.

Wer mit Lesages hinkendem Teufel hätte reisen und die Dächer abdecken und im Fluge von oben in die Stuben und Kammern sehen können! – Mit finsteren Gesichtern und ruhelosen Geberden durcheilten die Bewohner ihre Räume, wie die Tiere der Freiheit, wenn sich ihre gespannten Muskeln an den Gitterstäben entlang zwängen müssen. Es war ein Gefühl, als ob einem Menschen, der jeden Augenblick bereit war, seine höchste geistige und physische Kraft herzugeben, unvermutet die Zwangsjacke angezogen wäre. Das Gehirn arbeitete, und der Körper arbeitete; aber beides unter einem überaus lästig empfundenen Drucke. Ab und zu wurde das gequälte Denken in einem Ausruf ausgelöst oder durch einen Faustschlag, der ohne Wahl auf den nächsten Gegenstand niederfiel. Keiner wußte, wie oft er schon von einer Wand zur andern gestürmt war. Und hinter der Wand, die vom Nebengemach, vom Nebenhause trennte, das gleiche! –

Diese angekündigte Absperrung war ein zu infames Durchkreuzen aller Pläne. Es war schlankweg nicht mehr möglich, sich am Tage des Ablaufes des Schiffes zu bemächtigen; und in der Zeit vor der Absperrung war es zwecklos. Man bekam eine tote Sache in die Finger; einen Block von Eisen, den man nicht bewegen, den man nicht transportieren, den man nicht verwenden konnte. Wütende Verzweiflung befiel alle, deren ganzes Sinnen und Trachten schon seit Wochen auf die mehr oder minder hinterlistige und gewaltsame Aneignung der Erfindung gerichtet war.

Und doch gab es auch jetzt wieder eine Stelle, eine einzige, an der es ganz anders aussah. In eins der gemieteten Zimmer schob sich ein sehniger Mann. Er machte gelassen die Tür hinter sich zu, behielt seinen Hut auf dem Kopfe, hing seinen Rock an die geschmacklose Figur, die die Mitte des Ofens zierte, und stopfte dann seine Shagpfeife. Die dicken grauen Rauchwolken, die zwischen seinen Zähnen hindurchströmten, stieß er hinüber zu den beiden anderen, die auf dem Sofa mehr lagen als saßen. Alle drei von dem Typus des echten Engländers. Selbstbewußt, mit dem Fremdwort arrogant, im Benehmen, hart und zähe in der Erscheinung, ohne Erziehung in den Gewohnheiten.

»Die Konkurrenz ist niedergebrochen,« sagte der zuletzt Hinzugekommene in englischer Sprache. Er nahm die Pfeife nicht aus dem Munde und zischte die Worte zwischen den Zähnen heraus. Anscheinend mit einer ebenso großen Gleichgültigkeit wie diejenige war, mit der seine Rede angehört wurde. Aber nur anscheinend. Diese drei Männer waren es gewohnt, mit möglichst wenigen und unauffälligen Worten möglichst viel zu sagen. Ein eindringlicher Beobachter hätte neben dem berüchtigten Selbstgefühl eine gewisse behäbige Sicherheit herausgefunden. Sie saßen beieinander. Kaum, daß einer den andern ansah. Es vergingen manchmal Minuten, ehe ein Wort fiel. Und dann war es immer nur der Schluß, das Kraft- und Schlagwort eines Satzes, den die anderen in seinem gedachten Inhalt sofort errieten.

»Die Narren!«

Das Trifolium rauchte weiter.

»Sie werden abrüsten!« –

»Und der Japs??«

»– Die gelbe Kröte!!«

»Kann auch nichts anderes!«

»Wenn er nichts weiß, – nein!«

»Der Schlitzäugige ist noch der Gefährlichste!« –

»Was für'n Landsmann ist der James York?«

»– Deutsch!«

»Verdammter Kerl! – Ißt jeden Tag in einem andern Hotel!«

»– Trotzdem Fallobst!«

»Dem Bruder Yankee aus Washington hat das Kompott zuletzt doch nicht mehr geschmeckt!«

»Warum frißt der Kerl mit solcher plumpen Regelmäßigkeit Pflaumen!«

»– Alle Tage ein Pulver!«

»Jetzt mit der Nase im Krankenhaus.«

Es herrschte längeres Stillschweigen. »Selbst ein Talent würde blödsinnig!«

»Und der war ein Kalb!«

Der Tabakrauch schoß in feinen Strahlen hoch und zog sich in langen wagerechten Streifen auseinander. Sie lagen wie Schichten in der Luft.

Einer zog die Uhr. » Goddam! ich denke, wir gehen los!«

»Zum Ruhme Alt-Englands!«

»– Fünf Stunden mit der Bahn!«

»Ein Schauspiel!«

»Alles lauert hier –«

»Und die Mine liegt dort!«

»Wir sind vierzehn. Drei und elf –«

»Jeder hebt das Doppelte seines Gewichts.«

»Ich habe die anderen gesehen, die Rusartschen.«

Sie sahen ihn fragend an.

»Feste Jungens – auch!«

»Kann nicht hindern. – Revolver!«

»Wir können erst schießen –«

»Oder 'rauswerfen!«

»– Wenn wir fahren können –!«

» All right! Und wenn er nicht ein kompletter Narr wäre – – der Rusart –«

»Kämen wir überhaupt nicht 'ran!«

» No! – hätte ihn neulich bequem abfangen können. War ganz allein.«

»Boxt!«

»Unsinn!«

»Wissen wir von Mington.«

»Der war 'ne Memme! Altes Weib! Hat gewinselt, er hätte 'nen Schlag bekommen, als wenn ihm der Blitz durch die Knochen fährt! Der andere soll eine Batterie auf dem Fell tragen.«

»Soll er nicht boxen, ehe er ihm die Batterie abgewöhnt hat!«

» No!«

»Kann mir kommen! – Will ihn beblitzen!«

Eine ganze lange Zeit herrschte tiefe Stille. Das einzige, wodurch sie ab und zu unterbrochen wurde, war das Ausspeien und das mehr oder minder hörbare Auspuffen des Tabakrauches. Es herrschte etwas eigentümlich Verwandtes zwischen diesen drei Wagehälsen, die mit ängstlicher Sorgfalt von heimischer hoher Stelle ausgesucht waren. Als besonderes Merkmal bei allen ein Kinn, viereckig, mit dem ganzen Unterkiefer nach vorn geschoben und von übermäßigen Dimensionen. Die Ansage jener Energie, die sich mit Brutalität paart. Die Augen grau und verkniffen, die Haare borstig und kurzgeschoren. Die Figur breit in der Brust und stämmig. Und Fäuste, von denen man wußte, wenn man das Kinn gesehen hatte. Der in der Stube auf und nieder ging, trat mit den breiten Hacken zuerst auf die Dielen:

»So kriegen wir's doch!«

»Trotz seiner Paradepuppen!«

»Die Jungens sind alle auf Posten!«

»Zeig noch mal her!«

Einer zog ein Blatt Papier aus der Tasche und breitete es auf dem Tische aus. Es waren nur einige Kreise darauf verzeichnet. Sie liefen um einen gemeinsamen Mittelpunkt und trugen an verschiedenen Stellen ihrer Peripherie Buchstaben.

»Verdammte deutsche Namen!«

»Hier ist der Brocken!« Der Sprecher wies auf den Mittelpunkt hin.

»Und Brown und Brookes?«

»Hier! – Der in Gandersheim, der in Ströbeck.«

»Und in Goslar?«

»Keiner. Nicht weit genug und zu tief! – Hier in Blankenburg zwei. Zwei auf Rübeland. – Collington ist Schaffner bei der Brockenbahn, und Newfour wichst Stiefel oben im Hotel. Die anderen hacken Holz. Hier und hier!«

»Gut eingekreist! – ›Er‹ weiß gar nichts davon!«

Wenn sie ›Er‹ sagten, meinten sie den deutschen Kaiser, mit dem sie von vornherein mehr gerechnet hatten, als mit Fritz Rusart.

»Nein! – Sitzt gerade in Berlin. Wird natürlich jetzt nach Hamburg kommen. Hätte ihn gern wiedergesehen. Sitzt auf'm verkehrten Thron!«

»Haben keine Zeit zum Warten – –«

»Wenn wir das Ding erst haben, wird er auch im Harz sein!«

»Und wir schon wieder weg!«

»Das erste Ding made in Germany, das was taugt. Aber diesmal sollen sie den Stempel nicht drauf drücken. – Für Alt-England geht's! – Für immer!« Im Klange seiner begeisterten Worte lag zähe Verbissenheit.

»Was war's, daß wir's rausbekamen, Glück oder Verstand?«

»Frage! – Wo liegt ein Nest? – Wo die Glucke immer wieder hinschwirrt.«

»Und eigentlich war es tölpelhaft von dem Manne – –«

»Nun –« verteidigte der andere – »es war jedesmal in der Nacht; und wir saßen in den Baumkronen!«

»Und wie oft hätten wir den Burschen fangen können – –«

»Aber ohne Schiff!«

»Ja – und dann ist es Plunder!«

»Und um den geht's nicht. Verteufelt, daß in die Senkung nicht reinzukommen war. Von der Brockenspitze aus liegt sie im toten Winkel. Nach Südwesten kriechen konnte man nicht. Sie standen Wache wie vor'm Kronschatz. Und wenn man's offen versuchte, – ich bin krumm gegangen wie ein Lump und habe Holzkloben und Töpfe geschleppt wie ein Knecht; damned, ich sage, meine Mutter hätte mich nicht erkannt von heute auf morgen. – Sie ließen keinen durch! –«

»Und wenn man nicht drauf hörte, wenn sie polterten, wären sie erst schlau geworden!«

»Hat jeder seine Papiere?« fragte der eine und griff nach seinem Rock.

»Ja! – Wir sind alle gute Deutsche.«

»Bis wir's haben! – Nun also genau aufgepaßt. Shermon und seine beiden Gehilfen bleiben auf der Werft. Sie sollen beobachten, was mit den Leuten aus dem Asyl gemacht wird. Und wozu das Asbesthaus ist, das sie heute angeliefert haben. Praktische Sache. Ganz zusammengeklappt. In zehn Minuten aufgebaut. Sie haben's zweimal probiert. Er konnte es von den Kohlen aus sehen. Adresse für Telegramme und Stichwort hat er. – Es geht los. Wir marschieren jetzt ab. Du fährst mit der Elektrischen, du mit der Eisenbahn, ich mit dem Dampfer. In Harburg treffen wir uns. Nachtquartier ist Ringelheim. Es ist dafür gesorgt, daß alle zu rechter Zeit im Harzgrund sind. Hinter dem Brocken. Bei seiner Werkstatt.«

Ohne Gruß gingen sie auseinander. Auf der Straße war keinem von ihnen anzusehen, daß er noch eine nächtliche Reise vorhatte.

Die Wirtin entdeckte am nächsten Morgen den fälligen Geldbetrag nebst einem reichlichen Trinkgeld. Zugleich las sie auf einem Billett die Eröffnung: »Wir sind abgereist!«

»Die Engländer sind weg!« raunte man sich allenthalben zu. »Wir wollen uns nichts vorreden lassen!« sagten sich Vorsichtige. Nachdem man aber die Sache nach allen Seiten überlegt und hin und her geworfen hatte, kam man doch zu der Überzeugung, daß die Konkurrenten nur das getan hatten, was die anderen würden auch tun müssen. Der Kaiser hatte einen vollständigen Querstrich durch die Rechnung gemacht. Der waffenstarrende Gürtel, den er um seinen Schützling zog, war nicht zu durchbrechen, zumal offene Gewalt nach dem heimlichen Plane aller erst angewendet werden sollte, nachdem man durch List bis dicht heran an Rusart gekommen war. Aber weder mit Gewalt noch auch mit List war jetzt etwas auszurichten. Die blind eingeschworene Soldateska war nicht zu überlisten, weil sie nicht dachte, nicht kombinierte, sondern nur gehorchte. Und man kannte die Marine Seiner Majestät. Und hatte heiligen Respekt vor ihr. Solcher Kommandant eines Aviso war imstande, um einen einzigen Widerspenstigen, der die »Intentionen« des Kaisers nicht achtete, unschädlich zu machen, einen ganzen Quai kaltblütig in Trümmer zu schießen.

Es war überall ein vorläufiges Erstarren. Aber Der Auftrag, den man von der heimischen Regierung mitbekommen hatte, die Ehren, die man einheimsen wollte, und nicht zuletzt die Zähigkeit, die auch besonderen Hindernissen gegenüber standhielt und die ja maßgebend gewesen war bei der Auswahl der Personen, ließ ausharren. Durch den deutschen Kaiser war die Erfüllung der Aufgabe ungeahnt schwierig geworden; aber aufgeben wollte man sie doch nicht; zumal der schlimmste Konkurrent, die Engländer, aus dem Felde verschwunden war. –

Als der Tag sich neigte, hatte es Shermon, der von seinem Führer zur Beobachtung der Vorgänge auf der Werft zurückgelassene Engländer, mit Hilfe seiner beiden Knappen fertig gebracht, in dem Kohlenvorrat der Werft vergraben zu sein. Die Kleidung war von oben bis unten mit grober Watte ausgepolstert. Über den Kopf hatte er sich eine mit Schlitzen für die Augen versehene, aus schwarzem Wachsleinen hergestellte Kappe gezogen. So stand er in dem Kohlenberg, der am Grunde des Schornsteins dicht beim Kesselhause hoch gegen letzteres aufgeschichtet war. Auch einem Auge, das durch Argwohn und Übung geschärft war, wäre er nicht zu erkennen gewesen.

Er blies den feinen Kohlenstaub, der bei jedem Windzuge leise niederrieselte, vorsichtig vor dem Leinenvisier fort. Die Kohlenstücke drückten sich erst an die Watte und dann mit dieser näher an den Körper. Nach Verlauf von vier Stunden erduldete der Verborgene schon Folterqualen. Aber mit der Zähigkeit des echten Engländers ließ er alles über sich ergehen. Die scharfen Kanten und Spitzen der Kohlenstücke stachen ihm in die Kniekehlen, in die Rippen, in das Genick. Der Schmerz trieb ihm das Wasser in die Augen, und doch war seine größte Sorge nicht die, daß er das quälende Eingepferchtsein nicht aushalten könnte, sondern, daß er, wenn sich irgend etwas ereignen würde, des Gebrauchs seiner Glieder beraubt sein würde. Er fürchtete, gelähmt zu werden. Ein ab und zu mit größter Vorsicht unternommener Versuch, den Körper auch nur durch Verlegung des Schwerpunktes zu bewegen, hatte stets das stärkere Niederrieseln kleinerer oder größerer Kohlenstückchen zur Folge. Und er mußte äußerst vorsichtig sein. Er hatte seinen Platz so ausgewählt, daß er bis hinunter nach den beiden Schiffen sehen konnte; aber naturgemäß war sein Blick zur Seite sehr beschränkt, und er konnte nie wissen, ob nicht jemand um das Mauerwerk des Schornsteins herum kam.

Endlich wurde seine Ausdauer belohnt. Es erschienen Offiziere und der Direktor. Es kam auch der Prokurist, wie sie ihn nannten, James York. Sie gingen auf und ab, in seiner Nähe. Er konnte auch verstehen, was sie sprachen. Es handelte sich um das Aufstellen zur Absperrung. Zuletzt kam auch die Familie aus dem Asyl. Sie war geholt worden, als die Offiziere sich verabschiedet hatten. Er wunderte sich: sie sah reisefertig aus. Und es wurden Hämmer und Äxte und Grabscheite und Sicheln gebracht und zuletzt ein Pflug. Und als man alles geprüft hatte, wurde es nach dem schlanken Schiff gefahren und dort untergebracht. Der York ging mit der Familie ins Direktorhaus. Es war wieder alles still. Die Schatten der Nacht hatten sich vollends niedergesenkt, und er konnte die Umrisse der beiden Schiffe nur daran erkennen, wie sie sich von dem hinter ihnen fließenden Wasser abhoben.

Noch eine Stunde. Die Schmerzen waren bis zur Unerträglichkeit gestiegen. Um so fühlbarer, als nichts passierte, was die Empfindung hätte ablenken können. Da fuhr es wie ein Ruck durch seine Glieder. Tageshelle flutete plötzlich da unten über den Platz, auf dem die Schiffe lagen. Zur vorherigen Finsternis so gegensätzlich, daß die Augen zuerst geblendet wurden. Die Werftuhr zeigte halb elf. Hatte man etwas vor? – Er wußte doch, daß die Bauten sonst nicht beleuchtet wurden! – Er wußte auch, daß der Werfthund, der ihm bei der Sachlage eine ausgeprägte Antipathie einflößte, nicht losgelassen war. Drüben öffnete sich die Direktionstür. Unter den Heraustretenden erkannte er den Direktor, ein paar von der Ingenieur-Abteilung, James York, die Familie. Und da waren noch mehr. Ein älterer Herr und mehrere junge. Es war nicht zu seiner Kenntnis gekommen, daß der Führer der Bodenreformer auf Rusarts Befehl eingeladen war, und daß sich in seiner Begleitung mehrere Koryphäen dieser volkswirtschaftlichen Vereinigung befanden.

Jetzt galt es, auf dem Platze zu sein! – Er wühlte leise mit den Fingern in den Kohlen herum, und, in der sicheren Überzeugung, daß niemand diesem schwarzen Haufen irgendwelche Aufmerksamkeit schenken werde, wischte er sich das ganze Gesicht voll Kohlenstaub und machte dann den Kopf bis zum Hals und gleich darauf bis zur Brust frei. Dann holte er tief Atem. Und daran, daß beim Dehnen seines Brustkastens das Rieseln von neuem begann, konnte er es ermessen, daß er die ganzen langen fünf Stunden mit verhaltenem Atem zugebracht hatte. Aber es war alles gleich; – wenn es nur nicht umsonst war. Seine Kameraden, die jetzt schon im Harz tätig waren, vertrauten auf ihn. Und hier schien sich etwas zu entwickeln, dem gegenüber Stellung zu nehmen unumgänglich notwendig sein konnte.

Sein Gesicht überzog plötzlich ein verzerrtes Lächeln. Wie bei jemandem, der etwas sieht und doch nicht glaubt, es zu sehen; der immer wieder hinsieht und meint, ein Truggespenst narre ihn.

Er sah über den Schiffen in der regenschweren Luft einen Koloß hängen. Das Herz drohte ihm still zu stehn. Das mußte die »Pax« sein! Da alle elektrischen Lichter nach oben abgeblendet waren, war es für das forschende Auge noch schwieriger, aus der Helle heraus sich zu orientieren. Er meinte, ein Schwanken der Masse zu bemerken. – Und meinte auch wieder, sie sei nicht vorhanden; sein erregtes Blut spiegele ihm etwas vor. Mit einem Male erhielt er Gewißheit. Die geheimnisvolle Erscheinung hatte sich gesenkt, so tief, daß ihre untere Linie unter die Spitzen der haushoch aufragenden Stützenmasten fiel. Nun kein Zweifel mehr! – Das war die »Pax«!

Jetzt galt es! – Schlimm, sehr schlimm, daß er allein war. Aber desto größerer Ruhm! Und jetzt zeigte sich bei ihm die Natur, die den geborenen Spürer und Verfolger kennzeichnet, den Detektiv vom reinsten Wasser: je wichtiger jeder Blick des Auges wurde, je schärfer jede Folgerung im Gehirn sein mußte, je näher der Moment kam, in dem er sich voraussichtlich würde zum Handeln entschließen müssen, als Schutz nur seine Geistesgegenwart und seine Körperkraft, um so kälter wurde sein Blut. Er schob immer mehr Kohlenstücke von seinem schwarzen Anzuge herunter. Zuletzt stand er nur noch bis an die Kniee in dem Berge, gerade und etwas nach hinten gelehnt. Und nichts entging ihm. Als zwei Stunden verflossen waren, hatte er alles gesehen und war zu allem entschlossen. Er hatte sich ein Wagestück kühnster Art vorgenommen, das ihm unter den wenigen seinesgleichen kaum einer hätte nachmachen wollen.

Den Vorgängen peinlich folgend, hatte er festgestellt, daß das zusammengeklappte Asbesthaus auf den einen Neubau gebracht, daß James York, die Familie, der ältere und ein paar jüngere Herren von der Werft aus eingestiegen waren; daß sich die »Pax« ganz tief gesenkt hatte, daß von ihr Kollo nach Kollo heruntergelassen wurde, daß dann acht Männer an Seilen herabgestiegen waren, und daß im Innern des unten liegenden Schiffes ununterbrochen gearbeitet wurde; daß zuletzt von der »Pax« aus eine Reihe von Drahttauen heruntergelassen und um das untere Schiff geschlungen wurden. Er hatte gesehen, wie die Taue gespannt wurden, und er sah jetzt, wie die Herren von der Werft zurücktraten.

Und ein Umstand trat ein, durch dessen Wegbleiben er sich nicht hätte hindern lassen, der ihn aber äußerst wirksam unterstützte: als die Herren grüßend und winkend zurücktraten, wurden plötzlich die Lichter ausgelöscht. Mit einer Kraft, in der alle seine Energie lag, stürzte er nach vorn, durchsprang den trennenden Raum von etwa hundert Metern in unglaublich kurzer Zeit und kam gerade noch zurecht, um sich, als die »Pax« mit ihrer Last in die Luft stieg, mit einem nervigen Griffe seiner beiden Fäuste an einem der Drahttaue festzuklammern. So wurde er mit hochgezogen. Dadurch, daß das Schiff zwischen Kiel und Wand etwas nach innen gewölbt war, entstand dicht am Kiel am Drahttau ein freier Bogen. In diesen schwang er sich und hier ruhte er erst einige Minuten aus.

Er konnte sich darauf verlassen, daß ihn niemand von den Zurückbleibenden bemerkt hatte. Der plötzliche Übergang vom blendenden Licht zur Finsternis war ein vorzüglicher Helfer gewesen. Wer von allen, die nichts wissen durften, war der Sache nun näher als er!

Aber es war eine verteufelte Situation. Die erste Luftreise! Und er ritt auf einem Drahttau. Ohne Stütze für die Fußsohlen hing er seine Beine in die schwarze Tiefe. Sie mußten schon in eine ansehnliche Höhe gestiegen sein. Zaghaft und mit einem Grauen, gegen das er vergeblich ankämpfte, sah er um sich und hinunter. Hier und da gewahrte er helle Stellen, die von Lichtern herrührten. Er wußte aber nicht, ob sie tatsächlich so verstreut lagen, oder ob nur ein zufälliger Durchblick durch Wolken die Erdoberfläche sichtbar machte. Nach oben konnte er nicht sehen. Wenn er auch nicht gewußt hätte, daß der Schiffskörper, an den er sich drängte, ihm jede Aussicht versperrte, hätte er es doch nicht über sich vermocht, seinen Kopf im Genick zu bewegen. Schon das Hin- und Herwandern der Augäpfel wurde ihm psychisch zum Opfer.

Er meinte, fast eine Stunde dieses unheimliche Schwimmen im Äther mitgemacht zu haben, da vernahm er zum ersten Male Stimmen. Es war ihm bekannt, daß man in höheren Luftschichten die Geräusche von großer Tiefe sehr genau hören kann; sein aufmerksames Lauschen überzeugte ihn aber bald davon, daß die Quelle der Töne über ihm lag. Man rief von einem Schiff zum andern. Er vernahm, daß das neue Schiff »Gracile« hieß, daß der Name ohne jede Tauffeierlichkeit gegeben werden sollte, und er erfuhr auch zu seinem Erstaunen, daß das Schiff sich schon selbst trug und daß nur noch die Triebapparate, die Propellerflügel rund herum fehlten, daß man aber auf beiden Seiten in voller Arbeit mit ihrem Ausbringen war. Die Kolonisten – das konnten nur die Leute vom Asyl sein – sollten mit allem Zubehör ohne allen Zeitverlust abgesetzt werden. Und mit ihnen die Herren von der Vereinigung. Der Sprecher bedauerte, gar keine Zeit verlieren und sich auch nicht selbst vorstellen zu können. Man befände sich jetzt über der Bahnstrecke Lüneburg-Hitzacker. In einer halben Stunde werde man über Wolfshof an der Göhrde sein. Dort läge die angekaufte Heidestelle. Er müsse den Herren das weitere überlassen, erschiene aber in den nächsten Tagen, um die getroffenen Maßnahmen zu besichtigen. Holz zum Bau eines Häuschens sei zur Stelle, und ein Brunnen sei auch gebohrt. Für die ersten Tage müßte das Asbesthaus benutzt werden. Dieses würde später wieder abgeholt. Es sei immer der Standpunkt festzuhalten, daß es sich nicht um eine Robinsonade, sondern um den Versuch einer Kolonisation handele. Gelänge er nicht, so läge darin kein Gegenbeweis; denn man habe die Leute ja nicht nach näherer Kenntnis auswählen können. Er stehe immer wieder zur Verfügung und sei auch bereit, sich an den Kosten zu beteiligen, die ja für dieses Mal der Verein der Bodenreformer tragen wolle. –

Dann kam ein lauter Ruf »Frank!« und hinterher: »Wie weit?«

Die Antwort hieß: »In zehn Minuten!« –

Was das heißen sollte, das wurde dem unter dem »Gracile« Eingeklemmten klar, als der Gegenruf erschallte: »Dann ziehe ich die Taue ein!«

Das Blut gerann ihm in den Adern zu Eis. Blitzschnell überlegte er, daß das eine Ende jeden Taues losgeworfen werden würde. Da er aber nicht wußte, welches von beiden, konnte er sich auch nicht auf den fürchterlichen Schwung vorbereiten. Es konnte sein, daß er mit dem Kopfe nach unten fortgerissen würde, und dieser Inanspruchnahme der Armkräfte war kein Sterblicher gewachsen. Nichts anderes drohte, als der Sturz aus den Wolken. Er vermeinte schon, ein Rucken an seinem Sitze zu verspüren, und ein Zittern kam ihm in Arme und Kniee. Er schloß die Augen und riß sie sofort wieder auf, weil er sich durch die geschlossenen Lider ganz deutlich stürzen sah. Und plötzlich, zuerst zum Erstaunen, dann zum Entsetzen aller übrigen, erschallte ein so markerschütterndes Schreien durch den weiten Luftraum, daß jeder wie gelähmt in seiner Beschäftigung innehielt. Da draußen hatte der Mensch über den Detektiv gesiegt.

Man sah sich an und man sah sich um. Was war das? Ein fürchterlicher Ton! An der »Pax« öffnete sich eine Klappe. »War das bei Ihnen?« Schweigen antwortete. »Lassen Sie sofort alles antreten!« – Oben und unten pfiffen die Signale. Nach der Musterung, die blitzschnell vor sich ging, fehlte niemand. Aber während man die Ergebnisse austauschte, gellte wieder dieser entsetzliche Schrei in die unendliche Stille hinein. »Teufel – Herr!« schrie Frank, »das ist außenbords! Hier unter uns!«

Fritz Rusart ließ über beide Bordkanten je einen Mann in einem Netze herunter. Dieser mußte mit einem Scheinwerfer die Außenwand des »Gracile« untersuchen. Bald erschallte auch der Ruf: »Ich hab's – bei Klappe T 7.« Wären die herunterhängend en Beine nicht gewesen, hätte man den hockenden schwarzen Klumpen nicht erkennen können. »Machen Sie T 6 und T 8 auf, scheren Sie das Netz drunter 'raus, und dann können Sie ihn durch T 7 hineinziehen!« In geschäftiger Eile wurde der Anweisung gefolgt. Fritz Rusart hatte sich in der Zwischenzeit auf den »Gracile« hinabgelassen und befahl, den Hereingeholten vorzuführen. Er wollte ihn verhören. Es war vergeblich, man brachte einen Ohnmächtigen. So ließ er ihn an Deck niederlegen und seine Kleidung durchsuchen. Man fand nur ein großes Messer bei ihm und einige Schiffszwiebacke. Der Umstand, daß der blinde Passagier von oben bis unten in Watte gepolstert war, machte besonders stutzig.

»Er bleibt auf dem ›Gracile‹,« befahl Fritz Rusart. Dabei sah er James an. Durch dessen Erinnerung huschte ein leises Lächeln. Er dachte an sein erstes Zusammentreffen mit dem Chef. »Er ist Gefangener. Ich werde die Sache leiten. Bis ich wiederkomme, wird er der am Brocken versammelten Mannschaft übergeben. Den »Robur« bringe ich noch innerhalb vierundzwanzig Stunden dorthin! – Ich fahre jetzt zurück. Und denken Sie daran: es schwimmen dann drei Fahrzeuge. Jedes hat von nun an Positionslichter zu führen.« – Er ließ sich ohne weiteren förmlichen Abschied sofort auf die »Pax« ziehen.

Innerhalb weniger Minuten waren beide Schiffe voneinander frei. Rusart fuhr nach Norden, auf Hamburg zu; Frank und James manövrierten mit dem »Gracile«, um das von Schwind im Auftrage Rusarts angekaufte Stück Land, das zur Gemeinde Wolfshof gehörte, zu erreichen.

Shermon hat später oft von seinen abenteuerlichen und gefahrvollen Fahrten erzählt. Die höchste Spannung erregte er jedoch stets mit seinem Luftritt. »Es war eine fürchterliche Sache –« damit schien er schließen zu wollen – »aber« – und er holte von neuem tief Atem – »ich sage euch, nichts gegen das, was nachher kam. Ich war zwei vollendeten Halunken in die Hände gefallen. Meine einzige Rettung war natürlich von vornherein, mich ohnmächtig zu stellen. Schlapp wie Petersilienkraut von der vorigen Woche, ließ ich mich am Boden lang schleifen. Einmal konnte ich mehr erfahren, und dann konnten sie mit mir nichts anfangen. Aber! der Teufel soll mich holen! Es war verrechnet. Als Rusart nach oben gehißt wurde, sah ich ihn mir an, gründlich. Durch die geklemmten Lider. Auf mich achtete in dem Moment keiner. Der große Kasten schwamm von uns weg. Und dann kam's. Die beiden Kerls leuchteten mir mit dem Blender ins Gesicht.«

»›Wie hoch sind wir?‹

»›Tausend Meter!‹

»›Nicht genug.‹

»›Wozu?‹

»›Wie hoch können wir?‹

»›Neuntausend Meter!‹

»›Hören Sie, Kamerad, weshalb sollen wir warten, bis die Kohlenleiche aufwacht. Waschecht ist sie nicht, und für koscher halte ich die ganze Affäre nicht! – Wir werfen den Burschen einfach über Bord!‹

»Der andere lachte – ›und irgendeinem Bauern in den Kamin!‹ – –

»›Eben nicht! Deswegen gehen wir auf fünftausend Meter Höhe, – viertausend tun's auch. – Gute halbe Meile. Dann kommt er schon als unkenntliche Masse an. Keiner weiß – nicht nur wer, sondern auch was es gewesen ist!‹

»›Ja, von dem Luftdruck platzt er – –‹

»›Es ist auch gar nicht ausgeschlossen, daß er unterwegs anfängt, zu brennen. Die Reibung eine halbe Meile lang – –‹

»›Und die Watte! – Die Watte! – Der Kerl ist ja geradezu präpariert. Ich bin dabei. Das reine Feuerwerk. – Mir scheint, wir tun auch ein gutes Werk, wenn wir die Unvorsichtigkeit unsres Chefs wieder gut machen. – Los! Ich lasse erst das Fahrzeug in die nötige Höhe steigen!‹

»Und da standen sie. Keine drei Meter von mir. Der eine am Hebel, der andere am Glas. Der regulierte, der las ab.

»›Ein – zwei – dreitausend Meter!‹ sagte er gleichgiltig, in kurzen Zwischenpausen. ›Viertausend. – Stoppen! – – – – – – Ich denke, es ist genug. Die anderen sollen nichts merken. – Wir machen hier B 5 auf.‹

»›Ja, und schieben ihn hinaus. Mit dem Kopfe zuerst!‹ – –

»Und diese Teufel packten mich. Denkt! – ich soll keine Muskel rühren. Ich muß liegen wie ein nasser Lappen! – Ich hab's ja nicht geglaubt! Solche Schufte! – Ich höre, wie sie die Klappe aufmachen, und dann legen sie mich parat. Der kalte Luftzug kam mir an die nassen Schläfen. Schweiß und Kohlenstaub waren, als wenn mir Gips in die Haare gekleistert wurde. Und eben faßten sie mich an, da meinte der eine, das war ein Frommer: ›Wollen wir nicht erst beten?‹ – ›Wieso?‹ antwortete der andere, der war noch frommer, ›er ist ja noch nicht tot!‹ Und dann hoben sie mich auf. ›Aber 'n bißchen mit Schwung!‹ knurrte einer durch die zusammengebissenen Zähne. Wißt ihr, wegen meiner zweihundert Pfund.

»›Ja, die Eleganz darf man nie außer acht lassen. Also: los denn!‹

»Sie schwenkten mich hin und her. ›A…ins! – Zwa…i! – –‹ Das kann ich euch aber sagen – ›Dra…i‹ haben sie alle beide nicht mehr gezählt. Meiner Mutter Sohn möchte die Stöße vor den Leib nicht haben. Sie flogen wie Bälle in die Ecken.

»Und lachten! – Die Kerls lachten! – Und in jeder Hand einen Revolver. Und lachten Tränen. ›Donnerwetter! – was 'ne kräftige Leiche!‹ – Und standen auf, immer mir zwei Revolver vor die Stirn, und banden mich. – Ihr meint, ich war ein Tölpel. Sie hätten mich nicht hinuntergeworfen. Goddam! Sie haben mir grinsend versichert, es war der letzte Moment, sonst machte ich die Reise. Und dann holten sie eine Gießkanne und begossen mich. ›Wegen der Manierlichkeit des Gesichtes!‹ sagte der eine Kerl, der York, und kniff mich in die Backen. Und dann stierten sie mich an. ›Kenn‹ ich nicht!‹ erklärte der, und ›Kenn‹ ich nicht!‹ erklärte auch der andere. Wäre auch verkehrte Sache gewesen, wenn sie mich in ihrer Erinnerung hätten auffischen können. Dann ging's Verhör los. Woher, wer, wohin, weswegen, beinahe Stammbaum. Sie konnten viel fragen. Gelogen habe ich kein Wort. Weil ich ihnen nicht einen Ton erwidert habe. Dabei mußte ich mit der Nase an der Wand stehen. Ich habe gelacht dazu. Was ich wußte, war genug; jedenfalls mehr, als einer von uns allen anderen. Während meiner Ohnmacht, als die Kerls nach dem nötigen Höhepunkt für das Schlußkapitel meines Lebens angelten, hatte ich immerfort durch die Augen geblinzelt. Ich wußte, wie sie steigen, wie sie fallen, wie sie steuern. – Und ich wußte auch, ich kam nach dem Harz. Wie war ich froh! Dort waren unsere Jungens. Wir würden das Geschäft machen. Nun sicher – –« Er hatte bei den letzten Worten stets den Tabaksaft in weitem Bogen von sich gespritzt »Wie es abgelaufen ist, weiß ja alle Welt!« – –

Nachdem man den Gefangenen eingeschlossen hatte, setzte der »Gracile« die Familie Frohner und die Herren vom Verein der Bodenreformer ab und übergab den Kolonisten alle Gerätschaften, die zu ihrer Ausrüstung bestimmt waren. Es war ein Unternehmen, das Fritz Rusart nicht als Beweis, sondern als Hinweis dafür benutzen wollte, daß durch seine Erfindung die Verteilung der Menschenmassen sehr wohl ermöglicht würde. In der Auffassung, daß die Arbeit eines Menschen um so erfolgreicher und befriedigender sei, je mehr sie den Interessen des Menschen angepaßt sei, und in Anerkenntnis des Satzes, daß die letzten Interessen immer auf die Erhöhung der Lebensfähigkeit gerichtet seien, hatte er seine Hand zu diesem von den Bodenreformern angestellten Versuche geboten; aber, weit entfernt, von einem mustergiltigen Beispiel zu reden, wollte er nur die weiteste Aufmerksamkeit darauf hinlenken, daß fortan die Abgelegenheit eines Ortes nicht mehr seine Unzugänglichkeit bedeutete, und daß die Besiedelung eines Stück Landes von der Kraft der Besitzer, von ihrer Energie und Liebe zur Pflicht und nicht von der Nähe irgendwelcher Nachbarschaft abhängig wäre.

Während der »Gracile« nach dem Harze schwamm, um sich für die den Offizieren der verschiedenen Nationen angebotene Probefahrt zu rüsten, holte Fritz Rusart das dritte seiner Fahrzeuge, den »Robur«, von der Hamburger Werft. Am hellen Tage und mitten heraus aus dem zu seinem Schutze befohlenen militärischen Aufgebot. Auf gleiche Weise, wie den »Gracile«: er ließ das Fahrzeug mit den tragenden Elementen füllen, hängte es unter seine »Pax« und entführte es unter der atemlosen Spannung der Hunderttausende von Menschen in die Luft.

Das leise Gefühl von Ärger, der peinliche Gedanke einer gewissen Überflüssigkeit, der alle das Aufgebot befehligenden Offiziere beschlich, kam gegenüber dem Verblüffenden und Wunderbaren nicht recht zum Ausdrucke, aber es ging, noch ehe die Soldaten die Werft verlassen hatten, ein eingehender Bericht an den Kaiser ab. Dieser Bericht war kaum durchgelesen, als der Reichskanzler auch schon Aufforderung bekam, ungesäumt jeden zweckdienlichen Schritt zu tun, um Fritz Rusart dem Kaiser zu einer persönlichen Unterredung zuzuführen.

Am Harz hatte sich aus dem bisherigen stillen Leben, das reich an Arbeit und Vorsicht war, eine neue Lage entwickelt. Das Trapper- und Hinterwäldlertum, das oft genug an Gerstäckers Arkansasfahrten erinnerte, war einem offeneren Hervortreten gewichen. Auf der einen Seite die Unmöglichkeit, bei dem wachsenden Umfange des Unternehmens verborgen zu bleiben, auf der anderen Seite die immer größer werdende Sicherheit, die dadurch gewährleistet schien, daß neben dem ersten Fahrzeug das zweite, und neben diesem zweiten das dritte in Dienst gestellt werden konnte.

Verabredetermaßen hatte sich Attila von Schwind mit einem Stamme sorgsam ausgewählter Männer in einem Talgrunde am Brockenabhange eine Werkstatt errichtet. Die »Pax« war in bestimmten kurzen Zeitabschnitten in der Mulde niedergegangen und hatte Füllungs- und Ausrüstungsmaterial mitgebracht. Stets bei Nacht und mit Vorliebe, wenn der Nebel sein weiches Gewand über die Niederung deckte. Die Übergabe war ausnahmslos durch Flaschenzüge erfolgt, und Fritz Rusart wie Baron Schwind hatten es vermieden, miteinander zu sprechen, trotz des Umstandes, daß die Umgebung des einen den andern nicht sehen konnte. Oben wußte man nichts von dem zweiten und unten hielt man ihn für den Erfinder.

Es lag in Fritz Rusarts Plan, James York und Frank die Probefahrt des »Gracile«, Attila von Schwind und Witt die des »Robur« leiten zu lassen. Mit der »Pax« und dem »Robur« wollte er dann selbst Fahrtmanöver in der Luft anstellen. Die Einzelheiten waren bis in das genaueste ausgearbeitet, und keiner der Beteiligten ahnte, daß aus nächster Nähe ein verhängnisvoller Streich geführt werden sollte.

Es war nicht lange her. Baron Schwind, der dafür Sorge zu tragen hatte, daß er durch zeitweiliges Verschwinden vom Schauplatze den Glauben an seine Identität mit dem Erfinder ständig in Nahrung hielt, war mit der gebotenen ruhigen Vorsicht durch Blankenburg gegangen. Hierbei hatte ihn Brigitte Mendelssohn gesehen. In Thale, auf Brockenpartien, auf Streifereien durch besuchte und entlegene Stellen, überall hatte sie ängstliche, schärfste Umschau gehalten. Als sie ihn nun vom Fenster aus erblickte, eilte sie rasch hinaus und wußte es so einzurichten, daß er ihr auf dem Wege entgegenkam. Ohne ihn anzusprechen, blieb sie stehen.

Er erkannte sie sofort wieder und zog den Hut. Wieder wie damals war es ihre Schönheit, die ihn entzückte. Aber während sie im Hause ihres Onkels nur Zuschauerin war, trat sie ihm hier bei der Begegnung zu zweien als Partnerin gegenüber. Er verbeugte sich. »Mein gnädiges Fräulein!«

»Berühmte Männer haben das Recht, selten zu sein!« Ihr klopfte das Herz, während sie lächelte.

»Nicht doch! Wofern Sie von mir gesprochen haben! Irgendwo bin ich immer!« Ein Zug in seinem ernsten Gesicht sprach von Wohlgefallen.

»Ich denke,« entgegnete sie etwas sicherer, »ich kann nur Herrn Fritz Rusart gemeint haben!«

»Man soll den Namen hier nicht nennen!«

»Nun, so lassen wir ihn weg! Ich freue mich jedenfalls, daß ich jemanden getroffen habe, mit dem ich mich schon jenseits der Grenzpfähle unterhalten habe. Und über bestimmte Sachen. Wie ist es Ihnen seither ergangen?«

»Wo führt Ihr Weg Sie entlang? Ich frage, um mich anschließen zu dürfen!«

Während sie zusammen weitergingen, meinte er: »Wie kann es mir ergangen sein? Wie dem Reif am Rad. Bald oben, bald unten. Es ist schon viel, wenn man weiß, wenn das Unten wieder an der Reihe ist!«

»Wäre ich Fritz Rusart, so bescheiden wäre ich nicht!«

»Der Name …!«

»Ach! – nein, verzeihen Sie! Es hört uns hier niemand. Ich will ihn aber nicht mehr nennen! – Ist Ihre ›Pax‹ in der Nähe?«

»Höchstens vier Kilometer von hier!«

»Ach – und gehen Sie hin?«

»Das wird seine Schwierigkeiten haben! – Sie mag wohl manches hundert Meter hoch sein!«

So kam sie nicht zum Ziele. Und sie wollte unter allen Umständen diese lange gesuchte, endlich gefundene Begegnung ausnutzen. »Wo sollen Worte her, wenn Worte fehlen – für einen Wunsch, den man so recht im Innern trägt – –« ihre Miene zeigte etwas Quälerisches. »Ich – – ich –« sie stockte.

»Soll ich den Satz sagen? ›Ich?‹«

Sie sah ihn fragend an.

»So sprechen Sie mir nach: – ›Ich – bin – nicht –, die ich scheine!‹ – Nun?«

»Nein! – Ich darf nicht sein, die ich bin!«

»In Ihrem Satze hat die Welt schuld!«

»Ja – alles – um mich, um uns herum!«

»Wie heißt der Wunsch?«

»Ich will den Schritt mitmachen, der der Menschheit Segen bringt. – Nicht empfangen! – helfen, zu bringen!!« –

»So wollten Sie – mit in die Wolken –?«

»Ja – auf die ›Pax‹ – –«

»Für Frauen –?« Es klang wie leise Ironie.

»Sie werden Ihre Frau auch teilnehmen lassen!«

Langsam schüttelte er den Kopf. »Ich habe keine Frau! – Und wenn – – wer weiß! –«

»Was??«

»Ob sie wollte!«

»Wenn sie dürfte?«

»Oder ob sie dürfte!«

»Wenn sie wollte??«

Er lächelte fein. »Das ist ein Rundgang. – Die Zeit wird aber kommen, da auch Frauen teilnehmen, wie sie teilhaftig werden!«

Sie wollte sich nicht verscheuchen lassen. Während ihr die Gedanken durch den Kopf flogen, nestelte sie an ihrem Gürtel und zog sich einen Handschuh aus. Und zog ihn wieder an. Die Konvenienz! – Diese Konvenienz! – Wie sie sie haßte. Oh – daß das Reden so schwer wurde! Endlich raffte sie sich auf. Er hatte sie während der ganzen Zeit von der Seite betrachtet. Wenn die Seele so war, wie die Hülle, – der Charakter wie das Gefäß! – aber ein Schatten war schon vorhanden –: das Zittern nach Ruhm.

Da wandte auch sie den Kopf zur Seite und sah ihn an. Und zwang ihn, stehen zu bleiben.

»Haben Sie schon schwer arbeiten müssen?« fragte sie, tief Atem holend.

»Ja!«

»Wie?«

»Mit Kopf und Faust! Also auf beiden Gebieten!«

»Müssen?«

»Hätte ich nicht gemußt, – hätte ich gewollt!«

Den Klang in seiner Stimme saugte sie begierig auf. Und jener Ton war wieder da, jener Ton, mit dem er damals versichert hatte, niemand könnte ihn hindern an der Macht – und niemand an der Größe. – Dieser Mann mußte den Gleichklang spüren!

»Sehen Sie –,« sie trat an ihn heran, »das ist das Wehgefühl, – diese dornenvolle Ungerechtigkeit! – Ich bin bereit, auch zu arbeiten. Auch schwer! – Ich will! – Aber wir dürfen nicht! – Es liegt am Rock –« sie strich an sich herunter, »und an den Blumen auf dem Hut und an diesen dummen Ringen! – Wer einen Rubin trägt, beleidigt ihn, wenn er arbeitet. – Aber ich will heraus aus der Masse, – aus der Misère. Ich will teilhaben daran, wenn die Menschheit aufwärts geht. Die ersten, die gefährlichsten Stunden will ich mitmachen!!« Aus ihren Augen brach ein glühender Schein.

Er sah sie wohl eine Minute lang an, während ihr das Blut immer heißer durch das Gesicht flutete. Endlich sagte er, ohne seine Blicke von ihr abzuwenden: »Jeder hat das Gefühl, für das, was in dem andern groß ist. – Ich glaube, Sie könnten ein guter Kamerad sein!«

Sie trat einen Schritt zurück. »Ist das viel, wenn Sie das sagen?«

»Es ist alles, was ich einer ehrlichen Menschenseele sagen kann, in einer Stunde, in der ich nicht über mich gebieten darf – und – –«

»Und??«

»Und in einer Stunde, in der ich nicht weiß, ob die andere über sich gebieten darf!«

Ihr halb geöffneter Mund lächelte. »So sei's Gott gedankt! – Herr über mich – bin ich!«

»Sie haben eine Mutter!«

»Der ich nur nutzen kann – und will – und werde –!«

Ihm fuhr die Erinnerung an den Vetter durch den Sinn. Er konnte sich aber nicht entschließen, von ihm zu sprechen. »Und sonst?« sagte er endlich.

»Sonst habe ich nichts! – Nichts auf der weiten Welt! –«

»Nichts??«

»Nichts! – Dem ich Eigentum bin!« –

»Und unter dieser blonden Frauenkrone hegt der Ehrgeiz eines – –«

Sie hob die Hand gegen ihn: – »eines Menschen!!«

»Wie immer es uns gehen würde. – Spiel ist es nicht!«

Ihre Augenbrauen schoben sich zusammen und in ihr Gesicht trat ein schmerzlicher Zug. »Ich will nicht von dem reden, was ich sagte; – aber daß ich überhaupt sprach, war schon nicht Spiel –«

»Kein Spiel! – Ich erkenne es an! – Wenn nun eine Gefahr kommt, – eine echte?« –

»Ich bin noch nie in Gefahr gewesen; – aber sie wird mich nicht schwach finden!«

»Mit Frauenwaffen ist's nicht getan!«

»Können Sie die Frau in mir nicht zur Seite lassen?«

Er hätte ihr antworten können: »Nein! – Das kann ich nicht! – Vielleicht kaum, wenn ich dich nicht mehr sehe, – geschweige denn, wenn du bei mir bist!« – Er sagte es nicht. Sie war aber viel zu viel Weib, um nicht zu fühlen, was er verschwieg. Es ging ein Flimmern durch ihre Lider, und die Seide über ihrer Brust spannte sich.

Er verschränkte die Arme. »So seien Sie unser Kamerad! – Aber ohne Handschlag und ohne Schwur! – Damit Sie es gewesen sein können ohne Treubruch und ohne Reue!«

»Ohne Reue? – Gewesen sein??«

»Ich kenne die Fäden nicht, die Sie an die Welt, an die Vergangenheit, an die Gesellschaft knüpfen! – Wenn die kühle Stunde kommt, in der, was war, mehr gilt, als was sein würde, – dann soll der Kamerad ganz frei sein!«

Sie dachte bei sich: Frei würde sie nie mehr sein. Und auch nicht sein wollen. »Ich möchte Sie meiner Mutter zuführen!« sagte sie laut. Er nickte.

»– Nicht meinetwegen, –« fuhr sie fort, »und nicht der anderen wegen! – Keine Konzession an die Welt –: Sie hat mir auch keine gemacht!«

»Auch nicht meinetwegen?«

»Nein, meiner Mutter wegen!«

So wurde sie sein Kamerad.

Daß ihr das Vorhaben so verhältnismäßig leicht geglückt war, das hatte sie einem ihr ganz unbekannten Umstande zu verdanken. Fritz Rusart hatte es für eine Förderung seiner Erfindung angesehen, wenn Frauen die Probefahrt mitmachen würden, und deshalb den eingeladenen Offizieren anheimstellen lassen, ihre Damen mitzubringen. Für die behauptete und geglaubte Sicherheit konnte nichts besser sprechen, als daß einige der Herren von der angebotenen Liebenswürdigkeit Gebrauch machen wollten. Da das Eintreffen der Teilnehmer nach und nach vor sich ging, waren Zelte errichtet worden. Und so bot sich Attila von Schwind die Möglichkeit, Brigittes Anwesenheit die wohlanständige Form zu geben. Er setzte sie auf die Liste der Eingeladenen, stellte sie vor, führte sie ein. Aber auch gleich am ersten Tage setzte er sich hin und schrieb eine Einladung an ihren Vetter, den jungen Baron. Und sagte ihr davon. Ihr erstauntes Gesicht überging er. »Ich gedachte, Ihnen damit einen besonderen Gefallen zu tun. Er ist doch einer der Ihrigen. Und ich selbst werde mich Ihnen nicht widmen können!«

»Mein Vetter Ferdinand wird nicht kommen!«

»Weshalb nicht? Ich habe geschrieben, daß Sie hier wären. Und Herr James York kommt auch. Und auch der Herr Aménard, von dem Sie mir so viel Amüsantes erzählt haben!«

»Himmel, die ganze Suite! – Die Kurz- und Langweil! Nun, ich werde auch sehr beschäftigt sein. Sie werden mir irgendeinen Posten an irgendeinem Hebel geben. Und ich werde, wenn das ›Privatvolk‹ kommt, ›Dienst‹ haben.«

»Was haben Sie gegen Ihren Vetter? – Gegen die anderen?«

»Gegen jeden etwas! Insgesamt sind sie Ballast!«

»Bei mir – ja! – Im Schiff – –«

»Bei mir auch! – Im Leben!« –

Trotz aller Vorsicht Schwinds erregte Brigitte ein gewisses Aufsehen, bei Damen und Herren. In jeder Beziehung tadellos im Benehmen, gab sie der allgemeinen Beachtung dadurch Nährstoff, daß sie sich fast stets neben dem Erfinder befand. Und bei dem Ernst und der Ehrerbietung, mit denen er sie behandelte, kam man nur zu dem Schlusse, daß sie in irgendwelchem Zusammenhange nicht nur mit seiner Person, sondern auch mit seiner Erfindung stehen müsse. Es war die Erfindung, die ihr einen Nimbus verlieh. In dieser Vermutung wurde man noch dadurch bestärkt, daß er sich mit ihr in das sonst unzugängliche, improvisierte Laboratorium begab, und daß sie beide dort stundenlang verweilten.

Der junge Chemiker, der an den Retorten arbeitete, hatte ihr die höchste Schmeichelei gesagt, die sich Frauenschönheit denken kann. Als sie ihm das erstemal gegenübertrat, hatte er aufgeschaut und, ihr Gesicht, ihre Augen, ihre Haarkrone anstaunend, war ihm kein anderer Gruß eingefallen, als »Donnerwetter!« Dann war er bis an die Haarwurzeln rot geworden.

Attila hatte gelächelt; Brigitte war ärgerlich gewesen. »Ich wollte, ich hätte auch etwas studiert!« hatte sie nachher zu dem Baron gesagt.

»Um im gegebenen Momente Ihre ganze Weisheit in ein ›Donnerwetter‹ ausgießen zu können?«

»Nein! Um hier eine Pflicht zu erhalten! Sie sollen von mir etwas verlangen. Durch nichts machen Sie mir das Herz schwerer, als wenn Sie mich überflüssig bleiben lassen. Sie haben mir alles gezeigt, wie man einem Besucher seinen Park zeigt, seine Ställe, seine Bilder – –. Und so haben Sie mich den Schritt, den ich getan habe, umsonst tun lassen!«

»Sie sollen erst einmal die Probefahrt mit dem ›Gracile‹ nach dem Sinai durchleben. Nicht immer kommt der Appetit beim Essen.«

»Ist irgendeine Gefahr dabei?«

»Nein, Kamerad!« Er sah sie eindringlich an. »Sonst würde ich Sie nicht mitlassen!« Der Ton war ruhig, aber die Worte stiegen ihr doch in das Blut.

Sie verlebten einige Tage miteinander. Attila hatte sich dem Einflusse ihrer Persönlichkeit nicht so entziehen können, wie er es anfangs wollte. Um so weniger, als er bis jetzt wenige Zeit den Frauen hatte widmen dürfen. Nun kam noch dazu, daß ihr Streben und ihre Manier, dieses Streben zur Geltung zu bringen, ihm sehr sympathisch waren.

Wenn er im Talgrunde eintraf und sie nicht sofort entdecken konnte, durchsuchte sein Auge so lange jedes mögliche Versteck von den Zelten bis zu den Blockhütten, bis er sie gefunden hatte. Und sie ließ sich immer willig und bald finden. Denn sie hatte nicht weniger nach ihm ausgeschaut.

Er hätte nur die Hand auszustrecken brauchen, und sie wäre sein gewesen. Er hatte auch längst das Gefühl, daß sie einander unentbehrlich seien. Aber die Doppelrolle, die er spielen mußte, auch ihr gegenüber, zwang ihn vor sich selbst, sie noch einmal vor die Möglichkeit zu stellen, ob sie nicht lieber jemandem gehören wollte, von dessen Liebe sie schon immer wußte, und der ihr ein sorgenfreies Los bot, oder jemandem, der sie in Namen und Person getäuscht hatte, wenn auch aus Beweggründen, die ihn die Prüfung vor jedem andern bestehen ließen.

Deshalb hatte er ihren Vetter eingeladen, und deshalb drang er darauf, daß sie die Probefahrt mitmachen sollte, an welcher er, ohne daß sie es wußte, nicht teilnehmen würde.

Der Vetter kam. Und Aménard kam. Die Eingeladenen hatten sich mit ihren Damen vollzählig versammelt. Brigitte hatte Aménard begrüßt, ostentativ vor Baron Ferdinand. Der hatte sich sogar entschuldigt und die Hoffnung ausgesprochen, daß es ihr eine Freude sein würde.

»Wenn es ein Geschenk sein soll, Ferdinand – du weißt, dann freut man sich immer; – und die Kritik verstummt; – oder ist sich immer gleich!«

»Und dann wertlos – –« Er hatte sich abgewandt. Aber Aménard war entzückt. Seine »Gnädigstes Fräulein!« und »Allergnädigstes Fräulein!« rollten wie Quecksilber. »Wenn wir sind oben, wir werden nicht frieren! – Und es wird uns nichts passieren. Wir haben jemanden bei uns – jemanden!« – Er zog ein Gesicht, als wenn er die Nase in Likör tauchte. »Höchstens, daß uns wird schwindlig. Wovon ich verspüre einen Anfang schon jetzt. Es ist die Aussicht, welche haben meine Augen –!«

Brigitte lachte. »Bei meinem Vetter in die Schule gegangen?«

Aménard lehnte entrüstet ab. »Der Herr Baron! Er gibt sich nicht ab mit Unterricht. Er ist Dichter. – Und mir kommen die Gedanken allein, wenn ich sehe etwas, was wert ist die Gedanken!«

Was für Augen aber machte er erst, als er bemerkte, in welchem Verhältnisse Brigitte zu dem Erfinder stand! Die Fürsorge, die jener ihr angedeihen ließ, hielt gleichen Schritt mit dem seinen Takte, den er bei jedem Zusammensein mit ihr anwandte. »Der James, der verfluchte Kerl! – Ich denke, er kann sich wischen den Mund! – Aber sie ist es –«, frohlockte Aménard. »Sie kommt in die Weltgeschichte. Eine feine Nase hat er doch gehabt. Aber sie hat noch eine feinere. Sie ist 'rangekommen an den Mann. Ich werde hinterher sein. Sie wird meistern den Mann. Und ich werde mich hängen an sie. Ein Schatten ist die Semiramis. Und ein Dunst sind die anderen – –«

Und dann kam die Stunde, die Minute, in der der »Gracile« niederging. Es war ein Gewühl unten im Grunde. Aber nur in der Bewegung. Sonst herrschte lautlose Stille. Und als der Stützrahmen sank, als das Fahrzeug in sicherem Gleichgewicht auf dem Boden stand und sich mitschiffs außen die große Klappe, eine Art Eingangstores, geöffnet hatte, strömte alles herzu. Zwischen zwei Männern der Besatzung wurde der Gefangene herausgeführt und sofort in eine Blockhütte gebracht. James York erstattete dem Chemiker kurzen Bericht und begab sich wieder auf das Fahrzeug. Schwind, der sich stets im Hintergrunde hielt, ließ den Engländer, aus dem nichts herauszubringen war, bewachen und gab Befehl, die Passagiere einzuschiffen. Zwei Stunden zur Orientierung und für das Gepäck. Punkt elf Uhr in der Nacht sollte der »Gracile«, der technisch vollständig ausgerüstet war, und dem nur noch Koch und Proviant zugeführt wurden, seine Fahrt antreten.

Brigitte war mit den übrigen eingestiegen. Sie las auf ihrer Karte die Kabinen-Nummer. Als sie endlich sah, daß James York, der die Honneurs machte, einen Augenblick Zeit hatte, wandte sie sich an ihn. Lächelnd und wortlos. Er stand wie erstarrt.

»Zum ersten Male bin ich Medusa!« sagte sie endlich, »oder ein anderes Gespenst –«

Ihr Lächeln brachte ihn zu sich. »Verzeihen Sie, das unerwartete Glück –«

»Für mich – daß ich mitfahren kann! Ich verstehe. Herr Rusart war so liebenswürdig –«

Er nahm ihr die Karte ab. »So war es nicht gemeint. Darf ich führen? Das Gepäck ist bezeichnet?«

»Ja, es ist vorhin mit herangerollt worden.«

Er brachte sie vor ihre Kabine. »Es wird sofort eine Stewardesse zu Ihrer Verfügung stehen!« Er rang mit den Worten. »Ich hatte immer auf ein Wiedersehen gehofft, und bald. Aber hier – das hätte ich nicht zu träumen gewagt!«

»Was ist wunderbares?« fragte sie liebenswürdig, indem sie eintrat und ihren Hut auf einen Sessel warf.

»Nichts Wunderbares! Aber Sie sind unter meinem Schutze, die ganze Zeit! Ich trage die Verantwortung. Das ist etwas Stolzes – für mich!«

Sie hörte den Klang und trat erschreckt zurück. »Nun, ich gratuliere Ihnen«, wich sie aus, »zu dem Vertrauen, das Ihnen Herr Rusart schenkt. Aber es sind doch noch mehr Damen da –«

»Das ist recht! Aber keine erstens, die ich kenne. Sie sind die einzige; auch Frau Rusart fährt nicht mit – –!«

Brigitte griff tastend nach einer Stuhllehne. Was hatte er gesagt? Frau Rusart?

Wäre es etwas heller gewesen, hätte er gesehen, daß das Gesicht der Frau, die vor ihm stand, weiß war wie das einer Toten.

»Kennen Sie Frau Rusart?« kam es endlich in fast übermenschlicher Anstrengung über ihre Lippen.

Ihn machte der heisere Klang besorgt. Er eilte an die Wand, das runde Fenster zu schließen, durch das der kühle Nachtwind hereinstrich. »Sehr gut. – Sie ist auf der ›Pax‹.«

»Und Herr Rusart?« sie kämpfte sich die Worte ab.

»Herr Rusart?« fragte er erstaunt, »der ist doch hier. Er stand ja vorhin die ganze Zeit am Blockhaus!«

»Ja – ja – ich meine – er fährt doch mit uns! Und wenn sie – auf dem andern –«

»Herr Rusart fährt nicht mit. Wenn er ein Programm entwickelt, ist es gemeißelt. Änderungen kennt er nicht. Er führt abwechselnd die ›Pax‹ und das dritte Schiff. Das hier ist ja nur eine – wie soll ich sagen – Beweisfahrt, eine – – aber, was ist Ihnen?«

»Mir? – Nichts! – Wenn Sie nun so liebenswürdig sein wollten, mir die Bedienung zu schicken!« –

Er eilte hinaus. Als seine Schritte verhallt waren, richtete sie sich auf. War der Nebel aus den dichten Tannen hier hereingezogen oder hatte sich ein Flor vor ihre Augen gelegt? – Sie sah undeutlich ihren Hut liegen. – Und dort, dicht an der Tür, hatte eben noch James York gestanden. Narrte sie denn ein Spuk? – Hatte sie denn geträumt? – Nein! – Sie hörte den Klang noch! Ganz deutlich! Still nahm sie den Hut hoch und setzte ihn auf. Alles rein mechanisch. Dann trat sie in den Gang, rollte die Kabinentür leise zu und ging mit schleppenden Schritten dem Ausgange zu. Jeder war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um ihrem Tun besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Auch lief man noch eilig durcheinander. Sie durchquerte den kleinen Platz und betrat ihr Zelt. Es war leer. Das Gepäck hatte man bereits hinausgeschafft. Auch der kleine Teppich war entfernt worden. Sie duckte sich auf dem zerdrückten Grase nieder und lugte mit brennenden Augen durch den Zeltschlitz. Drüben, halb verschwimmend in den Umrissen stand der, dem sie geglaubt hatte. Wäre das Licht auch noch ungünstiger gewesen, die schwere Luft noch dicker, sie hätte ihn erkannt. Nichts an ihm zeigte an, daß er die Fahrt mitmachen wollte. So mochte das andere auch wahr sein! Sie krampfte die Hände ineinander und grub sich die Nägel in das Fleisch. –

Auf dem »Gracile« hatte James York bald darauf Aménard zu Gesicht bekommen. »Zum Teufel! – Ist denn die ganze Firma anwesend?« Er war ärgerlich. Diesen Aménard, den Burschen mit seinen von Niedertracht strotzenden Bemerkungen, wollte er auf der prächtigen Fahrt nicht mithaben! Nun erst recht nicht! Diesen Kerl mit dem ewigen Spionieren. »Welcher Satan hat Sie denn hierher gekarrt?«

»Viel Fragen auf einmal!« erwiderte Aménard, sich tief verbeugend. »Ich bin nicht bewandert, daß ich kann sagen, ob sich der Satan abgibt mit Speditionsgeschäften. Eingeladen hat mich der Herr Rusart. Auf die Protektion von dem Fräulein vom Palais! – Sie wissen!«

»Sie haben doch eine schwache Brust!«

»Wieso?«

»Von dem vielen Fett! – Werden Sie die großen Höhen auch vertragen können? – Da fängt der Atem an zu pfeifen!«

»Es wird nicht so schlimm sein –« Aménards Augenzwinkern sah sehr harmlos aus. »Ich habe noch nicht alle gesehen. Aber es werden Schwächere dasein, mit mehr Fett! Und es sind auch Damen da. Man wird Rücksicht nehmen!«

»Nun ja! – mich wird's freuen. So sehr schwach sind Sie ja eigentlich auch nicht!« James wurde jovial. »Dann wird es der Firma auch sicher angenehm sein, sich nützlich zu zeigen.«

»Aber es wird mir sein ein besonderes Vergnügen!«

»Das habe ich nicht anders vorausgesetzt. Wenn Sie sich eingerichtet haben, das kann ja bei Ihnen als Reisekundigem nicht lange dauern – –«

»Ich bin schon fertig –«

»Ach! – um so besser! Dann können Sie mir noch die letzten Gerätschaften von drüben holen. Ich mag sie nicht jedem anvertrauen. Hier ist ein Zettel –« er schrieb ein paar Worte, »daraufhin gibt sie Ihnen der Chemiker!«

»Wo?«

»Drüben, vom Laboratorium!«

»Nicht auf dem Schiff?«

»Teufel! nein! – Da drüben!« Er wies hinüber.

»Darf ich tun eine Frage?«

»Los!«

»Das Schiff, wenn es ist abgefahren, kann man ihm nachlaufen, wie einer Droschke?«

»Nein –!«

»Aber – wenn man pfeift, – hält es an?«

»Nein –!«

»Gut! – Ich werde bleiben auf dem Schiff!«

So war das Experiment mißglückt.

Fünf Minuten vor elf Uhr schrillte ein Signal durch das Fahrzeug. Luken und Pforte wurden geschlossen und die Scheinwerfer über Bord nach unten gehängt, vier Minuten später ertönte das Achtungssignal, und Punkt elf gossen die Scheinwerfer einen Strom von Licht auf den Ankerplatz.

Der »Gracile« begann sich zu heben. Die Teilnehmer erschienen an den mit Sammet ausgeschlagenen Bordbarrieren und sahen grüßend hinunter. Es war ihnen feierlich zumute. Das blendende Licht legte sich wie Silber auf den nebligen Grund. Hohe Tannen, die die Lichtung umkränzten, bildeten einen matten, tiefdunklen Rahmen. Nirgends eine scharfe Linie und doch alles deutlich. Das Luftschiff stieg ganz langsam. Zentimeter um Zentimeter. Es schwamm mit dem Bordrand schon oberhalb der Tannen, und der Blick glitt über das Spitzenmeer hinweg zu den Eichen und Buchen, die an den umliegenden Höhen bergan strebten.

Ein letzter Abschiedsblick galt noch der Stätte, die man soeben verlassen hatte. James York, den bis jetzt seine vielfachen Pflichten in Anspruch genommen hatten, war auch hinaus auf Deck getreten. Es herrschte oben ein magisches Halbdunkel; ein matter Schein, der von unten zurückgeworfen wurde. Mit fliegendem Auge hatte er nach Brigitte gespäht. Als er sie in den dicht aneinanderlehnenden und sich drängenden Gestalten nicht gleich fand, sich auch nicht irgendwo hineindrängen wollte, schob er sich in eine freie Stelle am Heck, um auch noch einen Blick auf das Bild da unten zu erhaschen.

Da sah er und alle anderen, wie das eine Zelt sich teilte. Eine Frauenfigur erschien in dem Eingange; das Gesicht mit einer erschreckenden Blässe überzogen und die Mienen starr. Mit beiden Händen das Zelttuch auseinanderhaltend, stand sie wie aus Stein gemeißelt. Sie sah unverwandt zu der Stelle hinüber, von wo der Erfinder, neben seinem Holzbau stehend, noch einen Gruß hinaufschickte.

Dann sah man, wie sie sich nach vorn bewegte und in Schritten, die bald ebenmäßig und schwebend, bald vorwärtsdrängend, bald zögernd erschienen, den lichtüberfluteten Platz durchmaß und unweit des Mannes, an dem ihre Augen unablässig gehangen hatten, Halt machte. Wieder wie leblos.

James riß sein Glas hoch. Seine Kinnbacken krampften sich zusammen, und in seine Kehle kam ein Würgen. Ein Zweifel, mein Gott, es konnte ja nicht sein! – Aber er mochte sich wehren wie er wollte! Es war so: dort unten stand Brigitte! – Trotzdem stürzte er in das Schiffsinnere und schickte die nächste Stewardesse nach Brigittes Kabine. Sie kam zurück. Die Kabine war leer, überhaupt nicht in Benutzung genommen. In Sprüngen eilte er hinauf. Nach der Kommandokammer. Er wollte den »Gracile« wieder senken. »Wir haben eine Dame zurückgelassen! – Sie hat sich verspätet! – Wir müssen sie holen! – Sofort wieder hinunter!«

Frank zuckte mit den Schultern. »York, wer es auch ist – Sie wissen so gut wie ich, daß uns das teuer zu stehen kommen kann. Wir sollen hier aufsteigen, nicht niedersteigen. Wir sind aufs Programm vereidigt. Der Chef wollte nach Hamburg und ist nun doch hier. Sie sehen, daß er kontrolliert! – Und Zeit war genug! Wie konnte sie sich verspäten!«

James hatte noch eine letzte Hoffnung. Mit dem großen Sprachrohr in der Hand sprang er an die Bordkante. Er wollte Fritz Rusart fragen, ob man die Dame nicht nachholen sollte. Aber so eilig er gewesen war, es war zu viel Zeit vergangen. Der »Gracile« hatte schon mehr als die halbe Brockenhöhe erreicht. Die Strahlen der Scheinwerfer spielten auf einem leise wallenden Nebelmeer.

Er trat stöhnend zurück.

»Es ist ein Malheur!« sagte eine Stimme neben ihm. Und da er nicht antwortete, fuhr Aménard fort: »Nicht nur für Sie! – Schade, daß ich nicht habe gewettet! – Eine mußte es sein. Aber es ist so; – sie sind in vielem groß, – auch, daß sie nicht können kommen zur Zeit. – Und ist noch nicht mal geschickt mit dem Zettel zum Chemiker! – Oder – haben Sie sie geschickt?« schloß er interessiert, mit dem einen Ohr auf der Schulter. – –

Das Brockenhotel leuchtete aus gleicher Höhe herüber. Frank ließ mehr Kraft aus den Hebeln schießen, und bald lag das Hotel tief unten. Mit seinen Lichtern ein Feuerzeichen. Ein letzter Gruß. Weit unten und weit ab noch einer: ein Eisenbahnzug fuhr durchs Flachland, von West nach Ost durch Altsachsen. Wie eine Kette von Glühwürmern, die durch die Niederung kriecht.

Frank drehte den Schnabel des »Gracile« nach Südosten. Die goldene Aue, das Erzgebirge, die böhmischen Wälder und Täler, die ungarische Steppe, und dann der Süden, der sonnige, blaue Süden. Miramare, Capri, Alexandria, der steinige Sinai mit dem weißgelben Felsenmeer und der Azurhimmel! davon träumten sie schon alle.

James drückte die heiße Stirn an einen eisernen Pfosten. Er dachte nur an die eine, um deren Glieder sich der Nebelschleier gelegt hatte.


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