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Der Winter schrieb seine Memoiren an den Himmel; und es war, als ob er seine Feder in Schwefel getaucht hätte. Ein fahles Manuskript. Die Luft gelb, das Wasser gelb und die Häuser blaß. Der Rauch wälzte sich wie eine lehmige Masse aus den Schloten in die dicke Atmosphäre hinaus. Die auf den Docks liegenden Ozeanriesen schienen mit ihren Mastspitzen von unten Furchen in die schwere Decke zu ziehen.
Auf der Werft herrschte eine eigentümliche Stimmung: die Arbeiter waren verdrossen und die Ingenieure nervös-gereizt; das kaufmännische Personal strebte aufgeregt dem Abschlusse seiner Arbeiten zu, und die leitenden Männer schoben sich von einer Abteilung zur andern, mit ihrer Geschäftigkeit eine Unruhe verdeckend, deren sie nur noch mit Mühe Herr werden konnten – – aber neugierig, über die Maßen neugierig waren sie alle.
Vor sieben Monaten hatte die Werft den Auftrag erhalten, ein Stahlschiff zu bauen; von einem Typ, der sämtlichen Erfahrungen ins Gesicht schlug. Die Pläne waren fertig eingereicht worden. Der Besteller hatte sich nur den Vermittler genannt. »Am Tage des Stapellaufes würde ›der Herr‹ erscheinen.« Bei dem allgemeinen Mangel an Aufträgen hatte die Werft damals allen Grund, der Sache näher zu treten und, als die veranschlagten Kosten sichergestellt wurden, den Bau zu übernehmen.
Alle Bemühungen, auch diskretester Form, Näheres über den eigentlichen Besteller und vor allem über den Mann zu erfahren, der diese Pläne entworfen, diese Zeichnungen verfertigt hatte, waren vergeblich gewesen. Die Kontrollen hatte immer der schweigsame Vermittler ausgeübt; er war es auch gewesen, der die jedesmal fälligen Bauraten durch die Bank überwiesen hatte. Jede weitere Auskunft war von ihm bereitwilligst abgelehnt worden.
Heute war der Tag, der Licht in die Sache bringen sollte. Heute sollte der Stapellauf stattfinden; aber – wie es wieder ausdrücklich vorgeschrieben war – ein Stapellauf ohne Feierlichkeit, eine Schiffstaufe ohne Champagner.
Der Oberingenieur lief mit verschlossenem Gesicht umher. Er hatte die Fäuste in die Taschen gestoßen und biß mit seinen Zähnen auf dem Schnurrbart herum. Als man ihm die Pläne bei der Bestellung gezeigt hatte, hatte er den Kopf geschüttelt. »Bauen läßt es sich wohl! … aber … was wollen Sie damit …?«
»Ich habe nur zu fragen, ob Sie so bauen wollen?«
»Gewiß!«
Er hatte das stählerne Geschöpf entstehen sehen und den Kopf geschüttelt. Heute lag es fertig vor ihm, und er schüttelte wieder den Kopf.
Der Direktor sprach ihn an. »Nun, Ehlers, was meinen Sie! – auf die Minute fertiggestellt!«
»Ja, der Mann kann kommen!«
»Werden Sie klug daraus?«
»Nein!«
»Und werden Sie aus dem Manne klug?«
»Aus dem, den wir nicht kennen? Ha! Nein!«
»Aber eine Narrheit kann's doch nicht sein!«
»Eine Narrheit für dreihundertzehntausend Mark? Ist das noch eine Narrheit?«
»Und wie tadellos pünktlich lief immer das Geld ein!« –
Der Oberingenieur setzte sich auf eine der beiseite geräumten Spieren. »Kaufmannsseelen!« lachte er boshaft. »Ihr würdet einen eisernen Schornstein bauen lassen, oben geschlossen und unten geschlossen, wenn's bloß bezahlt würde!«
»Bloß bezahlt würde? – ›bloß‹ sagen Sie? Ja, aber selbstverständlich! meinetwegen eine Butterdose oder eine Bratpfanne von viertausend tons. Ist Geld nicht der Zweck der Arbeit?«
»Und ein stumpfes Nichtwissen der Sinn der Arbeit? – Nein! Sehen Sie hin, mein Lieber!« Der Oberingenieur sprang auf. »Sehen Sie hin und sagen Sie mir, was ist das für ein Geschöpf, das wir heute zu Wasser lassen? Es ist aus Stahl, aber seine Haut ist dünn, wie Handschuhleder; es hat nur 120 Fuß Länge, aber trotzdem über 100 Rippen; es hat keinen Kopf und keinen Schwanz – auf beiden Seiten gleich; keine Masten, keine Maschine! – keinen Platz dafür, keine Einrichtung dazu! Was soll der ungeheuerliche Stahlrahmen um das Deck, mit den ebenso ungeheuerlichen Scharnieren! Was sollen die vielen Kammern, Fächer wie die Zellen im Bienenstock – und dann dieses ganz unglaubliche Röhrennetz mit den tausend und abertausend Ventilen, die man alle von einem Platz aus öffnen und schließen will! Und zur Hauptsache sage ich Ihnen: trotz der Rippen! ladet er nur 200 tons in den Kasten, dann drückt ihm das Wasser die Wände ein! Verstehen Sie das? Nennen Sie das ›Schiff‹?«
»Dann muß er eben weniger laden.«
»Aber es faßt 500 tons!«
Der Direktor zuckte die Achseln.
»Ja, noch weiter. Dieses Röhrensystem von Glas! Wissen Sie noch – er lieferte sie ja selbst – wie wir verblüfft waren über diese Glasröhren! und wie er arrogant tat bei der Abgabe. Wie ich noch sagte: ›es sind aber nur genau so viel, als wir brauchen; wenn eine bricht?‹ – ›Sie brechen nicht!‹ – ›Und bei der Probe, wenn eine platzt?‹ – ›Sie platzen nicht!‹ – Der Mann hat recht gehabt. Ich habe so nebenbei 'mal eine Probe machen lassen. Diese dickwandigen Dinger sind härter als Stahl; unsere schwersten Hämmer prallen davon ab, wie von kaltem Eisen! – ja, noch mehr,« er sprach, je erregter er wurde, um so leiser, »ich hatte einen von den Arbeitern im Verdacht, daß er mehr wüßte als wir. Da habe ich einmal, gleich nach Feierabend, in dem Röhrensystem der drei Mittelkammern eine Umschaltung vorgenommen. Es war eine Arbeit von einer guten halben Stunde. Am andern Morgen stieg ich mit dem ersten Arbeiter zugleich in den Rumpf. Es war wieder alles in Ordnung! Das mußte ich herausbekommen. Ich nahm mir Sultan mit, unsern Werfthund, diese Bestie, von der man sagt, sie würde selbst dem Beelzebub mit seinem Einhufer durch einen einzigen Biß zu fünf Zehen verhelfen. Das Tier stand vor der Lukenöffnung wie vor einer Wand. Weder beruhigen und gut zusprechen noch hetzen half. Ich holte mir den Wächter, und wir steckten eine Fackel an. Vergeblich! Der Hund wich zurück und heulte. Und Gehricke wollte nun auch nicht. ›Da ist was nicht in Ordnung!‹ meinte er. ›Da ist wer drin! Wenn Sultan nicht 'rangeht – ich lasse da auch meine Hände von!‹ Nun, mir blieb nichts übrig, als auch zu verzichten, aber – was soll's mit alledem?«
»Ja, für mich ist das alles ja neu!« meinte der Direktor, unsicher lächelnd, »immerhin, lieber Ehlers, an Gespenster und Spuk glauben wir doch heute nicht mehr!«
»Nun, und ich sage Ihnen, ich bin durch die letzten Monate so nervös geworden: oft, wenn ich allein zu Haus an meinem Arbeitstische sitze, dann habe ich das Gefühl – nicht doch: Gefühl ist zu wenig! – ich habe die totsichere Überzeugung, wenn ich bei der tiefen Stille anfinge zu schreien, dann könnte ich nicht mehr aufhören zu schreien; ich würde mich erbärmlich zugrunde schreien. Das klingt lächerlich, aber denken Sie sich 'mal in diesen Zustand hinein! Rechts von mir und links und hinter mir vermute ich immer jemanden. Ohne jede äußerliche Veranlassung drehe ich mich oft um. Wenn ich mir über den Kopf fahre, meint man, das sei Zerstreutheit oder eine der vielen zufälligen Nebenbewegungen, die der Mensch macht, aber mir sind tatsächlich die Haare naß. Und geht es den beiden Kollegen von der Konstruktion besser? Jungius und Westphal haben auch so ein stilles Grauen. Also ich bin nicht der einzige!«
Der Direktor verschränkte die Arme auf der Brust. »Nervös sind wir alle! Eine Abhandlung darüber ist – –«
»Öde!«
»Ja! öde! Was Sie mir aber da erzählen, ist teilweise neu für mich. Und es wäre mir sehr angenehm gewesen, wenn ich es früher gewußt hätte. Die Arbeiter werden doch beim Verlassen der Werft so gut wie beim Betreten gezählt, und monatelang? nein! Da kann sich niemand die Nächte hier festschmuggeln. Ärgerlich ist es, aber es lohnt sich nicht mehr nachzuforschen. Wir werden das Ding ja heute los.«
»Ja, und der Mann will selbst kommen.«
»Übrigens von dem Vermittler wissen wir doch einiges.«
»Vermittler! Vermittler!«
»Ja, wer sagt Ihnen, daß das nicht ›der Mann‹ selbst ist?«
»Weil ich ihn ausprobiert habe! technisch das vollständige Kind!«
»Wenn er schweigen konnte, wollte?« Der Direktor kniff die Augen zusammen.
»Nicht doch! wir wissen, daß er Bureau-Vorsteher bei einem Berliner Patentanwalt ist. Also Akten – Kreatur. Und wir wissen, daß sein Chef mit unserm Manne nicht identisch sein kann.«
»Doch schon etwas!«
»Noch lange nicht so viel, wie das Negativ eines Photogramms. Nichts über den Mann, nichts über das Schiff!«
Der Direktor sah nach der Uhr. »Wenn es etwas besonders Gutes, Wichtiges ist, dann kann es ja nicht verschwinden. Es ist übrigens ein Uhr. Hoch zu Mittag, und so finster. Bei diesem gelben Luftbrei. Die Wolken hängen da oben herum wie mißlungener Pudding. Um halb zwei soll's zu Wasser. Da kommt Wehrhardt! Und in vollem Trab!«
Ehlers lachte. »Und im Frack!«
»Aber, meine Herren, wollen Sie sich denn nicht anziehend In einer halben Stunde ist der Mann hier. Ich habe unsere Barkasse schon hinübergeschickt mit Ehrreich, Hohnsen und Winkler.«
»Natürlich, wie gewöhnlich, alle in Zylinder und Frack?«
»Gewiß!«
»Ha! für dieses Geschöpf hier! Es ist zum Lachen! Es kann schwimmen und ist kein Schiff! Es ist von Eisen, und ein anständiger Axthieb, dann platzt ihm die Haut. Es hat einen Bauch und keine Eingeweide! Paßt auf: seine einzige anständige Fahrt wird die jetzt zum Wasser sein.«
»Oh!« meinte Wehrhardt, »oho! ist das nicht etwas wenig? Das Ding soll doch eine Reise um die Erde machen!«
Ehlers sprang auf. »Von wem wissen Sie das? Seit wann!«
»Die Arbeiter sagen das. Heute morgen habe ich es auch erst gehört. Und außerdem, was auch vielleicht ganz interessant ist: Der Mann hat im Inlande ganz kolossale elektrische Ventilatoren bestellt.«
»Aber von wem wissen Sie denn das!« stieß der Oberingenieur erregt hervor.
»Mein Gott ja, so kneifen Sie mich doch nicht so! Ich habe das heute von einem von den Leuten gehört.«
»So, gehört, von einem von den Leuten, und hinterher womöglich: ich weiß nicht, von welchem. Bleiben Sie mir vom Leibe mit diesen Schleiernachrichten!«
»Du liebe Zeit, das läßt sich doch noch feststellen! Einer von den Arbeitern hat's gesagt. Ich kenne die Kerls doch auch nicht näher.«
Ehlers nahm den Direktor beiseite. »Wissen Sie was, Direktor? Wir – haben – den – Mann – seit – sieben – Monaten – auf – unserer – Werft! Der Mann hat mitgebaut, hier bei uns!«
Der Direktor sah ihn erstaunt an: »Weshalb soll er jetzt sprechen, wenn er so lange geschwiegen hat?«
»Gleichgültig! der Mann ist hier! Ist jemand von den Arbeitern entlassen worden?«
»Nun, im Laufe der sieben Monate ist wohl hier und da mal gewechselt worden.«
»Ach was! Der Mann hat nicht gewechselt! Gestern abend entlassen worden?«
»Nein! Das tun wir doch nicht! Wer mit uns gebaut hat, soll auch den Ablauf mitmachen.«
»Und heute morgen? alle angetreten?«
»Das weiß ich nicht.«
»Nun, ich sage, der Mann, den ihr da jetzt mit der Barkasse holen lassen wollt, ist schon lange auf unserer Werft! Wir wollen uns schnell fertig machen. Wer weiß auch, von wo aus er uns schon beobachtet.« Im Wegeilen drehte er sich noch einmal herum. »Muß hier sein! Muß!«
Auf der Werft ging eine Signalflagge hoch. Ein Zeichen, daß die Barkasse vom jenseitigen Ufer abgestoßen hatte. Der Weg vom Landungssteg bis herauf zum Bug des auf dem schrägen Gleitbalken liegenden Schiffsrumpfes war frei geräumt und mit Tannenzweigen belegt. Balkenstümpfe, Spieren, Ketten, Eisenteile, Rostsplitter, alles war in den Hintergrund gebracht worden. Oben auf dem Schiffsrumpf hatten sich die Arbeiter postiert, die bestimmt waren, auf rechtzeitigen Wink die Ankerketten fallen zu lassen. Sie sahen neugierig über die Bordwand hinab. Aber ob oben an Bord oder unten auf der Werft, in den Bureaus oder in den Werkstätten: überall herrschte das unbehagliche Gefühl der Unsicherheit im Urteil.
Was für eine Stapelfahrt! Als wenn ein neugeborenes Kind mit dem zweifelhaften Gruß beglückt wird: »Es ist ja nicht anders! Du bist ja nun da!« Keine Freude, keine Hoffnung, keine Erwartung auf Segen und Ernte! Kaum Liebe.
Sonst hatten die Erbauer mit einem Gesicht, das der Stolz über die geleistete Arbeit färbte, ihre Schöpfung umstanden. In jedem Arbeiter hatte das Gefühl gelebt: dabei hast du mitgebaut! Und wenn später eins dieser Schiffe unter dem Drucke der Schraube oder der Segel nach langer Fahrt wieder in den Hafen einlief, dann hatte jeder, auch der letzte Nietenschläger, es begrüßt als alten Bekannten, der sich bewährt hatte; und daß er sich bewährt hatte, das hatte jeder in einem guten Teil Voreingenommenheit und Selbstgefühl seiner Mitwirkung zugeschrieben. Der sentimentale Kitt zwischen Gehirn, Faust und Arbeit.
Heute war nichts von Anteilnahme an der Sache selbst zu merken. Nur die Abwickelung der technischen und geschäftlichen Handgriffe, überflutet von einer Neugier, die sich in den programmäßigen Pausen zum Hauptmerkmal des Bildes entwickelte.
Die Herren kamen vom Direktionshause herüber, äußerlich zum Empfange bereit. Ehlers trat an einen seiner Vorarbeiter heran.
»Na?«
»Ja, ja,« der Mann drehte seine Mütze in den Händen.
»Nun werden wir unser Schiffchen bald los.«
»Ja!«
»Schwefliges Wetter heute!«
»Ja, es paßt so alles zusammen!« warf der Arbeiter verloren hin.
»Es wird doch glatt gehen?«
»Wenn's auf die grüne Seife ankommt – geschmiert ist genug!«
»Na, und 's Gleichgewicht hat's auch! Also –«
»Ja! Ich hatte 'mal 'nen Schwager …«
»Den haben andere Leute auch.«
»… Und der kriegte noch 'n Kind!«
»Das hat man ja so –«
»Das wollt' er aber nicht mehr haben!«
»Wollte er nicht haben? Na!« Der Oberingenieur lachte. »Das kommt ja so mitunter vor.«
»Ja, und wie sie's ansahen, da hatte 's drei Arme und bloß ein Ohr.«
»O, wie traurig!«
»Ja – da war's 'ne Mißgeburt!«
Ehlers fing den Blick auf, den sein Vorarbeiter mit wenig Behagen über den Schiffsrumpf gleiten ließ. Er verstand plötzlich und legte dem Manne die Hand auf die Schulter: »Mißgeburt! – Ich danke vielmals für die gute Meinung, mein lieber Olden!«
»Ich will nichts gesagt haben, Herr …«
»Ich hab's aber gehört!« Der Oberingenieur ging halb lachend, halb ärgerlich davon.
Er sah am Schiffe entlang aufs Wasser. Dort waren die Staatsbarkassen und die Werftschlepper schon beschäftigt, die Ablauffläche von vorüberfahrenden Fahrzeugen freizuhalten.
In großem Bogen kam die beflaggte Kontorbarkasse herangedampft. Die Herren eilten hinunter zum Landungssteg. Ein paar Maschinensignale, ein kurzes Erbeben des Bootes, und unter Beihilfe des bekannten Vermittlers stieg eine Dame über die kleine Treppe. Dann folgten nur noch die Herren, die zum Abholen hinübergefahren waren. Die Augen der zum Empfange Versammelten bohrten sich in die Barkasse hinein; nach dem Einen, dem Bestimmten suchend.
Vergeblich.
Der Vermittler stellte der »Frau Ingenieur Rusart« die Herren von der Werft vor. Frau Franziska Rusart übersah die Verlegenheit und Enttäuschung. In verkehrsgewohnter, liebenswürdiger Form erklärte sie: »Mein Mann kommt sogleich nach. Er läßt Sie durch mich bitten, alles bis auf den Ablauf fertigzumachen. Taufen werde ich!« Dann bat sie den Direktor um seinen Arm.
Während der Zug sich nach oben bewegte, lugte der Oberingenieur scharf aus, ob sich nicht aus der Umgebung heimlich eine Person loslöste; auch schickte er nach der Werftbarkasse mit dem Verbot, den Liegeplatz zu verlassen. »Zweifellos – ganz zweifellos habe ich recht!« flüsterte er seinen Nebenmännern zu. »Der Mann ist längst hier!«
Franziska Rusart ließ den Arm des Direktors los und trat an das Schiff heran. Für sie existierten die sehgierigen Augen der anderen augenscheinlich nicht. Von links und rechts inspizierte sie den Ablauf. Sie nahm den Keil in Augenschein, der als Hemmklotz vorgelegt war. Sie sah hinauf an der Schiffswand, über welche die Köpfe der Arbeiter ragten, mit neugierigen Augen und offenen Mäulern, und in einer Reihe, regelmäßig wie Perlen an der Schnur. Zuletzt mußte der Werftdirektor auf ihr Ersuchen ein fahrbares Treppengerüst an den Bug des Schiffes rollen lassen. Er entschuldigte den Mangel einer Taufkanzel mit der erhaltenen ausdrücklichen Anweisung –
»Einen Namen soll es immerhin erhalten,« unterbrach ihn Frau Rusart; dann trat sie etwas zurück. »Mein Mann ist zufrieden mit der Ausführung; wenn auch das seitens der technischen Leitung vereinzelt zutage tretende, über das notwendige Maß hinausgehende Interesse ab und zu zu kleinen Mehrarbeiten geführt hat!« –
Dem Oberingenieur weiteten sich die Augen.
»Ich habe namens und im Auftrage meines Mannes Ihnen allen seinen Dank auszusprechen für die vortreffliche Mühewaltung; für die Pünktlichkeit, mit der nicht nur die ganze Lieferung, sondern auch die einzelnen Stadien erledigt worden sind; und für die Treue, für die Treue vor allen Dingen, mit der die Werft seinen Anordnungen nachgekommen ist, von denen so manche vom Hergebrachten so völlig abwichen, und von denen so manche in Ziel und Zweck unverständlich bleiben mußten. Es liegt nicht im Sinne meines Mannes, die Arbeiter um die gewohnte Frucht ihres Mühens zu bringen. Nur lehnt er die Teilnahme an der lauten Form ab. Ich habe Auftrag, Ihnen, Herr Direktor, hiermit tausend Mark zugunsten der beteiligten Arbeiter zu übergeben.«
Lächelnd forderte sie dann einen Topf mit weißer Farbe und einen Pinsel, und als sie beides erhalten hatte, stieg sie das bequeme Treppengerüst empor und schrieb mit weitausholendem Arm an jeder Seite des Schiffsrumpfes dicht an den Bug: PAX .
In demselben Augenblick, in dem ihr Fuß den Boden wieder berührte, befahl eine scharfe, aber gleichgültige Stimme hinter den Zuschauenden: »Lassen Sie den Keil wegtreiben!«
Alles schnellte herum. Da stand der, der den Befehl erteilt hatte. Unbeweglich. Ein Fremder. Die Masse schob sich auseinander und schloß sich hinter ihm wieder zu einem Halbkreise. Ohne jede äußere Anordnung, ohne gegenseitigen Wink. Verblüfft und instinktiv.
So befand er sich allein den Leitern der Werft gegenüber. Räumlich von ihnen noch ziemlich entfernt. Er lüftete den Hut. »Fritz Rusart.«
Wenn Ruhe adelt, so war dies ein adeliger Mensch. Groß, schlank, kalte Augen und in den Bewegungen ohne Temperament. Er sprach über die Fläche hinweg. »Ich nehme Ihnen den Bau ab. Veranlassen Sie den Ablauf!«
Es war so gegen jedes Herkommen. Wenn es noch protzenhaft gewesen wäre! Aber dieser Diktatur nahm die Ruhe alles Verletzende, was in ihrer Überlegenheit hätte liegen können.
Der Direktor faßte sich gewaltsam. Zum Ablauf. Zu dieser nervenkitzelnden Probe, ob ein toter Gigant seiltanzen kann. Den Zylinder immer noch in der Hand, wandte er sich den vorn am Gleitbalken stehenden Arbeitern zu. Auf einen Wink flog der Sperrkeil weg. Ein scharfes Knirschen, eine Reihe von Funken, und über einer knatternden Feuergarbe fuhr das Schiff ins Wasser. Tiefeintauchend und, als die Tragkraft des Wassers genügend Wirkung hatte, hochemporschnellend. Die Anker schossen herab und hielten nach kurzem Pflügen des Grundes das Fahrzeug fest.
Der Oberingenieur hatte dem Ablaufe keinen Blick geschenkt. Für ihn stand die glatte Fahrt fest. Das Knistern und Rauschen und nachher das Rasseln der Ketten war mechanisch von seinem Ohre aufgefangen worden. Unverwandt hatte er nach dem Fremden hingesehen. »Wenn Fridtjof Nansen und Napoleon aus einem Gesicht sehen könnten! hier wär's!« Und der Mensch war anscheinend noch jung. Im Anfänge der Dreißiger. Aber ein neues Rätsel: unter den Arbeitern war dieser nicht gewesen; hatte die Werft überhaupt nie betreten. Auch in der »Gesellschaft« im Verkehr hatte er ihn nie gesehen. Und wie er hier stand! Wie! Augenzeuge eines Schauspiels, das einen wichtigen Akt in seinem Vorhaben bedeuten mußte. War er wirklich nicht erregt oder war er absoluter Herr über seine Maske!?
Als der von oben bis unten grau angestrichene Schiffsrumpf endlich still auf dem Wasser lag, als sich jedem Zuschauer die enggewordene Brust mit einem tiefen Atemzuge wieder vollgesogen hatte und sich – trotz des Unbegreiflichen in der ganzen Situation – der Direktor mit einem glücklichen Lächeln dem geheimnisvollen Fremden zuwandte, sah man diesen zu seiner Frau hinübergehen. Nicht schnell, aber mit großen charakteristischen Schritten. Neben ihr stehend rief er nach der Arbeiterschar hinüber:
»Frank! Witt!«
Zwei Männer lösten sich aus dem Arbeiterhaufen los und stellten sich hinter ihn. »Diese beiden, Herr Direktor, nehme ich mit. Hier sind sie entlohnt. Ich tue wohl nicht vergebens die Bitte, uns vier jetzt an Land zu befördern!«
Dann sah man ihn sich mit seiner Frau und den beiden Leuten zur Barkasse begeben. Der Direktor trat noch einmal heran:
»Darf ich nicht um Anweisung bitten, wohin wir die ›Pax‹ bringen sollen?«
»Man bringt sie bereits fort.«
Dem erstaunten Direktor bot sich das ungewöhnliche Schauspiel, daß sich zwei Schleppdampfer, die nicht von der Werft beordert waren, damit beschäftigten, den Schiffsrumpf ins Schlepptau zu nehmen.
Eine allseitige Verbeugung, und zwei Minuten später war die Barkasse mit ihren vier Insassen bereits unterwegs.
Der Direktor wischte sich den Schweiß ab.
»Herr – Gott! – Ehlers! – das alles – war – war geradezu brutal!«
»Ha!« lächelte der Angeredete, »jetzt marschieren Sie auch auf der Chaussee der Gefühle! Bloß, weil er die Form nicht innegehalten hat. Was wollen Sie, Sie haben Ihr Geld!«
»Ja, Geld!«
»Und nicht zu knapp verdient!«
»Dieses Geheimnisvolle …«
»Deswegen! Brutal! – so! – ja, wenn ich so will, dann wird jedes Geheimnis brutal, wenn ihm ein Neugieriger gegenübersteht.«
»Ehlers, es ist nicht Ihr Ernst, unsere Empfindung Neugier zu nennen.«
»Nein! Ich kann Sie auch trösten: von dem Manne hören wir noch. Und wir werden nicht die schlechteste Rolle dabei spielen. Denn wir haben ehrlich gearbeitet.«
»Geb's Gott! Jetzt wollen wir wenigstens unsere Leute nicht vernachlässigen. Eine Leistung bleibt eine Leistung.«
»Und Gebrauch bleibt Gebrauch. Brutal wär's, wenn sie heute nicht darauf trinken könnten. Und sehen Sie, so etwas habe ich doch recht gehabt: die beiden Leute, die er sich mitgenommen hat, den Frank und den Witt, die haben wir doch hier gehabt!«
Die Werftbarkasse hatte am jenseitigen Ufer angelegt. Die beiden Arbeiter waren am Landungsponton von ihrem Chef entlassen worden. »Heute abend um elf Uhr, meine Herren, im dritten Hafen!« Eine ehrerbietige Verbeugung der beiden, die damit zurücktraten, und das Paar stieg die steinernen Treppen empor zu der bereits harrenden Equipage.
»Hotel Moser!« lautete der Befehl. Der Wagenschlag flog zu, und das Coupé rollte davon.
»Ich denke, gnädige Frau, die Probe ist nicht übel verlaufen!«
»Nein, das ist sie nicht!« Frau Franziska preßte die Hand gegen die Brust. »Aber mir klopft noch das Herz, Herr Baron!«
»Hat die Frau dieses Mannes nicht mehr Mut?« meinte er ruhig.
»Wenn ich bei ihm bin! – aber fern von ihm!? – und dann: es ist und bleibt doch eine Täuschung! – und eine Täuschung ist – immer – –« Ohne den Satz zu vollenden, sah sie, ihm ihr Gesicht abwendend, zum Fenster hinaus.
»Noch nie ist eine Täuschung unter so genialen Umständen erdacht, und selten hat sie einen so vornehmen Beweggrund gehabt. Was sie täuschen soll, das ist doch nur die Bestie im Menschen. Und diese Täuschung ist bei dem, was kommen wird, doch nur eine Nebenerscheinung.«
»Sie muß wohl auch unumgänglich notwendig sein …«
»Ja, das ist sie!«
»Sonst würde mein Mann sie ablehnen; bei seinem überaus korrekten Denken.«
»Ich darf auch wohl die Voraussetzung erbitten, daß ich unter anderen Umständen mich niemals hätte bereitfinden lassen. Es ist nicht das Geld, das sich mir bietet; auch nicht in erster Linie die Lebensform, die ich anwenden kann: es ist das Ritterliche an meiner Aufgabe, das mich lockt; ich teile mit ihm das Visier seiner Gegner. Ein kleines Verdienst an dieser großen Sache und ein verschwindender Teil dem Ganzen gegenüber! Aber jeder einzelne Fall, gleichviel welcher Schluß mir beschieden ist – er ist Kavaliersdienst gewesen!«
Er küßte die Hand, die sie ihm gereicht hatte. Nach einer langen Pause meinte sie plötzlich: »Glauben Sie, daß man seinen Verstand verlieren kann, wenn man sich zu Großes vornimmt?«
»Nein!«
Sie sah mit zusammengezogenen Brauen nach ihm hin: »Nein??«
»Nein!«
»Mir wird manchmal schwindelig.«
Ein kühles Lächeln zog über sein Gesicht: »Sie sind ja auch kein Mann.«
Es mußte für sie mehr Beruhigendes als Beleidigendes in den wenigen Worten liegen. Sie lehnte sich in die Polster zurück.
Nach ihrer Ankunft im Hotel begaben sie sich sofort in ein Zimmer im zweiten Stock. Dort erhob sich bei ihrem Eintritt an dem mit Schreibwerk besetzten Tische ein Mann, der bei dem ersten Vergleich eine geradezu verblüffende Ähnlichkeit mit dem Eintretenden zeigte. Es war der Ingenieur Fritz Rusart.
Er führte seine Frau zu einem Sessel und erwiderte den ehrerbietigen Gruß des Barons mit kräftigem Händedruck.
»Es war die Introduktion, mein lieber Baron!«
»Und die Akkorde sind noch unverständlich für die Masse.«
»Ja, nun: sie werden gegen diese Musik heulen. Denken wir nicht an sie! Unser diskreter Vermittler wird jetzt gerade dabei sein, der Werft die beiden anderen Aufträge zu übergeben. Dieses Mal mit sehr verkürzter Baufrist. Sind Sie in Ihrem Gedächtnis vollständig Herr über unser Chiffre-System?«
Baron Attila von Schwind zog ein flaches Bündel Papiere aus der Tasche und legte es auf den Tisch. »Ich habe sie nicht mehr nötig.«
Der Ingenieur nahm sie entgegen und ließ sie, nachdem er ihre Vollständigkeit geprüft, an einer schnell angesteckten Kerze verbrennen. Dann wartete er, bis die Asche ausgeglüht hatte, zerstieß sie in einem Wasserglase und schüttete sie auf die an der Balkontür stehenden Blumentöpfe, wo er sie noch mittels eines Stäbchens mit der Erde verrührte.
»Sie erhalten stets Nachricht, an welcher Stelle Sie erscheinen sollen. Da wir ja nicht beieinander gesehen werden dürfen, werde ich dafür Sorge tragen, daß Sie den Konferenzen, bei denen Ihre Anwesenheit unumgänglich notwendig ist, ungesehen beiwohnen können.«
Der Baron stand auf. »So werden wir uns von jetzt an selten, – vielleicht überhaupt nicht wiedersehen!«
»Das weiß ich noch nicht. Unsern Vermittler, Franz Wohlfahrt, habe ich von seinem Berliner Kontrakt losgekauft. Er wird in der Hermannstraße ein elektrotechnisches Bureau unter meiner Firma eröffnen. Die nötigen wenigen Hilfskräfte sind bereits angenommen.« Er schob die Papiere, auf denen Zahl an Zahl stand, auseinander und hob ein darunter liegendes Blatt hoch. Anscheinend ein Probedruckblatt. »Hier!« Er reichte es dem Baron. »Ich habe eine Druckerei gekauft. Für eine Tagesausgabe. Das ist das Titelblatt. ›Kosmopolit‹. Jedesmal die dritte Notiz im Briefkasten wird für Sie sein!«
Der Baron verbeugte sich. »Habe ich zu abonnieren?«
»Da Sie keine Heimat, keinen Wohnsitz haben, werden Sie jedes einzelne Exemplar durch Gelegenheitskauf erwerben müssen. Im Kiosk. Oder in den Kaffeehäusern lesen. Ich werde das Land damit überschwemmen lassen.«
Attila von Schwind griff nach seinem Hut. »So beginnt jetzt …«
»Es erübrigt noch …«, unterbrach ihn Fritz Rusart, »bezüglich des Geldpunktes hinzuzusetzen: Die Ihnen gewährleistete Summe können Sie in Not-, ja, schon in dringenderen Bedarfsfällen überschreiten. In der Höhe stelle ich dann keine Grenze. Aber, keine Summe, von der Mark bis zum Pfund, bis zum höchsten Scheck darf der Bestechung dienen!
»So! nun leben Sie wohl, mein lieber Baron! Morgen geht der Vorhang hoch!«
Schwind verabschiedete sich, ging nach dem Bahnhofe und fuhr in der Richtung nach Süden ab. Der Fahrschein lautete auf Basel. In Hannover stieg er in einen Zug, der ihn nach Westen führte.
Frau Franziska trat zu ihrem Manne.
»Und was wird aus mir?«
Er sah sie ernst an. »Was soll aus einer Frau werden, die meine Frau ist?«
Sie seufzte: »Weniger!«
»Der Grund?«
»Dein Weg bergauf! Niemand kann zween Herren …« sie hatte sich an ihn geschmiegt und bog den Kopf zur Seite.
»… dienen! Ja, sag' das Wort nur! Dienen! Wenn die alte Weisheit Wahrheit ist, beweist sie nur, daß das Weib keine Herrin ist.« Er strich ihr über das Haar. »Man kann der Welt, ihren Interessen, ihrer Not dienen, – und seiner Frau doch immer bleiben, was man ihr immer war.«
»Nicht, wenn man so ausschließlich wie du …! Ich fürchte …«
»Woher diese Anwandlung, Franziska?«
»Der Stapellauf von ›Pax‹ war eine fürchterliche Aufgabe für mich. Ich stand allein, so sehr allein …«
»Und Baron Schwind?«
»Ach, der hatte seine Aufgabe für sich.«
»Nun, tröste dich! Diesmal hat's sein müssen. Du wirst wohl nicht wieder so vielen Fremden allein gegenüberstehen müssen. Aktiv, meine ich.«
»Das ist es nicht! Aber ich wußte doch, um was es sich handelt; welche Rolle du spielen wirst; wie alles nach dir sehen wird; wie sie dich alle in Anspruch nehmen werden, – und – Fritz! – ich hatte eine Vision …«
Er unterbrach sie ruhig. »Visionen gehören nicht in mein Programm.«
»Fritz!«
»Ich habe einen Grundsatz: Nie sentimental!«
»Fritz!«
»Nun, ich weiß, du besitzt neben hervorragenden Stärken eine Schwäche: du mußt diese Vision loswerden. – Also?« –
»Wie ich sie vor mir sah, die Gesichter, teils neugierig, teils froh, teils begeistert oder auch bloß interessiert, – mit einem Male verwandelten sie sich alle, aber auch alle. Nichts war zu sehen, als Haß, Wut, Erbitterung, – aus aller Augen! – Gegen dich! – ein ganzer Haufen von geballten Fäusten!«
»Ja! so wird's auch kommen!«
»Ach, Fritz!«
»So wird's kommen!«
»Ach, kann's ein Segen sein, wenn so der Erfolg aussieht!?«
»Das ist nicht der Erfolg! das ist der Übergang! Was du gesehen hast, sieht nur ein Gemüt, ein Charakter sieht das nicht; und ich werde mich nicht mit meinem Gemüt unterhalten! Komm, laß dir die Falten wegstreichen von der Stirn! Reden wir von etwas Vernünftigerem: Du bist nun in allen Sprachen, deren Beherrschung uns für die nächste Zeit notwendig sein kann, firm; und in Chemie und Technik bist du mir eine sehr aufmerksame Hörerin gewesen: so wirst du mich in ganz bestimmten Fällen vertreten können.«
»Ich werde nie von dir gehen!« stieß sie hervor, die Hände flach gegen ihn erhebend.
»Wer spricht davon?! aber trotzdem: wenn es zum Nutzen meiner Sache ist, wirst du es tun!«
Sie senkte den Kopf.
»Ich könnte sagen: zum Nutzen unserer Sache,« fuhr er fort, »aber eins darf meine nächste Umgebung nie haben: Egoismus – und eins darf sie nie geltend machen: Anrecht an mich!«
»Anrecht an dich? – Nicht? – Ich? – Deine Frau?«
»Nicht an mich, Franziska, als den Träger meiner Ideen! du hattest die Wahl: du konntest in Goslar in deiner stillen Klause bleiben. Damals hast du gewählt! aber« – er drehte sein unbewegliches Gesicht weg – »noch hast du Zeit!«
Sie flog an seinen Hals: »Ich bleibe! Ich bleibe!«
»So mußt du dich fügen!«
Sie nickte.
»Willst du also mit mir den Sprung ins Dunkle wagen?«
»Ja!« sie lächelte mit nassen Augen. »Es ist ja gar kein Sprung ins Dunkle. Du bist ja dabei!«
»Daß ihr Frauen solche Angst vor der Logik habt!« Dabei war doch eine leise Röte in sein Gesicht gestiegen. »Sieh also mal: Ich habe einen ganzen Stab von tüchtigen Kräften. Und der da hinausging, ich bin mit dem Titel ›Mann‹ sparsam, aber der da hinausging, Baron Schwind, das ist ein ganzer Mann! Der ist schon bei der Arbeit. Im Hafen sind sie bei der Arbeit. Meine gesamten kartographischen Abteilungen beginnen heute ihr emsiges, stilles Werk, – und wir hier? Komm! es ist viel zu erledigen! Schon die Minuten sind nicht wieder einzuholen!« –
Im dritten Hafen hatte sich um die »Pax« herum ein reges Leben entfaltet. Das Fahrzeug war noch fahrunfähig. Das sah jeder der vielen kundigen Zuschauer und Müßiggänger auf den ersten Blick. Um so unbegreiflicher war es allen, daß es anscheinend bereits Ladung einnahm. Schuten und Jollen mit Kisten und Blechtrommeln wurden von allen Seiten herangeschleppt. An Deck waren verhältnismäßig einfache Windevorrichtungen aufgestellt. Die auf den umliegenden Schiffen und an den Kais Stehenden mußten zu ihrem Erstaunen bemerken, daß die Kisten und Trommeln nicht alle an Deck gewunden wurden, sondern, daß sich zu ihrer Aufnahme wie automatisch und ohne Geräusch bald hier, bald dort eine Platte in der Schiffswand nach innen hob. Diese seitlichen Öffnungen lagen bald dicht unter der Bordkante, bald dicht am Wasserspiegel, bald auch in der Mitte. Was für ein Anblick! Und wie sehr gegen jedes Gefühl! Nie hatte man es anders gesehen, und wie konnte man es sich anders denken, als daß das Wesentliche an einer Schiffswand ihr unverrückbar festes Gefüge war! Das hier war ja kaum etwas anderes als ein Gitter, in jeder Masche eine engpassende Platte.
Auch im Schiffsinnern wurde emsig gearbeitet. Für die Außenwelt unsichtbar. Es waren geschulte Leute. Kein Handgriff vergebens; kein Wort zu viel. Die beiden Männer, die unter den Namen Frank und Witt heute mittag von der Werft in der Verkleidung als Arbeiter geschieden waren, standen in der Uniform der Schiffsoffiziere an zwei entgegengesetzten Stellen im Fahrzeug und ordneten an. Jeder in seiner Abteilung als Chef. Die Anordnungen fielen leise und trotz der überaus raschen Aufeinanderfolge der zugeführten Kolli mit nie fehlender Sicherheit. Erleichtert wurde das schwierige Geschäft der Verteilung dadurch, daß jede der Blechtrommeln, jede der eisernen oder gläsernen Retorten, jedes einzelne der vielen seltsamen Instrumente ein Zeichen eingraviert trug, das mit einem gleichen Zeichen auf einer der unzähligen kleinen Kammern übereinstimmte. Es wurde ein ganzes Netz von Drahtleitungen angelegt. Bald traf eine große Anzahl tadellos geschliffener bretterförmiger Spiegel ein, die an Präzisionsscharnieren ringsherum an der Bordwand befestigt wurden; paarweis übereinander, mit gegeneinander gekehrten Reflexflächen. Die Hauptarbeit verursachte eine Reihe von Ventilatorflügeln aus mattblau poliertem Stahlblech. Von auffallend großen Dimensionen und scharf in den Rändern, wurden sie zu je dreien dicht nebeneinander an Deck niedergeschichtet. Dann folgte immer ein in zwei Teile zerlegtes Schwungrad von siebzig Zentimetern Durchmesser, das ein aufgenietetes Zahnrad trug und eine vierkantige Achsenöffnung zeigte. Es wurde jedesmal genau der Stelle gegenübergelegt, an der in dem außenbords laufenden Stahlrahmen das runde Gestänge gleichfalls eine vierkantige Form annahm. Bei genauerem Untersuchen hätte man gefunden, daß sämtliche vierkantigen Stellen Ansätze waren, die auf Kugellagern um die Achse liefen.
Das wichtigste war die Kommandokammer. Sie lag tiefer als die Bordwand, mitten an Deck, und nahm den größten ungeteilten Raum ein. Achtzehn Kubikmeter. Sie wurde durch ein Stahlgerüst gebildet, dessen Ausfüllungen in schmalspurigen Aluminiumjalousien bestanden. Jede einzelne der Jalousieklappen konnte für sich geöffnet werden, so daß in jeder Höhenlage und nach jeder Himmelsrichtung hin Ausblick genommen werden konnte. Metrische Instrumente aller Art, elektrische Schaltungen, Abgabe- und Empfangsapparate waren überall verteilt. Um die in der Mitte der Kammer senkrecht stehende dünne Säule drehten sich in cardanischer Aufhängung eine Reihe von übereinander angebrachten Fernrohren.
Die Mannschaftsräume waren auf das Notwendigste beschränkt. Zum Schlafen dienten Drahtnetze, die, zusammengelegt, die Größe eines mäßigen Buches nicht überschritten, und die jetzt in einen für ihre Aufbewahrung bestimmten Platz gepreßt wurden. Reichlicher Raum war dem Proviant, der gerade eingeliefert wurde, eingeräumt worden.
Allmählich kam die Nacht. Schuten und Jollen waren leer geworden und zu ihren Liegeplätzen zurückgekehrt. Die nach und nach zu vielen Hunderten angeschwollene Zahl der Neugierigen hatte sich verlaufen. Auf den umliegenden Schiffen war man zur Ruhe gegangen. Nur hier und da sah man eine Deckwache langsam an Bord herumschlendern oder, in gelangweilter Haltung über die Reeling gelehnt, den Tabakrauch aus der kurzen Tonpfeife in die Luft stoßen. Drüben machte der Kaiwächter die Runde; unermüdlich im gleichen Dahintrotten, um wieder zur Zeit bei seiner Kontrolluhr zu sein. Im tintenschwarzen Schatten der Schiffe schob sich an der Hafenmauer die Jolle der patrouillierenden Polizisten entlang, mit leisen Schlägen von einem Schiff zum andern getrieben. Bei den Durchblicken lugten die Beamten aus, ob auf dem Strome draußen alles war, wie es Rechtens sein sollte.
Der Qualm des Tages hatte sich verzogen. Trotzdem lag die Luft noch dick und schwerfällig auf dem Wasser, das mit ruhigem Spiegel dem Meere zurollte. Von den Kirchenglocken her zwängten sich die einzelnen Schläge herüber. Es war elf Uhr. Aus der Richtung, in der die Stadt den großen Hafen umkränzte, tauchte dort, wo der Wassersaum sich noch fürs Auge vom verschwimmenden Horizonte abhob, ein kleines Licht auf. Es schwankte in rhythmischen Stößen, wie sie durch den Druck gleichmäßiger Ruderschläge verursacht werden.
Frank und Witt hatten scharf Ausguck gehalten. Als sie das Licht erblickten, sahen sie sich an. Stumm und im Einverständnis. In Ordnung war alles; jeder von der Mannschaft auf seinen Posten gestellt. Der Herr konnte kommen.
Witt ging in seine Abteilung, Frank an das herabhängende Fallreep.
Die Jolle glitt heran, der Führer wurde entlohnt, und Fritz Rusart stieg mit seiner Frau an Bord. Frau Franziska im männlichen Sportanzug. Sie begab sich sofort in die für sie reservierte Kammer und warf einen Rock über.
Dann begann der Rundgang. Wohin man sah, überall erhielt man den scharfen Eindruck, daß nur nüchternste Berechnung den Bau geführt hatte. Glanz und Bequemlichkeit waren zwei Begriffe, die man hier augenscheinlich nicht kannte. Das ganze Fahrzeug ein Instrument; nur Adern, Nerven, Muskeln.
Auf einen Wink des Chefs wurden hier und da Ventile gedreht und wieder zurückgeschoben. Probesignale gegeben, auch wohl Gegenzeichen hervorgerufen; dann wieder abgeblendete, sekundenlang sprühende Signalfunken entzündet.
»Die Anker?« fragte Rusart.
Frank trat vor. »Beide mit Kette am Spill abgelöst und den Schleppern mitgegeben.«
»Funktioniert der Stützrahmen?«
»Ich habe ihn an Backbord bis 50 Grad unter die Horizontale gesenkt.«
»Nieder und auf in elf Sekunden.«
»Die Tarnvorrichtung war nicht zu untersuchen!«
»Ich habe wenigstens den Leitungsschluß kontrolliert. Er ist in Ordnung.«
Rusart wandte sich an Witt. »Kleidung für die Besatzung?«
»Pelze an Bord!« beeilte sich dieser zu melden. Nun trat Fritz Rusart an den Kommandotisch, an das Nervenzentrum seines Fahrzeugs, und drückte auf einen Knopf. Draußen ein gedämpftes Klingen an den Laufapparaten und, ohne daß eine Hand sich regte, wurden von Bord aus die geschmeidigen Taue eingeholt, die das Schiff an dem Duc d'Alben festhielten. Als die ausschießenden Enden um die Stämme herumgelaufen waren, hörte man das leise Klatschen, mit dem sie ins Wasser fielen, und gleich darauf waren sie auf der Tautrommel innerhalb der Bordwand aufgehaspelt; glatt und straff nebeneinander wie Nähgarn auf seiner Holzrolle. In der Kommandokammer klappte eine rote Scheibe herunter.
Fritz Rusart drückte das Zeichen wieder hoch und zog einen kleinen Hebel herunter. An verschiedenen Stellen des Fahrzeugs ertönte ein kurzes, schrilles Signal.
Die Besatzung trat ein. Zehn Mann. Stämmige Gestalten und intelligente Gesichter. Es war sorgsam ausgesuchtes Material. Sie sahen in stummer Erwartung nach ihrem Chef.
Dieser warf einen Blick auf das Chronometer. »Es ist zwölf Uhr nachts! – Ein neuer Tag bricht an!«
Dann trat er vor und legte seine Hände auf zwei Hebel mit gläsernen Griffen.
Frau Franziska hatte die Finger krampfhaft ineinandergeschlungen. Über ihre Lippen kam aus angstvoller Brust ein »In Gottes Namen!« Die Männer starrten mit verhaltenem Atem unverwandt in ihres Führers Gesicht. Jeder wußte, daß seine nächste Bewegung der toten Masse Blut durch die Adern jagen würde.
Fritz Rusarts Augen blickten zwischen den etwas verengten Lidern wie suchend, forschend ins Weite. Man sah an den hervortretenden Backenknochen, daß er die Zähne aufeinanderbiß. Ein kurzer Glanz zog über sein Gesicht.
Dann schlug er die Hebel zusammen.
* * *
Der Kaiwächter war damit beschäftigt, den urkundlichen Nachweis zu erbringen, daß er während seines Wachtdienstes nicht geschlafen habe. Er zog die Uhr auf, die den kontrollierenden Vorgesetzten ersetzte.
Da drang ein Wasserrauschen an sein Ohr. Er hörte Taue knarren und Stengen aneinanderschlagen. Mit offenem Munde lauschend und unfähig, sich das Geräusch zu erklären, rannte er durch die Halle und schlüpfte durch einen der Durchgänge zwischen den Lagerschuppen, um an den Kairand zu kommen. Hier sah er mit immer wachsender Verwunderung, daß die Schiffe, wohin er auch blicken mochte, in ein unruhiges Schwanken verfallen waren, ja, einige kleinere sogar schaukelten, als wenn sie an einer Küste lägen und unter ihrem Kiel wäre eine starke Dünung durchgelaufen. Der Wasserrand am Kai schwoll spritzend auf und schoß wieder zum Grund. Er eilte weiter, der Ursache nachzuforschen. Es war eine rätselhafte Sache. Als er aber wieder zurückrannte und endlich an die Stelle kam, an der die »Pax« gelegen hatte, wollte er seinen Augen nicht trauen. Er rieb sich das Gesicht, er kniff sich in die Arme, er sah schärfer hin: Umsonst! Die »Pax« war verschwunden. Untergegangen konnte sie nicht sein. Bei der geringen Wassertiefe hätte sie über den Wasserspiegel hinausragen müssen. Er spähte nach den jenseitigen Schiffen hinüber. Er bohrte seine Augen zwischen das Gewirr der Segler und Masten: Nichts! – nichts war zu entdecken. Von der »Pax« keine Spur!