Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwanzigstes Kapitel
Der kleine Reporter

Vasta, die Maus, rannte mit der trübseligen Nachricht durch alle Gehäuse des Gartens.

Als sie zur Löwin Hella kam, fand sie Mibbel, den Löwen, bei ihr.

Hella schritt nervös im Kreis herum, Mibbel trottete behaglich hinterdrein, stieß den kurzmähnigen hellen Kopf schmeichelnd neckend Hella in die Schulter, in die Weichen, um das Kinn, wo immer er ihrer gerade habhaft wurde. Doch wann und wo immer er Hella berührte, zuckte sie gereizt und schien einem heftigen Ausbruch nahe. Mibbel merkte nichts oder wollte nichts merken. Er fuhr fort, vergnügt zu schnurren und im Schnurren zu plaudern.

Vasta saß still in ihrer Mauerritze, staunte über Mibbels Gelassenheit, wunderte sich über die Szene, die sie mit klugen, neugierigen Augen beobachtete, lauschte den Erzählungen Mibbels. Und wartete geduldig, ihre Nachricht loszuwerden.

»Wirklich, Hella,« schnurrte Mibbel, »du solltest den alten Brosso einmal hören. Was der erlebt hat, davon machst du dir keinen Begriff. Nicht einmal ich kann mir das vorstellen.« Er rieb sein Haupt an ihren Keulen. Sie tat einen weichen Hopser, um der Liebkosung auszuweichen, und änderte die Richtung ihres Marsches. Sofort war er an ihrer Seite. »Alles, was Brosso mitgemacht hat,« schnurrte er, »alles ist so aufregend, so spannend. Es war großartig, mit ihm beisammen zu sein, obwohl ich jetzt sehr glücklich bin, weil ich wieder bei dir wohnen darf.« Er stieß das Haupt zärtlich in ihre Flanke. Hella zuckte und schritt weiter. Mibbel folgte ihr. »Ein prächtiger, alter Bursche, dieser Brosso,« schnurrte er, »du solltest ihn sehen und ihn hören. Freundlich ist er und sanft. Er hat schon viel von seiner Kraft verloren. Viel. Was für ein mächtiger riesenhafter Kerl muß der gewesen sein! Noch heute ist er stark genug, um ...«

Hella drehte sich um sich selbst, begann zu traben. Drei, vier Schritte nach der einen Seite, drei, vier nach der andern. Mibbel dicht bei ihr. »Na, vielleicht kommt auch Brosso zu uns,« meinte er, »das wäre schön! Das gäbe eine köstliche Unterhaltung. Unsereiner erlebt ja nichts.«

Hella warf sich zu Boden. »Ich denke,« murrte sie, »ich denke, ich erlebe genug, mehr als mir lieb ist!« Sie seufzte tief.

Nun umtanzte Mibbel die Liegende: »Ach, die Kinderchen,« sagte er leise und unbeteiligt, »die Kinderchen ... ich verstehe, was du meinst ... aber sei nicht traurig, das hat keinen Sinn und das hilft so wenig!«

»Du hast sie nicht gekannt«, grollte die Löwin.

»Nein,« entgegnete er rasch, »nein, ich hab' sie nicht gekannt. Hab' sie nur von weitem ein paarmal gesehen, wenn sie vorüberkamen. Nette Jungen, sehr nett ...«

Ein klägliches Jaulen war die Antwort: »Nett? So was Entzückendes, so was Reizendes, so was Kluges! Nett ... man merkt, daß du sie nicht gekannt hast!«

»Ich bin ganz ohne Schuld daran, ich hätte sie so gerne gesehen ... ich wäre so gerne mit ihnen und mit dir beisammen gewesen«, beteuerte Mibbel.

»Ohne Schuld,« wiederholte Hella, »wer weiß das?«

»Vergiß die Kleinen,« drängte Mibbel, »es geht nicht anders! Wir alle müssen vergessen lernen, wenn wir leben wollen.«

»Vergessen?« fauchte Hella zornig.

Voll Eifer suchte er sie zu beschwichtigen: »Du hast deine vorigen Kinder auch vergessen ...«

Aber Hella fuhr auf: »Du Erbärmlicher! Glaubst du das wirklich?«

Mibbel entfloh erschrocken mit einem Satz ans Gitter.

Hella stand und tobte: »Immer denke ich an alle meine Kinder! Du Elender glaubst, weil ich schweige? Alle sind sie in meinem Herzen ... alle ... immer ... immer alle!«

»Wozu sich kränken?« jammerte Mibbel. »Es geht ihnen gut ... sie sind fort ... aber es geht ihnen gut ... sicherlich! Ganz gewiß! Das fühl' ich genau!«

»Ah!« Ein wegwerfend geringschätziger Laut, den Hella ausstieß, eine verächtliche Gebärde des Hauptes, das sie hinschleudernd bewegte. Dann wandte sie sich zur Tiefe des Käfigs und legte sich an der Rückwand nieder. Sie war nun ganz nahe der Mauerritze, darin Vasta saß.

Das Stillschweigen, das eintrat, benützte Vasta, um ihre Mitteilung der Löwin zuzuwispern.

Diese lauschte aufmerksam und zeigte sich voll Teilnahme für Zato.

»Denk an Yppa,« bat die Maus, »die ist jetzt einsam.«

»Sie hat ihr Kind«, erwiderte Hella.

»Aber sie hat ihren Gatten verloren,« mahnte die Maus, »denk daran, wenn du dich über Mibbel erzürnst. Er lebt, er ist frisch und gesund, er ist schön und er hat dich lieb.« Damit schlüpfte sie fort. Sie hatte Eile.

Lange verharrte Hella in Nachsinnen. Als aber Mibbel demütig und vorsichtig zu ihr heranschlich, sah er an den Bewegungen ihrer auf- und niederzuckenden Schwanzquaste, sah er an ihren Mienen, daß sie freundlicher gestimmt war.

»Bist du mir noch böse?« fragte er. Sie sah ihn nur an, da schmiegte er sich ihr zur Seite. »Ich bin dumm,« schnurrte er, »du hast recht ... das mit den Kindern war häßlich ...«

Hella duckte ihr schönes Haupt zwischen die Vorderpfoten. »Oh, mein Guter,« mauzte sie leise, »nicht ums Vergessen geht es, vergessen kann man nicht. Auch wenn man scheinbar ein so kurzes Gedächtnis hat wie wir. Aber Milde müssen wir lernen, Milde und Geduld, das müssen wir lernen, wenn wir leben wollen.«

Vasta, die Maus, trug ihre Nachricht in den Bärenzwinger.

Die großen, braunen, schwerfälligen Gesellen besuchte sie gern und oft. Sie waren gutmütig, spielerisch, einem Scherz immer geneigt, und sie gönnten der kleinen Maus von dem Überfluß, der bei ihnen herrschte, manchen Bissen. Vasta lebte in Freundschaft mit den Bären.

Jetzt freilich wurde sie Zeugin aufregender Vorfälle.

Krapus, der hochgewachsene, starke Bär, saß mit tückischen Augen aufrecht da und betrachtete den Wärter Karl, der sich am Zwinger mit Reinigungsarbeiten beschäftigte.

Die anderen Bären verließen, von Karl gescheucht, einer nach dem andern ihre Plätze. Mit zornigem Brummen, mit rasch und bissig gehobenen Lefzen.

Karl verfuhr unwirsch mit ihnen. Stieß ihnen den Besen in die Nase, zwischen die Augen, in die Weichen. Kam er mit seinem Werkzeug einem der Bären nur nahe, so wartete dieser nicht erst auf den Stoß. Tripps, der jüngere, magere Bär, sprang flink zur Seite, Papina, die trächtige Bärin, zottelte behend davon, Halpa, das Bärenmädchen, erschrak und brachte sich in Sicherheit.

Sie alle kannten die launenhafte Art des Wärters Karl. Seine Freundlichkeit, die er ihnen vielfach bezeigte, galt ihnen längst nichts mehr. Sie waren eben bei all ihrem gutmütigen Wesen rachsüchtig und in ihrer Rachsucht gefährlich verschlagen. Karl achtete nicht darauf. Er befand sich in übler Morgenstimmung, rumorte ohne Bedenken herum und ließ seine schlechte Laune an den Bären aus.

Von diesen blieb einzig Krapus heute fest und eigensinnig auf seinem Platz. Aufrecht saß er da, als erwarte er ein Zeichen, den Kampf zu beginnen, oder als lauere er mit gehässigen Blicken auf den rechten Moment zum Angriff. Er ließ sich vom Wärter Karl nicht wegjagen. Aber Karl schien selber wenig Lust zu verspüren, Krapus herauszufordern. Er war schlechter Laune, der Wärter Karl, vermochte sich jedoch die Ursache davon nicht zu erklären, aber weshalb die Bären da mißgestimmt waren, das wußte er nur zu genau. Der dumpfe, drohende Blick jedoch, den Krapus in seiner plumpen Mächtigkeit zeigte, war so verhängnisvoll großartig, daß er Karls Umdüsterung durchdrang und Eindruck übte. Er wollte den Riesen und des Riesen Zorn vermeiden, bezwang die eigene Bereitschaft loszubrechen und drehte sich weg, um ganz fortzugehen.

Da reckte Krapus sich auf, stürzte vor und schlug mit aller Wucht nach Karl. Blitzschnell hatte sich das vollzogen. Unter der gespannten Aufmerksamkeit der drei anderen Bären. Offenbar war der Überfall geplant, offenbar hatten sie davon Kenntnis und warteten nur, daß der Wärter am Boden liegen werde, um über ihn herzufallen.

Karl wäre auch mit zerschmettertem Schädel lautlos hingesunken, wenn ihn die wuchtige Pranke des Krapus getroffen hätte. Doch der furchtbare Hieb, zu kurz geführt, sauste in die Luft, und Krapus, aus dem Gleichgewicht gebracht, stolperte ungeschickt nach vorn zur Erde.

Jetzt loderte in Karl die Wut auf, berauschend, jetzt riß sie ihn, der sie ja herbeigesehnt hatte, ohne Halt mit fort und war ihm Wohltat, war ihm Befreiung von dem Druck, der diesen Morgen sein Herz schwer machte.

Noch ehe Krapus sich emporrappeln konnte, drehte Karl den Besen um, stieß die Eisenstange Krapus an die Nase, dreimal, viermal, fünfmal, und traf ihn immer wieder an derselben, empfindlichen Stelle.

»Bestie!« schrie Karl mit verhängter Stimme. »Bestie, miserable!«

Krapus flüchtete, entmutigt, von Schmerz gepeinigt, wollte sich trotzdem verzweifelt zur Wehr setzen, richtete sich auf, rasend vor Schmerz und Rachedurst, sank aber, wieder furchtbar getroffen, in sich zusammen.

Karl ließ nicht von ihm ab, bis seine Wut gekühlt war und bis Krapus, gänzlich besiegt, in eine Ecke verkrochen, Haupt und Nase zwischen die Pranken barg.

»Wart, Kanaille!« murmelte Karl noch in den Zwinger hinunter, »dir werd' ich's schon zeigen!«

Die drei anderen Bären in ihrer Angst taten harmlos und friedlich, aber Karl glaubte ihnen nicht.

»Verdammte Luder!« schrie er. Damit ging er fort.

Erregt hatte Vasta zugeschaut, ließ eine Weile verstreichen und fragte dann erst Halpa, das Bärenmädchen, das noch vor Schreck zitterte: »Was war das?«

»Ach,« klagte Halpa, »das ist oft so. Man kann's bald nicht mehr aushalten. Wir sind ohnehin schlimm genug dran und wollen Frieden haben. Aber Er ist hart und wir sind alle erbittert!«

Die trächtige Bärin Papina rutschte näher. »Sag' doch, kleine Freundin,« erkundigte sie sich, »du bist frei, du bist glücklicher als wir, sag' doch, gibt es keine Hilfe für uns?«

Vasta dachte nach und als Antwort berichtete sie, was bei den Orangs geschehen war.

»Oh,« meinte Halpa, »es gibt keine Rettung für uns Gefangene. Er ist zu stark und Er ist grausam. Er kennt kein Erbarmen!«

Aber Vasta war schon weg.

Sie lief zu dem Königstiger. Sie liebte seine majestätische Schönheit, seine stolze Kraft; sie verehrte seine edle Zurückhaltung, die verächtliche Unnahbarkeit, die ihn einsam machte. Sie bewunderte das Undurchsichtige seines Wesens, das nie zu erraten war. Und sie fühlte sich immer tief erschüttert, wenn er sich herablassend gütig mit ihr unterhielt. Immer wurde ihr dabei die endlose Entfernung deutlich, die sie von ihm trennte.

Opomo, der prächtige junge Königstiger, lag ruhig in der Mitte des Käfigs. Die Vorderpfoten gerade ausgestreckt, das Haupt zurückgeworfen, schaute er durch das Gitter in den grünen, blühenden Garten. Diese eisernen Gitterstäbe sah er kaum mehr, sie schienen ihm zum Bild des Gartens zu gehören, schwarze Streifen, die das helle Grün der Bäume wie des Rasens striemten, die sich nicht beseitigen ließen, die unentrinnbar zu seiner Welt gehörten.

siehe Bildunterschrift

Diese eisernen Gitterstäbe, die unentrinnbar zu seiner Welt gehören ...

Er kannte keine andere Welt, hatte niemals eine andere Welt gekannt. Vor kaum drei Jahren war er in diese Käfigwelt gekommen. Seine Mutter mußte er bald verlassen. Was sie ihm erzählte, als er noch, ein kleines Kind, an ihrer Brust lag, verstand er nicht, erinnerte sich nur der zärtlichen Spiele, die sie mit ihm, die er mit der Mutter getrieben. Auch die Mutter war hinter Gitterstäben geboren worden, hinter Gitterstäben aufgewachsen. Wo sie jetzt weilte, ahnte er nicht, dachte auch ganz wenig und nur in kleinen, rasch vorüberwischenden Augenblicken daran.

Seit er die Mutter verlassen mußte, war er nahezu immer allein. Einmal hatte er eine Gefährtin gehabt, hatte sie kurze Zeit stürmisch bewundert, stürmisch geliebt und ihr nur kurze Zeit nachgetrauert, als sie ihm eines Nachts geheimnisvoll entschwand.

Viele Stunden verbrachte er so im ruhigen Dasitzen. Längst galt ihm das Gitter mit seinen starken Eisenstäben, galten ihm die Mauern, die ihn umschränkten, als eine vom Schicksal gefügte, unverrückbare Gewalt. Früher, als ganz junger, eben erwachsener Tiger, hatte er sich oft und heftig gegen Gitter wie Mauer geworfen, hatte sich an eisernen Stangen und glatten Wänden müde gesprungen. Das war vorbei. Er saß da, stumpf geworden, und dachte an gar nichts. Er schaute vor sich hin und sah gar nichts. Nur wie ein hellgrüner, verschwimmender Schein breitete sich draußen der Garten. Nur wie wesenlose Schatten glitten die Menschen vor seinem Gefängnis hin und her, die Menschen, deren Witterung so oft seine Gier erregt hatte, denen er keine Beachtung mehr gönnte.

Vasta blieb still in ihrem Versteck und betete Opomo an. Diese gelassene, weiche, kraftvolle Anmut des Tigers hatte für Vasta etwas Berückendes, dieser machtvoll bezwingenden Schönheit konnte sie sich niemals entziehen. Jedesmal, ehe sie zum Tiger ging, rang ihr Entschluß zwischen Bangen und Verführung. Wenn sie dann endlich in sicherem Versteck bei ihm war, mußte sie sich erst mühsam fassen.

Opomo hatte sie gewittert. Er drehte das Haupt nicht zu ihr, blieb bewegungslos; doch er fing ganz leise zu schnurren an.

Eine knappe Pause verstrich, dann warf er plötzlich die Frage hin: »Kleines, was bringst du?«

Augenblicklich antwortete Vasta: »Der große Affenvater Zato ist tot.«

Mit einem jähen Satz sprang der Tiger auf die Beine und stand zitternd da. Gleich nachher tat er sich wieder zu Boden und befahl: »Erzähle!«

Vom Schrecken überwältigt, war Vasta entflohen. Des Tigers Gebot zwang sie zurück. Stotternd, bebend erstattete sie ihren Bericht. Sie wußte beinahe alles. Auch vom Heimweh des Orangs wußte sie.

Als sie dieses Heimweh besprach, erhob sich der Tiger. Mit dem körperhaften und doch schwebenden Gang seiner adeligen Schritte wanderte er rund um den Käfig, in einer mehr und mehr, höher und höher fiebernden Erregtheit.

»Heimweh,« stöhnte er, »Heimweh ... die Sehnsucht, die mir oft die Brust zerfetzt, diese blinde, ziellose Sehnsucht, die mich oft bis zum Irrsinn foltert, vielleicht ist das auch Heimweh.«

Er blieb stehen, senkte das Haupt und aus der Tiefe seines Herzens brach ein brüllendes Ächzen: »Heimweh!«

»In der Nacht packt es mich und bei Tag! Vor dem Sonnenaufgang und in der Stunde der letzten Dämmerung! Wenn ich daliege und schlafe, habe ich Träume, Träume – wunderbare Träume! Ich glaubte, daß ich mich nach meinen Träumen sehne!«

»Heimweh!« tobte er. »Es muß etwas geben, irgendwo, ein Land, was weiß ich! Bäume, hohes Gras! Es muß! Muß! Im Traum sehe ich das! Oh, dieses Schleichen im Zwielicht, dieses Lauern, dieser Sprung auf etwas, das lebt, das niederstürzt unter meinem Angriff, das warme Blut, das hervorspritzt, in meinen Mund, in meine Augen ... das muß es geben! Das ist kein Traum! Heimweh!« Er raste. »Werd' ich mein ganzes Dasein hier bleiben, in dieser erbärmlichen, stinkenden, gräßlichen Enge ... mein ganzes Dasein! Werde ich nie erleben können, was ich im Schlaf, im Traum erlebe, ach, wie armselig erlebe ... nie? Nie? Nie!! Er schäumte vor Schmerz und Wut. »Gefangen! Gefangen! Jetzt weiß ich's! Gefangen!«

Vasta war entschlüpft. Nur von ferne hörte sie noch den Tiger, den sie so sehr liebte.

Nervosität schüttelte ihren winzigen Leib. Sie befand sich im Zwang der heftigen Ausbrüche, die sie mitangesehen hatte, in der Macht der Stürme, die sie durch ihre Nachricht entfesselt hatte. Deshalb lief sie zu den zwei schwarzen Panthern, zu denen sie nur sehr selten ging, vor denen sie sich ängstigte. Zu ihnen fühlte sie sich jetzt hingezogen, ihnen wollte sie die Nachricht bringen, wollte wissen, wie die beiden Wilden das aufnähmen.

Sie wurde sofort gewittert, sofort erspäht.

»Da sitzt sie wieder!« knurrte Solb, der ältere von den beiden, und blies ihr seinen heißen Atem zu.

»Ich hab' sie schon gesehn!« jaulte Fasso, der kleinere, und fauchte sie an.

Nur die Wand schützte Vasta und nur ihr gewohntes Wissen, daß sie im Schlitz der Mauerhöhlung sicher sei. Die zwei Panther trommelten, kratzten, prügelten gegen die Wand, um das Mäuschen zu erhaschen. Hätten sie Vasta erreicht, sie wäre in weniger als einer Sekunde zerfetzt dagelegen, ein winziger, unkenntlicher Brocken blutigen Fleisches. Wie Hagelschloßen klang es, als die scharfen Pantherkrallen an die glattgestrichene Wand prasselten.

Vasta rieb vergnügt ihre spitze Schnauze, aber sie tat das auch, um ihre ohnehin gereizten Nerven zu beschwichtigen, die im Anblick der stürmischen, gefährlichen Pantherpranken nur so zu fliegen begannen.

Solb, der ältere, gab es auf, und Fasso, der kleinere, folgte sogleich seinem Beispiel.

Sie liefen jetzt beide im engen Geviert ihres Käfigs umher. Sie tanzten, genau betrachtet, mit lautlosen, zauberhaft leichten Sprüngen, mit geschmeidigen Bewegungen ihres Leibes. Es schien, als hätten sie gar keine Knochen, als seien ihre Glieder bloß aus Seidenflaum, aus schwarzem Samt und aus straffen, leicht dehnbaren Gummibändern gefügt. Sie rannten einer hinter dem anderen, vollzogen eine Drehung und begegneten einander. Sie führten überraschend wechselnde Figuren vor, und immer war um die beiden schwarzen, bewegten Geschöpfe eine stumme Musik voll tiefer Harmonie, voll ungebändigter Wildheit, die niemals gesänftigt werden konnte, voll gefährlicher, drängender Urkraft, die sich fortwährend rühren, die sich einem Dauertaumel hingeben mußte und sich in solcher Hingabe andauernd erneute. Es war ein Tanz der Ungeduld, ein Tanz der Verzweiflung. Es war: Tanz der Gefangenschaft.

Vasta pfiff ihnen die Nachricht zu.

Die zwei Panther sprangen hoch, drehten sich um sich selbst, drehten sich einer um den andern und ließen Vasta nicht weitersprechen.

»Was kümmert uns der Orang?« fauchte Solb.

»Was geht uns Zato an?« knurrte Fasso.

»Wie lang' soll das hier noch dauern?! Wie lange noch?!!« jaulte Solb.

Und Fasso bäumte sich, warf sich gegen das Gitter und knurrte: »Es muß jeden Augenblick ein Ende haben ... jeden Augenblick ...«

Solb kugelte am Boden und murmelte: »Wir werden frei sein! Frei! Frei!«

»Wir müssen frei sein! Müssen frei sein!« jaulte Fasso.

»Wir warten! Warten! Warten!« stieß Solb hervor.

Man hatte sie vor kaum einem Jahr gefangen. Jeden besonders. Hatte sie unterwegs, auf See, zusammengebracht. Seit drei Monaten erst waren sie hier im Garten. Sie konnten nicht, konnten nie daran glauben, daß ihre jetzige Lage etwas Unveränderliches und Endgültiges sei.

»Wir warten! Wir warten!« knurrten, schnurrten, fauchten, mauzten sie. Zuversichtlich und tobend. Hoffnungsvoll und verzweifelt.

Vasta stahl sich davon. Hier blühte ihr kein Erfolg.

Die Panther tanzten weiter.

Da hörte Vasta lautes, jämmerliches Schreien. Sie hielt eben Rast unter einem Bretterstapel, sie überlegte, wohin sie gehen, wem sie ihre Nachricht mitteilen sollte, als diese Schreie ihr Ohr erreichten. Vasta kannte die Stimme, auch im Schmerzlaut. Das war ihr Freund, der sanfte, liebenswürdige Wolf, das einzige unter allen Geschöpfen hier im Garten, dem sie sich ohne Scheu hatte nähern dürfen. Er schrie, daß einem das Blut erstarrte, er jammerte so entsetzlich, daß einem die Pulse stockten. Vasta fürchtete sich vor dem, was dort geschah, sie schauerte bei dem bloßen Gedanken daran, doch sie war unfähig, dem flehentlichen Alarm dieser Stimme zu widerstehen. Teilnahme, Aufregung, Neugier rissen sie fort. Sie lief, ohne Besinnung, lief wie in einem starken Traum, an dies klägliche Geschrei gebunden, ließ jede Vorsicht beiseite, sprang über offene, helle Kieswege, auf denen Menschen gingen, glitt am Wolfszwinger hinter die Stützmauer, kletterte am Gitter hinauf und sah mit pochendem Herzen zum Käfig nieder.

Der sanfte, nette Wolf Hallo lag am Boden und Talla, die Wilde, raste über ihm, geduckt, ihren Groll aus. Hallo versuchte, sie mit strampelnden Beinen abzuwehren, versuchte, ihren grausamen Bissen zu entkommen. Blut rann unter seinem Leib in dünnen Bächen über die weißen Steine.

Die Wölfin bemühte sich, das Genick Hallos zu erwischen. Der Verzweifelte wand sich vor Schmerz und Angst.

»Was hab' ich dir getan?« heulte er.

»Hin mußt du sein!« knurrte Talla.

»Laß mich los!« schrie Hallo.

»Wenn du tot bist ... du Knecht, du Verräter!« keuchte Talla.

»Hilfe! Hi-i-ilfe!!« jammerte Hallo.

»Elender!« klang es zurück und mit hellem beinernen Klappen schlugen die Zähne der Wölfin zusammen. Sie hatte in die Luft gebissen.

Verwirrt, erregt, entsetzt blickte Vasta auf die heftig bewegte Gruppe der beiden Wölfe, auf ihren Tumult von Heulen, Knirschen, Zausen.

Da – ein dicker Wasserstrahl zischte in den Käfig, traf die Wölfin und schleuderte sie von ihrem Opfer weg.

Sie rang nach Atem.

»Weiter!« rief der Direktor dem Wärter zu. »Weiter! Nicht einen Augenblick den Schlauch von ihr ablenken!«

Der Strahl erreichte wieder Tallas Flanke, wanderte ein Stückchen, erreichte ihr Haupt, stieß mitten in ihr Gesicht, zerbrach und zerstäubte da, und in dem Gischt, von dem sie überschäumt wurde, drohte Talla zu ersticken.

Sinnlos vor Schreck, betäubt vom Sturz des Wassers, von der Gewalt des nassen Anpralls überwältigt, durchschauert von Kälte, entfloh die Wölfin.

Sie rannte längs des Gitters dahin, beständig von der Kraft des Gusses verfolgt.

Hallo schleppte sich indessen mühsam in die geschützte Schlafkammer des Käfigs.

Draußen hatten sie eine kleine Transportkiste herangeschoben, hatten die Gittertür geöffnet und als die Wölfin endlich total erschöpft dorthin gelangte, befahl der Direktor: »Genug!« Der Strahl versiegte im Nu. Talla kroch in die Kiste, atmete erleichtert auf und fühlte: »Gerettet!« Ihren Zorn und den zahmen Wolf hatte sie vergessen.

Man verschloß die Kiste und führte Talla fort.

»Der arme kleine Kerl,« sagte der Direktor, »der ist ihr nicht gewachsen. Sie muß zu den starken russischen Wölfen. Die werden schon mit ihr fertig.«

Hallo leckte seine Wunden und dachte: »Gerettet!«

»Sie war unerträglich,« erzählte er Vasta, »ich bin glücklich, daß sie fort ist! Sie hätte mich ermordet! Gewiß, das hätte sie. Und warum? Keine Ahnung. Ich war freundlich zu ihr.«

»Ja,« unterbrach ihn Vasta, »du bist immer freundlich.«

»Nicht wahr?« wimmerte Hallo. »Aber sie ... sie ist boshaft. Ich hab' nicht hinaus in den Kreis dürfen, ich hätte nur hier drin bleiben müssen, nie in ihre Nähe kommen. Das ist unmöglich, beim besten Willen unmöglich ... schau, wie sie mich zugerichtet hat ...«

Es dauerte lange, bis Vasta von Hallo weglief. Nun hatte sie eine zweite Nachricht. Aber es blieb nicht dabei.

Als sie zum Fuchs kam, sie wußte gar nicht, warum sie heute gerade diesen ihren Feind besuchte, doch als sie zum Fuchs kam, war der Käfig leer.

Vorsichtig umschnupperte sie das Gitter. Eine seltsame Witterung drang in ihre Nase. Vasta wagte es und lief in kleinen Rucken quer durch den gefährlichen Raum, beständig auf ihrer Hut und jeden Augenblick zur Flucht bereit. Aber die Witterung, die ihre Nerven erregte, zwang sie vorwärts.

Aus der Röhre des künstlichen Baues war kein Laut vernehmlich. Tiefe, tiefste Stille.

Vasta zitterte, doch zitternd lief sie noch ein wenig weiter und spähte hinein.

Der Fuchs lag starr, steif und kalt. Sein Gesicht, ganz an die Wand geschmiegt, hatte einen friedlichen Ausdruck.

Eilig rannte Vasta, die Maus, davon.

Nun hatte sie drei interessante Neuigkeiten.


 << zurück weiter >>