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Zweites Kapitel
Kinder werden ausgeführt – Mutter in Sorge

Weich und voll jener bezaubernden Anmut, von aufwachender Lebenskraft einem jungen Körper verliehen, spielten Barri und Burri miteinander.

Vier Wochen erfreuten sie sich des Daseins, das ihnen ein ununterbrochenes Vergnügen, eine mehr und mehr gesteigerte Unterhaltung war.

Ihre Mutter, die Löwin Hella, saß aufrecht, die Vorderpfoten genau vor sich hingestreckt, das schöne Haupt mit kühn zärtlichem Ausdruck erhoben, und beobachtete das Treiben ihrer Kinder.

Barri legte sich hin, ganz plötzlich, als sei er müde. Vielleicht war auch wirklich eine geringe Erschöpfung durch seine Glieder geflogen. Er brauchte so wenig Vorbereitung, um sich niederzutun, er war so beweglich, so kautschukartig locker in all seinen Gelenken, daß es schien, als sei er jählings zusammengesackt, wie er nun platt am Boden lag. Er machte ein verschmitztes Gesicht und unterdrückte ein Lächeln.

Burri stolperte über den so unerwartet Ruhenden, purzelte gleich einem knochenlosen Gebilde, raffte sich verdutzt auf und nahm das stille Daliegen des Bruders als eine neue Herausforderung. Keineswegs war Burri gewillt, im Spiel eine Pause zu dulden.

Mit schüttelndem Kopf und mit schlenkernden Pfoten trottete er zu Barri und kniff ihn ins Ohr. Barri parierte, so wie er lag, sehr schnell und zwickte den Angreifer ins Bein. Deshalb sprang Burri zurück. Aber das war ein Hopsa-Sprung, der kindliche Frohlaune so stark und so deutlich wiedergab, daß er wie ein stummes Jauchzen sich ausnahm.

Gleich nachher kam Burri wieder angetanzt, schlug die dicken Tatzen, die ihm viel zu groß waren und in die er sichtlich erst hineinwachsen mußte, dem Gefährten in die Flanke.

Barri wälzte sich auf dem Rücken, streckte alle viere in die Luft. Man sah, der Kleine lachte närrisch, er lachte mit dem ganzen Körper.

Jetzt stand Burri über ihm. Die beiden begannen zu kämpfen. Barri, auf dem Rücken liegend, wehrte sich, stieß die Hinterbeine mit gleichzeitigem Ruck in Burris Leib, brachte ihn, der sekundenlang als Sieger erschienen war, zu Fall, und nun kugelten beide übereinander, strampelnd, schnappend.

Leises Knurren und Fauchen.

Sie trieben Spaß, sie scherzten und sie hatten kindliches Vergnügen, derart zu spielen. Aber im Grund ihres Wesens vibrierte, noch nicht ganz wach, unbändige Wildheit, die sich in solchem Kampfspiel erprobte.

Die Mutter Hella sah mit majestätischem Wohlgefallen zu. Sie lachte.

Noch einen anderen Zuschauer gab es, Das war Vasta, die Maus. Sie saß dicht an der Bretterwand, die den Zwinger vom Außenkäfig trennte.

Als sie das Lachen der Löwin merkte, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und pfiff: »Prächtige Kinder.«

Hella spitzte die Ohren und drehte das Haupt zu ihr. »Du bist wieder da?« schnurrte sie.

»Ach ja,« entgegnete Vasta, »nur auf einen Sprung.«

»Gibt es etwas Neues?« erkundigte sich die Löwin.

»Oh,« die Maus saß ganz in den Hinterbeinen und hielt ihre sauberen, dünnen Vorderkrallen unter das spitze Näschen, »oh, etwas Besonderes.«

Sie wollte eben anfangen zu erzählen, da hatten sie Burri und Barri schon gehört, kamen nebeneinander herangetrottet, die Köpfe schief, unternehmungslustig, und stutzten alle beide. Alle beide duckten sich, begannen zu schleichen, sich zum Sprung zu bereiten. Da war ein neues Spielzeug.

Aber Vasta hatte eine Abneigung dagegen, junger Löwen Spielzeug zu sein. Sie entwischte durch die Fuge, durch die sie hereingeschlüpft war.

Tapsig schlugen Burri und Barri nach der Stelle, wo eben noch die Maus gesessen hatte. Eifrig beschnupperten beide die Fuge, darin Vasta sich verbarg. Scharrten ungeduldig, die Köpfe geduckt, an den Rändern des Bodens und mauzten winselnd: »Komm doch! Komm doch!«

Vasta hütete sich, zu kommen. Dem dringenden Flehen der beiden vermochte sie freilich nicht zu widerstehen und piepte nach einer Weile höflich: »Ich bin nicht da!«

Barri und Burri sprangen zur Mutter. »Sie kann nicht kommen«, flüsterte Barri der Mutter ins Ohr.

Und Burri, der sich auf seine Keulen gesetzt hatte, sprach mit wichtiger Miene Hella geradezu in den Mund: »Sie sagt, sie ist nicht da.«

Darauf fing Barri an, das Ohr und den Nacken der Mutter zu zausen, worauf Burri sich sofort an die üppig schönen Lefzen der Hella hing.

Die Löwin stieß breite, gurgelnde Töne innigen Behagens und tiefer Zärtlichkeit aus. Sie mischte Laute eines vorgeblichen Unmuts dazwischen, eines scheinbar entrüsteten Unmuts.

Die Kinder glaubten ihr keinen Augenblick. Vielmehr ergötzten sie sich daran und dieses Spiel an der Grenze mütterlichen Zorns bereitete ihnen ein reizvoll gesteigertes Vergnügen. Noch stürmischer bedrängten sie die Mutter, sprangen ihr in den Nacken, stießen ihr die weichen, großen Pfoten um die Nase, ins Gesicht, verkniffen sich in ihren Hals und waren ganz toll vor Freude, weil sie sich einbildeten, stärker zu sein als die Mutter. Dabei wußten sie genau, daß dieses Stärkersein nur Einbildung sei, aber das minderte ihre Freude nicht im geringsten.

Die Löwin warf sich mit einem Schrei der Lust zur Seite. Das Büschel ihrer Schwanzspitze klopfte leise den Boden, ihr mächtiger Körper hatte eine entzückende, geschmeidige Grazie, als sie, dem Übermut der Kinder hingegeben, bald auf den Rücken, bald auf die Flanken rollte.

Besucher des Gartens hatten sich vor dem Käfig angesammelt und betrachteten die Familienszene. Sie schwatzten durcheinander, riefen der Löwin verschiedene Ausdrücke der Anerkennung zu. Ein junger Bursch fuhr mit dem Spazierstock rasch über die Gitterstäbe. Es schrillte metallisch grell. Hella achtete dessen keine Sekunde. Sie war an solche Zuschauerschaft gewöhnt und hatte eine verächtliche Gleichgültigkeit dagegen. Nur vor etwa vier, fünf Wochen, als Barri und Burri zur Welt gekommen waren, wurde sie empfindlich reizbar. Doch der Direktor, der die Nervosität der eben muttergewordenen Tiere kannte, ließ das Außengitter des Käfigs mit Brettern verschalen. Hella blieb eine Woche lang mit ihren Kindern allein und von jeglicher Störung verschont.

Jetzt hatte sie ganz unbefangen ihre Lust an den Kleinen, schleuderte sie einmal weit von sich, drückte sie dann wieder zu Boden, zog sie dann wieder liebreich in ihre Umarmung oder ließ sich zum Spaß zwischendurch von Barri und Burri überwältigen.

Aber den Schritt des Wärters vernahm sie schon von weitem.

Sie hatte ihn erwartet, unterbrach beim leisesten Zeichen seines Herannahens das Spiel, setzte sich aufrecht hin, wies die Kinder zur Ruhe, die nun ratlos um sie her torkelten, bis sie merkten, daß die Mutter erregt etwas erwarte. Mit altklugen Gesichtern, mit nachgeahmten Gebärden saßen sie ganz wie die Mutter, doch völlig ratlos da.

Die Löwin sperrte mit hochgezogenen Lefzen, mit entblößtem Gebiß den Rachen, ließ einen feinen, quiekenden Laut vernehmen, schloß dann plötzlich ihren schönen Mund und wiederholte das einige Male. Ihr Schweif zuckte und schlug dabei beständig. Es war ein Zeichen ungeduldiger, unzufriedener Erregtheit. Sie erhob sich und schritt längs dem Gitter auf und ab. An jedem Ende des Gitters, ehe sie kehrt machte, warf sie das Haupt in einer großartig beredsamen Gebärde der Machtlosigkeit von unten nach oben; drehte dann auf dem kleinsten Fleck um, strich, mit gehemmter Riesenkraft in den Gliedern, dicht am Gitter zum andern Ende ihres Kerkers. Dort dieselbe Sekundenszene. Dann wieder zurück, zehn-, zwanzigmal.

Endlich blieb sie in einer Ecke wie festgemauert stehen, schaute aufmerksam hinaus, immer nach derselben Richtung, peitschte nur sacht die Flanken mit dem unaufhörlich bewegten Schweif. Ihre Augen funkelten streng. Dann verzerrte sich ihr bisher starr verschlossenes Antlitz. Sie fauchte wütend, lauter und lauter.

Der Wärter stand vor dem Käfig.

»Na, na,« redete er Hella an, »keine Bange. Ich bring' sie dir ja wieder. Du weißt ja. Ich stehl' dir sie nicht. Sei doch ruhig, Alte.«

Hella jedoch war keineswegs ruhig. Sie führte gewaltige Tatzenhiebe gegen den Wärter, die alle am Gitter abprallten.

Der Wärter hatte mittels einer Stange das Türchen zum leeren Nebenkäfig ein wenig gehoben und lockte die Jungen.

Barri schlüpfte sofort hinüber.

Die Löwin sprang hoch, schlug mit den Tatzen nach ihm und grollte: »Bleib' bei mir!«

Der verwirrte, treulose Kleine hörte nicht.

Burri zauderte.

Der Wärter führte die lange Eisenstange nun in den Käfig Hellas und suchte Burri herauszutreiben. »Komm nur, Kleiner,« sprach er dabei, »komm schon! Es geht auf die Wiese, in die Sonne.«

Hella fuhr wütend auf die Eisenstange los.

Der Wärter lachte: »Aber, Mutter, das ist doch nicht dein Ernst. Du wirst den kleinen Burschen doch ihr Vergnügen gönnen. Kriegst sie ja wieder.«

Hella biß in das Eisen, das Burri bedrängte, warf sich mit ihrem ganzen Leib darüber, preßte es am Boden fest.

Der Wärter hatte Geduld. »Geh doch,« sprach er ihr zu, »jedesmal dieselben Geschichten.«

Indessen war auch Burri zum Bruder hinübergekrochen.

Der Wärter zog die Stange zurück, schloß mit ihr das niedrig gehobene Türchen und öffnete den leeren Käfig, darin jetzt die beiden Jungen saßen, stieg hinein und nahm die zwei in seine Arme.

Die Löwin stand, das Haupt geduckt, mit blasendem Atem. Ein Zittern lief ihr über Rückgrat und Flanken. Als sie ihre Jungen in der Hand des Menschen sah, brach ein klägliches Jaulen aus ihrer Brust.

Der Wärter drehte sich zu ihr: »Du kannst ganz ruhig sein. Ich bring' sie zurück. Mein Ehrenwort.«

In der Zuschauermenge erhob sich schallendes Gelächter.

Da ließ sich die Löwin sofort nieder und schwieg. Nur ihr Mund stand offen, ihre Zunge schlappte heraus und an ihren pulsierenden Flanken erkannte man, wie sehr sie erregt und beängstigt war. Doch nichts mehr ließ sie sich anmerken. Sie blieb ohne Laut, ohne Gebärde, als der Wärter mit Barri und Burri ins Freie kletterte. Sie blieb regungslos, als er die beiden zur Erde setzte und sich mit ihnen entfernte.

Alle Zuschauer folgten ihm.

Vasta tauchte aus ihrer Furche.

»Ich staune,« meinte sie bescheiden, »ich staune, wie du dich noch immer aufregst.«

Und nun begann eine jener Unterredungen, die von Geschöpf zu Geschöpf zahllos immer wieder und wieder stattfinden. Der Mensch achtet nur auf die Stimmlaute der Tiere. Doch seine Wahrnehmungen bleiben auch darin oberflächlich. Er schenkt den Mienen, Gebärden, den Bewegungen, die alle mit zum Sprechen der Tiere gehören, den Blicken wenig Aufmerksamkeit. So versteht er die Tiere fast niemals, obgleich er durch tausendjährige Übung, etwa durch Wiedererwecken seiner stumpf gewordenen Ur-Instinkte hätte lernen können, die Tiere zu verstehen. Deshalb bleiben die stummen Brüder, von denen wir umgeben sind, sprachlos für den Menschen, und es ist schon ein großer Fortschritt, wenn er anfängt, sie überhaupt als Brüder zu erkennen. Einzig aus solcher Fremdheit ist es zu erklären, wenn auch niemals zu begreifen, daß die Menschen der fühlenden Kreatur so ungeheure, so unmenschliche Qualen zufügen, Qualen, Schmerzen, Tragödien an seelischen wie an körperlichen Martern, die jedem, der sich ihrer besinnt, den Schlaf rauben und die Lebensfreude verbittern.

Hella, die Löwin, ließ das schöne Haupt auf ihren ausgestreckten weichen Pfoten ruhen. Ihre großen, goldfarbenen Augen schauten voll sanfter Trauer ins Leere. »Ich weiß nicht, was Er vorhat«, sagte sie.

»Sei doch ruhig«, beschwichtigte sie Vasta eifrig. »Er führt sie auf die Wiese. Dort sind viele andere Seinesgleichen, die schauen zu und lachen und sind sehr nett zu den Kleinen.«

Hella wiederholte: »Ich weiß nicht, was Er vorhat!«

»Er bringt sie dir doch wieder,« tröstete Vasta, »immer bringt Er sie dir zurück.«

Die Löwin lächelte: »Sie riechen dann nach frischem Gras.«

»Warum beängstigst du dich also?«

Der zärtliche Funke in Hellas Auge erlosch: »Ich hatte schon einmal Kinder.«

Vasta spitzte: »Du? Davon weiß ich ja nichts!«

»Du bist noch nicht dagewesen«, entgegnete die Löwin. »Seither sind die Bäume zweimal grün und wieder kahl geworden. Ich war damals ganz jung.«

»Oh,« Vasta kam ein wenig näher, »da war ich noch gar nicht auf der Welt.«

Hella wandte das Haupt zu ihr. »Kleine Maus,« sprach sie, »du siehst viel mehr als ich, viel mehr, aber du weißt trotzdem weniger als ich.«

Vasta putzte sich rasch das feine Näschen und schwieg.

»Drei reizende Kinder hatte ich,« fuhr Hella fort, »wunderschöne Kinder. Ich habe sie unendlich geliebt, ja, ich liebe sie heute noch, ich kann sie nicht vergessen.«

»Und wo sind sie?« unterbrach Vasta.

»Ich weiß nicht«, grollte die Löwin. »Täglich hat Er sie auf die Wiese geführt, wie Er es jetzt mit Barri und Burri macht. Eines Tages kam Er allein zurück. Ohne die Kinder! Es war furchtbar!«

Beide schwiegen eine Weile. Hella weinte ein bißchen.

»Was kann Er denn mit ihnen angefangen haben?« grübelte Vasta.

»Man weiß es nicht,« raunte Hella, »drei herzige Kinder und fort! Alle drei auf einmal! Man weiß nie, nie weiß man, was Er vorhat. Und jetzt fürchte ich wieder, jetzt bange ich um Barri und Burri.« Sie erhob sich und strich ungeduldig am Gitter hin und her.

Vasta wollte sie ablenken und erzählte: »Yppa hat einen Sohn.«

Die Löwin blieb stehen: »Nun wird sie endlich froh werden.«

»Es scheint wirklich so,« sagte Vasta, »sie sitzt ganz ruhig da und herzt den Kleinen und ist unaufhörlich mit ihm beschäftigt.«

»Das ist gut,« meinte Hella, »das war notwendig. Das wird die Arme über ihre verlorene Freiheit trösten.« Hella stand da und ein leises Beben überrieselte ihren Leib. »Freiheit ...« sie wurde nachdenklich, »ich habe die Freiheit nie gekannt. Ich glaube trotz allem, was du und andere mir erzählen, immer glaube ich, es gibt keine andere Welt, als diesen Garten da, es gibt für mich keinen anderen Aufenthalt, als diesen Raum hier, den das schwarze Gitter abschließt, und drinnen den anderen, engeren Raum, darin ich wohne, wenn es kalt ist. Und ich bin zufrieden. Manchmal ist mir wohl zumute, wenn ich in der warmen Sonne liege, manchmal bin ich sogar heiter und glücklich, besonders, wenn ich mit Pono beisammen sein darf oder mit anderen Verwandten. Oder, wie jetzt, mit den Kindern.«

Sie hielt inne und streckte sich.

»Aber dann wieder«, begann sie entschlossen, »fährt mir eine Sehnsucht durch die Brust, eine Sehnsucht, ich weiß nicht wonach!« Sie trat nahe an Vasta heran und flüsterte: »Du gehörst ja zu denen da draußen, Kleines, sag' mir, was ist das, Freiheit?«

Vasta wurde verlegen, sie duckte sich und stammelte: »Ich kann dir nicht antworten. Freiheit ist eben Freiheit und ist vielleicht kein solches Glück, wie Yppa und viele andere von euch denken. Man ist beständig in Gefahr und man muß ununterbrochen auf der Hut sein.«

»Du bist gescheit, Kleines,« nickte Hella, »gewiß, und ich wünsche mir die Freiheit gar nicht.«

»Jetzt gehe ich«, empfahl sich Vasta.

»Komm bald wieder,« schnurrte die Löwin, »komm und bring' mir Neuigkeiten. Die hör' ich immer gern!«

»Wenn ich lebe!« versprach Vasta und huschte fort.

Ein wenig später sprang die Löwin ans Gitter, stand wie eine Statue, während ihr Schweif erfreut Räder schlug.

Sie sah Barri und Burri heimkehren, umgeben von einem dichten Menschenschwarm.

Aber Hella sah nur ihre Kinder und war beseligt.


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