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Zehntes Kapitel
Der kleine Bob und das Fräulein

Bedächtig langte der große Arra nach dem kleinen Bob, der vor ihm stand und ihn fütterte. Sehr vorsichtig faßte der Papagei Bobs Ärmel, er griff behutsam mit dem gewaltigen Schnabel nach einem Knopf und saß nun auf der schmalen Schulter des kleinen Jungen.

Bob regte sich nicht. Er hatte dieser Annäherung gegenüber nur mehr wenig Mut. Halb entsetzt, halb entzückt schaute er sein Fräulein an.

»Was ... was ... will ea?« stammelte Bob.

Der Arra schwankte auf seinem Sitz und gurrte ganz leise, ganz zärtlich.

Bob war knapp vier Jahre vorbei. Der Ara zählte vielleicht sechzig Jahre. Er hatte ein dunkelblaues Gefieder, rot und gelb geflammt, und sein Haupt trug eine feurige Haube. Bob hatte einen weißen Matrosenanzug und eine weiße Mütze.

siehe Bildunterschrift

Der Ara zählt vielleicht sechzig Jahre

»Was ... was will ea?« fragte Bob mit lachenden, aber furchtsamen Augen und mit verzagter Stimme.

Der Papagei gurrte in feinen Tönen.

»Er hat dich lieb, Bobby«, gab das Fräulein zur Antwort. Dann aber fügte sie strafend hinzu: »Ich hab' dir gesagt, du sollst nicht so nah' herangehen. Du folgst natürlich nie.« Und als sie merkte, daß Bob bereit sei, in Weinen auszubrechen, rief sie: »Halt' dich jetzt nur still! Nur still sein, dann geschieht dir nichts!«

Bob, den Vogel auf der Schulter, stand wie eine Statue. Es wäre ihm übrigens auch sonst nichts geschehen. Der Arra hatte zu dem kleinen Jungen eine plötzliche und innige Zuneigung gefaßt, was bei diesen Papageien ebenso oft vorkommt, wie der rasche, grimmige Haß, mit dem sie manche Menschen verfolgen. Bob war mit dem ganzen ahnungslosen Vertrauen des Kindes gekommen, hatte Sonnenblumenkerne, Rosinen und Kuchenbrösel dargereicht, hatte dem Arra, der das Gebotene huldvoll annahm, unter liebkosenden Worten den Hals gekraut; der Papagei, der an Vereinsamung litt, auch an der Kette, die ihn gefangen hielt, empfand über den kleinen Kameraden stürmische Freude und so war das Bündnis geschlossen.

Aber Bob atmete doch befreit auf, als der Vogel sich jetzt wieder auf seine Stange zurückschwang.

»Lefohl, Pagagei«, rief Bob, während er sich ein paar Schritte aus der angenehmen, aber doch nicht ganz behaglichen Nähe entfernte. »Lefohl, Pagagei«, das sollte »Leb wohl, Papagei« bedeuten. Doch der also Begrüßte nahm es nicht so genau. »Arr-rra«, sagte er von seinem Pflock herab, als Antwort.

»Ea spicht!« jubelte Bob, der die »r« noch immer wegzulassen pflegte.

Während er, von seinem Fräulein an der Hand geführt, davonging, brach der Arra in ein gellendes Lachen aus und stieß einige schrille Pfiffe hervor.

»Ea juft mich«, stellte Bob fest, doch er dachte nicht daran, diesem Ruf Folge zu leisten.

»Lefohl, Pagagei!« schrie er zurück. Spaziergänger, die das unbeholfene Abschiedswort hörten, lächelten. Ein Kakadu dehnte nach dem kleinen Jungen den Hals und sträubte den blaßgelben Schopf. »Lieb ...« meinte Bob, der schon bereit war, eine neue Bekanntschaft zu schließen. Das Fräulein aber zog ihn weiter. »Nein, Bobby, du darfst nicht ...«

»Wajum nicht?« forschte Bob, ohne sich zu widersetzen.

»Weil – weil sonst der Arra mit dir böse wird. Er könnte dich das nächstemal arg zurichten.« Dem Fräulein war das so eingefallen, sie wußte gar nicht, wie viel Wahrheit ihre augenblickliche Erfindung enthielt.

Nun kamen, als sie das schöne Rasenparterre mit den Teppichbeeten umgangen hatten, die Gehege der exotischen Schafe in Sicht. Kaum die Lämmer und Mutterschafe Bob erblickten, drängten sie sich alle dicht aufeinander am Gitter. »Mä – mä« baten die Lämmer und preßten das »M« so deutlich hervor, daß es wie eine dringende Bitte ganz plastisch wurde.

»Gib«, bat Bob das Fräulein. Er war ebenso ungeduldig wie die Lämmer. Die Stücke Kuchen empfing er lachend vor Freude. Dann bot er sie mit flachen Händen seinen Mä-Freunden. Die waren Kinder wie er, ihre kleinen, samtzarten, warmen Lippen küßten Bobbys Handflächen, während sie davon die Krumen wegmummelten. Bob geriet in begeistertes Entzücken. Immer wieder versuchte er, die seidigen Stirnen zu streicheln, die weichen Nüstern zu liebkosen. Doch die Schafe wollten das nicht, sie hatten keinen Sinn für Zärtlichkeiten, die Abwehr ihrer Kopfstöße war oft so heftig, daß sie einem Angriff glich. Allein dies Gedränge von Häuptern mit sanften Augen milderte solchen Eindruck durch ein inständiges Bitten: »Mä – mä – mä.«

Da stob plötzlich der Tumult auseinander, ängstlich wichen die Lämmer, die Mutterschafe zur Seite und ein großer Widder stand fast gebieterisch vor Bob, der gehorsam seine Hand voll Kuchen hinhielt. Dann freilich sprang sein helles Mitleid für die Wehrlosen auf und er rannte mit seinen Gaben von einer Ecke des Gitters zur andern, steckte den Lämmern eilig einen Bissen zu, noch ehe der Widder herbeigekommen war, um die Kleinen zu vertreiben.

»Genug«, sagte das Fräulein.

»Dea djäßliche djoße Safbock,« murrte Bob, »ea will alles für sich haben ... ea is' ja dea Papa von den Kleinen ...«

»Doch,« erklärte das Fräulein, »aber er kümmert sich nicht darum.«

»Dann is' ea kein jichtiga Papa«, meinte Bob.

Nun kamen sie zu den Bären. Bob jubelte laut, als sich die gewaltigen Tiere in die Hinterbeine hoben und mit aufgerissenen Rachen um Leckerbissen flehten. Er zielte, warf und traf nicht. »Pobias du«, bat er das Fräulein. Die nahm einen großen Brocken und Bob klatschte Beifall, als der weiße Kuchen im Rachen des riesigen Bären landete.

»Jetzt dem Kleinen dort, dem magejen«, befahl Bob und meinte den mageren, jungen Bären, der sich vorsichtig im Hintergrund hielt, aber durch verständige Gebärden einen armen Notleidenden rührend darstellte. Das Fräulein warf, fehlte, der Bissen fiel zu Boden, das Bärlein wagte nicht, ihn aufzulesen, und schaute mit gekränkter Miene zu, wie die anderen ihm die ersehnte Gabe wegschnappten. Auch Bob war betrübt. Er schwieg und wartete, bis das Fräulein nach vielen mißlungenen Versuchen den mageren Bettler doch endlich erreichte. Ihr eßbares Wurfgeschoß traf den kleinen, zausigen Burschen nicht in den Schlund, sondern mitten vor die zerraufte Brust. Er schlug in schneller Gebärde, als wollte er sich irgendwie schuldig bekennen, die Pranken an sein Herz, fing damit den Happen auf und verzehrte ihn unter leisem Brummen, das sehr sorgenvoll klang.

»So!« meinte Bob. »Jetz' könn' wia geh'n.« Er drehte sich weg und schien deutlich von einer Erwartung getrieben. »Zum Elefanten ...« wünschte er. Und sie wanderten zum Elefanten.

»Fjäulein,« erkundigte sich Bob, als sie an den Käfigen der Löwen und Tiger vorüber gingen, »Fjäulein ... hastu Zuka?«

Das Fräulein beruhigte ihn: »Jawohl, mein Kind ...«

»Denug?« wollte er wissen.

»Reichlich genug,« sagte das Fräulein und fragte nun ihrerseits: »Warum denn?«

»Aba nachhea, füa die Löwen da und füa die Tigis.«

»Oh,« das Fräulein lächelte, »die Tiger und die Löwen essen das gar nicht – du kannst deinen Zucker sparen.«

»Ich mag aba meinen Zuka nich' spa-en.«

»Du hörst doch, sie wollen keinen Zucker –« wiederholte das Fräulein.

»Was denn ...?«

»Fleisch! Nur Fleisch!«

Bob wurde nachdenklich. Es ergötzte ihn freilich, wie zutraulich und sacht ihm der Elefant mit dem Greiffinger des langen Rüssels Stück für Stück den Zucker aus der Hand holte.

»Bava Elefant«, rief er dabei, hielt die Hand hin und lud mit dem Zuspruch »nimms nua, nimms«, den Elefanten ein. Der runde Bogen, den der Rüssel vollführte, um das Stückchen Zucker in den Mund zu stecken, die bewimperten Augen, die so menschenähnlich, so klug und scheinbar lächelnd blickten, stimmten den kleinen Jungen heiter und machten ihn, ohne daß er es recht wußte, ein wenig befangen. Mit andächtigem Respekt und zugleich mit einem ahnenden Empfinden von Überlegenheit stand das kleine Menschenkind vor dem gigantischen Elefanten. Bob spürte etwas von dem durchdringenden Verstand, von der nachsichtigen Geduld des Elefanten und dabei spürte Bob, wie dieses Urgeschöpf nicht bloß in den massiven Pflöcken, die es einhegten, sondern in seiner Tierheit gefangen war. Bob konnte das natürlich weder denken, noch in Worte fassen. Doch in seiner Kinderseele fühlte er das Unerlöste des Elefanten und dieses Gefühl weckte ein Bangen im Herzen des kleinen Bob, der davon aber nichts merken ließ, weil er sich dessen schämte. Als ihm jedoch der Elefant plötzlich mit dem Rüssel ins Gesicht blies, sprang ein Erschrecken aus Bob hervor, so unerwartet für das Fräulein und so heftig, daß sie ihren Schützling mit fortnahm.

Lange stand Bob dann vor dem Löwenkäfig.

Er hatte darauf beharrt, den Löwen Zucker zu geben. Das Fräulein und er schleuderten Zuckerstücke in den Käfig. Einige prallten von den Gitterstäben ab und fielen draußen zur Erde. Ein paar Stückchen knallten leise dicht neben dem alten Löwen zu Boden. Der achtete nicht darauf.

»Nimm doch! Es is' süß!« schmeichelte Bob.

Der alte Löwe saß ruhig da und schaute über Bob, über das Fräulein hinweg ins Leere.

»Wajum ...« begann Bob zu fragen.

Das Fräulein unterbrach ihn mit der Antwort: »Ich hab' dir doch gesagt – diese Raubtiere essen nur Fleisch ...«

»Jaubtieje,« wiederholte Bob ernst, »Tieje, die jauben? Böse Tieje? Was jauben sie ...?«

Das Fräulein gab Auskunft: »Schafe, Rinder, sogar Menschen.«

Bob sah den Löwen an.

»Wenn da tein Gitta wäa,« fragte er, »möchte da dea Löwe uns jauben?«

»Gewiß!« versicherte das Fräulein, »sie würden über uns herfallen, würden uns zerreißen und auffressen, wenn kein Gitter da wäre.«

Bob atmete tief. »Aba es is' ein Gitta da«, bemerkte er erleichtert. Er schaute beruhigt und dennoch kribbelnd erregt auf die Reihe der Käfige, darin die Löwen und die Tiger jetzt ganz still lagen. Das Zerrissenwerden stellte er sich ganz besonders grauenhaft vor. Er schaute, schaute, malte sich einige schreckliche Möglichkeiten aus, bis seine Phantasie matt wurde. Dann dachte er, oder vielmehr er empfand es dunkel, daß dies Gefangensein hinter starken Gittern doch eine gerechte Strafe für solche Missetäter sei. Warum wollten sie auch keinen Zucker?

Zuletzt befiel ihn jene Langeweile, von der kleine Kinder regelmäßig heimgesucht werden, wenn ihnen ein zweckloser Anblick geboten wird.

Nun war es Bob, der das Fräulein mahnte: »Tomm'.«

Sie gingen zum Kinderspielplatz. Dort traf er Baby, seine kleine Freundin, traf Dick und Johnny, seine Kameraden, dort bemächtigten sie sich des Sandhaufens und in der mühsamen, unterhaltenden Arbeit eines Tunnelbaues hatte Bob alsbald all die Tiere hier im Garten vergessen, den angeketteten Papagei, die Lämmer und Widder, die Bären, den Elefanten wie die bösen Tiger und Löwen.


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