Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierzehntes Kapitel
Die wilde Gefährtin

Hallo, der zahme Wolf, hatte Gesellschaft bekommen.

Eine starke, junge Wölfin, Talla, war im Garten eingetroffen, das Geschenk eines hohen Herrn, das man nicht zurückweisen konnte. Man hatte Talla in der Grube gefangen.

Sie besaß eben noch zu geringe Erfahrung, dafür sehr viel wildes Ungestüm.

Als die Jäger sie aus ihrem Loch hervorholten, setzte sie sich grimmig zur Wehr. Sie kämpfte tapfer und wütend gegen ihre Feinde. Beinahe wäre sie erschossen oder totgeschlagen worden. Zufällig aber war der hohe Herr dabei. Ihm gefiel das junge, reizende Tier und er befahl: sie soll leben bleiben!

Also blieb Talla am Leben.

In der engen Kiste, in die man die Kampfermattete trieb, um sie aus der Fallgrube zu heben, biß Talla gegen die Wände, daß die Holzsplitter nur so flogen.

Man hielt sie in einem schmalen Eisenkäfig auf dem Wirtschaftshof des Schlosses. Sie bekam reichlich Fleischabfälle und Knochen geschlachteter Lämmer, Hammel und Rinder. Leute standen vor ihrem Gehäuse und versuchten es mit gütiger Zurede, Hunde schnupperten daran herum und fuhren zurück, das Rückenhaar gesträubt, die Lefzen hochgezogen. Talla ließ sich durch nichts beruhigen, durch nichts besänftigen. Sie blieb andauernd voll schäumender Erbitterung. Wären die Gitterstäbe ihres Käfigs nicht so nahe beisammen gewesen, daß Talla unmöglich mehr als ihre Nasenspitze durchzwängen konnte, sie hätte ihre großen, scharfen Zähne am liebsten in alles Lebendige geschlagen, das ihr in die Nähe kam. Sie schnappte nach den Jägern, die ihr Nahrung reichten, sie schnappte nach jedem Hund, der sich zeigte. In der geringen Tiefe ihres Käfigs saß sie auf den Keulen oder lag hingestreckt, das Haupt zwischen die Vorderpfoten geduckt, oder stand aufrecht und schaute hinaus. Sie sah die Gänse, Hühner und Enten, die Truthähne, die Pfauen, die draußen umherspazierten, und Tallas Augen funkelten. Des Nachts bearbeitete sie den Boden, die Decke, das Gitter des Käfigs wütend und unermüdlich mit ihrem Gebiß, kratzte mit ihren Pfoten und traf überall auf kaltes Eisen. Erregt vor Ungeduld, fieberhaft gehetzt von Sehnsucht heulte sie. Das klang heiser, unheimlich und drohend.

Frei sein! Herrliches, wundervoll freies Leben im Wald. Den frischen Atem der Nacht trinken! Durch Dickicht schleichen, köstliche Witterung empfangen, Witterung junger Rehe, Witterung der Fasane, die schliefen, der Hasen, die im Lattich verborgen schlummerten! Der Sprung und Fang, das ohnmächtige Sträuben der Überfallenen und dann der berauschende Geschmack des warmen Blutes, das den zuckenden Leibern entströmte, entsprang! Oh, frei sein! Den feuchten Hauch des grauen Morgens sich um die Nase wehen lassen! Heimwärtsziehen zum gewohnten oder gewählten Bett in der schattigsten, tiefsten Dickung, während die Sonne heraufsteigt und alle die vierbeinigen, alle die gefiederten Spießbürger des Waldes erwachen. Sich niedertun, auf betautem Laub, und schlafen, indessen es wärmer wird! Oh, freies, ungehemmtes Dasein ... nie wieder? Nie wieder?!

Das alles war im nächtlichen Geheul der jungen Talla.

Sie sah den Wald nie wieder. Ja selbst der Geruch des Waldes, der, manchmal vom Wind auf den Gutshof getragen, lockend um Tallas sehnsüchtig schnuppernde Nase wehte, selbst dieser Geruch erreichte sie niemals wieder. Er hatte doch Gewißheit gebracht, daß der Wald noch vorhanden sei, Hoffnung hatte er erregt, das grüne Dickicht einst zu gewinnen. Nun war auch das zu Ende.

Eines Tages schaffte man Talla in ihrem eisernen Gefängnis auf einen Wagen und holperte damit die lange Landstraße hin bis zur Bahn.

Talla mußte fort. Je wärmer es wurde, desto mehr fiel ihre Ausdünstung den Menschen auf dem Gut zur Last. Der hohe Herr wollte nicht erlauben, daß man die junge Wölfin töte. Er schenkte sie dem Zoologischen Garten und jetzt fuhr Talla in die Großstadt.

Sie sah nichts von der Landstraße, nichts von der Eisenbahn, in deren Waggon man sie verlud. Ihr Eisenkäfig wurde mit Brettern zugeschlagen, so daß schwarze Finsternis sie umgab.

Talla spürte nur das Schütteln und Rütteln des fahrenden Zuges, das ihr fremd war. Sie hörte nur das Rollen der Räder, das Ächzen und Pfeifen der Lokomotive, das sie erschreckte, atmete nur den Kohlen- und Ölgasdampf, davon sie bis zu Übelkeiten betäubt wurde.

Zwei Tage und zwei Nächte lag sie, in sich verkauert, und fieberte vor ungeheurer, unheimlicher Angst. Zum erstenmal war sie verschüchtert. Sie litt Folterqualen. Sie fühlte sich schwach und schwächer werden. Denn sie erhielt weder Trunk noch Speise. Der Durst brannte ihren Schlund, ihre Lippen zu trockener Glut. Der Hunger zerriß ihren Magen. Und jene tiefe, unendlich ergebene Geduld überkam sie, die alle wilden Tiere vor dem Tod oder in der Gefangenschaft sänftigt.

Schließlich hörte das Gleiten, Rütteln und Schütteln auf. Ihr Käfig wurde gehoben, fiel dann wieder krachend nieder. Sie glaubte sterben zu müssen, bebte, während sie nun nochmals sachter dahinrollte, von fremden, unerklärlichen Geräuschen umdröhnt. Sie war jetzt auf der Fahrt vom Bahnhof, durch die Straßen der Riesenstadt, aber sie sah auch davon nichts.

Der Wagen, der sie in den Zoologischen Garten brachte, hielt. Noch einmal erlebte Talla das Entsetzliche, mit ihrem Kasten tief zu versinken und hart auf den Boden zu stoßen.

Dann riß man die Bretter vom Gitterwerk weg. Es wurde morgenhell. Talla sah den Sonnenschein, sah grüne Bäume und atmete eine Luft, die ihr jetzt frisch und erquickend schien.

Sie rührte sich nicht, wagte es nicht, sich zu erheben. Der Zustand benebelter, dumpfer Trunkenheit wich nur langsam von ihr. Doch man ließ ihr nicht Zeit. Eiserne Stangen stießen nach ihr, scheuchten sie empor und trieben sie aus ihrem engen Gefängnis in den großen, lichten Wolfskäfig.

Hinter ihr rasselte das Gitter zu.

Da stand Talla nun. Mit eingeklemmter Rute, mit zitternden, schwanken Gelenken der Beine, mit tiefgesenktem Haupt. Ihre Augen blinzelten wie nach langem Schlaf und plötzlichem Gewecktwerden. Ihre trockene, schmerzende Nase sog eine merkwürdig gemischte Witterung ein, an der sie völlig verwirrt wurde.

Der zahme Wolf Hallo, der hier wohnte, kam neugierig heran. Allein der Anblick Tallas, ihr sonderbares, drohendes Knurren, ihr elender Zustand machten Hallo stutzig. Er blieb einige Schritte entfernt stehen und wedelte nur ein wenig. Zur Begrüßung.

Talla achtete seiner gar nicht.

Nach einer Weile schleppte sie sich, einknickend, zur Wasserschüssel und trank sie gierig leer. Dann verschlang sie heißhungrig ein paar Bissen, schüttelte sich, ließ sich zur Erde fallen, lag auf der Seite, flach hingestreckt, und versank augenblicklich in tiefen Schlaf.

Als sie erwachte, war der Tag dahin, die Nacht, und ein neuer Morgen dämmerte.

Talla trank wieder, verzehrte den Rest ihrer Mahlzeit, den Hallo nicht angerührt hatte. Er saß in der offenen Schlafkammer des Käfigs, auf seinen Keulen, betrachtete Talla freudig und wedelte leise: »Guten Morgen – du bist willkommen.«

Talla antwortete nicht.

Er versuchte, sich ihr zu nähern.

Sie hob knurrend die Lefzen: »Laß mich jetzt in Ruhe!«

Nun sah sie sich um. Wo war sie? Wo gab es hier eine Möglichkeit ins Freie zu gelangen? Warum war sie hier? Wozu? Für wie lange? Was wird sich ereignen?

Sie strich den Halbkreis, den das Gitter bildete, entlang.

Freilich, hier war mehr Raum, sich zu bewegen. Ihre Glieder, dessen seit Monaten ungewohnt, waren steif und schmerzten ein wenig. Aber die Bewegung tat wohl. Ja. Nur, hier innen gab es keinen Baum, kein Gebüsch, keinen Unterschlupf, keine Möglichkeit allein zu sein.

Oh, das Alleinsein! Das ungehinderte Alleinsein! Das ungestörte Lauern und Suchen und Fangen! Die lebendige Beute, die entfliehen will! Talla hatte nichts von der einstigen Seligkeit vergessen.

Sie sauste am Gitter hin. Den Halbkreis durchmaß sie in immer wilder werdender Eile wohl ein dutzendmal. Immer ganz dicht am Gitter. Sie biß in die dicken Eisenstäbe, sie scharrte und kratzte am Boden, der nicht nachgab, der von ihren scharfen Krallen keine Narbe empfing. Beton.

Sie setzte sich nieder, mit keuchendem Atem, mit weit heraushängender Zunge.

Alles schien sich zu drehen, ihr wurde schwindlig zu Mute. Sie wollte überlegen.

War ihr Unglück größer geworden, milder?

Verzweifelte Wut loderte in ihr auf. Nein! Nein!! Nein!!!

Mit kurzem, heiser weinendem Bellen rief sie das in die Luft.

Da sprach sie der junge Wolf an.

»Alles vergebens, meine Liebe, alles, alles vergebens!«

Talla fuhr herum. »Was sagst du? Was?«

Hallo kam zutraulich näher: »Ich hab's versucht,« redete er weiter, »ich hab' mich viele Tage, viele Nächte geplagt. Vergebens. Man kann nicht entwischen. Unmöglich!« Er schüttete sein Herz aus. Er war froh, daß er es endlich konnte. »Man muß Geduld haben und warten, meine Beste. Das ist es. Vielleicht später ... vielleicht, daß irgend eine Gelegenheit sich findet ... irgend eine ... vielleicht ...« Er fuhr nach einer Pause in anderem Ton fort: »Aber, wer weiß ... wer weiß ... wenn wir hinausgelangen ... wer weiß, was draußen mit uns geschieht ... Kennst du das Draußen? Nicht? Oh, ich kenne es ... und ich sage, es ist noch ärger als hier ...«

Die Wölfin stand vollends auf und ging zu Hallo.

Der wedelte liebenswürdig und kam ihr entgegen: »Draußen beginnen erst die Gefahren ...«

Talla spitzte die Ohren. Ihr Schwanz begann leise zu schwingen. Gefahren, die lockten sie verführerisch. Hier innen war die Pein. Talla aber meinte die Gefahren im Wald. Und Hallo dachte an die Fährnisse der rätselhaft unbegreiflichen Menschenstadt.

»Wir sind zu weit weg,« sagte er, »viel zu weit weg! Wie soll man je wieder heimfinden ...?«

Jetzt war Talla ganz nahe bei ihm. Jetzt beschnupperte sie ihn. Nur ein paar kurze Sekunden. Es war wie ein scharfes Verhör.

Hallo stand, nichts ahnend, wedelte immer freudiger und sprach weiter.

Da fiel die Wölfin über ihn her.

Ihr Rückenfell gesträubt, ihre Lefzen in zornigen Falten erhoben, ihre Augen sprühend vor Wut.

»Elender!« kochte sie hervor. »Hund! Hund!«

Hallo hatte gegen die Wucht ihres Ansprunges keinen Widerstand. Bis zur Fassungslosigkeit verblüfft, stürzte er nieder und rollte am Boden.

»Wo willst du heimfinden?« hörte er Tallas Stimme über sich, die in Empörung flüsterte. »Wo? Du niedriger Knecht, du Verräter, du Schandfleck von einem Wolf!«

»Laß mich!« flehte Hallo. »Ich bitte, laß mich! Oh! Oh!«

Er schrie jämmerlich auf, denn Tallas Biß drang ihm in die Schulter. Ehe sie ihn ein zweites Mal packen konnte, weinte er: »Was hab' ich dir getan? Was? Ich versteh' dich nicht ...«

»Du verstehst mich nicht?« drohte Talla und schnappte nach ihm, der dem Zuschlagen ihrer mörderischen Zähne für diesmal durch eine rasche Bewegung entglitt. »Du verstehst mich nicht?«

»Nein, nein!« wimmerte Hallo. »Du hast mir weh getan ...«

»Kennst du den Wald, du Erbärmlicher?« raste Talla. Sie geriet außer sich: »Kennst du die Freiheit, du widerliche Fratze, die Freiheit? Eine Antwort oder ich erwürge dich – die Freiheit?«

»Nein ...« heulte Hallo, »nein ... wer ist das?«

Talla fuhr wieder auf ihn los und ergriff ihn am Genick. Hallo zuckte weg und ließ ein Büschel Haare in Tallas Rachen. Sie verfolgte ihn grimmig: »Er ist an dir zu spüren, Er, unser Feind, Er, unser Entsetzen und Grauen! Er, unser Peiniger. Er, mit dem es keinen Frieden gibt, weil Er keinen Frieden kennt und keinen Frieden will! Er, der uns den Wald raubt, der uns stört und vernichtet. Er, den wir hassen, den wir verachten, den wir fürchten ... Verstehst du mich jetzt?«

Hallo kroch ängstlich, vorsichtig, langsam ein Stückchen weiter fort. »Nein!« ächzte er.

Talla stand wieder über ihm: »Er, das spüre ich an dir – Er hat dich zum Hund gemacht, zum gemeinen Hund ...«

»Er ist gut!« Hallo erhob sich und rief begeistert: »Er ist groß und Er liebt mich!«

Aber als Talla ihn nun mit verdoppelter Wut ansprang, wischte er eilig in die enge Schlafkammer.

Die Wölfin blieb stehen.

»Hund!« knurrte sie. »Wage dich nicht heraus! Hörst du?«

»Ja!« zitterte Hallo.

»Du bist des Todes«, grollte sie. »Sowie du die Frechheit hast, nur in meine Nähe zu kommen, stirbst du! Ich bringe dich um!«

Hallo, in die tiefste Ecke der Schlafkammer verkrochen, lag geduckt am Boden, die Schnauze hinaus nach dem Halbkreis des Käfigs gerichtet. Aufmerksam beobachtete er die feindliche Gefährtin.

Noch jemand hatte diesen Auftritt beobachtet.

Vasta, die Maus.

Sie lebte in Freundschaft mit dem sanften Hallo.

Vom ersten Tag an, da man ihn hier hereingebracht hatte, war sie seine Vertraute, seine Trösterin. Sie liebte diesen guten, gemütvollen, spielfreudigen Gesellen, der milder und zarter mit jeglichem Wesen verfuhr, als selbst der kleinste Hund. Sie hielt sich gerne bei Hallo auf, der nie daran dachte, ihr etwas zuleid zu tun.

Freundlich sah er es immer mit an, wenn sie den kleinen Rest der Milch trank, den er übrig ließ, diesen winzigen Rest, der für sie hinreichte, um sie zu sättigen.

Nun war sie zu dieser Szene gekommen, hatte alles mitangehört, saß bekümmert da und betrachtete ihren mißhandelten Freund.

Endlich schlich sie ganz nahe zu ihm heran, saß neben seinem furchtsam zu Boden geduckten Haupt und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich sehe später wieder zu dir her.«

Hallo wagte kein Wort. Er blinzelte nur zustimmend.

Vasta, die Maus, lief fort. So wie sie es in diesem Käfig gewohnt war, lief sie arglos quer durch den Halbkreis.

Aber Talla hatte sie kaum gewahrt, als sie herzusprang und mit den Krallen der Vorderpfoten nach ihr schlug.

Nur ein weiter verzweifelter Sprung rettete Vastas Leben.

Sie spürte, wie der Atem Tallas sie heiß überhauchte. Sie war in der plötzlichen Todesgefahr vor Angst dem Irrsinn nahe, sie sauste dahin und entkam.

Draußen, in Sicherheit, mußte sie innehalten, mitten auf dem weißen Kies der Gartenwege. Das Herz klopfte ihr bis in die Augen. Sie war vor Schreck gelähmt und konnte sich lange nicht bewegen.


 << zurück weiter >>