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Elftes Kapitel
Feinde schließen Freundschaft

Der Schimpanse Peter fuhr auf seinem Zweirad durch den Garten. Elisa ging wie gewöhnlich nebenher.

Es war früh am Vormittag und nur ganz wenig Besuch hatte sich eingefunden. Wie immer um diese Zeit, schlenderten ein paar ältere Herren und Damen durch die Alleen, einige Studenten bummelten umher, hin und wieder ein Liebespaar, das für die Tiere im Käfig nur geringes Interesse zeigte und den blühenden Garten mehr als einen passenden Ort nahm, ungestört zu lustwandeln. In den weiten Rondeaus saßen Gouvernanten, Ammen, junge Mütter auf den Bänken, hatten den Kinderwagen vor sich und hüteten den Schlummer ihrer Babies, die von der milden Sonne beschienen, pfirsichfarbene Wangen bekamen. Um den Sandhaufen, in der Mitte dieser Plätze, spielten die Kleinen, die noch nicht zur Schule gingen und den schönen Tag im Freien verbrachten. Das sanfte Gesumme, das aus dem Plaudern der Frauen, aus den hellen Kinderstimmen sich mengte, wurde manchmal vom stöhnenden Brüllen eines Raubtiers, vom Krächzen eines Vogels, vom Kreischen der Affen zerrissen. Niemand achtete dessen.

Jetzt flatterte das leise plätschernde Stimmengewirr in erstauntem, freudigem Jauchzen auf.

Denn Peter kam vorbeigefahren.

Die Kleinen sprangen, liefen herzu, rannten ein kurzes Stück mit Peter, der leutselig und erfolgsüchtig seine Maschine lenkte. Ein paar Spaziergänger blieben stehen, schauten amüsiert dem kleinen, lärmenden Schwarm nach, an dessen Spitze der grotesk exotische Radfahrer seine Späße trieb. Dann gaben die Kinder es auf, ihn zu begleiten.

Peter war wieder mit Elisa allein.

Er saß auf einem niedrigen Zweirad, wie man es für kleine Knaben anfertigt. Und er fuhr ganz langsam, weil er gar bald zu wissen schien, daß Elisa nur mit einem gewissen Tempo Schritt halten konnte.

Der feine Kies knirschte leise unter dem sacht hinrollenden Gummi.

Manchmal aber trat Peter fest in die Pedale und dann schoß er mit seinem Rad pfeilschnell davon.

Elisa wurde dadurch niemals beunruhigt. Sie ging weiter, ohne Eile, ohne ihr Tempo zu erhöhen. Sie kannte die zarte Rücksicht, die Peter nahm.

Richtig, nach kurzem Spurt vollzog Peter leicht und elegant einen scharfen Bogen, kehrte zurück, wendete wieder, beinahe graziös und jedenfalls sehr kunstvoll, und war an Elisas Seite.

Er sah sie aus zärtlich überlegsamen Augen, in denen immer irgend ein schwerer Kummer wohnte, gutmütig an. Er machte das bedenkliche wie von tausend Erfahrungen, Sorgen und Geheimnissen zerfurchte Gesicht eines uralten Mannes, spitzte und verzog die häßlich vorgewölbten Lippen kindlich, verlangend und heischte Anerkennung.

siehe Bildunterschrift

Er sah sie aus zärtlich überlegsamen Augen, in denen immer irgend ein schwerer Kummer wohnte, gutmütig an

Elisa flüsterte: »Ja ... brav ... bist ein braver Peter ...«

Da nahm er die eine Hand von der Lenkstange, legte sie Elisa auf die Schulter und glitt neben ihr einher, mit einer Miene vollkommener Zufriedenheit, als wollte er sagen: alles in Ordnung.

Diesmal war es freilich nicht die gewohnte Stunde der Radfahrt. Gewöhnlich zog Peter des Nachmittags, wenn viele Leute im Garten sich angesammelt hatten, auf seinem Zweirad durch die Alleen. Er trug da immer irgend eine phantastische Uniform und ein ganzer Troß von Kindern und Erwachsenen folgte ihm jedesmal überall hin. Lachend, johlend, schreiend. Diese Prozessionen gehörten zu den großen Triumphen Peters. Da war er der Erfolg, war die Sensation des ganzen Gartens.

Wie er so umherfuhr, gefolgt und umschwirrt von einer ungeheuren Suite, die lärmte, schrie und allerlei Späße, allen möglichen Unfug versuchte, war er immer der Einzige, der schweigsam gute, sanfte Manieren, der Einzige, der gefaßte Würde und noble Haltung zeigte.

siehe Bildunterschrift

Gefaßte Würde und noble Haltung

Nur das scheinbar alte, verkniffene und zugleich aufrichtig offene Antlitz strahlte vor Freude und glänzte vor befriedigter Eitelkeit.

Heute hatte Peter schon am Vormittag sein Zweirad ergriffen und hatte mit der ganzen stürmischen, eigensinnigen Dringlichkeit, deren er gelegentlich fähig war, die Spazierfahrt begehrt. Sonst kannte er genau die Zeit, um die er in den Garten hinaus durfte. Jetzt aber hatte er plötzlich danach begehrt. Es war eine seiner Launen und Elisa hatte kein Hindernis gefunden, ihm nachzugeben. Der Tag war himmelblau, die Luft ohne Bewegtheit, die Sonne warm, fast heiß, das Gras, das Laub der Bäume, die Blumen in den Beeten dufteten stark unter den Glitzerperlen des Sprengwassers. Peter durfte seinen Willen haben.

Nun löste er wieder seinen Arm von Elisas Schulter, die Hände, die zwei hinteren Hände griffen fester um die Pedale und Peter sauste davon.

Aber da – er hielt an, er sprang zu Boden – ließ das Rad achtlos liegen und eilte zu einem Gitter hin.

Elisa ging nun doch rascher.

Es hatte sich begeben, daß dort, in dem Gehege der Hirsch den radfahrenden Affen erblickte und alarmiert zu dem Drahtzaun herbeigesprungen kam.

Ein großer, roter Hirsch, der ein mächtiges dunkelbraunes Geweih mit weißblanken Enden trug.

Peter sah den gefährlich anspringenden Hirsch. Dieser nie gekannte Anblick zwang ihn vom Rad, ließ ihn alles vergessen. Seine Neugier geriet in Brand. Er lief blitzschnell an das Gitter.

Auch der Hirsch war neugierig und er war außerdem noch mißtrauisch.

Als nun Peter mit einer Hand durch das Drahtnetz langte, um den Fremdling zu streicheln oder anzufassen, neigte der Hirsch mit einem schnellen Ruck das Haupt und der harte Schlag einer seiner Stangen traf Peter auf den Arm.

Peter zog rasch die Hand zurück.

Das tat weh!

Eine Sekunde war er wie betäubt. Vor Schmerz und vor Verblüffung. Denn schon stieg wilder Grimm in ihm auf.

Er hockte nieder, stieß mit den Knöcheln der Finger gegen die Erde und ließ seinen Zornruf vernehmen: »Oeh! Oeh!«

Dann griff er in die Maschen des Gitters, war im Nu daran hochgeklettert, wollte sich hinüberschwingen und an dem Feind Rache nehmen.

Da kam Elisa herzu, erwischte ihn an seinem Bein, hielt ihn fest und sprach ihm zu, daß er herunterkomme.

Peter zappelte ein bißchen, zankte mit Elisa: »Oeh! Oeh!«

Aber Elisa ließ nicht locker.

Da gab sich Peter drein und stand wieder neben ihr auf der Erde.

Aber er schimpfte, er schimpfte gottverboten und er zeigte, wie sehr er den Hirschen haßte, verdeutlichte, wie abscheulich er ihn fand und wie heftig seine Sehnsucht war, ihn ganz zu kleinen Stücken zu zerreißen.

Der Hirsch stand drohend und still jenseits dicht am Gitter. Majestätisch stand er und wiegte hocherhobenen Hauptes seine breit ausladende Krone.

Elisa sah bald ihn, bald Peter an. Sie lachte.

Lachend beugte sie sich zu dem kleinen schwarzen Kerl nieder, der keine Uniform trug und sein schwarzes, dünnhaariges Fell zeigte. »Aber ... Peter ... aber.« Sie lächelte ihn an und fuhr ihm besänftigend über Stirn, Kopf und Genick. Sie kraute ihn und Peter wurde langsam ruhiger.

Elisa fuhr in die Tasche ihres Kleiderrocks, holte ein paar Nüsse hervor und reichte die eine Peter: »Da ... knack' sie auf.«

Im Nu lag die zerbrochene Nuß wieder in ihrer Hand.

Sie nahm den Kern und hielt ihn dem Hirschen vor.

»Nimm ... so ... so ... ist's recht ...«

Der Hirsch blies mißtrauisch gegen die dargereichte Hand, zögerte eine Weile, blies wieder seinen lauen Atem über Elisas Hand. Sie lachte: »Na ... so nimm doch ... es ist gut ... wird dir schmecken ...«

Jetzt mummelten die weichen, feuchten Lippen des Hirschen die Nußkerne auf.

Dann schnellte er das Haupt in die Höhe. Seine sanften, großen Augen sprachen mit tiefem, einfachem Ausdruck: noch!

Elisa ließ von Peter eine zweite Nuß knacken. Er hatte mit aufmerksamer Gespanntheit zugeschaut. Elisa legte nun den Kern Peter auf die Hand. Der wollte damit zum Mund fahren. Doch Elisa hielt ihn beim Handgelenk.

»Sei nett, Peter, gib's dem Hirsch.«

Peter hatte Lust, den guten Bissen selbst zu schlucken, und er verspürte gar keine Lust, dem Gegner eine Freude zu bereiten.

Elisa lenkte seine Hand durch das Netz.

Zuerst schloß Peter die Finger zur Faust um die Nuß.

Der Hirsch sah beide Hände vor sich. Die Menschenhand und die Affenfaust. Er schnupperte daran, wollte mit seitlich geneigtem Haupt zuschlagen, doch er besann sich, schnupperte wieder und als nun sein seidenweicher, warmer Mund atmend über Peters Finger hinfährt, öffnet Peter, wie unter einer neuen Liebkosung, die Faust. Die Nuß lag, ein wenig zerdrückt, auf seinem bloßen Handteller und die zarten Lippen hoben sie davon weg.

Peter war begeistert.

Ganz kindhaft wurde sein Zorn zum Jubel, verwandelte sich seine Rachsucht in dankbare Liebe, weil der vermeintliche Feind eine Gabe angenommen hatte.

In dem stürmischen Eifer, in den er jetzt geraten war, riß Peter die nächsten paar Nüsse, die Elisa ihm reichte, ungestüm an sich, knackte sie auf und bot sie freudig dar.

Mit einer Zurückhaltung, die nur wenig von seiner Gier merken ließ, verfolgte der Hirsch jede Gebärde Peters und Elisas. Er stand majestätisch und beinahe hilflos schüchtern da, genäschig und immer noch mißtrauisch, hatte das Haupt mit einer leicht bornierten Würde erhoben, jede Sekunde zum Angriff oder zur Abwehr bereit, doch zugleich ebenso geneigt, die süßen Leckerbissen zu empfangen.

Noch dreimal hauchte sein warmer, blasender Atem über Peters Hand, noch dreimal verspürte Peter das angenehme Streicheln dieser sammetweichen Lippen wie eine Liebkosung, sah dabei noch dreimal in das sanfte dunkle Schimmern dieser herrlichen Augen.

Als er zuletzt seinen vorgewölbten Mund prächtig spitzte, um diese Lippen zu küssen, fuhr der Hirsch heftig mit dem Haupt empor, machte kehrt und trat ein paar Schritte in dem Gehege zurück. Seine Gebärde war stolze Abweisung und sagte: erledigt! Doch Peter in seinem Entzücken merkte nichts von Unfreundlichkeit. Jetzt traf er allerdings Anstalten, den Drahtzaun zu erklettern und sich hinüberzuschwingen. Nur, daß er jetzt innig wünschte, ganz nah bei dem neuen Freund zu weilen.

Elisa hinderte ihn: »Komm, Peter,« sprach sie, »komm! Sei brav! Genug für heute!«

Gehorsam nahm Peter das Fahrrad, sprang hinauf und während er losfuhr, winkte er mit der einen Hand dem lieben Kameraden zu. Ein kindisches, nachlässiges Winken schien das, wie immer auch jetzt, eine den Menschen abgelernte Gebärde, die dem Empfinden Peters nur sehr undeutlichen Ausdruck verlieh.

Der Hirsch hatte sich wieder herumgedreht, ging steifbeinig bis an die Ecke des Gitters und schaute dem Entschwindenden lange nach. Wer war das? In Begleitung eines menschlichen Wesens gekommen, mit einem Geruch, der nicht menschlich und auch sonst ganz fremd blieb. Ein Geschöpf, gefangen vielleicht, wie er selbst, und dennoch frei im Garten umherziehend. Wer war das?


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