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Achtzehntes Kapitel
Freigelassen!

»Hier war ich einmal, ... vor vielen Jahren ... Vater und Mutter haben mich hergeführt ... an einem Sonntag ...«

Der junge Mensch sagt das zu seiner Gefährtin, während sie beide aus der Papageienallee zu dem Rasenparterre und den blühenden Teppichbeeten kommen. Das Mädchen nickt bloß und schweigt. Wie sie an das Denkmal des verstorbenen Schimpansen gelangen, faßt der junge Mensch den Arm der Begleiterin und ruft: »Halt ... das ist neu!«

Die junge Person lacht: »Nein ... den Affen da kenn' ich schon lang.«

Sie bleiben stehen: »Ja ... du,« meint der junge Mensch, »du hast ihn schon gesehen, aber ich ...«

»Wieso du nicht?« fragt sie.

»Ich sage dir doch,« erwidert er ruhig, »ich war ein einziges Mal dahier ...«

»Nur ein einziges Mal?« staunt sie.

»Jawohl,« wiederholt er, »ein einziges Mal ... als kleiner Junge ... seither nie wieder.«

»Komisch«, murmelt sie.

Er ist ein blasser Mensch, kaum dreißig, hat ein breitknochiges Gesicht, darin sich Knabenhaftigkeit, Brutalität und Träumerei zu seltsam wechselndem Ausdruck mengen. Seine braunen Augen blicken manchmal zärtlich und sehnsüchtig mild, manchmal wieder brennen sie in aufsteigendem Unband, dann werden sie für Sekunden ganz klein und haben etwas von tückischer Geduld. Wenn er die Mütze abnimmt, sieht man, daß kurzgeschorenes, schwarzes Haar eine nicht allzuhohe Stirne dicht umwächst. Seine Kleidung ist ärmlich, aber sauber und sogar ein wenig kokett. Er macht den Eindruck: Fabriksarbeiter am Sonntag.

Sie trägt keinen Hut und ihr kurzes, sehr gewelltes, sehr üppiges Blondhaar umflattert ein schmales, hübsches Gesicht, darin der rotgeschminkte Mund wie ein stummer, greller Aufschrei wirkt. Sonst hat sie keine Schminke nötig. Ihre frischen, von natürlicher, gesunder Jugend gefärbten Wangen hindern, daß sie Rouge verwendet. Sie hat eine kurze, reizvoll muntere Stupsnase und fröhliche, graue Augen. Sie trägt einen schottisch karrierten Seidenjumper und einen dunkelblauen Rock, der ihr knapp übers Knie reicht. Diese Kleidung läßt ihren ganzen Körper, indem sie ihn scheinbar verhüllt, doch ganz deutlich sichtbar werden, ihren hohen, runden Hals, den straffen Leib der Zwanzigjährigen, die festgeformten schlanken Beine und die schmalen Gelenke. Es ist etwas Lässiges, Losgebundenes an ihr, das keine Scheu, aber sonst alles andere kennt; an ihrem Gang, an ihren Gebärden, auch an ihrem Antlitz. Da wohnt in ihren heiteren Mienen jene Sicherheit des hübschen jungen Mädchens, das seiner Macht bewußt ist. Aber da findet sich auch die Spur von Güte und von starken, mütterlichen Empfindungen.

Er liest die Inschrift des Denkmals: »Dem Schimpansen Peter.« Folgen die Jahreszahlen. »Da haben sie dem armen Kerl ein Denkmal errichtet,« meint er nachdenklich, »aber woran ist er gestorben? Das steht nicht da?«

»Na, du weißt doch, Max,« sagt das Mädchen, »die Affen im Zoo sterben doch alle an Lungensucht.«

»Oder an Gefangenschaft,« fügt er bitter hinzu, »was ja dasselbe ist.« Er hat ihren Arm nicht losgelassen. »Komm', Mieze,« knurrt er und zieht sie fort, »ein Affendenkmal, ... möcht' wissen, was für einen Sinn das hat. Sie sollen ein Denkmal der Affenschande errichten, der großen Affenschande ... das wär' gescheiter.«

Mieze lächelt ihm ein bißchen zu: »Aber Max, sei friedlich, ja?«

Seine Augen kriegen ein weiches, verträumtes Schimmern. »Du sagst, ›komisch‹, warum denn?« Jetzt beantwortet er ihren Ausruf von vorhin. »Gar nicht komisch ist das ... ich war halt nur ein einziges Mal da herin. Du weißt ja auch, wie's bei armen Leuten ist. Damals, ich war zehn oder elf Jahre alt, haben die Eltern eben ein bißchen Geld gehabt und wahrscheinlich deshalb waren sie gut miteinand' und waren auch zu mir gut. Na, so sind wir das einemal zusammen her.«

»Aber Max,« beruhigt ihn Mieze und preßt seine Hand, die ihren Oberarm hielt, damit an ihren Leib, »aber Max, ich hab' mir doch nichts dabei gedacht.«

Er achtet nicht darauf und spricht weiter. »Wahrscheinlich wär' ich gar nie hergekommen. Die Mutter ist ein paar Wochen nachher krank geworden und im Herbst war sie tot. Ich hab' bald in die Lehr' müssen und der Vater ...«, er schwieg eine Weile, in seinen halbgeschlossenen Augen glomm ein kleines Feuerchen. Dann sagte er: »Na, und später, wenn man schon in die Arbeit geht, denkt man nicht an so Sachen.« Er deutete mit einer großen Gebärde ringsumher.

Sie näherten sich den Käfigen, gingen im Strom der anderen Besucher, als Max stehen blieb. »Ah,« rief er leise, »aah, die Bäume, das grüne, freie Laub ... und der freie Himmel drüber ... aah ... das tut gut, das tut wohl ... so was braucht der Mensch ...«

Er schaute zu den Wipfeln, zum blauen Himmel und zu den weißgoldenen Wolken empor, die oben schwebten, und sein Antlitz wurde ganz unschuldig knabenhaft. »Schon die Blumen, Mieze,« flüsterte er nah bei ihr, »schon die Blumen in den Beeten ... wär' das dumme Affendenkmal nicht gewesen ...«

»Bist selber ein Aff'«, scherzte Mieze.

»Nein,« widersprach er, »du kannst dir das nicht vorstellen,« er unterbrach sich, »Gott sei Dank, du hast keine Ahnung! Aber wenn man das zwei Jahr' nicht gesehen, zwei Jahr' nicht gehabt, wenn man's beinahe schon vergessen hat, wie schön es auf dieser Welt ist ...«

»Also, die Bäum' und die Blumen,« lachte Mieze, »und ich bin der Niemand!« Sie schrie auf: »Auweh –« Er hatte seine Finger leidenschaftlich in ihren Arm gegraben. »Laß los, Max! Bist' denn ganz verdreht?«

Er ließ los. Aber er war wirklich ganz verdreht, er befand sich wie in einem Rausch.

Plötzlich stockte sein Schritt, er schien völlig ernüchtert, wurde ein ganz anderer. Mit jäh erbleichten Wangen und umdüsterten Mienen drängte er Mieze rasch in einen Seitenpfad.

»Was ist denn?« fragte sie erschrocken. Er antwortete nicht. »Was ist denn?« fragte sie noch einmal und erregter. Er schwieg lange. Sie wagte kein Wort mehr, sah nur von der Seite, wie seine Augen schmal und tückisch leidend blickten. Dann, als er sich gefaßt hatte, als sein kreideweißes Antlitz wieder die gewöhnliche Blässe zeigte, sagte er in wegwerfendem Ton: »Da war einer, den ich nicht treffen will ... einer von drin ...«

Sie verstand ihn und sprach nicht.

Nach einer Pause fuhr er fort: »Der ist drei Wochen vor mir herausgelassen worden, der Hund, der elende!«

»Was geht er dich an?« meinte hochmütig Mieze.

»Gar nix!« brauste Max auf. »Deswegen mag ich ihn nicht treffen, diesen schäbigen Geldschrankknacker.« Er wurde zornig. »Der Kerl sagt, ich find' keine Arbeit mehr! Warum denn? Weil mir das passiert ist? Kann' ich was dafür? Sag' selber, bin ich deswegen ein Verbrecher?«

»Du warst in der Notwehr«, sagte Mieze ernst.

»Na also,« schäumte Max, »na also. Hätt' ich mein Messer nicht gehabt, hätt' mich der Toni zum Krüppel g'schlagen oder umgebracht. Der ist doch ein Wilder. Mir tut's ja leid, daß es so arg war, aber besser er, als ich.«

Mieze faßte seine Hand. »Du warst jetzt zwei Jahr' selber beinah' hin«, sagte sie traurig.

»Na, siehst du!« Max war in heller Entrüstung. »Keinem von da drin will ich begegnen hier heraußen! Keinem! Diese Gauner! Sie möchten einen schön eintunken! Und der Hund, dem ich jetzt ausgewichen bin, der möcht' immer mit mir arbeiten. Ha! Arbeiten nennt er das!«

Mieze beschwichtigte ihn: »Sei gut, mein Lieber, denk' nicht dran! Sei froh, daß es überstanden ist!«

»Ich bin froh!« rief er beinahe jauchzend dazwischen.

»Wir sind wieder beisammen«, lachte Mieze.

Max sah sie an, sagte nichts und lachte glücklich.

Sie gingen weiter, kamen zum Gehege der Giraffen und des Elefanten.

»Solche Viecher hab' ich nicht gesehen, seit ich ein kleiner Junge war«, meinte er.

»Mir ist es immer, ich seh' lebendig gewordene Märchen,« sagte Mieze, »na ja, das ist doch nichts Wirkliches.«

»Ah, was denn!« erwiderte Max. »Die sind genau so wirklich, wie du und ich ...«

Sie standen eine Weile in stummem Betrachten, wandten sich weg und gingen weiter.

»Weil du vom Märchen was gesagt hast,« fing er an, »daß ich mit meinen Eltern hier herin gegangen bin, einen ganzen Tag, das war wirklich und wahrhaftig, aber jetzt ist es mir wie ein Märchen. Ich versuche an die Mutter, an den Vater zu denken – unmöglich! Keinen von ihnen seh' ich. Gar nichts hab' ich in Erinnerung, gar nichts! Und war doch grad' so ein Tag wie heute.«

»Schau' – dort,« rief Mieze, »das Affenhaus!«

Sie eilte voran und er folgte ihr. Dann standen sie lange eingekeilt in der Menge und schauten dem Tumult der Meerkatzen, Paviane und Lemuren zu.

Mieze lachte einige Male laut heraus, bei dem Turnen, Springen, Verfolgungen, bei den listigen Anschlägen, den Mißhandlungen und Tapferkeiten der Kleinen, bei ihrem Quietschen, Bellen und eindrucksvollen Knurren.

Max verzog keine Miene.

Als sie weggingen, bemerkte er: »Das ist wie überall in der Welt. Die Starken verprügeln die Schwachen und nehmen ihnen den Bissen vom Mund weg!« Eine sachte Ironie war in seinem Ton, als er sagte: »Man könnt' faktisch glauben, daß man eine Fürsorgeanstalt vor sich hat.«

Mieze nahm den Hohn auf und ergänzte: »Aber es ist nur ein anderes Affenhaus!«

Sie empfanden beide eine Genugtuung, als hätten sie jetzt der Welt etwas heimgezahlt. Max und Mieze schauten einander in die Augen: ihre Hände fanden sich, sie wurden ganz heiter. Mieze sah, wie die Leute zu den Raubtierkäfigen liefen. »Dort ... dort ist was los!« rief sie. »Wir müssen hin!« Und sie begann zu rennen. Max folgte ihr ohne Besinnen. Er freute sich, wie sie anmutig vor ihm hersprang, wie die Unbefangenheit ihrer Bewegungen noch das kleine Schulmädel erkennen ließ, das Mieze einst, vor noch nicht allzu langer Zeit, gewesen. In seinem Laufschritt war ein Zögern; sein Körper, seine Glieder schienen noch nicht ganz frei, schienen noch Angst, Zuchthausdisziplin und Hemmung zu haben, und das eigenwillige Entschließen, das Laufenwollen nach Belieben saß noch nicht in ihren Nerven. Mieze blieb stehen und drehte sich nach ihm um: »Eil' dich doch!« mahnte sie. »Schnell! Schnell!«

Sie kamen gerade dazu, als Barri und Burri ihrer Mutter entführt wurden. Hellas vergeblicher Widerstand war vorbei. Die zwei jungen Löwen tapsten, vom Wärter getrieben, von der angeregten Menge begleitet, daher. Max und Mieze ließen den Zug passieren. Barri und Burri stolperten, kugelten, wollten zurück, wehrten sich und mußten unter dem Gelächter der Leute doch den Weg gehen, den der Wärter befahl. Max war nun in munterer, nur leicht angebitterter Laune. Er wies mit der Hand nach den beiden Löwenjungen und sagte scherzhaft: »Proletarische Kindheit ...«

Mieze widersprach: »Na ... weißt du? ... Löwen ... das sind doch die Könige der Tiere!«

»Ah was, Könige,« lächelte Max, »hier sind sie Proleten.«

»Vielleicht,« meinte Mieze, »nur wissen sie nix davon!«

»Schon möglich,« gab Max zu, »schau' sie doch an, sie wissen nix, freilich ... aber sind sie glücklich? Keine Spur! Glückliche Kinder seh'n anders aus. Und eines Tages, da bricht's in ihnen los! Gegen den Zwang! Gegen das Unrecht! Könige hin, Könige her, da gibt's dann keinen Spaß, wenn im Proleten das Raubtier erwacht.« Er hatte jetzt den aufreizenden Schwung eines Versammlungsredners.

In ihrem Käfig brüllte Hella. Ein tiefes Ächzen, als zerreiße etwas in ihrer Brust.

Mieze drehte sich zu ihr und Max trat neben Mieze. Sie waren die Einzigen, die jetzt vor dem Käfig standen.

Aus Hellas schmerzverzogenem Antlitz brach wildes Stöhnen. Ihr weit geöffneter Rachen ließ die wehrhaft gefährlichen Zähne hervorblinken und stieß den erschütternd heißen Urlaut der Verzweiflung aus.

Nebenan in den Käfigen, rechts wie links, dann weiter in der Nachbarschaft, stimmten die anderen Raubtiere empört der Mutterklage Hellas zu. Der alte Zirkuslöwe donnerte, daß die Luft zu beben schien. Mibbel grollte aus bedrängtem Herzen auf, daß es hell dröhnte. Die Tiger brüllten furchterregend, gierig und gebieterisch, und von den Panthern her kamen scharfe, schreiende und jaulende Töne.

Mieze, davon ein wenig angegriffen, ein wenig auch gelangweilt, zupfte Max: »Geh'n wir.«

Er hörte sie gar nicht und blieb. Er war ganz benommen, wurde wieder kreideweiß, so stark, daß auch aus seinen Lippen die Farbe wich. Sein Kinn bebte. Er stand da und lauschte der unbändigen Sprache dieser Aufruhrstimmen. Er war ergriffen von der Ohnmacht, mit der dieser elementare Aufruhr hier unbeachtet und ungehört verhallte.

»Zuchthaus ...« flüsterte er, »... Zuchthaus ... wenn einer tobt, fangen sie alle zu toben an ... und niemand von den Wärtern kümmert sich drum.«

Er flüsterte in das Gebrüll, das ihn umtoste, und wurde mehr und mehr davon erregt. »Niemand hört das Toben, keiner von den gerechten Richtern, die da Menschen gefangen halten, wie Raubtiere hinter Gittern!«

Mieze schwieg.

Leidenschaftlich rief Max: »Wissen die denn, was sie tun? Haben sie denn eine Ahnung, wie viel Seelen sie morden, wie viel Gutes sie vernichten?« Sein Atem schnappte: »Strafen und Bessern! Daß ich nicht lach'! Strafen und Bessern, das geht nicht zusammen! Geht nicht! So nicht und jetzt nicht!«

Er wandte sich zu Mieze, scheinbar ruhig und vernünftig, aber ihm war doch anzumerken, wie er außer sich geriet: »Ich sag' dir ... einmal sollten ein paar von den großen Herren sich selbst hinter Schloß und Riegel setzen ... nur ein einziges Mal. Weg von der Welt, geschurigelt, verachtet, willenlos, wehrlos ... nur einmal sollten sie's an sich selbst versuchen, nur für einen Monat oder zwei, dort hocken, wo man aufhört, ein Mensch zu sein – vielleicht würden sie dann begreifen, wie sie mit ihren Zuchthäusern mehr Unheil anrichten als alle Verbrecher zusammen! Vielleicht ...«

»Mein Gott,« unterbrach ihn Mieze, »wie du dich aufregst! Komm', geh'n wir. Wären wir doch lieber gar nicht hereingekommen ...«

»Ja, geh'n wir«, antwortete Max, ein klein wenig ruhiger. »Du hast recht. Ich werd' so nervös da hier. Aber es ist ganz gut, daß wir da waren. Ganz gut! Die da,« er wies mit einer weiten Gebärde auf die Käfige ringsum, »die da, das sind, möcht' ich sagen, meine Leidensgefährten ... jawohl! Ich habe Achtung vor ihnen, ich habe Mitleid mit ihnen ... denn ich ...,« er flüsterte, »ich hab' mich gegen einen Raufbold zur Wehr gesetzt ... aber die, die haben gar nichts getan ... gar nichts ...«

Er stand still, dann sprach er: »Gut war's, daß wir hereingegangen sind. Hier ist der Ort, wo ein armer Teufel das Unrecht und die Grausamkeit der Welt deutlich vor sich hat. Hier sieht man, wie die Menschen gleichgültig, wie sie stumpf und teilnahmslos an den Qualen und Martern unschuldiger Geschöpfe vorbeispazieren, wie ihnen das sogar noch eine Unterhaltung ist. Und ... weißt du, Mieze, das tröstet mich.«

Mieze ergriff seinen Arm und sie schritten rasch fort.

Das Ächzen Hellas, das dumpfe Dröhnen Brossos klang hinter ihnen her.

Max drehte sich um: »Ja! Brüllt nur ... Ihr habt recht!« Und mit einem winzigen Lächeln fügte er hinzu: »Aber was hilft das Rechthaben, was hilft alles Gebrüll, wenn niemand darauf achtet ...«


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