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Neuntes Kapitel
Löwen im Autobus, im Ritzhotel und in der Tanzbar

»Denn er ist in flagranter Gefahr gewesen,« begann er die Geschichte Brossos, »noch nie war er so mitten in äußerster Lebensgefahr.

Der Zirkus kam in Bitterstadt an und sollte am nächsten Tag seine Vorstellungen beginnen.

Ein großer Teil der Tiere hatte schon feierlich Einzug gehalten. Es ist die einfachste und billigste Art, die Tiere von der Bahn in das Zirkusgebäude zu transportieren. Na, und das bewirkt zugleich eine kostenlose Propaganda.

Sie kennen ja diese Prozessionen, nicht wahr?

Da werden die Rennpferde geführt und geritten, die Arbeitspferde, die Esel und Mulis. Dann die Kamele, dann die Elefantenherde, vielleicht noch ein paar gutmütige, matte Bären, mit Nasenringen und an der Kette. Dann der Affenwagen und sonst das harmlose Zeug.

Die Löwen, die Tiger, Panther und was es von wirklich wilden Tieren gibt, die überführt man des Nachts vom Bahnhof in den Zirkus.

Sie wissen ja, diese Tiere reisen in käfigartigen Kisten. Es ist nicht sehr bequem, aber es gibt noch kein besseres Schlafwagensystem für solche Herrschaften.

Zuerst wird diese Gesellschaft in ihren engen Kupees ganz toll vor Wut. Später freilich, nach dem tage- und nächtelangen Gerüttel der Fahrt, sind sie erschöpft, kleinlaut und ganz willenlos. Erinnern Sie sich nur, wie solche Tiere nach einer längeren Reise bei uns ankommen; wie sanft und gebrochen sie vor Erschöpfung sind.

Man hat also die Löwenkiste auf ein Lastauto verladen und vom Güterbahnhof nach dem Zirkus bringen wollen. Der Lenker des Autos soll ein vorwitziger junger Bursche gewesen sein. So heißt es wenigstens. Ich kann das nicht überprüfen, aber mag er noch so dumm und dreist gefahren sein, die ganze Schuld trifft ihn keineswegs, wie die Zirkusleute gerne glauben machen. Denn das muß die Käfigkiste alles aushalten. Alles! Das ist doch das erste, was man von solch einem Reisekäfig verlangt.

Genug, der Autolenker schlug ein Blitztempo ein. Vielleicht aus Gewohnheit, aber vielleicht waren ihm seine Passagiere unheimlich. Auf dem Weg durch die Stadt, wo die Straßen eng und krumm sind, biegt er zu scharf und zu kurz um eine Ecke.

Der Wagen hopst dabei über den Rand des Bürgersteiges.

Rrrumpum! saust die Käfigkiste hinunter aufs Pflaster.

Und: krach! Ein Brett klafft zersplittert weg.

Im Nu kugeln drei Löwen auf der Straße.

Frei!

Oh, ich seh' sie vor mir, als wäre ich mit dabei gewesen.«

Der Direktor seufzt.

»Schade, daß ich nicht dabei war. Die Sache hätte ein anderes Ende genommen!

Denken Sie, eine nächtliche Großstadtstraße. Von Bogenlampen erhellt. Fast menschenleer. Und mitten auf dem Fahrdamm drei Löwen ... die sich wälzen, dann aufstehen, verdutzt, erschreckt und ratlos umhergucken.

Wie Fremde, die nicht wissen, wohin sie sich wenden sollen.

Drei mächtige Löwen, die taumelnd, zaghaft ein paar Schritte wagen.

Glauben Sie mir, ich hätte sie ohne viel Mühe in den Käfig zurückgetrieben. Dazu gehört kein Heldenmut, nur ein wenig Geistesgegenwart.

So aber ... ein Schutzmann kommt herbeigelaufen. Der hat natürlich keine Erfahrung im Umgang mit Löwen. Er sieht die drei großen Tiere beisammen. Ein ganz ungewohnter Anblick. Zugegeben. Der Schutzmann ist maßlos paff, maßlos erschrocken und möchte gern tapfer sein.

Er zieht den Browning und feuert.

Was er sich gedacht hat, weiß Gott allein. Der Schutzmann selber weiß es gewiß nicht.

Er knallt also los, zwei-, dreimal. Selbstverständlich aus viel zu weiter Distanz. Er trifft damit gar nichts. Selbstverständlich.

Und selbstverständlich erreicht er damit eine Wirkung, die einer widerspenstigen Volksmenge gegenüber möglicherweise sehr erwünscht, bei den drei Löwen jedoch ganz verfehlt bleibt.

Sowie die Schüsse krachen, tun die Löwen dasselbe, was die Volksmenge tut, wenn geschossen wird. Auseinanderstreben und davonlaufen.

Damit war das Malheur fertig.

Jeder von den dreien nimmt eine andere Richtung. Jeder Löwe trägt das Entsetzen, das seine Erscheinung weckt, in eine andere Gegend. Die Panik verbreitet sich, verdreifacht, ja verzehnfacht sich durch die ganze Stadt.

Was wollen Sie, lieber Freund, dem Tier gegenüber sind die Menschen unglaublich dumm. Besonders dem wehrhaften Tier gegenüber. Wenn es sich aber um ein Tier handelt, das nach der Legende königlich, wild und reißend sein soll, da werden sie nicht bloß dumm, sondern erbärmlich feig.

Und merken Sie sich's: es gibt keine gefährlichere, keine grausamere Bestie in der Welt, als der dumme, feige Mensch.

Die armen drei Löwen! Die haben weit mehr Angst gehabt, als alle Leute in der Stadt zusammen. Die Leute wußten doch, wo ihnen ein schützendes Obdach winkt. Die Leute wurden nicht verfolgt und nicht angegriffen. Die bildeten sich das bloß ein.

Aber die drei Löwen, die waren entsetzt über ihre plötzliche Freiheit. Das Knallen der Schüsse jagt ihnen furchtbaren Schreck in die Glieder. In der steinernen Welt der Stadt wissen sie nicht Bescheid. Sie wissen überhaupt in der Welt nicht Bescheid, sind vollständig hilflos und haben nur ein einziges brennendes Verlangen nach sicherem Gewahrsam. Das kennen sie seit ihrer Geburt.

Wenn sie auch manchmal wild gegen ihren Dompteur losgehen, jetzt, in der ersten Stunde ihres ungewollten Befreitseins, ist ganz gewiß keine Spur von Angriffslust oder Wildheit in ihnen. Sie sind verwirrt, verschüchtert und kinderleicht zu bändigen. Natürlich später, wenn man sie hetzt und in Verzweiflung treibt, können sie bösartig werden. Das leugne ich keineswegs. Aber dazu ist es ja diesmal gar nicht gekommen. Man hat ihnen gar keine Zeit gelassen.

Die Unglücklichen bewiesen durch ihr Verhalten, wie sehr, wie inbrünstig sie einen Schlupfwinkel suchten, einen Käfig, um sich darin zu verbergen.

Sinnlos dumme Feigheit aber mißdeutet ihnen alles.

Der eine rennt einem Autobus nach und erwischt ihn gerade an der Haltestelle.

Offenbar mit dem Gefühl, in sichere Behausung zu kommen, kriecht er eifrig hinein.

Drinnen sitzt ein einziger Fahrgast. Ein fetter, älterer Weinhändler.

Der wird ganz starr, als plötzlich ein Löwe erscheint.

So starr und steif wird er, daß er vergißt, sich die Augen zu reiben.

Dem Ersticken nahe vor hellem Grauen röchelt er nur ein kurzes Ächzen. Dann reißt er das Fenster hinter sich auf und ist mit einem Satz draußen. Seit seiner Schulknabenzeit hat der Mann solch einen Hechtsprung nicht getan. Aber Not lehrt Turnen. Auch einen fetten, älteren Weinhändler. Er hatte geglaubt, eigens seinetwegen, eigens um ihn zu suchen und sofort zu fressen, sei der Löwe in den Autobus gestiegen. Deshalb saust er durchs Fenster und rennt, was das Zeug hält. Chauffeur und Schaffner sind längst entflohen. Der Autobus steht verlassen.

Drinnen aber hat sich der Löwe auf den schmalen Bodenstreifen hingestreckt und wartet.

Er ist noch so bestürzt, daß ihm die Zunge heraushängt und seine Flanken vom leisen Keuchen beben.

Aber er liegt still da und vor allem ganz friedlich.

Der andere Löwe ist eine Strecke die Häuser entlang getrottet, immer auf der Suche nach einem Unterschlupf. Endlich findet er ein geöffnetes Tor und huscht hinein. Ins Ritz-Hotel!

Der Empfang gestaltet sich wenig enthusiastisch.

Blitzartig verschwanden die Liftboys, flogen mit den Fahrstühlen aufwärts, ohne den Portier oder sonst einen Beamten, die sich hereindrängen wollen, mitzunehmen.

Die kräftigsten und frechsten Hausdiener galoppierten in toller Flucht davon, wie gejagte Antilopen.

Binnen zwei Sekunden war die Halle total menschenleer und der Nachtportier, der sich in einer Telephonzelle eingeriegelt hatte, alarmierte das Überfallkommando.

Unterdessen schnuppert der obdachlose Löwe durch die Halle. Auf einem weichen Teppich läßt er sich nieder, doch es duldet ihn nicht. Der Raum schien ihm zu weit und zu offen. So erhebt er sich wieder, entdeckt die dämmerige Treppe und huscht hinauf. So eilig, als hetze ihn das qualvolle Empfinden, unsichtbare Feinde seien im Begriffe, ihn zu verfolgen.

Er rennt bis in den fünften Stock. Der enge Korridor dort oben lockt ihn. Den schleicht er entlang, zaghaft wie ein der gewohnten Heimstätte Beraubter, trübselig wie eben ein Verirrter.

Sie wissen, lieber Freund, daß die Löwen von Natur friedlich sind und furchtsam. Sie wissen, daß nur Gefahr, Drohung oder Wunden die ungeheure Kraft ihres Zornes wecken.

Nun, ich verbürge mich dafür: nie war ein Löwe so friedlich, so furchtsam und so demütig zu jedem Gehorchen bereit, wie der arme Kerl, der sich da oben an eine Zimmertür schmiegte.

Tja, diese Türe hat er so beiläufig gekannt. Sie galt ihm als Zugang zu einem Käfig. Also kriecht er in die tiefe Leibung der Türe, schmiegt sich in die Schmalheit, die ihm vertraut ist, hält die Nase gegen die Schnalle gerichtet und wartet, daß ein Wärter ihm öffne.

Für einen Moment wurde die Türe auch geöffnet. Im kleinsten Spalt.

Der Herr, der im Zimmer die Nacht verbrachte, wollte seine Schuhe hinausstellen.

Da erblickte er dicht vor sich das gewaltige, von einer riesigen Mähne umwallte Löwenhaupt. Nase an Nase stehen die beiden einander gegenüber, der Mensch und das Tier. Beide perplex, beide ratlos. Aber ich wette, der Mensch war in diesem Augenblick der Gehässige, der Erbitterte und er war in seinem Schreck zu jeder Grausamkeit entschlossen.

Zugegeben, es geschieht selten, daß vor der Tür eines Hotelzimmers ein Löwe steht und Einlaß zu begehren scheint. Zugegeben, jener Mann, der seine Stiefel auf den Gang stellen will und dabei mit einem wirklichen, lebendigen Löwen fast zusammenstößt, im fünften Stock eines mitteleuropäischen Hotels, zugegeben, jener Mann ist der erste und einzige, dem dergleichen passiert. Er knallt die Türe zu, dreht den Schlüssel um, schiebt noch den Riegel vor. Begreiflich. Ein Bürger, der schlafen gehen will, der in Unterhosen und Pantoffeln dasteht, ist weder gelaunt, noch geeignet, sich mit Löwen auseinanderzusetzen. Aber, wie töricht, daß er ans Telephon rennt und das Hotelbureau anbrüllt: ›Was ist das für eine Wirtschaft bei Ihnen?‹

Dem dritten Löwen erging es am schlimmsten. Der geriet in eine Tanzbar. Am entsetzten Türsteher vorbei schlüpft er hinein. Bringt mit seiner Erscheinung Entsetzen und wilde Panik in den kleinen, überfüllten Saal. Und ist selbst am meisten entsetzt, ist selbst von rasender Panik geschüttelt.

Die Jazzmusik reißt kläglich mitten entzwei. Die Tanzenden stieben schreiend auseinander, stürmen das Musikpodium, suchen Ausgänge. Rings um das leere Parkett, an den Wänden, in den Logen drücken und drängen sich bleiche, schlotternde Herren, todblasse, kreischende, weinende, jammernde Frauenzimmer.

Und der Löwe steht zitternd, allein mitten auf dem Tanzboden, der glitschig ist. Verzweifelt schaut er umher.

Ein paar Damen springen auf die Tische und halten schreiend Beine und Röcke zusammen, als sei eine Maus da. Gläser fallen klirrend zu Boden.

Der Löwe zuckt erschrocken zusammen.

Jemand wirft eine Sektflasche nach ihm. Sofort fliegen Dutzende von Sektflaschen durch die Luft, von denen einige treffen. Die niederstürzenden Bouteillen plumpsen wie Donner.

Dieses Bombardement, vereint mit dem Höllenlärm, dazu das schmerzende Getroffenwerden macht den Löwen wahnsinnig vor Angst. Geduckt, strebt er nach Deckung, nach Rettung, erblickt die dunkle Nische einer Loge und mit einem Riesensatz springt er über Tische, über Geschirr, über heulende Menschen weg in die wohltuende Ecke.

Seinetwegen könnten alle das Lokal ruhig und langsam verlassen. Er hat einen Platz gefunden, an dem er sich niederläßt, schwer atmend, mit bebenden Nerven, mit klopfenden Pulsen und mit der Sehnsucht nach Ruhe.

Als der Tumult vorüber ist, den die allgemeine, kopflose, wilderregte Flucht verursacht, wird es ruhig. Dann aber rückt das Überfallkommando an.

Zum Autobus, ins Hotel und in die Tanzbar.

Sie hätten die flehentlichen Bitten des herbeigeeilten Zirkusdirektors, des Dompteurs und der Wärter erhören können, sie hätten ihnen die Möglichkeit geben können, Versuche anzustellen, um die Ausbrecher wieder einzufangen oder zu fesseln. Es wäre Pflichterfüllung genug gewesen, die Löwen in Schußbereitschaft zu bewachen und zu warten, ob einer von ihnen wild wird.

Aber sie hatten Gewehre, sie waren Männer, berufen, ›die Ordnung wieder herzustellen‹, und sie warteten keinen Augenblick. Vielleicht auch, weil sie noch niemals einen Löwen geschossen hatten und weil sich jetzt die Gelegenheit dazu so günstig zeigte, wie keine andere je.

Genug, alle drei Abteilungen des Überfallkommandos taten das gleiche. Von ihren Kugeln gesiebt, starb der Löwe im Autobus.

Den Löwen im fünften Stockwerk des Ritz-Hotels streckten sie im W. C. nieder, wohin er, tödlich verwundet, geflohen war.

Und der dritte Löwe verendete unter ihrem mörderischen Feuer, in jener galanten Separeenische, die er nicht verlassen hatte. Jetzt sehen Sie, daß der alte Bursche, den wir bei uns haben, sehr pfiffig gewesen ist. Sie haben wohl bemerkt, wie rabiat er sein kann, nicht wahr?

Aber in jener Nacht hat er das Klügste getan, das sich erdenken läßt. Er ist ganz einfach in der zerbrochenen Käfigkiste geblieben. Er hat sich nicht herausgerührt, hat nicht einmal die Nase hervorgesteckt. In sich zusammengekauert lag er ganz hinten und stellte sich schlafend. Er störte die Zirkusleute nicht, als sie kamen und die Kiste notdürftig wieder vernagelten.

So hat er sich gerettet. Ein schlauer Kerl!

Als der Zirkusdirektor bei mir anfragte, ob ich den Alten aufnehmen will, hab' ich gerne Ja gesagt.«


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