Emilio Salgari
Der algerische Panther
Emilio Salgari

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Der Scheliff-Wasserfall

Es begann schon der Morgen zu grauen, als die Prinzessin den Duar zu Gesicht bekam. In einem Zuge hatte sie mit ihrem treuen Neger die Strecke zurückgelegt. Sie war sicher, daß ihr Zuleik mit einer ansehnlichen Reiterschar folgte, obwohl sich bisher noch nirgends eine Spur davon gezeigt hatte.

Als sie den Hügel erreichte, ließ gerade der Kabyle seine Hammel und Kamele aus der Umzäunung, um sie auf die Weide zu führen, unterstützt von den zurückgelassenen beiden Negern.

Der Normanne saß rauchend vor einem Zelt beim Kaffee.

Das Erscheinen der beiden Reiter schreckte die Bewohner des Duars, die in steter Furcht vor Entdeckung leben mußten, auf.

Michele ergriff sofort sein Gewehr, da er einen Überfall vermutete. Auch die andern eilten sogleich zu den Waffen, bis ein Zuruf des Negers sie beruhigte.

»Die Prinzessin!« rief der Seemann, »aber ihre plötzliche Rückkehr bedeutet sicher nichts Gutes!«

Der Ritter war auf den Ruf hinausgeeilt.

Er konnte seine Erregung nicht verbergen, als er ihr entgegeneilte und vom Pferde half.

»Was bringt ihr für Neuigkeiten, Amina?«

»Schlechte! Wenn euch euer Leben lieb ist, so flüchtet alle! Es nahen die Reiter des Bey!«

»Sind wir verraten worden?«

»Mein Bruder hat euren Zufluchtsort entdeckt und dürfte schon in der Nähe sein! Verlieren wir keinen Augenblick!«

Der Kabyle war herangetreten.

»Wer bedroht uns?«

»Die Algerier kommen! Armer Freund, auch du mußt fort, weil du in Gefahr bist, gefangen oder getötet zu werden!«

»Also müssen wir uns verbergen! Ich weiß ein gutes Versteck!«

»Aber dein Bruder und das Vieh! Was soll daraus werden!« rief der Ritter.

»Achmed kann ich nötigenfalls auf meinen Armen tragen! Um das Vieh brauchen wir uns nicht zu kümmern, ich werde es später wiederfinden!«

»Du sollst keine Verluste erleiden«, sagte Amina. »Ich stehe für alles ein. Jetzt handelt es sich bloß um schleunigste Flucht!«

»Gebt mir nur wenige Minuten Zeit, um ein Kamel für Achmed zu satteln!«

»Eile dich aber!«

Die Neger hatten schon die Pferde gezäumt und zwei prachtvolle Kamele zurechtgemacht, die kräftiger und gewandter als die besten Renner waren.

Während Sant' Elmo und der Normanne dem kranken Achmed halfen, berichtete die Prinzessin in kurzen Worten das Geschehene.

»Ganz Algier ist alarmiert«, schloß sie. »Die Renegaten sind unter den gräßlichsten Martern getötet worden, und wenn ihr nicht flieht, droht euch dasselbe Geschick!«

»Aber ihr, Amina, setzt euer Leben für mich ein!«

»Sorgt nicht um mich! Selbst der Bey wird mir nichts antun! Nicht mein Leben, sondern das eure ist in schwerster Gefahr! Fort! Nur fort!«

»Gebe Gott, daß es nicht schon zu spät ist!« seufzte der aus seinem Schlafe aufgeschreckte Eisenkopf.

Die kleine Schar hatte kaum den Wald erreicht, als in der Ferne schon der Galopp zahlreicher Pferde auf dem felsigen Terrain hörbar wurde.

»Wohin führst du uns?« fragte Michele den Kabylen.

»Zum Scheliffufer! Unter einem Wasserfall ist dort ein Versteck!«

»Kennt es dein Diener?«

»Ja, er hat es selbst eines Tages entdeckt, als einige Wüstenräuber ihn verfolgten!«

»Dann bringe du unsere Freunde in Sicherheit! Ich werde später mit deinem Neger folgen. Zuvor möchte ich die Bewegungen der Feinde beobachten!«

»Laß dich nur nicht fangen!«

Der Normanne kehrte, während die andern weitereilten, zum Waldesrand zurück, warf seinem Pferde eine Decke über den Kopf, damit es sich nicht durch Wiehern verrate, und kroch auf allen vieren durch das Gestrüpp. Die Ansiedlung des Kabylen war kaum 500 Meter entfernt.

Nach wenigen Minuten hörte er von den jenseitigen Hügeln her ein lautes Triumphgeschrei:

»Der Duar! Der Duar!«

Als erster erschien Zuleik. Hinter ihm ritten gegen 50 stark bewaffnete Janitscharen, alle staubbedeckt, mit abgetriebenen Pferden.

Die Gruppe teilte sich, um die Zelte zu umzingeln und die Flucht ihrer Bewohner zu verhindern.

Mit einem Sprung war das Pferd des Maurenfürsten über die Umzäunung gesetzt.

»Ergebt euch!«

Als keine Antwort erfolgte, erhoben die Enttäuschten ein wüstes Geschrei.

Es veranlaßte den Normannen, die Flucht wiederaufzunehmen.

Während nun die Janitscharen das Tal nach allen Seiten hin absuchten, durchquerten Michele und der Sklave den Wald in seiner ganzen Länge.

Nach einigen Stunden passierten sie eine doppelte Reihe felsiger, vegetationsloser Hügel.

Ibrahim und seine Begleiter galoppierten schon jenseits der Anhöhen über eine wellenförmige, ziemlich sandige Ebene nach Südosten zu.

Der Normanne hatte seine Freunde kurz vor den Wäldern, die sich am Flusse entlangzogen, eingeholt.

»Sind sie hinter uns?« riefen der Baron und Amina wie aus einem Munde.

»Noch nicht! Zuleik sucht nach unsern Spuren! Aber die abgehetzten Pferde seiner Reiter können sich nicht mit unsern frischen messen!«

»Wie ist er rachsüchtig, mein Bruder!« sagte Amina, »doch wenn er mich zu besiegen vermeint, wird er sich täuschen!«

Gegen 10 Uhr waren sie an das bewaldete Flußufer gelangt.

In der Ferne wurde das Rauschen einer großen Masse stürzenden Wassers hörbar.

»Es ist der Katarakt!« sagte der Kabyle. »In einer Viertelstunde sind wir in Sicherheit!«

Der Fluß stürzte sich hier, über 10 Meter breit, mit äußerster Kraft von einem etwa 10 Meter hohen Felsen herab. Inmitten des in die Luft spritzenden Gischtes wölbte sich gerade ein herrlicher, in allen Farben schimmernder Regenbogen.

»Wo ist das Versteck?« fragte der Normanne.

»Unter der Kaskade!« antwortete der Kabyle.

»Aber wie kommen wir dorthin?«

»Ich habe einen tüchtigen Strick mitgebracht, an dem wir zu der Felswand hinuntergleiten können. Dort unten ist eine Höhle, wo wir geborgen sind!«

»Die Janitscharen werden uns dort nicht fangen?«

»Sie mögen nur kommen!«

»Aber die Pferde?«

»Die müssen wir opfern und in den Fluß werfen!«

Der Kabyle führte den Seemann an den Rand der Kaskade und zeigte ihm einen ganz schmalen Felsenvorsprung, der sich dicht an der Wand über den Abgrund entlangzog. Daneben war das Ufer senkrecht zerklüftet.

»Teufel, da werden wir naß bis auf die Knochen! Und schwindlig darf man auch nicht sein!«

»Besser ein Bad als der Tod!«

»Ich dachte an die Prinzessin!«

»Der werden wir helfen! Übrigens wollen wir uns erst im letzten Augenblick hinablassen!«

Sie hatten sich alle aufs Gras gestreckt und verzehrten im Schatten eines Feigenbaums ihr Frühstück, das der Katalane fürsorglich mitgebracht hatte. Als im Duar die Futtersäcke für die Tiere an den Kamelsattel gehängt wurden, vergaß er auch seinen Sack nicht, den er mit Brot, Käse, Datteln und einem schönen Stück Lammfleisch vom Abend vorher gefüllt hatte.

Um nicht überrascht zu werden, mußten zwei Neger am Waldessaum Wache halten.

Amina schien guter Laune zu sein. Sie scherzte mit dem Baron und machte sich lustig über Zuleiks voraussichtlicher Enttäuschung.

Plötzlich kamen die Neger mit ängstlichen Mienen zurück.

»Eine Gruppe Reiter ist im Anzuge!«

»Man hat offenbar unsere Spur entdeckt!«

Der Kabyle rief kurz entschlossen:

»Führt die Pferde und Kamele an den Wasserfall!«

»Die kostbaren Tiere!« sagte der Normanne bedauernd.

»In meinen Ställen gibt es mehr!« rief Amina.

Die Neger zwangen die Tiere mit Säbelhieben zum Sprung in den Abgrund.

Hierauf befestigte der Kabyle einen kamelshaarenen Strick an einer Felsenspitze des Ufers.

»Ich steige zuerst hinab, dann die Dame!«

»Und wer wird den Strick einziehen?« fragte Michele. »Bleibt er hängen, so verrät er uns!«

»Das besorgt mein Neger!« entgegnete Ibrahim. »Er hat sich schon mehrmals allein hinuntergeschwungen!«

Nun glitt er an dem Strick bis zu dem Vorsprung hinunter, der unter den Wasserfall führte.

Die Prinzessin, der Baron und die andern folgten ihm, sich an die jäh abfallende Wand drängend, an welcher der schwindelerregende Weg entlangführte.

Die ungeheure Wassermasse, die unter donnerndem Getöse herniederbrauste, verursachte einen so gewaltigen Luftzug, daß er die kleine Menschengruppe herunterzufegen drohte. Die starken Sprühregen umhüllten die Fliehenden wie eine Wolke. Der die Augen blendende Gischt verhinderte sie, den Steg zu sehen, um so mehr, da ihr Gehirn von dem Tosen der Wasser wie betäubt war.

Sie gingen jetzt hinter dem Wasserfall entlang, der, einen weiten Bogen bildend, genügend Raum dazu ließ. Die Sonne glitzerte in allen Farben hindurch, so daß die Wasserwölbung wie eine Kristallglocke erschien.

Die Flüchtlinge an dem Seil konnten kaum atmen vor starker innerer Erregung. Sie erschauerten vor dem Abgrund, der unter ihnen gähnte, und mußten an sich halten, um nicht der Anziehungskraft des gurgelnden Strudels unter ihren Füßen nachzugeben.

Jetzt waren sie in der Mitte der Kaskade angelangt.

Das Getöse verschlang den Ruf Ibrahims: »Sie kommen, die Janitscharen!«

Er schrie dem Normannen ins Ohr: »Eilt, eilt!« und drängte ihn in eine breite Felsspalte hinein.

Es war eine Art Höhle, die etwa zehn Personen fassen konnte. Zwar drang das Wasser von allen Seiten ein, floß aber sogleich wieder ab, da der Boden abschüssig war. Ein tüchtiger Luftzug wehte hier.

Kaum waren alle in der Felsenöffnung untergebracht, als Ibrahim den Ritter an der Hand nahm und ihn zu einer Stelle führte, wo ein Ausblick möglich war. Er zeigte ihm Reiter, die vor dem Katarakt hin und her galoppierten, als suchten sie nach verlorenen Spuren.

»Wenn unsere Flinten nicht voll Wasser wären, würden wir die Kerle jetzt schön abschießen können, ohne daß man den Schall hörte!« rief der Normanne, der ihnen nachgekommen war.

Mehr als eine Stunde waren die Janitscharen am Ufer auf der Suche, bis sie sich endlich entschlossen, dem Flußlauf weiter zu folgen.

Etwas später langte eine zweite Schar Soldaten an, die mit demselben Resultat enttäuschst abzogen. Sie nahmen die gleiche Richtung wie ihre Vorgänger, wohl in der Annahme, daß die Verfolgten zur Meeresküste geflohen seien.

Letztere wagten erst kurz vor Sonnenuntergang die Höhle zu verlassen.

Ibrahim hatte seinen Sklaven als Kundschafter vorausgeschickt. Dieser kroch auf allen vieren über Felsvorsprünge und Baumwurzeln zum Ufer hinauf.

Der Rückzug war weniger schwierig. Man hatte sich allmählich an den Lärm des Wassersturzes und an den Anblick des jähen Abgrunds gewöhnt.


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