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Achtzehntes Kapitel.

Am ersten Tage des Jahres 1530 saßen Meister Andreas und Hinrich Malenbeke beisammen. Das Feuer brannte hell, und der Altflicker sagte, aus seinem Sinnen auffahrend: »Das war heute ein Glückstag, Nachbar! Endlich ist Nachricht von Karsten da, und so gute, ich wollte, unser einer könnte lesen und schreiben, die heutige Jugend lernt das Alles, wir Alten sind zu kurz gekommen.«

»Hinrich!« rief der Schneider und sah ihn erstaunt an, »Du wirst unzufrieden, da Du mit einem Fuß im Grabe stehst.«

»Unzufrieden nicht,« entgegnete der Angeredete lächelnd, »o nein, ich bin zufriedener denn je, soll uns doch in Bälde alles werden, was wir ersehnt und erstritten.«

»Was meint Ihr, wann kommen die Prädikanten Wilms und Walhoff?«

»Ich hab' noch nichts davon gehört, Meister, und wird also auch wohl noch ein Weniges dauern. Sie sollen nicht wie ein Dieb in der Nacht kommen, wir wollen sie ehrenvoll einholen mit Jubel und Gepränge, es ist schon viel davon die Rede gewesen auf der Herberge; bis jetzt fehlt noch die Einigkeit.«

»Das Beste, ja das fehlt sehr oft, Meister Andreas! Ihr solltet Euch bald resolvieren, denn Bruder Benedikt sagt auch, im Januar kämen sie.«

»Es liegt nicht an mir, Hinrich; ich habe alles fertig in meinem Gemüt, aber die Masse des Volks ist störrisch, jeder meint, er habe das Beste ausgedacht, und ein Andrer begreift dann wieder nicht, wie so etwas Geringes konnte ausgetiftelt werden. Na, Hinrich, Ihr könnt Euch freuen, daß Ihr den Sturm, der zuweilen in den Versammlungen einherfährt, nicht zu bestehen braucht, ich thu's für die gute Sache. Aber Ihr erzähltet von Karsten; wiederholt noch einmal, was Bruder Benedikt von ihm vorgelesen hat.«

»Er sagt, er sei zufrieden, und die große heilige Sache fülle sein Herz aus, ob er gleich täglich und stündlich seines Weibes gedenke, er getröste sich freudiglich eines Wiedersehens dereinst in der Ewigkeit. Weiter berichtet er, wie er dem gelehrten Doktor Bugenhagen, den sie auch Pomeranus nennen, als Sekretarius und Hülfsmann zugesellt sei. Dieser reiset in allen Landen umher und schaffet rechte Ordnung, wo man das Alte will fahren lassen. Es ist eine freudige Zuversicht in dem Briefe; er rühmt dankbar, daß er, wenn auch nur als geringer Handlanger, die große Sache kann fördern helfen. Er hoffet, allhier noch einmal wieder einzuziehen mit seinem Herrn Doktor.«

»Das gebe der Allmächtige!« sprach Meister Andreas und faltete andächtig die Hände. »O Hinrich, die Ehre, Euer Sohn und mein Pate darf helfen am Werk, das der Martinus in Angriff genommen hat; es ist mehr, als wir uns je konnten träumen lassen.«

In dem Augenblick klopfte es an den Laden. »Bruder Benedikt!« rief der Schneider und sprang auf, die Thür zu öffnen. Er hatte recht, freundlich grüßend trat dieser ein, dann wendete er sich zu Hinrich Malenbeke: »Ich habe mitgebracht, was zur Ausübung der edlen Schreibkunst gehört, Ihr sollt mir sagen, was ich dem Karsten berichten soll.« Der Altflicker zündete eilig die kleine Lampe an, und der Mönch schnitt die Gänsefeder vor, tauchte sie in das Tintenfläschchen und ermunterte: »Nun beginnt!«

Der Flickschuster sann eine lange Weile, endlich meinte er: »Nein, Bruder Benedikt, ich weiß es nicht anzufangen; schreibt nur, wie's Euch bedünket, daß wir gesund sind, und daß es dem Mägdlein Benedikta gut gehet.«

»Ja,« fiel Meister Andreas hastig ein, »und schreibt ihm auch, daß es ein Elend sei in des Ratmannen Hause, Frau Eva sei hinausgestoßen, und Herr Johann vergeht wie der Tag. Aber es geschieht ihm recht. Schadenfroh soll man nicht sein, aber sich der Gerechtigkeit Gottes freuen, die da strafet, wo ein himmelschreiend Unrecht begangen, das ist etwas Anderes.«

»Die Rache ist mein! spricht der Herr,« sagte der Mönch in Gedanken verloren.

»Soll sie auch bleiben; aber weil sie göttlich ist, will ich mich auch darüber freuen. Und weiter, schreibt dem Karsten, daß wir Bürger viel ausgerichtet hätten, und – –«

»Aber Meister Andreas,« unterbrach ihn der Altflicker, »Bruder Benedikt weiß ja besser als wir, was zu schreiben frommt.«

Nicht ganz davon überzeugt, schwieg der Schneider, und es wurde still im kleinen Gemach, nur die Gänsefeder flog schrill über das grobe Papier, und das kienige Holz im Kamin knackte. Meister Andreas sah staunend zu, wie Buchstabe sich an Buchstabe reihte, und als Bruder Benedikt die Feder hinter das Ohr steckte und den fertigen Brief vorlas, stieß der Schneider staunend hervor: »Ja, wo zwei große Künste, wie lesen und schreiben zusammen kommen, da kann viel ausgerichtet werden. Ich begreife nur nicht, wie es sein wird, wenn alle Leute lesen und schreiben können, das muß ja schier eine halbe Seligkeit sein.«

Am andern Abend um dieselbe Zeit klopfte es wieder an den Laden des Häusleins im Rosengarten, und wieder sprang Meister Andreas mit dem Ruf: »Bruder Benedikt« auf, um zu öffnen. Dieser trat ein und fragte schon unter der Thür: »Habt Ihr's gehört, der Wilms und der Walhoff sind da!«

Meister Andreas starrte ihn wortlos an, und er fuhr fort: »Heute als am 2. Januar sind sie um die Mittagszeit still und bescheiden durchs Thor gekommen, unerwartet und ungegrüßt. Ich begegnete dem Wilms, er meinte: es wäre besser also gethan, sie wollten nicht gleich dem Rat und Kapitel Ärger bereiten.«

Noch immer konnte der Schneider sich nicht von seinem Schrecken erholen; Hinrich Malenbeke aber sprach ruhig: »Sie haben recht gethan.«

»Oh,« nahm jetzt Meister Andreas das Wort, »was werden sie auf der Herberge sagen? Es ist ein Spaß weniger in der Welt, denn ein Spaß sollte es werden; den Römischen sollten die Ohren gellen von dem Freudengeschrei und den Ehrenbeweisungen.«

»Ich merke, daß die Prädikanten recht gethan haben,« sagte der Mönch lächelnd.

»Mag sein, aber mir ist's doch leid,« rief der Schneider. »Nun, geschehene Dinge sind nicht zu ändern, sie sollen uns willkommen sein, tausendmal gottwillkommen!«

Am 7. Januar 1530 wurden endlich die beiden evangelischen Prediger Wilms und Walhoff wieder feierlich in ihr Amt eingesetzt, und die evangelisch gesinnten Bürger ließen es sich nicht nehmen, diesen Tag festlich zu begehen. Meister Andreas war ganz glückselig und hatte sogar die Ehre, von beiden Prädikanten angesprochen zu werden. Die ganze Stadt war in Bewegung. Vor dem Rathause, wo ihnen durch einen der vier Bürgermeister in langer Rede ihre vorigen Ämter wieder übertragen wurden, stand eine zahllose Menschenmenge, und als sie herauskamen, konnten sie sich kaum einen Weg bahnen. Alles Volk geleitete sie in ihre Wohnungen, und der jubelnden Zurufe war kein Ende.

Noch größer war die Freude, als beide Männer am 16. Januar zum erstenmal wieder die Kanzel bestiegen. Die Kirchen faßten die Menge der Zuhörer nicht, und als der Gottesdienst beendet war, reichte ein Hörer dem andern tiefbewegt die Hand. Endlich, nach allem heißen Ringen doch ein Sieg!

»Es ist eine herrliche Sache um das Rechtkriegen,« sprach Meister Andreas, als er mit dem Altflicker aus St. Ägidien kam.

»Ich dachte, Ihr wolltet sagen, um das reine Wort Gottes,« entgegnete dieser.

»Das ist Selbstverstand, Hinrich, und Ihr solltet das bei mir, als der ich auch schon einmal Märtyrer gewesen bin, stillschweigend voraussetzen. O, ich möchte den werten Prädikanten etwas recht Großes und Liebes erweisen für ihre Segensworte; ich kann es garnicht fassen, daß wir nun an jedem Sonntag solch köstlich Wort hören sollen und dazu des Lutherus Lieder singen, frank und frei. Denn das sage ich Euch, das Gebot des Bürgermeisters Bröms wird doch nicht gehalten werden.«

»Welches meint ihr?«

»Nun, das, welches er am 7. Januar gegeben, daß nur unter Aufsicht und in Beisein der Prädikanten ein luthersch Lied darf gesungen werden. Solches können und wollen wir selbst diesen nicht zu Gefallen thun, nicht wahr, Hinrich?«

»Nein,« erwiderte der Flickschuster, »das geistliche Lied ist meines Lebens Lust und Freud; man hat's ja eher nicht gekannt, nun aber lässet man's nimmer wieder fahren, mag kommen, was da will!«

»Recht so, Hinrich, übrigens habe ich bei diesem, wie bei manchem andern Gebot des Rates das Gefühl und die Überzeugung, daß des Streits und der Wirrnis noch kein Ende ist. Wo soll die Eintracht unsrer Prediger mit den katholischen herkommen, wenn jede Predigt neuen Anlaß zum Streit giebt? Ihr sollt sehen, Meister, haben wir keine Zwietracht gehabt, so kriegen wir sie anjetzo. Das Schwert steckt noch nicht in der Scheide, denkt an mich!«

Meister Andreas hatte recht. Die Partei des Bürgermeisters Bröms bekam immer mehr die Oberhand im Rate und suchte, den Bürgern die zugestandenen Rechte schlau wieder zu entreißen. Diese wurden mißtrauisch und wollten immer noch die Geldartikel nicht bewilligen; sie strebten auch, immer mehr für sich und ihre Sache zu erzwingen, als sie anfangs bedungen hatten. So schwand Treue und Glaube zwischen Obrigkeit und Unterthanen, trotzdem jeder eine heilige Sache verfocht, denn schließlich gestaltete sich der Hauptkampf zu dem um den Glauben. Die Katholischen meinten mit dem alten Glauben auch die alte Macht über die Bürger zu haben, und diese hinwiederum sahen in ihm die Fessel, durch welche die weltliche Macht sie demütigen wollte, abgesehen davon, daß sie von Herzen der neuen Lehre froh geworden waren. Summa, der Freudenrausch über die Wiedereinführung der neuen Prädikanten war bald vorüber, und schmerzlich empfand man, daß der Sieg noch nicht völlig und rückhaltlos errungen sei. Die katholischen Geistlichen eiferten wieder gegen die Martiner, drohten mit dem Fluch der Kirche und verunglimpften Wilms und Walhoff persönlich mit dem gemeinsten Spott. Sie klagten, daß die Gemeinde nicht mehr auf sie hören wolle und es nichts Seltenes mehr sei, daß dieselbe plötzlich anstimme: »Ach Gott, vom Himmel sieh darein« und dann aus der Kirche eilte.

Es war Sitte geworden, daß die Bürger sich schon eine Stunde vor Beginn des Gottesdienstes versammelten und luthersche Lieder sangen; sie ließen sich durch kein Gebot der Geistlichen davon abbringen. Diese aber sahen scheel, denn sie wußten wohl, was für eine Macht das Lied war. Auch geschah es eines Sonntags, daß der Kirchherr Johann Rode, da die Gemeinde also singend versammelt war, die Kirchthüren schließen ließ und Walhoff draußen bleiben mußte. Statt dessen bestieg ein Franziskaner die Kanzel und schalt auf den pflichtvergessenen Luther und seinen Anhang, bis die Gemeinde wieder anstimmte: »Ach Gott, vom Himmel sieh darein!«

So war eitel Unfriede in der Stadt, und heimlich lohte der Kampf heißer denn je. Immer mehr Stimmen vereinigten sich dahin, daß alle Vorschläge wegen der Geldartikel rundweg abgeschlagen werden sollten, bis erst mehr für die neue Lehre gewonnen sei. Am 12. März ließ der Rat die Bürgerschaft wieder vor sich laden; die Sechsundfünfziger erklärten nun ruhig, es müsse erst anders werden, die katholischen Geistlichen sollten nicht mehr ungestraft von allen Kanzeln schelten und darin noch von einem ehrsamen Rat bestärkt werden, sie bäten deswegen, es solle eine Disputation bei verschlossenen Thüren gehalten werden. Bewiesen die Katholischen, daß die neue Lehre nicht schriftgemäß sei, so sollten die Prädikanten aus der Stadt weichen; bewiesen diese aber, daß die Katholischen gegen die Schrift predigten, so sollten diesen die Kanzeln verboten werden. – Wohl war der Rat geneigt, diesem Ansinnen nachzugeben, aber der Kirchherr Johann Rode rief verächtlich: »Sollen wir den Lutherschen die Löffel waschen? Das Wort der Schrift können sie für sich haben, aber von Kirchenvätern und Konzilien, wollen sie nichts wissen. Wie kann da ein rechtgläubiger Kirchherr mit ihnen streiten?«

Es war gegen das Ende des Monats März. Meister Andreas kam von der Herberge und setzte sich mißmutig an den Tisch. Der Flickschuster trat gleich darauf mit einer kleinen Schüssel voll gekochter Dorsch herein und stellte sie vor den Freund hin. Dieser aber sagte verdrießlich: »Hinrich, nun dachte man, die Geschichte sei fertig, da geht wieder alles aus dem Leim. Wenn sie allenthalben so viel Umstände haben, dann erbarme sich Gott!«

»Aber was ist denn, Meister?«

»Der Herzog von Braunschweig hat Antwort gesandt, er wolle im Falle der Not mit Gewalt der Waffen das von seinem Ahnen Heinrich dem Löwen gegründete Hochstift verteidigen. Das ist Wasser auf des Rats und Kapitels Mühle, Hinrich. Sie drohen auch hie und da, die Martiner sollen sich wahren, die Strafe sei nicht allzu fern. Dazu erzählt man, daß der Bürgermeister Bröms Boten und Briefe in die Ferne sendet, ja einer der Genossen wußte sogar, daß dieser hochedle Herr geäußert habe, der Bürgermeister Molk zu Rottweil in Schwaben sei ein rechter Mann, der habe die evangelischen Bürger dort überfallen und zur Stadt hinausgejagt, und dabei habe er, Bröms, mit den Augen geblinzelt, als wollte er sagen: Wer weiß, ob's nicht auch in Lübeck so kommt? Und weiter frage ich Euch, Hinrich, was hat der Doktor, des Bröms Bruder, sogleich nach des Herzogs von Braunschweig Schreiben davonzureiten? Die Sachen sind bedenklich. Ihr sollt sehen, die Katholischen planen heimlich etwas.«

Meister Andreas war nicht der einzige, der solche Befürchtungen hegte, dazu kam ein Gerücht nach dem andern, welches Mißtrauen und Argwohn immer weiter ausstreute. Jeder fühlte, daß irgend etwas geschehen müsse und so traten am 31. März über tausend Bürger in der Petrikirche zusammen zu ernster Beratung und dem Versprechen fester Einigkeit.

Sie fürchteten einen Überfall der Katholischen und beschlossen, daß jede Nacht abwechselnd eine Anzahl Bürger unter den Waffen bleibe und Wache halte, daß aber acht Männer aus der Versammlung solches dem Bürgermeister Bröms anzeigen sollten. Dieser war sehr erschrocken, denn was war das Vorgehen der acht Männer weiter, als eine Aufkündigung des Gehorsams und ein willkürliches Eingreifen in der Stadt Regiment? Aber er merkte wohl, daß die Sprache, die er sonst geführt, hier nicht am Platze war, und vertröstete sie mit Versicherungen von des Rates Wohlmeinen und von Mißverständnissen.

Am nächsten Tage versammelte sich eine noch größere Menge denn vordem in der Domkirche. Man schickte zwölf Deputierte an den Rat mit der Forderung, daß am nächsten Tage die ganze Bürgerschaft auf das Rathaus berufen werde, widrigenfalls sie ungeladen erscheinen werde. Wohl suchte der Rat Ausflüchte und versicherte seine Liebe und gute Absicht, aber es half nichts, er mußte sich endlich dazu verstehen, am nächsten Tage, als am 2. April, die gesamte Bürgerschaft aufs Rathaus bescheiden zu lassen.

Dies geschah. Schon um 9 Uhr waren alle Säle gefüllt, und auf dem Markt stand eine dichtgedrängte Menge Volks. Beide Parteien waren vorsichtig, und Rede und Gegenrede hielten sich in den Schranken der Ordnung. Unter beständiger Debatte, halber Bewilligung und wiederholten Einwendungen, unter erneuten Forderungen und gemäßigten Vorschlägen ging der Tag hin, bis endlich gegen 6 Uhr Abends ein Vergleich zustande kam, welcher seinem Hauptinhalt nach also lautete: »Da die katholischen Geistlichen sich nicht zur Disputation hätten stellen wollen, sei ihnen in den Stadtkirchen und Klöstern das Predigen fortan verboten, und nur wer vom Rate, den lutherschen Prädikanten und den Sechsundfünfzigern dazu bestellt sei, dürfe fortan hier die Kanzel besteigen.«

So war denn endlich alles gewährt, was das Volk verlangte, und der völlige Sieg errungen. Es war ein unmäßiger Jubel. Die frohe Kunde zog durch alle Gassen, und einer rief dem andern zu: »Der Rat hat nachgegeben, sie haben sich verglichen. Vorüber nun Hader und Zwist!«

Die Bürger, die noch auf dem Rathause waren, ließen durch Abgeordnete dem Rat ihren Dank sagen und denselben ihres Gehorsams versichern, auch die Bitte hinzufügen, es möge fortan jeder Groll zwischen Rat und Bürgern schwinden und alles vergeben und vergessen sein. Was die Geldartikel beträfe, so würden die Bürger sie ungesäumt bewilligen.

Noch bis spät am Abend wogte die Volksmenge durch die mondhellen Gassen. Die Luft war milde, man merkte, daß der Lenz nicht fern war. Überall erklangen geistliche Lieder, einer drückte dem andern die Hand in freudiger Erregung, niemand gab zu Klagen Anlaß.

Es war schon spät, und der Lärm draußen ließ allmählich nach, da saß Herr Johann Salige allein in seinem Gemach. Der Mondschein lag hell auf seiner gebeugten Gestalt, und man konnte sehen, daß seine Züge alt und kummervoll geworden waren. Die Hausgenossen waren längst zur Ruhe gegangen, es war totenstill in dem großen Hause. Wohl war er müde von der Arbeit dieses Tages, aber er konnte keine Ruhe finden; heftiger Ingrimm erfüllte ihn, sonderlich gegen den Bürgermeister Bröms. Ihm war der Mut entsunken vor der festen und dreisten Erklärung des Volks; er hatte nicht, wie sonst immer, den Rat in Einigkeit erhalten können, sondern eine Partei in demselben hatte sich zu den Gegnern geschlagen. Und nicht allein das, der schlaue Mann, sobald er sah, wie die Würfel fielen, machte selbst gute Miene zum verdrießlichen Spiel und war ebenso freundlich und nachgiebig, wie vorher hart und unbeugsam.

Und er, der Ratmann, der alles geopfert hatte, seines Hauses Glück, seines Herzens Wohlsein, was hatte er gewonnen? Nichts, als die Einsicht, daß sein Opfer vergeblich gewesen war. O, daß Frau Eva jetzt neben ihm säße! Kein hartes Wort sollte sie treffen; sie sollte thun, wie ihr beliebte. War doch die Ehre seines Hauses vor den Wohlmeinenden ebenso befleckt dadurch, daß er sein Weib verstoßen hatte, wie sie als befleckt gegolten bei der katholischen Partei, wenn sie geblieben wäre. Hatte nicht noch heute abend der Bürgermeister Packebusch zu ihm gesagt: »Ratmann, das hättet Ihr nicht thun sollen, die Sachen laufen anjetzo derart, daß ein jeder sich halten mag, zu welcher Seite er will, es kümmert den andern wenig.«

Einen Augenblick kam ihm der Gedanke, er wolle Eva zurückrufen, er wußte, sie würde ihm verzeihen; aber er verwarf den Plan alsbald wieder, da er fühlte, er sei zu hart mit ihr verfahren.

Er stand auf und trat an einen Schrank, der in die Wand eingelassen war. Langsam schloß er auf und nahm ein zusammengelegtes Pergament heraus. Es war ein Zusatz, den er kürzlich seinem Testament zugefügt hatte zu Frau Evas Ungunsten. Ohne es zu lesen, zerriß er es mit Heftigkeit, dann schloß er den Schrank wieder.

Er setzte sich an den Tisch und stützte das Haupt in die Hände. Langsam zogen die letzten Jahre an seinem Geiste vorüber, und allezeit stand Evas Bild im Vordergrunde. Was hatte ihr, dem schwachen Weibe, den Mut gegeben, festzustehen? Die neue Lehre war doch vielleicht nicht so ganz zu verachten?

Unwillig über die eigenen Gedanken lehnte sich der Ratmann zurück, aber nur um so hastiger kam und ging Bild auf Bild, bis seine tiefen Atemzüge verrieten, daß er fest eingeschlafen sei. Der Morgenschein fiel hell durch die kleinen Scheiben, als er erwachte. Ihn fror heftig, und er fühlte sich krank, aber gewaltsam richtete er sich auf; er wollte und mußte sein Los tragen. Er ging in den Dom. Täuschte er sich, oder war es so, daß die Leute auf der Straße ihn mitleidig ansahen? Es schien ihm auch im Gottesdienst alles anders zu sein als sonst. Der Chorgesang klang ihm wie aus weiter Ferne, die leuchtenden Farben des riesengroßen Triumphkreuzes thaten seinen Augen weh, die ausgebreiteten Arme des Gekreuzigten schienen ihn von sich fortzuwinken.

»Ihr seid bleich, Herr Johann,« sagte ein Chorherr, der ihn vor einem der Dormitorien stehen sah, »Ihr müßt Euer schonen, wir können keinen Getreuen jetzt missen.«

Der Ratmann blickte ihn an, als verstände er ihn nicht, und jener fuhr fort: »Wir alle wissen, was Ihr für den rechten Glauben geopfert habt, und preisen Euch.«

Es kam wie Bitterkeit über Herrn Johann. Also das pries man, daß er sein edles, geduldiges Weib von sich gestoßen hatte. Er selbst konnte sich nicht mehr preisen. Der Chorherr durchmaß schweigend neben ihm das Schiff der Kirche, es war dem Ratmann peinlich, und mit kurzem Gruß verabschiedete er sich.

Als er auf den Kirchhof hinaustrat, schimmerte das Sonnenlicht auf den Knospen der Linden. Viele Menschen begegneten ihm, alle, mit wenigen Ausnahmen, waren fröhlich, und oft erhaschte er die Namen Wilms und Walhoff. Bruder Simeon begegnete ihm und rief erschrocken aus: »Hochedler Herr, Ihr seid krank; kann ich Euch dienen?«

»Nein,« entgegnete Herr Johann barsch im Weitergehen. Dann kam Bruder Benedikt daher, das alte Leuchten in den Augen, obgleich das Antlitz sehr ernst geworden war. Der Ratmann wollte ihn anreden, aber er wagte es nicht. Er wußte sicher alles und mußte ihn verachten.

Gesenkten Blickes ging er an ihm vorüber; um ihn her wogte das Volk, noch ganz erfüllt von dem gestrigen Siege. An der Ecke der Wamstrate stand der Ratmann still, seine Kräfte verließen ihn. Er hörte nur noch Raimars Stimme neben sich, dann schwanden ihm die Sinne.

Heftig trat die Krankheit, so man Pneumonia nennet, bei Herrn Johann auf; der Medikus blickte von Tag zu Tage besorgter drein. Junker Raimar mühte sich um den Kranken, und der alte Martin stand ihm bei, aber ihrer beider Geschick war gering zu solcher Pflege. Der Ratmann war bei voller Besinnung und sein Sohn merkte oft, wie sein Blick suchend umherirrte. Ach, er wußte wohl, wessen milde Hand der Kranke herbeisehnte, aber er durfte seiner Mutter Namen nicht nennen, und seine Angst wuchs stetig.

Am 7. April wurde in allen Kirchen von der Kanzel herab der Vergleich feierlich verlesen, und sonderlich den katholischen Kaplanen und Klostergeistlichen befohlen, selbst nicht weiter zu predigen, sondern dies allein den fünf evangelischen Prädikanten zu überlassen.

Meister Andreas war den ganzen Tag in gehobener Stimmung. Als er mit dem Altflicker aus der Kirche kam, sagte er mit Würde: »Hinrich, uns, die wir Märtyrer gewesen sind, geht die Sache noch besonders an. Endlich ist das Viktoria nicht wieder rückgängig zu machen.«

Auch im engen Gemach der Jungfer Elsabe Engelstede stieg Lob und Preis zum Throne des Höchsten empor. Frau Eva hatte sich nicht wieder von der geliebten Muhme getrennt, und friedlich waren ihre Tage dahin geeilt – äußerlich. Innerlich waren die Wellen des Kampfes oft sehr hoch gegangen, so daß sie das Schifflein fast bedecket hatten, immer aber hatte der Allmächtige seine Hand über demselben gehalten, daß es nicht untergegangen war. Mit tiefem Herzweh gedachte das junge, schwergeprüfte Weib ihres Kindleins. Würde sie diesen Kummer je ganz verwinden? Gegen Herrn Johann hegte sie keinen Groll. Heute, als sie in St. Marien gewesen war, hatte sie seiner sogar in liebreichem Mitleid gedacht. Es beunruhigte sie, daß sie Raimar so lange nicht gesehen hatte; er war dann und wann in das Stiftshaus gekommen und hatte ihr Kunde von Benedikta gebracht.

Der Abend dämmerte, schweigend saßen beide Frauen am Fenster und blickten hinaus. Da trat Bruder Benedikt ein und wurde freudig willkommen geheißen. Er war ernster als sonst, fast niedergedrückt, und die Jungfer Els fragte ihn alsobald, was sein Herz beschwere.

»Herr Johann ist am Sterben,« entgegnete er und sah zu Boden.

Dunkles Rot bedeckte Frau Evas Antlitz, und sie fragte leise: »Wer pflegt ihn?«

»Unkundige Männerhände; es ist zum Erbarmen, aber er hat es ja so gewollt.«

Es war lange still zwischen den dreien, dann erhob Eva sich: »Bruder Benedikt, wollt Ihr mich geleiten? Ich gehe zu dem Kranken. Jetzt da er Hülfe und Vergebung bedarf, gehöre ich zu ihm.«

Liebreich drückte die Muhme ihr die Hand, und Frau Eva machte sich bereit.

Noch immer war viel Volks in den Gassen, hatte aber so viel mit sich selbst zu thun, daß niemand merkte, wie der Klopfer an des Ratmannen Hausthür fiel und eine schlanke Frauengestalt hineinging.

Hoch aufatmend stand das junge verstoßene Weib im Dunkel der Diele; der alte Martin aber weinte vor Freuden, daß sie wieder da war.

Unbefohlen öffnete er das Gemach unten. Auf dem Tische brannte ein Licht, neben demselben saß Junker Raimar, und zur Seite, in dem großen Bett, lag Herr Johann, kaum noch ein Schatten von vordem.

Die Thür schloß sich hinter Frau Eva; niemand hieß sie willkommen, denn der Junker war eingeschlafen. Sie trat an das Lager, legte ihre Hand auf die heiße Hand des Kranken und sagte leise: »Herr Johann!«

»Eva!« Es lag alles in dem einen Wort, Freude, Schmerz und Scham; dann richteten sich die fieberglänzenden Augen fest auf sie, und er flüsterte: »Ich danke Euch, geht nicht wieder fort.«

»Nein, ich bleibe bei Euch, so lange Ihr meiner bedürft.«

»Allzeit bedarf ich Eurer,« versetzte er langsam, indem Thränen über seine Wangen rannen. »Aber nun seid erst barmherzig und verzeiht mir. Ich war ein Irrender und habe übel an Euch gethan.«

»Ja, ich verzeihe Euch von ganzem Herzen,« erwiderte Eva bewegt, »der Herr hat mich willig dazu gemacht durch sein Wort und seinen Befehl.«

»Ich danke ihm dafür, nun werde ich Ruhe finden.« Müde schloß er die Augen.

Als Raimar erwachte und die geliebte Mutter an seiner Seite erblickte, hätte er fast laut gejubelt; neue Hoffnung zog in sein Herz, nun würde alles gut werden. Nun mußte ja der Vater genesen in Frau Evas milder Pflege. Aber er genas nicht, sondern langsam gingen die Kräfte zu Ende. Er merkte es ohne Kummer und war zufrieden, daß sein Weib in seiner Nähe war. Seine Blicke folgten ihr, wohin sie ging, und willig ließ er sich Trostworte von ihr sagen, die er vordem verachtet und verworfen hatte. Was war es nur, daß er so verblendet gewesen? Noch einmal ließ er sich alles zum Schreiben bringen und fügte seinem Testamente bei, daß Frau Eva sein Haus behalten solle, Raimar aber dereinst das von Frau Herbort innehaben, dann ging er, nachdem er die heiligen Sakramente empfangen, sanft heim, seines Weibes Hand fest in der seinen haltend und ihr die letzten versöhnenden Grüße an Herrn Joachim auftragend. Frau Eva legte ihm ein Kruzifix auf die Brust; der Gekreuzigte wolle auch ihm gnädig sein, flehte sie, und dankte Gott von Herzen, daß er alles wohlgemacht, und Herr Johann nicht unversöhnt dahingefahren war.

An demselben Abend saß Bruder Benedikt bei der Jungfer Els; diese war tief bewegt. Morgen wollte sie ihr liebes Stiftshaus wieder verlassen und in des Ratmannen Haus übersiedeln, wie schon einmal. Der Mönch schwieg lange. Endlich, wie aus tiefen Gedanken erwachend, fragte er: »Wo ist Herr Joachim?«

»Ich weiß es nicht, nimmer erreichte mich Kunde von ihm. Er ist im Leide fortgezogen, wie er vermeinte, auf Nimmerwiedersehen.«

»Ich werde ihn finden,« sprach Bruder Benedikt und erhob sich.

Die Muhme sah ihn mit den klaren Augen fragend an, und er sagte zögernd: »Ich weiß alles, Jungfer Elsabe, und ehe ich mich dem Martinus zu Diensten stelle, wie mein Begehren, will ich Herrn Joachim suchen.«

»Gott schenke Euch Gelingen,« entgegnete sie ernst.

Als die Glocken von St. Marien das Trauergeläut zu des Ratmannen Herrn Johann Salige Begräbnis anhuben, zog ein einsamer Mann dieselbe Straße, wie vor kurzem Herr Joachim. Es war Bruder Benedikt, der sich vorher seines Klostergelöbnisses hatte entbinden lassen und nun mutig der Aufgabe, die er sich gestellt, entgegenging.


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