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Zweites Kapitel.

Gegenüber dem Rathause der freien Reichsstadt lag das Haus Herrn Johann Saliges, des Ratmannen. Es war aus glasierten Ziegeln gebaut, und um die Fenster lief ein vorstehendes Gesims in Spitzbogenform. Der der Straße zugewendete Giebel türmte sich in breiten Stufen auf, und mancher fremde Kaufmann, der durch Lübecks Gassen ging, blieb stehen und freute sich des stattlichen Baues; die Einheimischen aber, die an ihm emporblickten, sagten: »Herr Johann hat Glück gehabt im Leben, wie wenige.«

Hatten sie recht? und was dachte der Ratmann selbst darüber? Er saß an diesem sonnigen Februartage in seinem hohen Gemach zu ebener Erde. Die Wände waren mit, braunem Holz getäfelt, das hier und da durch eine Verzierung unterbrochen war. Auf dem großen, eichenen Tisch mit kunstvoll gedrehten Beinen lagen Papiere und stand in wichtiger Breite alles zum Schreiben Erforderliche, aber es war heute noch nicht berührt. Herr Johann hatte den Kopf in die Hand gestützt und schaute ernst zu Boden. Er war soeben aus Sankt Marien gekommen, wo er an dem von ihm gestifteten Seitenaltar eine stille Messe hatte lesen lasten zu Trost und Heil von Frau Jakobinas Seele, denn es war heute ihr Todestag. Er hatte dann noch auf dem großen, grauen Stein gestanden, der nahebei ihre Gruft deckte, und ein Paternoster gesprochen, und nun saß er hier und dachte vergangener Zeiten.

Er war einst arm gewesen, aber so lange er denken konnte, hatte eins ihn ganz beherrscht, das Ringen nach Ehre und Reichtum. Er hatte gearbeitet Tag und Nacht, er hatte mutig gewagt und viel gewonnen und endlich die Stieftochter des reichen Kaufmanns Harmen Lunte heimgeführt. Wohl war sie ein gut Teil älter gewesen als er, und seine Genossen behaupteten, es gäbe schönere Jungfrauen, aber was verschlug das? Er wollte nicht Jakobina, er wollte ihren Reichtum. Und der wurde ihm.

Rastlos hatte er dann hier im eigenen Hause weiter geschafft, gearbeitet, gesorgt. Seine Schiffe waren gegangen und gekommen, und sein Reichtum hatte sich verzehnfacht. Darauf hatte er Grundbesitz erworben und war Rentner geworden, denn das mußte er thun, um das Ziel aller seiner hochfahrenden Pläne zu erreichen, Ratmann zu werden. Endlich war ihm auch das gelungen, und es blieb ihm nichts mehr zu wünschen; denn auch der Sohn und Erbe war da, ein kräftiger, schöner Knabe.

Jakobina hatte gekränkelt seit der Geburt desselben. Er hatte deswegen einen Wallfahrer gen Köln zu St. Ewald gesandt und zwei Lispfund Wachs zur Gabe an den Altar des Heiligen in der Kunibert-Kirche, aber Jakobinas Leben war nur eine Zeitlang aufzuhalten gewesen. Heute vor zwei Jahren war sie nach schmerzvollem Ringen dahingeschieden.

Herr Johann konnte mit ruhigem Gewissen der Jahre gedenken, die er an ihrer Seite verlebt hatte. Wenn auch nicht in zärtlicher Liebe, so doch in unentwegter Treue war er der Ihre gewesen; er hatte jeden Wunsch der stillen, bescheidenen Frau erfüllt, und noch jetzt erinnerte er sich gern des dankbaren Blickes der großen, hellbraunen Augen, des Einzigen, was an ihr schön gewesen war, wenn er ihr eine sonderliche Rücksichtnahme erwiesen oder eine Freude gemacht hatte. »Ich bin an Eurer Seite zufrieden gewesen, Johann,« das war ihr letztes Wort in diesem Leben; dann hatte sie nur noch leise die Lippen bewegt, als spräche sie nach, was Bruder Benedikt ihr vorsagte; es war der 121. Psalm. Als er geendet, war ihre Seele entflohen, der Mönch aber sprach die Sterbegebete, darauf geleitete er den Ratmann in sein Gemach, eben dasselbe, in dem er jetzt saß und der Scheidestunde gedachte.

Sie hatte ihm doch gefehlt, die stille Frau, mehr, als er es sich selbst gestehen mochte. Um einen Ersatz zu schaffen, hatte er die Base Elsabe ins Haus genommen, und bald war alles wieder die gewohnten Bahnen gegangen. Base Els war eine kluge Jungfer, die Lücke war ausgefüllt, und der alte Glanz wurde den Gästen des Hauses gezeigt.

Herrn Johanns Wehmut war allmählich in eine gewisse Selbstzufriedenheit übergegangen, und es war ihm kaum unlieb, daß der Ton des Klopfers an der Hausthür jetzt schrill durch die große Diele klang. Vielleicht war es ein Besuch für ihn; gut, er mochte kommen.

Es klopfte leise.

»Herein!«

Die Thür öffnete sich, und zögernd trat ein junges Mädchen über die Schwelle. Sie mochte vierzehn Jahre alt sein, aber sie war groß für ihr Alter. Der frische Morgenwind hatte ihr schönes, zartes Gesicht leicht gerötet und die krausen Löckchen des blonden Haares in die Stirn geweht. Die dunkelblauen Augen blickten ernst, und indem sie den pelzverbrämten Atlasmantel abnahm und nächst der Thür aus die große, mit Bildwerk verzierte Truhe legte, trat sie zu Herrn Johann, reichte ihm ein Sträußchen von Schneeglöckchen und Epheu und sagte: »Die Großmutter sendet es Euch, und ob Ihr der Muhme Jakobina gedächtet?«

»Wohl habe ich ihrer gedacht, Kind,« entgegnete der Ratmann, »ich war in Sankt Marien und habe ihrer Seele eine Tröstung gespendet. Wie geht es Frau Herbort?«

»Ich danke Euch, Oheim, wie es so ihre Art ist. Jetzt war sie wohlzufrieden, daß die Schneeglöckchen zu rechter Zeit erblüht sind; sie kommen nicht allemal so früh.«

»Euer Gärtchen liegt geschützt. Willst Du ihr vermelden, Eva, ich käme heute noch zu ihr, um ihr zu sagen, wie hoch ich ihre Güte zu schätzen wisse?«

»Ich will's bestellen, Oheim. Darf ich hinaufgehen zu Muhme Els und Kordula?«

»Ja, geh, Kind. Ich danke Dir.« Herr Johann reichte dem Mägdlein die Hand, dann eilte diese leichten Schrittes hinaus.

Noch lange blickte er auf die Thür, hinter der sie verschwunden war. Es war ihm noch nie aufgefallen, wie schön dieses junge Menschenkind sei, wie frisch und fröhlich und doch wieder wie ernst. Fast unwillig stand er endlich auf, fuhr sich mit der Hand durch das volle Haar und murmelte: »Vierzehn Jahre, – sie ist ein Kind – Johann Salige, Ratmann von Lübeck, wohin verirren sich deine Gedanken am Sterbetage Jakobinas!«

Gewaltsam sich des unnützen Sinnens entschlagend, setzte er sich an den großen Tisch und nahm einen Brief zur Hand, welchen sein junger Stiefbruder geschrieben hatte, und der heute in der Frühe an ihn gelangt war. Er las: »Liebwerter Herr Bruder! Ich vermelde Euch gehorsamlich und meinem Versprechen gemäß, daß ich ohne Fährlichkeit in Paris angelangt bin, auch von Herzen meine, daß ich drei Jahre lang mich werde mit großem, unvermindertem Nutzen hier aufhalten können. Der Rektor der Universität allhier hat mir das Lob erteilt, daß ich in der Kapitelschule gut unterwiesen bin; er meinte, dieselbe müsse mit Fleiß verwaltet werden, was Ihr dem hochwürdigen Bischof, so es die Gelegenheit verstattet, vermelden wollet, denn es wird ihn, der das Oberhaupt ist, erfreuen. Auch dem Scholastikus entbietet meinen ehrfürchtigen Gruß. Er hat es gut gemeint mit mir.«

»Herr Bruder, mir ist wohl in der weiten Welt, ich kann es nicht ändern. Nicht mit frommer Sehnsucht gedenke ich des Zieles, so mir Eure Frömmigkeit und Güte gesteckt hat, nämlich dereinst ein Vikar in St. Marien zu werden. Aber wenn es Euch nicht reut, bin ich Euch im Gehorsam verbunden, sofern nicht andere Zeiten kommen bis dahin!«

Unwillig und hastig legte Herr Johann den Brief auf den Tisch, dann schob er den hohen, geschnitzten Stuhl zurück und ging erregt im Gemach auf und ab. Also auch er, der zwanzigjährige Jüngling, enthielt sich nicht, eine Bemerkung einzuflechten, die an die allgemeine revolutionäre Gährung erinnerte; vielleicht würde auch Raimar demnächst sich weigern, mit ihm in die Messe zu gehen! Wo würden die festen Dämme der kirchlichen Ordnung bleiben? Der große Haufe würde sie fortschwemmen; man ließ ihm zu viel Willen. Das schweigsame, geduldige Volk würde reden lernen, bald fordern und dann herrschen – o, und der Rat? die Macht des Rates? das Ansehen des Kapitels? der alte Glaube?

Tief seufzend ließ er sich wieder auf den Stuhl nieder und nahm den Brief von neuem zur Hand.

»Manches habe ich auf der weiten Reise hierher gesehen, was anders ist, als daheim in der geliebten Vaterstadt, der ich mit ganzer Seele anhange, und so die Heiligen mir gnädig sind, daß ich in drei Jahren meine Rückreise antreten kann, komme ich über Wittenberg heim. Denn allzu große Dinge geschehen allda, und wenn ich mich gleich nicht vermessen will, zu sagen, sie seien gut oder böse, so ist doch wohl geboten, alles zu prüfen. Verwehrt mir das nicht, herzlieber Herr Bruder; ich würde dennoch gehen, sintemal ich halte, es sei eine Sache des Rechtes und des Gewissens.«

»Paris ist eine schöne Stadt; man weiß nicht, wohin zuerst sehen, wenn man vor den großen, prächtigen Bauwerken steht. Auch der König Franz I. will viel bauen, aber man weiß nicht, ob es wird zur Ausführung kommen, es ist ja oft so, daß mehr angefangen wird, als hinaus geführt werden kann, und erweiset sich's also in Deutschland, reise ich nicht über Wittenberg.«

»Immer wieder ›Wittenberg!‹« rief der Ratmann ärgerlich; »man wird bald keine ruhige Stunde mehr haben vor dem Gekrächze.« Dann versank er in tiefes Nachdenken, und daß es nicht sehr erfreulicher Art war, bekundeten die tiefen Seufzer, die sich von Zeit zu Zeit seiner Brust entrangen.

Oben in der sonnigen Stube ging es indessen fröhlicher her. Mit lautem Freudenruf war Eva von Kordula empfangen, und auch die Muhme Els hatte sie freundlich in die Arme genommen. Hier ging dem jungen Mädchen allemal das Herz auf, und der klare Blick der blauen Augen wurde warm und leuchtend.

»Setzt Euch zu mir,« sagte die Muhme und hinkte an ihrem Stock dem Fenster zu, wo in der tiefen Nische ihr großer Armstuhl stand. Nicht allsogleich folgten die Mägdlein der Aufforderung, sondern sprachen noch halblaut wichtige Dinge mit einander. Die Muhme Els kränkte das nicht, sie mit dem sonnigen Kindergemüt verstand die Jugend wohl.

Wer sie jetzt so im Morgensonnenschein sitzen sah, konnte nicht ahnen, daß ihr Leben ein langer Trübsalsweg gewesen war. Allezeit umspielte ein stilles, friedliches Lächeln ihren Mund, und ihre grauen Augen strahlten, als wäre in ihrer Seele nichts als Licht und Freude. Daß sie fünfzig Jahre alt war, hätte niemand gedacht, ob sich schon viele weiße Fäden durch das schlichte, aschblonde Haar zogen.

Jungfer Elsabe war die Tochter des weiland Goßlick Engelstede, Kaufmanns allhier, und weitläufig versippt mit Herrn Johann Salige. Das Glück war ihrem Vater nicht, wie diesem, hold gewesen, er war in Armut gestorben und mußte froh sein, daß seiner allezeit kränklichen Tochter eine Stiftung in der Klockgeßerstrate Glockengießerstraße. zu teil wurde. Nicht eigentlich für Leute ihres Standes war das Haus gestiftet, und Herr Goßlick Engelstede hatte Anstand genommen, das Anerbieten anzunehmen, aber die Jungfer Els hatte gesagt: »Vater, laßt Euch das nicht grämen und entschlaget Euch der hochfahrenden Gedanken. Wen die Heiligen arm werden lassen, dem wollen sie eben etwas damit weisen oder, wollen sehen, wie er's trägt, und ob sie ihn dereinst können aufrücken lassen an der himmlischen Tafel.«

Seufzend hatte Herr Goßlick eingewilligt; sie aber war stillen Herzens nach seinem Tode in das hohe, alte Stiftshaus gezogen. Drei Treppen mußte sie steigen, bis sie in ihr Stübchen und Kämmerlein kam, dann aber sah sie auch die Welt von oben herab an und war dem Himmel näher. Die Glocken der Stadt tönten hier ernster und feierlicher, der Sonnenschein traf sie eher als die Leute unten, und die Spatzen und Schwalben waren ihre Freunde und Genossen.

So hatte sie viele Jahre einsam und doch freudenreich gelebt; ihr Gebrechen an der Hüfte machte es ihr unmöglich, die vielen steilen Treppen zu steigen, und nur selten kam jemand zu ihr. Von Stiftungswegen bekam sie die Woche 8 Schilling, dazu die Feuerung für den Winter; was sie sonst bedurfte, verdiente sie durch feine Stickereien, die sie für Frau Herbort Lunte anfertigte; auch sandte diese hie und da eine sonderliche Gabe, welche Jungfer Elsabe fröhlich annahm. Gewöhnlich hatte die kleine Eva ihr diese gebracht, denn sie war von Jugend auf bei ihrer Großmutter, Frau Herbort, erzogen, und es waren Lichtpunkte in des einsamen Kindes Leben, wenn sie oben neben der Muhme stehen und auf die Dächer, Gärten und Höfe unter sich schauen durfte. Dann erzählte diese ihr die Lebensgeschichten der Spatzen, Schwalben und Schmetterlinge, auch was der Rosmarinstock und der Gelbveigleinbusch im Fenster erlebt hätten, und die kleine Eva betrachtete die Dinge, welche sie umgaben, bald mit den Augen der Muhme Els.

Hörte Frau Herbort einmal davon, so sagte sie wohl: »Thorheiten, die Base paßt nicht in dies Jahrhundert,« aber sie ließ sie gewähren.

Sie hatte das rechte Wort gefunden, die Jungfer Elsabe Engelstede paßte nicht in das Jahrhundert. Sie dachte anders, sie sah anders als die Leute von damals, welche in wohlmeinender Zähigkeit einen Fuß vor den andern setzten, nicht anstoßen wollten und nichts aufgeben vom alten Herkommen und Brauch, und besonders nichts Neues einlassen wollten, sondern ungestört den Ruhm ihrer Vaterstadt genießen als eine persönliche Vergünstigung.

Muhme Els lächelte oft, wenn sie von ihrem sonnigen Fenster herab auf die Welt zu ihren Füßen blickte, und dies Lächeln galt mitleidsvoll den großen, reichen, sorgenvollen Leuten, welche für dieses Jahrhundert paßten. Aber sie lächelte nicht, wenn das Glöckchen von St. Kathrinen, welches zu den Horen läutete, zu ihr heraufklang. Dann faltete sie die Hände und seufzte: »Ach, lieber Vater im Himmel, muß es denn sein, daß des Lebens Freude so gar verdirbt hinter Klostermauern? Könnten die Menschen nicht dem Hochgelobten dienen mit Freude im Herzen und Dank auf den Lippen?« Aber es gab ihr niemand Antwort, wer sollte sie ihr auch geben? Die Zeit war noch nicht gekommen. Ein einzig Mal war Frau Herbort bei ihr gewesen. Fast mitleidig hatte sie sich in dem Gemach umgesehen, dann sich herausgelehnt aus dem Fenster und gesagt: »Jungfer, Ihr habt allhier eine herrliche Augenweide;« und als bald das Glöckchen von St. Kathrinen erklungen war und Muhme Els ihr von ihren Gedanken wegen der Klostermauern gesprochen, hatte Frau Herbort sie zornig angeblickt und geeifert: »Was redet Ihr für unbedachte Worte! Ich will Euch einen von Sankt Kathrinen schicken, der soll Euch lehren, wie es die Heiligen im Sinne haben mit den Freuden des Lebens.«

»Ich danke Euch,« hatte die Jungfer ernst erwidert: »mir ist wohler ohne dies; – doch verzeihet, wenn Ihr einen wüßtet, der jung ist und ein fröhlich Gemüt hat, den laßt zu mir kommen.«

»Ich weiß einen,« erwiderte damals Frau Herbort und sandte Bruder Benedikt. Das war vor drei Jahren gewesen, und wohl hatte die junge Seele zu der älteren erfahrenen gepaßt. Sie blickten mitsammen auf die Welt zu ihren Füßen und redeten von der Vergänglichkeit. Der junge Bruder hatte etwas von demselben Fehler an sich, wie die Jungfer Elsabe Engelstede: er paßte nicht recht in das Jahrhundert, aber er war jung, man konnte noch für ihn hoffen.

Die Mönche hatten in der Zeit sonderliche Stellung zu den Bürgern der freien Reichsstadt. Die Franziskaner zu St. Kathrinen sowohl wie die Dominikaner in Marien Magdalenen waren beständige Widersacher von Bischof und Kapitel, und ihre Interessen gehörten dem Rat und der Bürgerschaft. Aber mit der Zeit änderte sich das. Je heftiger sie sich gegen die Herrschsucht der Bischöfe und des Kapitels auflehnten, desto notwendiger mußten sie auch hin und wieder in Wort und That gegen die weltlichen Machthaber verstoßen. Da der Rat nicht mehr in dem Maße wie früher der Mönche bedurfte, vernachlässigte er dieselben; sie suchten und fanden ihren Anhang und Einfluß bei den Bürgern, und das je mehr und mehr. Sie gaben Ablaß und Dispensation williger und wohlfeiler, als man ihn irgendwo fand; sie unterrichteten die Jugend geschickt und für wenig Geld; sie waren die Seel- und Haussorger zu gleicher Zeit, und was den freisinnigen Bürgern mehr galt als alles, sie rügten dreist manche Mißbräuche der Kirche und straften die Hoffart und Herrschsucht des bischöflichen Klerus. Bruder Benedikt war jung ins Kloster gekommen mit Liebe und Willen; war ihm doch von Kind auf immer wieder gesagt worden, daß es so sein müsse, und daß es keinen andern Weg für ihn in der Welt gebe. Er war einer aus dem Geschlechte Schwicholt auf Beseritz in Mecklenburg. Sein Vater war ein harter, roher Mann, und als er sich im Jahre 1510 an Kirchen- und Pfarrgütern vergriff, aus den Glocken der Kirche zum heiligen Kreuz Grapen gießen ließ, seinen Kaplan, der ihm darüber Vorwürfe machte, verjagte und sich als Ersatz zwei Mönche aus Hildesheim kommen ließ, wurde er in den Bann gethan. Das war zuviel des Leides, und Bruder Benedikts sanftmütige Mutter legte sich zum Sterben, doch nicht, ohne vorher ihn, den Jüngsten und ihren Augentrost, dem Bischof von Lübeck, dem sie befreundet war, zu empfehlen, als der Acht auf ihn haben sollte. Im übrigen sei es ihr fester Wille, er solle in das Kloster des heiligen Franziskus eintreten. Wohl hätte der Bischof ihn gern am Dom behalten und ihm dereinst einen Platz im Kapitel gegeben, er konnte Dekan, Kanonikus oder Scholastikus werden, aber Bruder Benedikt wies alle Vorstellungen zurück. Er blieb den Bestimmungen seiner Mutter getreu; auch lag ihm der Ehrgeiz fern. Er war zufrieden in St. Kathrinen; es war Ruhe und Stille da, und der Friede der engen Klause war doppelt begehrenswert für ihn nach dem bunten, wilden Treiben in der Heimat und dem Elend und Unfrieden, so er täglich hatte ansehen müssen. Es machte ihn nicht unruhig, daß sein Vater gebannet und sein Bruder, der einst das Gut als Lehen erhalten sollte, ein Verschwender war. Er hatte nie Liebe zu den Seinen empfunden, außer zu seiner Mutter, und die lag allda in der Kapelle zum heiligen Kreuz zu ewigem Frieden gebettet. Was sie heimlich an Reichtümern erspart, und dessen war nicht ganz wenig, das hatte sie einem Rechtsgelehrten in Friedland für Benedikt übergeben, und wie ein Pergamentstreifen, der daneben lag, besagte: »... wenn er eine sonderliche Lust verspürt nach einem Besitz, so das Kloster, als in dem Gelübde der Armut stehend, nicht hergiebt.« –

Tausendmal hatte der Sohn sie dafür gesegnet; denn durfte Herr Heinrich, der Rechte Doktor, ihm auch kein Geld senden, so erhielt er es doch durch dritte Hand, da er viele Freunde im Volke hatte, und es war ihm ein Leichtes, sein Gewissen zu absolvieren, da er alles nur für fremde Notdurft ausgab.

Es waren andre Zeiten gekommen, als mancher sich hatte träumen lassen. Wohl hatten schon seit langen Jahren viele die Köpfe geschüttelt ob der Anmaßung des Klerus und der allgemeinen Verderbnis desselben wie seiner Unwissenheit und Willkür, aber es war bei dem Kopfschütteln geblieben, wenngleich in den Herbergen und Zunftstuben die Unzufriedenheit sich auch in Worten Luft machte. Als dann 1517 die Nachricht von dem mutigen Vorgehen des Augustinermönches ihren Weg auch in die freie Reichsstadt fand, da traten die Handwerker offen hervor mit ihrer Meinung, wenn sie auf der Herberge zusammenkamen, und ein Feuer wurde entfacht, dem der heimliche und offene Widerstand von Rat und Kapitel nur Nahrung verlieh.

So standen die Sachen, und Muhme Elsabes Gedanken waren heute nicht zum erstenmal damit beschäftigt gewesen. Aber sie war, wie stets bisher, zu keinem Schluß gekommen, nur eins war ihr klar, daß sie mit ganzem Herzen für Luthers Sache eintreten und den Kampf nicht scheuen wolle, und daß sie eine fröhliche, unwandelbare Hoffnung auf einstiges Gelingen hatte.

»Muhme Els,« rief Eva jetzt auf sie zutretend und ihren Arm um sie legend, »liebe Muhme Els, verzeiht, daß wir so lange heimlich sprachen; es hatte keinen üblen Grund.«

»Redet immerhin, ihr Mägdlein,« entgegnete die redete, »ich habe nicht gemerkt, wie lange es war, ich hatte so meine eigenen Gedanken.«

»Wieder vom Luther, Muhme?« fragte Kordula.

»Ja, vom Luther,« erwiderte sie und sah die Fragerin ernst an.

»Muhme,« sagte Eva schüchtern, »die Großmutter spricht sehr böse von ihm.«

»Ich weiß, wie Frau Herbort Lunte denkt; sie hat ihre Freiheit darin; Dir aber, Kind, wiewohl ich Dich in allen Stücken zum Gehorsam ermahne, sage ich doch, füge Dich nicht ihren Ansichten, sondern prüfe die Sache, dazu bist Du alt genug.«

»O, Muhme Els,« rief das Mägdlein, und helles Rot flog über das zarte Antlitz, »wie sollte ich ihr beistimmen!« Dann fuhr sie ruhiger fort: »Wißt Ihr wohl noch, wie ich im Stiftshause neben Euch am Fenster stand? Die Sonne schien hell, und die Spatzen hüpften auf den Dächern, Ihr aber lehrtet mich Sprüche der heiligen Schrift.«

Die Muhme nickte in liefen Gedanken, dann fragte sie freundlich: »Und Du weißt sie noch alle?«

»Alle, Muhme Els, und ich wiederhole sie mir des Abends und des Morgens, auch wenn ich mich verlassen fühle, und –«

»Verlassen?« Befremdet blickte Jungfer Elsabe auf das Mägdlein, die aber lehnte das Haupt an ihre Schulter und weinte leise.

»Eva, weißt Du, was der Hochgelobte verheißt? ›Ich will dich nicht verlassen, noch versäumen,‹ und ›Siehe, Ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende.‹«

Das Mägdlein richtete die thränenvollen Augen auf die milde Trösterin, dann versetzte sie: »Ich danke Euch, liebwerte Muhme, aber urteilt selbst, habe ich nicht ein Recht zu sagen, ich sei verlassen?«

»Ein Recht? Nein, denn Du hast Gott zum Vater, der Dich nie verläßt. Was müsset ihr Jungen denn allezeit nach dem Schein urteilen?«

»Mein Vater und meine Mutter sind tot; das ist doch nicht Schein?«

»Bedenke es recht, Mägdelein, Deinen Eltern warst Du nur anvertraut, ihre Liebe sollte Dir helfen und Dir das Leben schmücken. Nun aber, da sie der Allmächtige von Dir genommen hat, tritt er selbst in den Riß und wird Dich leiten an seiner Hand. Und hat er Dir nicht Frau Herbort gesandt?«

»Frau Herbort?« Es war wie tiefes Seufzen. »Ja sie ist gütig gegen mich oder vermeint doch, es zu sein, ach, wenn sie so wäre wie Ihr, dann wollte ich glücklich sein.«

Muhme Els lächelte; sie strich dem Mägdlein das goldige Haar aus der Stirn und sprach: »Frage nur Kordula, ob es ein sonderliches Glück ist, mit der alten Muhme Els zu sein.«

Da schlossen sich zwei junge Arme um der Sprecherin Hals, und eine vor Bewegung zitternde Stimme flüsterte: »Ja, ein großes Glück, ein unsagbares Glück; und nimmer ist es mir so wohl gewesen, als seit ich bei Euch bin.«

Jungfer Elsabe wollte etwas erwidern, da nahten sich leichte, schnelle Schritte, und herein stürmte Junker Raimar; ihm folgte Bruder Benedikt.

»Alles habe ich gewußt, Kordula!« rief er, »es war gut, daß Du mir gestern Abend noch geholfen hast; auch Bruder Benedikt sagt das.«

Dunkles Rot ergoß sich bei diesen Worten über des Mägdleins Antlitz, aber doch, froh des Lobes, blickte sie den Mönch an.

»Ja, Jungfer,« bestätigte dieser, »es war ein gutes Werk, nicht gegen die Heiligen, sondern gegen den Kleinen; er ist flüchtiger Natur, und anders ist es, so ihm jemand zurecht hilft.«

»Ich werde es immer thun,« sagte Kordula entschlossen.

»Führt es hinaus,« entgegnete der Mönch, »ich werde Euch dankbar sein und der Knabe auch.«

»Ihr sollt es sehen, Bruder Benedikt,« versicherte Kordula, ernst, »ich gehöre nicht zu den Wetterwendischen.«

»Das ist ein hohes Lob, das Ihr Euch da spendet,« erwiderte der Mönch lächelnd; als er aber sah, wie ihr wieder das Blut in die Wangen stieg, fuhr er freundlich fort: »Nehmt es nicht ungütig auf; ich will nichts gesagt haben.«

Zweifelnd blickte das Mägdlein in das offene Antlitz des Sprechers, dann aber senkte sie die Augen vor der unbewußten Gewalt der strahlenden Blicke, welche auf sie gerichtet waren, und reichte Bruder Benedikt die Hand, als er ihr zur Versöhnung die seine hinstreckte.

»Der Altflicker Hinrich Malenbeke ist auf der Diele und fragt gehorsamlich an, ob er die Jungfer Elsabe Engelstede sprechen dürfe,« meldete Martin, der alte Diener, von der Thür her.

»Er soll kommen, ich bitte darum,« versetzte die Angeredete.

»Lebt wohl, Muhme,« rief Eva. »Kordula, wir wollen, sehen, ob die Schneeglöckchen auch schon bei Euch blühen.«

»Ich komme mit Euch,« sprach Raimar, der Base Eva Hand fassend.

»Friede sei mit Euch!« grüßte Bruder Benedikt, und dann war Jungfer Elsabe allein.


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