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Drittes Kapitel.

»Tretet näher, Hinrich Malenbeke,« rief Jungfer Elsabe Engelstede dem Eintretenden zu; das Gehen ist nicht meine sonderliche Stärke, sintemal ich ein Gebrechen am Fuß habe. Ich wäre sonst auch zu Euch gekommen, denn Ihr habt weniger Zeit als ich. Schiebt Euch den Sessel heran; meine Sache ist nicht in zwei Minuten abgethan.«

»Ich danke Euch,« entgegnete der Flickschuster ernst; »schlecht würde mir's ziemen, zu sitzen, wenn Ihr zugegen seid; ich sitze fast den ganzen Tag, und mir ist wohl, wenn ich stehen kann.«

»So habt Ihr viel Arbeit?« fragte Muhme Els, um ihrer Sache näher zu kommen.

»Nicht allzuviel,« antwortete Hinrich Malenbeke zögernd, »aber der Verdienst hat bis daher gereicht, und ich bin zufrieden.«

»Dann seid Ihr ein Meister in Gottes Haushalt,« rief Jungfer Elsabe und sah dem alten Mann freundlich in das große, faltenreiche Antlitz; »solch ein Meister, wie sich in unserer Zeit wenige finden. Ich freue mich sehr, daß gerade ein Zufriedener das Heer meiner alten Schuhe flicken wird. Die Geschichte ist nämlich also. Vor kurzem kam ein armes Weib und verlangte ein Paar vertragener Schuhe von mir. »Herzlich gern,« sage ich und hinke in die Kammer, wo das schadhafte Schuhwerk steht. Ich suchte lange, fand aber nichts Brauchbares, da zog ich meine eigenen Schuhe aus und gab sie dem Weibe; hatte ich doch »herzlich gern« zu ihr gesagt und also die gewisse Hoffnung in ihr erregt, daß ihr geholfen würde. Von Stund an aber habe ich mir vorgesetzt, ich wolle das alte Zeug da flicken lassen, da ich nicht noch einmal die eigenen Schuhe ausziehen und mit löchrichten einhergehen muß, bis der Meister neue gebracht hat. Wollt Ihr dort die Thür öffnen? Martin hat sie in einen Korb gethan. – So, langet rechtsum.«

Hinrich Malenbeke brachte den Korb voll alten Schuhwerks und musterte ein Stück nach dem andern mit Kennermiene.

»Wolltet Ihr das Zeug da flicken? Dann würde ich Euch dankbar sein.«

Hinrich Malenbeke nickte schweigend; gern hätte er ein Wort erwidert; aber ihm fiel nicht das rechte ein, obgleich Meister Andreas den ganzen Vormittag dazu angewendet hatte, ihm begreiflich zu machen, wie man sich bei fürnehmen Leuten gebahren müsse. Er sah im Geiste den schmächtigen Schneider, wie er sich tief verneigte und die Quaste der weißen Zipfelmütze den bekannten Sprung machte; er hörte die eindringlichen Worte des alten Freundes: »Meister, höflich, bescheiden und selbstbewußt, das sind Handwerkertugenden, ohne die man nicht vor den Großen der Welt bestehen kann. Und dann, Meister, die Titulaturen! Immer frisch hineingegriffen: Euer Gnaden, Liebden, Hochgeboren, oder was Euch sonst gerade einfällt, je höher, desto besser; es liegt einmal so in der sündlichen Natur, daß die Ehre dem alten Adam wohlthut und sanft eingehet wie Honigseim.« Hinrich Malenbeke lächelte, als er dieser Weisung gedachte, und hatte nimmer noch Gebrauch davon gemacht. Er hätte es auch nicht über die Lippen bringen können Jungfer Elsabe Engelstede gegenüber, die so einfach und freundlich mit ihm redete.

Unter solchen Betrachtungen hatte er die alten Schuhe wieder in den Korb gepackt und stand nun aufrecht da. Es war still in dem sonnigen, niederen Gemach, und nach kurzem Bedenken, wie es recht und säuberlich anzufangen sei, sprach Jungfer Els: »Hinrich Malenbeke, Bruder Benedikt hat mir von Euerm Sohn erzählt, und wie er sonderliche Gaben von Gott empfangen hätte, daß er wohl Schulgeselle werden könnte. Nun ist mir von Herrn Joachim Salige eine kleine Summe hinterlassen, ehe er nach Paris ging, dafür solle ein gut Werk gethan werden, wenn er seine glückliche Ankunft vermeldet habe, und da dieses nun geschehen ist, so habe ich nicht Ruhe, bis ich seinen Willen ausgeführt habe, und bin darauf gekommen, es Euch für Euern Karsten zu verehren.«

Hastig hatte die Muhme zu Ende gesprochen. Als sie schwieg, schlug der Altflicker seine Augen zu ihr auf und fragte langsam: »Wären nicht Bedürftigere an den Thüren unserer lieben Frauen?«

»Die erhalten das Ihre aus dem Hövetkasten, und Lieber, es sind nicht nur die Armen, die bedürftig sind.«

»Ihr habt recht, Jungfer, und das muß ich Eurer milden Güte gestehen, daß ich zwar meinem Sohne helfen kann am Lebensunterhalt, auch soll mein bescheiden Dach das seine bleiben, aber – nun, es fehlt an der Kleidung, wie solche für einen Schulgesellen sich schickt.«

»Sehet da,« fiel ihm Jungfer Elsabe ins Wort, »das ist's, er kann nicht in grobem Lübecker Tuch einhergehen, so unsere Wollenweber beschaffen, er muß flandrisch Laken vom Gewandschneider kaufen; denn wisset, daß zu allen Zeiten das Kleid den Mann gemacht hat, das heißt, vor den Hochfahrenden, aber« – und ein feines Lächeln flog um die schmalen Lippen – »ihrer ist die Mehrzahl in der Welt, wenigstens in unseren Tagen.«

»Als ich jung war, war es ebenso,« entgegnete Hinrich Malenbeke ruhig, »und wenn Ihr darum meinet, ich solle das Geld annehmen –«

»Ja, ich meine es,« fiel die Muhme schnell ein, »und nun machet nicht mehr viel Worte darüber, sondern nehmt es als eine Gottesgabe. Es ist mit gutem Willen gegeben, nehmt es ebenso.«

Muhme Els zog aus dem Täschchen, welches ihr zur Seite hing, zwei Doppeldukaten à 13 Mark »Lübsch,« nach jetzigem Geldwerte ungefähr 130 Mark. und reichte sie dem Flickschuster. »Es wird reichen,« sagte sie einfach, »und Herrn Joachim wird es freuen, so ich ihm bei Gelegenheit berichten kann, einen wie guten Platz seine Gabe gefunden hat.«

Hinrich Malenbeke blickte unverwandt auf die Goldstücke in seiner Hand, dann legte er eins derselben wieder auf das Tischchen vor Jungfer Elsabe: »Laßt es genug sein an dem einen; Meister Andreas wird's schon machen damit, es sollen auch andere der Wohlthat genießen.«

Die Muhme schob den Dukaten wieder hastig von sich und drängte: »Nehmt, nehmt, Ihr machet mir Herz und Gewissen ruhig damit. Und nun, Hinrich Malenbeke, laßt uns kein eitel Geschwätz machen über eine so einfältige Sache; ich habe noch Anderes mit Euch zu reden.«

Der Flickschuster sah, daß sie müde war des Redens und Handelns, und nahm, wenn auch zögernd, den Dukaten wieder an sich; Jungfer Els aber legte die Hand auf seinen Arm, schaute ihm freundlich in das Antlitz und fragte leise: »Auch Ihr seid der neuen Lehre zugethan?«

Da flog es wie Sonnenschein über die ernsten Züge des Angeredeten, und er antwortete: »Ja, von ganzem Herzen, und ich will Gut und Blut daran setzen, daß die heilige Leuchte mir nicht wieder verlöscht werde.«

»Es werden Zeiten kommen, die solches erstreben,« sprach die Muhme sinnend, »und die Päpstlichen werden nichts scheuen, um das Volk zum alten Glauben zurückzuziehen. Was meint Ihr? Wird es ihnen gelingen?«

»Nimmer,« versetzte Hinrich Malenbeke und richtete die breite Gestalt hoch auf; »es ist schon zu weit gelaufen, das edle Wort von der Gerechtigkeit aus Gnaden. Die hohen geistlichen Herren mögen wohl wähnen, es sei ein Kinderspiel, das Volk wieder in die alten Schranken zu weisen, aber sie irren sich. Sie sollten einmal in die Herbergen, Trink- und Zunftstuben hineinhorchen; o, da ist jetzt nicht mehr Wortgefecht um dies und das, kein Prahlen mit vorlauten Thaten und kein Sang von dem und jenem Ritter, der etwas Heldenhaftes ausgerichtet, nein, ein jeder fragt, wenn auch mit verhaltener Stimme: Wie steht es in Wittenberg? oder: Habt ihr neues gehört vom Martinus? Und wer herzugereist ist, der nimmt das Wort und erzählt, was er gehört und gesehen hat, und wer ein neues Lied weiß oder einen Psalter, der singt frischweg, und wer es hört, preist Gott und wartet des weitern. Denn das weiß jeder im Volk, daß noch viel Wartens dazu gehören wird, ehe das Licht hervorbricht; dafür haben wir das Kapitel in unsern Mauern.«

Des Altflickers Antlitz hatte sich bei dieser langen Rede gerötet, denn es war nicht seine Art, viel zu sprechen; und als er jetzt Jungfer Elsabes verwunderte Blicke auf sich gerichtet sah, bat er in der alten schüchternen Weise: »Verzeihet mir, aber das Herz geht mir allemal auf, wenn ich des Wunders gedenke, daß auch uns Wasser in Wein gewandelt und Gottes freie Gnade angeboten werde, dazu sein Wort in unsere Häuser kommen soll.«

»Habt Ihr viel bei Bürgern und Handwerkern umgehört?« fragte die Muhme.

»Nein,« antwortete der Flickschuster, »ich bleibe fast immer daheim, aber mein Nachbar, Meister Andreas, der kommt allerwegen und redet, wo nur einer so lange schweigt, bis er anheben kann. Er ist des Sieges der neuen Lehre gewiß und erwartet, daß er bald errungen sei.«

»Nein, Hinrich Malenbeke, das glaube ich nicht, ein jeder von uns soll unentwegt hoffen, aber nicht darnach fragen, ob sich's bald erfüllen wird. Rat und Kapitel sind starke Mächte; es wird Gewalt kosten.«

»Ja, das meint Meister Andreas auch; aber er sagt weiter, das könne und solle es auch. Der Stadt Bürger seien einig und würden es ertrotzen, wenn es ihnen nicht gewährt würde.«

Jungfer Elsabe seufzte; dann sprach sie mit mildem Aufleuchten der Augen: »Es wäre besser, die reine Lehre zöge bei uns ein ohne Gewalt, Zorn und Rotten. Meister Andreas sollte zum Frieden reden.«

»Das habe auch ich ihm gesagt, er aber hat mir allemal erwidert: ›Friede? was heißt Friede? Friede ist hier ein trüber Sumpf, wir aber wollen klares, reines Wasser schöpfen, daß Seele und Leib nicht verderben.‹«

Die Muhme schwieg lange, dann reichte sie Hinrich Malenbeke freundlich die Hand: »Geht heim und flickt mir die Schuhe, daß ein armer Mensch Euch segnet, und dann – – sagt dem Meister Andreas, wir alle wollten Gott raten lassen und den Frieden nicht stören.«

»Wohl,« entgegnete der Altflicker, »doch Meister Andreas wird Euch antworten: ›Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu senden, sondern das Schwert.‹«

»Vielleicht, daß es sich auch bei uns also bewahrheitet,« meinte Jungfer Elsabe ernst, »wir müssen feststehen, es komme, wie es wolle.«

Schweigend erwiderte Hinrich Malenbeke ihren Abschiedsgruß und ging hinaus. Muhme Els aber saß noch lange mit gefalteten Händen in ihrem Armstuhl und ließ die Sonnenstrahlen auf ihrem Antlitz spielen. Weit voraus in zukünftigen Tagen weilten ihre Gedanken. Ja, der Kampf würde entbrennen; Bruder Benedikt hatte es längst vorausgesehen, und nun hatte sie von einem Manne aus dem Volke dasselbe gehört. Sie gedachte ihrer geliebten Vaterstadt, Herrn Johanns, der jungen Seelen, die dem Leben so ahnungslos gegenüberstanden, und für die es gleichfalls eine Entscheidung gelten würde. Eva war der neuen Lehre zugethan, Kordula dagegen hing fest an den Satzungen der römischen Kirche und hörte mit Abscheu der neuen Erwähnung thun. Das konnte nicht Wunder nehmen, denn sie war im Kloster zu Marienwalde, unweit der kleinen Stadt Mölln, erzogen worden. Einsam war sie dort aufgewachsen und sonderliche Strenge hatte sie von der Äbtissin erfahren, seit sie sich mit festem Entschluß geweigert hatte, als Nonne dort einzutreten.

Von ihren Eltern wußte sie nichts, Herr Johann hatte das Mägdlein vor fast zwei Jahren der Muhme Els zugeführt und gesagt, sie sei eine Waise, und das hatte genügt, ihr das ganze liebreiche Herz derselben zuzuwenden, zumal sie sah, wie ihr scheues, zurückhaltendes Wesen immer mehr wich und warmer Gegenliebe Platz machte. Die Muhme hatte es längst aufgegeben, mit ihr über die Dinge zu reden, welche auf das Kommen einer neuen Zeit hindeuteten. Das unentwegte Festhalten Kordulas am Bestehenden war es auch sonderlich, was Herrn Johann ihr geneigt machte. Auch Frau Herborts Gunst hatte sie dadurch erlangt, und so wurde sie Eva oft zum Muster aufgestellt, wenn diese lässig war, zur Messe oder zur Beichte zu gehen. Würde nicht dennoch sich ihr Herz einst der gnadenreichen neuen Lehre öffnen?

Jetzt erschollen fröhliche Stimmen unten auf der gepflasterten Diele. Die Mägdlein waren aus dem Gärtchen ins Haus gekommen. Aber die Muhme mußte sich noch gedulden, ehe Kordula wieder zu ihr trat, denn die alte Emerentia, Frau Jakobinas Amme, die das Gnadenbrot im Hause aß Alte Dienstboten dieser Art waren dagegen verpflichtet, bei allen Krankheitsfällen in der Familie die Pflege umsonst zu übernehmen. und ihre Wohnung in der Bude eines Ganges hatte, weil sie nicht gern in ein Beguinen-Haus gehen wollte, rief sie freundlich an: »Jungfräulein, seht allhier, was Tile, der Koch, an seinem Bratspieß hat, ein Stück vom Ochsen, wie es nicht alle Tage eins giebt.« Die Küche war in damaliger Zeit eins mit der Diele und erhielt ihr Licht von großen Fenstern, welche fast die ganze Wandfläche nach dem Hofe hin einnahmen. Die kleinen, grünen, in Blei gefaßten Scheiben ließen solches nur notdürftig hindurch und der Koch mußte bei seinen Verrichtungen kleine Thranlämpchen brennen, die an verschiedenen Stellen oberhalb des Herdes hingen. Die Küche war sehr sauber. In dem breiten Schornstein hing der zierliche, eiserne Haken und daran der Kessel, in dem die Biersuppe kochte. Auf den Borden zur Seite waren blanke, kupferne Pfannen, messingne Kessel, zinnerne Kannen, Schüsseln und Bierkrüge geordnet. Ihnen gegenüber auf ebensolchen Borden waren eiserne Grapen und kleine irdene, schön glasierte Töpfe aufgestellt. Stolz drehte Tile, der Koch, In den Patrizier-Häusern damaliger Zeit war die Bereitung der Speisen nicht einer Köchin, sondern einem Koch anvertraut. den großen Bratspieß über hellem Feuer, und sein heißes Antlitz glänzte, als er sich den Nähertretenden zuwandte und sagte: »Herr Johann kann's leisten, daß solch ein Stück Fleisch auf seinen Tisch kommt.«

Die rote Glut des Feuers beleuchtete die jungen Gesichter, welche aufmerksam der Arbeit Tiles zugewendet waren, und dieser fuhr fort: »Herr Johann nimmt es mit dem Reichsten in unsrer freien Stadt auf; auch ist er ein gütiger Herr, nur verschlossen gegen uns Dienende. Jungfer Kordula, könnt Ihr mir wohl berichten, ob der junge Herr Joachim wohlbehalten in Paris eingetroffen ist? Emerentia weiß, daß ein Brief angekommen.«

»Ja,« entgegnete das Mägdlein »und es ergeht ihm wohl.«

»Ich danke Euch,« sprach Tile weiter; »er ist ein werter Herr, jung, schön, tapfer, leutselig, nur eins ist verkehrt an ihm, daß er geistlich werden will; ihm würde die Rüstung besser stehen, als hie Kutte, und zudem – wer weiß, ob wir sie werden nötig haben, denn –«

»Tile,« rief Kordula zornig, »redet nicht weiter! Herr Joachim ist auf löblichem Wege.«

Der Koch sah sie von der Seite an und schüttelte den Kopf.

Eva hatte sich indessen zu der Alten gewendet und zugesehen, wie sie dünne Talglichte in einer zinnernen Form goß.

»Macht Euch die Arbeit Freude?« fragte sie gütig.

»Ja, Jungfer Eva, warum nicht? muß nicht der Mensch sich freuen, wenn er etwas Nützliches schafft? Große Dinge kann nicht ein jeder hervorbringen, will sagen, wie der Martinus dort draußen im Reich; aber ein Licht sauber gießen, daß es auf dem Herrentisch leuchtet, das ist auch nicht zu verachten, und oft, wenn so ein Lichtlein nach dem andern glatt aus der Form kommt, denke ich daran, ob ich's wohl erlebe, daß das Licht von da draußen her auch in meine Seele leuchten und mein Herz erfreuen wird.«

»Ihr sollt mit der Muhme Els reden, Emerentia.«

»Das habe ich gethan, und es ist tröstlich, sie zu hören; aber, Jungfer Eva, ich bin ein ungelehrt und arm Weiblein, ich muß warten, bis alle den Weg gehen, allein fürchte ich mich ihn zu betreten. Und was würde Herr Johann sagen? Er haßt das neue Wesen; man darf nicht daran rühren in seiner Gegenwart.«

Die Alte zog neuen Docht in die dünnen Formen, dann fuhr sie fort: »Frau Jakobina war anders, sonderlich in letzter Zeit, ich weiß es wohl, aber nimmer hat sie lassen ein Wörtlein verlauten über ihres Herzens Gedanken, Herrn Johann zu lieb und Gehorsam.«

»Emerentia,« sagte Eva nach kurzem Schweigen, »könnt Ihr mir sagen, ob Herr Joachim allezeit ein sonderlich Begehren gehabt hat, geistlich zu werden?«

»Nicht daß ich wüßte,« entgegnete die Alte, »auch ist früher nie die Rede davon gewesen, bis vor zwei Jahren, wo Herr Johann die Vikarie in St. Marien stiftete zu Ehren und Trost Frau Jakobinas und der ganzen Sippe. Vor allen ist es Frau Herbort gewesen, welche kein Geld gespart hat, den Altar zu begaben; denn wisset, daß die Seelmessen, die dort gehalten werden, auch den schon längst vorher Verstorbenen zu gute kommen, und sie gedenkt ihres Sohnes, des jungen Herrn Markus, welcher so plötzlich von hinnen mußte ohne heilig Sakrament.«

»Erzählt mir von ihm,« bat das Mägdlein, aber die Alte schüttelte den Kopf. »Nein, Jungfer Eva, nimmer sage ich Euch von ihm; ich werde alt und gedankenschwach, sonst hätte ich sein überhaupt nicht Erwähnung gethan. Und sprecht niemals zu Frau Herbort von ihrem Sohne Markus.«

Noch einmal versuchte Eva, die Alte zum Reden zu bringen, aber es nützte ihr nichts. Emsig that diese den flüssigen Talg in die Formen und schien nicht zu hören, daß jemand mit ihr redete.

»Gehabt Euch wohl,« sagte sie endlich freundlich, und da Kordula soeben herzutrat, gingen beide fort; die alte Emerentia aber war mit ihren Gedanken in längst vergangenen Zeiten; leise murmelte sie vor sich hin, und man hörte oft die Worte: »Armer Herr Markus! arme Jutta!«

Es war an demselben Tage, jedoch schon zog Abenddämmerung durch die schmalen Straßen, da saß Jungfer Elsabe vor dem breiten, schmucklosen Kamin ihres Gemaches. Herr Johann hatte unten einen modischen, grün glasierten Ofen, aber die Base Els behauptete, es sei ihm nicht so wohl bei demselben, wie früher bei dem hell lodernden Kamin. Sie wenigstens hatte den Ofen abgelehnt. Behaglich blickte sie jetzt in das helle Feuer und dachte der großen Zeit, in der sie lebte.

Da trat Kordula herein und, sich einen Holzschemel an die Seite der Muhme ziehend, lehnte sie ihr Haupt an deren Knie und sprach ernst: »Muhme Els, ich möchte Euch etwas fragen.«

»Thu das, Kind, ich will Dir Antwort geben, so ich kann.«

»Ich habe Euch von meinem Leben im Kloster zu Marienwalde erzählt, aber selten nur; es ist allemal wie Bitterkeit über mich gekommen, wenn ich der trübseligen Jahre gedachte.«

»Ja, Kind,« entgegnete die Muhme und strich liebreich über des Mädchens Scheitel, »ich habe oft gedacht, Du solltest mehr davon reden, das würde Dir das Herz frei machen, aber ich habe Dich nicht zwingen wollen durch ein unzeitig Wort. Verschließt man etwas in seinem Herzen, so thut man es mit Wohlbedacht.«

Kordula schien die Worte zu überhören und fuhr in ihrem Gedankengang fort: »Muhme, ich habe auch von Schwester Barbara gesprochen.«

»Ja, und ich würde mich freuen, mehr von ihr zu hören.«

Einen Augenblick zögerte das Mägdlein und sah in die lodernden Flammen, dann blickte sie der Muhme ins Antlitz und sagte: »Ich habe Euch jetzt ebenso lieb wie sie, und darum kann ich Euch von ihr reden; vor allem aber: Wißt Ihr, daß Schwester Barbara tot ist?« Ein unterdrücktes Schluchzen hinderte sie am Weiterreden.

Die Muhme hatte ihre Hand gefaßt; sie streichelte dieselbe liebreich und tröstete: »Sie ist heimgegangen und genießt des Glückes, welches ihr hier verwehrt war; denn Du hast mir gesagt, sie sei allezeit traurig gewesen.«

Kordula nickte und trocknete ihre Thränen. »Ja, Muhme Els, allezeit traurig und allezeit liebreich gegen mich, und ehe sie starb, ließ sie mich rufen. Ich saß an ihrem Lager in der dürftigen Zelle, und als wir allein waren, reichte sie mir ein Kästchen und sprach: ›Öffne es, wenn du einst Verspruch gehalten hast, denn ich weiß nicht, ob man dir je offenbaren wird, wer deine Eltern waren. Ich weiß es und habe es hierinnen niedergeschrieben, auch ist ein Andenken an deine Mutter darin; ich habe sie gekannt.‹ Ja, Muhme, so hat Schwester Barbara zu mir geredet, und ich habe schluchzend an ihrem Lager gekniet, meine Arme um ihren Hals gelegt, sie geküßt und angefleht, sie sollte hienieden verweilen: sie aber hat mich lächelnd angeschaut und geflüstert: ›Markus wartet mein; ich habe ihn längst aus des Fegefeuers Gluten gelöst, mein ganzes Leben hat nur diesen Zweck gehabt. Und du, Kordula,‹ fuhr sie fort, als ich sie fragend anblickte, ›gedenke mein und hilf die Frist kürzen, die mich von der Seligkeit scheidet und von Markus.‹ ›Wer war Markus?‹ fragte ich schüchtern; aber sie antwortete nicht, sondern lächelte nur weltentrückt. In der Nacht darauf starb die liebreichste, frömmste und beste der Nonnen im Kloster zu Marienwalde.«

»Und Du hast das Kästchen?« forschte Jungfer Elsabe.

»Ja, ich habe es allezeit sorglich verwahrt gehalten. Heute morgen, als ich nach der Messe noch in St. Marien verweilte und an Frau Jakobina gedachte, ergriff mich große Sehnsucht, um den Inhalt desselben zu wissen, und ich beschloß, Euch zu fragen, ob ich es nicht jetzt schon öffnen dürfe. Wer weiß, ob ich jemals ehelichen werde.«

»Das steht in Gottes Hand; aber ich hoffe, Du wirst noch einmal recht glücklich am eigenen Herde.«

Dunkles Rot bedeckte des Mägdleins Angesicht und sie schüttelte den Kopf; dann reichte sie der Muhme ein kleines, verhülltes Päckchen: »Liebe Muhme Els, wollet Ihr zusehen, was das Kästchen enthält, und mir dann raten, ob ich warten soll, oder ob es mir frommt, zu wissen, was ich so sehr ersehne? Denn das glaubt mir, es ist wie eine dunkle Wolke über mir, daß ich nicht weiß, wer meine Eltern sind.«

»Glaub's wohl, mein armes Kind, aber ich weiß nicht, ob es recht ist, den Willen einer Sterbenden zu umgehen.«

»Muhme Els, ich bin so alt, daß ich Verspruch gehalten haben könnte, und sicher nur hat Schwester Barbara gemeint, ich sollte kein unmündig Kind mehr sein.«

»Meinst Du? Es ist wahr. Du wirst sechszehn Jahre alt, wenn in den Weinbergen die Trauben reif sind, Man hatte damals Weinberge, aber nur um die Trauben zu essen, nicht um sie zu keltern. und so könntest Du es wohl wissen. Willst Du mir das Kästchen geben und den Schlüssel dazu, ich will mir überlegen, was recht und thunlich. Es ist wunderlich,« fügte die Muhme hinzu, als Kordula das Päckchen in ihre Hand gelegt hatte, »oft ist man dessen sicher und fertig, was man rechtens thun soll, und ein andermal schwankt und sinnt man lange.«

»Ja, und was dann thun?«

»Ei, dem Herrn die Sache befehlen! Er achtet auf die Sperlinge draußen, wird er nicht auch helfen, daß es klar und ruhig in unserm Gemüt werde, wenn wir ihm eifrig anliegen?«

Kordula schwieg; dann begann sie: »Frau Herbort hat mir ein Buch gegeben; soll ich Euch vorlesen?« Und auf der Muhme Einwilligung hin holte sie ein Büchlein, in welchem die Geschichte von der heiligen Dorothea geschrieben war.

Jungfer Elsabe war eine schlechte Zuhörerin in dieser Stunde, aber Kordula schien das nicht zu achten. Als sie geendet hatte, sagte sie: »Nein, Muhme, so möchte ich nicht den Tod leiden, ich könnte nicht standhaft bleiben, nein, ich könnte es nicht. Würdet Ihr den Flammentod also leiden können?«

»Also, das weiß ich nicht; fest aber hoffe ich, daß Gott mir beistehen würde, ihn zu ehren auch im Sterben. Wer weiß, was für Elend und Verfolgung meiner noch warten.«

Da stand das Mägdlein auf, legte ihre Arme um der Muhme Hals und rief leidenschaftlich: »Nein, nein, sprecht nicht so! ach – und wendet Euch nicht ab vom alten Glauben!«

Liebreich wehrte Jungfer Elsabe des Mägdleins Ungestüm, dann versetzte sie ruhig und mit heiterm Angesicht: »Laß mich, Kind; ich muß den Weg gehen, den ich als den rechten erkenne; der Allmächtige aber helfe uns beiden zum Frieden!«

Noch lange saß Jungfer Elsabe an jenem Abend vor dem Kamin; das Feuer war herabgesunken, aber zwei von Emerentias Lichtern brannten trübe in den niedrigen Leuchtern auf dem Tische. Sie hatte das Kästchen geöffnet, ein schmaler Ring lag darinnen, welcher innen die Worte trug: ›Markus an Jutta.‹ Dann waren es einzelne beschriebene Blätter, die sie jetzt durchlas:

Ich danke dem Hochgelobten, daß ich des Schreibens kundig bin, und kann also verzeichnen, was dem Kinde einst wird frommen zu wissen. Kordula, für dich ist es geschrieben.

Markus war Frau Herbort Luntes Sohn, und ich, Jutta, war der alten Emerentia Enkelin. Markus hatte eine Schwester, Anna, die gleichen Alters mit mir war, und da sie viel jünger als ihre Geschwister, wünschte Frau Herbort mich ihr zur Gesellschaft. Wir sind Freunde geworden und haben oft von der Zukunft geredet als von einem sonnenhellen Lande, ach, und uns beiden ist das Leben zu Kummer und Leid geraten.

Markus sollte geistlich werden, das war von früh an bestimmt. Da hat er mich lieb gehabt, und auch ich habe ihm mein ganzes Herz gegeben. Er meinte, es sei wohlgethan, heimlich den Ehebund zu schließen. Ich habe eingewilligt, und einer aus dem Burgkloster hat uns den Segen der Kirche gegeben. Aber es konnte nicht verborgen bleiben, daß er ein ander Verlangen trug, als geistlich zu werden. Frau Herbort selbst bestellte Häscher, die ihm aufpassen sollten, wenn er von mir käme, und ihn vor sie bringen. Diese aber verstanden es übel, waren auch wohl des Weines voll, als sie ihm auflauerten. In einer dunkeln Abendstunde haben sie ihm einen Streich versetzt, daß er wie tot niedergefallen ist, dann haben sie ihn seiner Mutter gebracht, freilich anders, als sie gewollt hatte.

Als der Morgen graute, haben sie mich gerufen. Zitternd betrat ich das Haus. Frau Herbort kam mir entgegen und sagte mit klangloser Stimme: »Er kann nicht sterben, ehe Ihr da seid, Jutta, aber ich fluche Euch.«

Wohl mag ich sie mit angstvollen Augen angeblickt haben, und ein wenig milder fuhr sie fort: »Ihr habt ihn der Kirche geraubt, sehet zu, wie Ihr die Sünde decket.« Darauf, vom Schmerz übermannt, schlug sie die Hände vor das Angesicht und rief schluchzend: »Mein Sohn, mein Sohn!«

Ich habe bei meinem Geliebten, meinem Gatten, verharret, bis er seine Seele ausgehaucht hatte, und von dem Augenblicke an ist mir die Welt versunken, und nur für sein Seelenheil und für den Himmel habe ich noch gelebt. Markus hatte Frau Herbort alles gesagt, und sie hat ihm in die Hand geloben müssen, daß sie gelinde fahren wolle mit mir. Sie hat es gethan auf ihre Weise; ich dagegen mußte mich anheischig machen, nimmer zu sagen, daß ich sein Weib gewesen. Ich versprach alles in sinnverwirrendem Schmerz. Für einige Monate sandte sie mich nach Hamburg; da wurdest du, meine Kordula, geboren; dann vermittelte Frau Herbort meinen Eintritt in das Kloster, sie war sowohl mit dem Bischof wie mit der Äbtissin bekannt. Sie hat ihr Wort gehalten und die kleine Kordula, so bald thunlich, dem Kloster übergeben. Ich habe meine Tochter, ungekannt von ihr, aufwachsen sehen und ihr meine Liebe erweisen können. Mein heißgeliebtes Kind, wie wenig ahntest du, daß Schwester Barbara deine Mutter sei!

Nimmer ist der Schmerz um Markus von mir gewichen, und ich habe Leid getragen mein Leben lang. Aber es hat mein Herz und Gewissen ruhig gemacht, an seiner Statt mich der Kirche zu weihen. Keine Stunde ist das Sehnen nach ihm von mir gewichen, und nun, da ich bald heimfahren werde, ist mir froh zu Sinne.

Du wirst zurückgehen in die Welt, meine Kordula, ich habe das heilige Versprechen von Frau Herbort, daß es so sein wird. Der Hochgelobte und die lieben Heiligen werden dich allerorten schützen und geleiten. Ich will am Thron der Himmelskönigin für dich bitten; dein Vater hat es längst gethan. Meinen Ring lasse ich dir als einzig Erbgut; ›Markus an Jutta‹ steht darinnen. Er wartet, und ich eile ihm entgegen; des Fegefeuers Qualen werden kurz sein; ich habe auch mich gelöst; Tag und Nacht habe ich des wahrgenommen, und getrost sehe ich nun dem schweren Wege entgegen, der in den himmlischen Garten führt. Meine sehr und viel geliebte Kordula, sei fromm, daß auch du eingehest in die ewige Herrlichkeit!

Ich bin allezeit in Treuen deine Mutter Jutta, jetzt Schwester Barbara.

* * *

Jungfer Elsabe legte das grobe Papier sorgfältig zusammen und blickte gedankenvoll in die kleinen, trüben Flammen der Lichter. Dann rann Thräne um Thräne über ihre Wange, und ihre milde Seele rang Juttas Schmerz durch in tiefem Mitgefühl. Lange saß sie also da, die Lichtlein waren tief herabgebrannt, und so ganz versunken war sie in Gedanken, daß sie nicht hörte, wie sich leise die Kammerthür öffnete. Plötzlich legten sich zwei Arme um ihren Hals, und Kordula flüsterte: »Muhme Els, ich konnte nicht Ruhe finden; sagt mir, was ist in dem Kästchen?«

Jungfer Elsabe zog das große, schöne Mädchen an sich; lange und innig hielt sie es umfangen, dann sagte sie: »Nein, Kordula, begehre nicht, es zu wissen. Genieße froh das Leben; es wird bald genug ernst werden, und Schwester Barbara hat recht gehabt; wenn Du Verspruch gehalten, öffne das Kästchen. Nicht das Alter macht, daß Du alsdann besser verstehst, was es enthält, sondern Deine Seele wird erfahrener sein in Lieb und Leid.«

»Was steht von meinen Eltern darinnen?« fragte das Mädchen angstvoll und zögernd.

»Nimmer brauchst Du die Augen niederzuschlagen, daß Du ihr Kind bist; sie sind fromm gewesen und haben ein edles Herz gehabt; nur des Lebens Leid ist in Strömen über sie gekommen und hat sie hinweggenommen, da sie jung waren.«

»Und die Heiligen haben ihnen nicht geholfen und beigestanden, und Ihr sagt doch, sie seien fromm gewesen!« rief Kordula heftig.

»Der Herr läßt das Übel zu, Kind,« erwiderte die Muhme ernst. »Die Trübsal ist ein großes Ding und ein heilsames Mittel, uns zur Ewigkeit zu bereiten.«

Das Mägdlein schüttelte den Kopf und sprach, leise zusammenschauernd: »Ich kann das Leid nicht leiden; nein; nur nicht so viel Elend! Ich glaube, es würde mich schlecht machen.«

»Ich will für Dich bitten, daß, so es kommen sollte, es Dich gut mache, damit Du hervorgehst wie das Gold aus dem Läuterungsfeuer.«

Kordula schwieg. Da tönten von St. Marien mächtig die zwölf Schläge der Mitternachtsstunde; Muhme Els erhob sich. Noch einmal küßte sie das Mägdlein; dann fragte sie ernst: »Und Du versprichst mir, das Kästchen nicht zu öffnen?«

»Ich verspreche es,« antwortete Kordula mit fester Stimme.


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