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Zwölftes Kapitel.

Es war Lenz geworden, der erste, den Karsten mit seinem jungen Ehegemahl verlebte. Er hatte ihr Maien aus dem Lauerholz geholt und Veilchen an der Mauer im Gärtchen gesucht, und sie hatte ihm liebreich gedankt; leichter aber wurde ihr das Herz nicht bei all der erwachenden Herrlichkeit, ob sie es selbst gleich oft ersehnte.

Auch der Linde vor dem Häuschen der beiden Freunde im Rosengarten merkte man es an, daß der Frühling da; die Knospen sprangen auf, und vorsichtig kamen die ersten Blättchen hervor.

An einem warmen Maiabend saßen Hinrich Malenbeke und Meister Andreas zu stiller Rast nach des Tages Mühen unter dem Baum. Jeder von ihnen empfand mit Lobpreis im Herzen, daß der Winter vergangen und man nicht nur hoffen, sondern erwarten konnte, die Welt werde neuer Schönheit voll. Wie sie also schweigend neben einander saßen, kam ein Mann daher, schaute die Häuser der Straße suchend an und trat zu Meister Andreas mit der Frage: »Könnet Ihr mir wohl meine Schuhe flicken?«

»Nicht ich, Freund! Der da ist der Rechte für Euch,« antwortete der Schneider, auf den Freund weisend.

»Zeiget her,« sprach Hinrich und besah den Schaden von allen Seiten, dann fuhr er fort: »Wohl kann ich das.«

»Aber es ist eine Bedingung dabei, sie müssen morgen in der Frühe fertig sein, da ich rechtzeitig wieder in Oldesloe eintreffen will, um den Gottesdienst nicht zu versäumen.«

»Ihr könnt ja hier zur Kirche gehen,« fiel Meister Andreas ein.

Der Fremde lächelte: »Nein, nicht ist mir's bloß um das Kirchengehen, sondern ich will unsern Prädikanten hören.«

»Was ist's mit dem?« fragte der Schneider hastig.

»Er predigt die neue Lehre, lauter reines unverfälschtes Gotteswort. Habet Ihr denn noch nicht davon gehört?«

Der Altflicker schüttelte den Kopf.

»Auch nicht, daß der Herzog Friedrich allerorten in seinen Landen durch umherziehende Prädikanten das gesegnete Evangelium, wie man es in Wittenberg anjetzo ausleget, und wie es von da in alle Lande gehet, predigen läßt?«

»Nein, auch das nicht,« entgegnete Hinrich Malenbeke.

»So sage ich's Euch anjetzo,« fuhr der Wanderer fort. »Anderswo hat der Herzog auch schon Prediger eingesetzt; der bei uns ist, muß jedoch fürder ziehen, und darum werdet Ihr begreifen, daß ich's eilig habe, morgen bei Zeiten dort zu sein.«

»Ja, das begreifen wir,« stimmte der Schneider zu, dann, nach kurzem Schweigen rief er erregt: »Nun urteilet selbst, Mann, ist es nicht ein himmelschreiendes Unrecht, uns über all diese Dinge in Unwissenheit zu lassen? und noch mehr, uns vorzuenthalten, was andern geboten wird? Sitzen wir nicht da, wie die Ägypter in den sieben magern Jahren? und zwar haben wir nicht das Fette vorweg gehabt, sondern müssen zusehen, wie andere bei der vollen gesegneten Mahlzeit sitzen und – – –«

»Aber,« unterbrach ihn der Fremde, »Ihr habet doch noch gestern einen in Euren Mauern gehabt, der hier in den Häusern Versammlung gehalten hat, und das Wort Gottes verkündigt und ausgelegt nach des Lutherus Weise.«

»So,« rief Meister Andreas verwundert, »auch das wissen wir nicht. Hinrich, da sehet Ihr den Schaden, wenn man nicht hie und da einmal auf die Herberge geht. Jetzt werdet Ihr's endlich merken, daß es von großer Wichtigkeit ist. Ich will mich morgen in der Frühe nach dem Sachverhalt umthun. Ihr aber, Mann, Ihr sollet bedankt sein, daß Ihr uns ein Licht aufgesteckt habt.«

»Aber wie ist's mit den Schuhen?« fragte der Fremde.

»Ja, so,« versetzte der Altflicker, »gebt sie her, Ihr ziehet meine alten an, und ich mache mich gleich an die Arbeit. In einer Stunde ist sie beendet; wollet Ihr so lange bei Meister Andreas verweilen.«

Er ging ins Haus und des Schneiders Augen funkelten vor Vergnügen, einmal eine eingehende Unterhaltung mit Einem, der's verstand, über die Zeitläufte zu führen; viel zu früh kam Hinrich Malenbeke mit den geflickten Schuhen zurück. Der Fremde ging, und die beiden Freunde besprachen das heute Vernommene noch einmal mit einander. Als sie sich endlich trennten, war Meister Andreas letztes Wort: »Morgen sind wir auch dabei, wenn hier gepredigt wird! Ich kriege es bald heraus, wo der gesegnete Mann verweilet.«

Es war am nächsten Tage um die Mittagszeit, die Hafersuppe stand schon eine geraume Weile auf dem Tisch, aber Meister Andreas war noch immer nicht zurückgekehrt. Endlich trat er heiß und erregt ein, setzte sich auf die Holzbank an der Wand und sagte verdrossen: »Ja, so ist die Sache, ein ehrsamer Rat und hohes Kapitel handelt übel mit uns. Stellt die Suppe weg, Meister; wer mag Hafersuppe essen, wenn einem das Lebensbrot vor dem Munde weggenommen wird? Ich nicht.«

»Was ist's denn, Nachbar?«

»Das ist's, daß ein Prädikant, der von Friemersheim, hier gewesen ist. Er hat hin und her gepredigt und öffentlich von dem werten neuen Glauben geredet. Alles ist ihm zugelaufen, und ist ein großes und freudiges Aufsehen gewesen. Und was thut das Kapitel? Es stellt ein dringlich Ansuchen an den ehrsamen Rat, daß er ihm, dem Prädikanten, den Aufenthalt hier verbieten solle. Der Rat willfahrt dem Kapitel, und also ist der Friemersheim heute in der Frühe gen Oldesloe gezogen. Da ist er unter des Herzogs Friedrich Schutz und wird wohl aufgenommen werden, wir aber blicken wieder auf die leeren Schüsseln vor uns. Daß sich Gott erbarme!«

»Nach Oldesloe?« entgegnete der Altflicker sinnend, »ich meine, die paar Stunden Weges könnte man gehen.«

Meister Andreas sah ihn mit offenem Munde an, dann sprang er auf und rief: »Hinrich, der weiseste Rat, den jemals einer von Deiner Zunft gegeben hat! Ja, gehen wir hin, und zwar schon Sonntag, denn er wird dort predigen; Viktoria! Das Volk ist klüger, als seine Leiter.«

Am Abend kam Karsten. Meister Andreas' Neuigkeiten waren ihm nicht mehr solche, er wußte als Stadtschreiber wohl darum, und daher seufzte er nur, als dieser von seinen Plänen sprach. »O, Karsten,« schloß er, »könnten wir zu dreien gehen! Sollte es nicht angehen, daß Ihr sagtet, Ihr wolltet eine kleine Reise machen? Es würde die Wahrheit sein.«

»Nein, Meister,« erwiderte dieser, »ich halte, was ich versprochen habe, und sollte ich auch darüber zu Grunde gehen.«

»Warum wolltet Ihr zu Grunde gehen, Stadtschreiber? Ich denke vielmehr, Ihr kommt noch recht hoch. Wenn diese Prüfungszeit beendet ist, seid Ihr ein rechter Mann, denn dann wißt Ihr erst, was Ihr an dem edlen, reinen Gotteswort habt.«

»Ich bin gebunden, Pate.«

»Ja, ich weiß auch nicht, wo das Loch ist, da hinaus die Sache will und kann, aber, mein Sohn, man muß glauben, daß noch Wunder geschehen, wie können sie uns sonst begegnen? Ich halte fest, daß diese Zeit der Reue – denn das ist sie doch, ich merk's ja – Euch verhilft zu desto stärkerem Mut und festerem Glauben.«

Der Stadtschreiber schwieg, und Meister Andreas fuhr fort: »Jeder hat sein Gewissen für sich; so wandern wir also allein. Mir ist so kampfesmutig zu Sinne, als stände ich neben dem Martinus und er sagte zu mir: Schneidermeister, helft mir, wir beide machen's dann allein.«

Die Tage vergingen Meister Andreas viel zu langsam. Endlich war der ersehnte Sonntag da, und sehr früh machten sich die beiden Freunde auf den Weg zum Holstenthor hinaus. Das war nicht der stille, ziemlich menschenleere Weg, wie sonst, nein, viele Fußgänger zogen daher, alle wußten, daß sie dasselbe Ziel verfolgten; sie grüßten sich jubelnd und freudig; und lichte Hoffnung war in aller Herzen. Und was für ein Heimkommen war das am späten Abend! Nicht blieb es da beim frohen Grüßen, man gesellte sich zusammen, und es war nur eins, wovon man redete, die gehörte Predigt. Das war freilich etwas Anderes gewesen, als man sonst gewöhnt war, zu hören. Man wiederholte sich, was der Prädikant gesagt, und wie er das Wort Gottes ausgelegt hatte; man besprach sich darüber; einem Jeden war das Herz voll davon, und beim Auseinandergehen tönte es allerseits: »Nächsten Sonntag treffen wir uns wieder beim Friemersheim.«

Von jetzt ab machten sich der Schneider und der Altflicker jeden Sonntagmorgen in der Frühe auf nach Oldesloe. Mochte es Sonnenschein sein oder in Strömen regnen, sie wanderten fröhlich ihres Weges, nur den einen Kummer im Herzen, daß Karsten nicht mit ihnen ging. Die Wochentage verflossen ihnen jetzt anders als sonst; sie unterhielten sich da über das Gehörte, sie prägten es sich tiefer ein, und Meister Andreas behauptete oft, er werde wieder jung. Es waren auch bald nicht mehr nur Fußgänger und geringes Volk, das am Sonntagmorgen zum Holstenthore hinauszog, nein, Wagen und Reiter ohne Zahl eilten dahin auf der Straße nach Oldesloe.

Eines Abends im August saßen die beiden alten Freunde sonderlich fröhlich beisammen, und als Karsten zu ihnen trat, sagte sein Vater mit bewegter Stimme: »Mein Sohn, uns ist ein großes Heil widerfahren, wir haben gestern das heilige Abendmahl mit den Lutherschen genossen. Der Hochgelobte hat es uns zum erstenmale vergönnt, seinen gesegneten Kelch zu empfangen.«

Meister Andreas nickte eifrig mit dem Kopfe, seine Lippen bebten vor Erregung, und er brachte endlich abgerissen hervor: »O, Karsten, es war wie an der himmlischen Tafel.«

Der Stadtschreiber schwieg, auf seinem Antlitz malte sich bittere Pein, und er flüsterte: »Die Erstgeburt für ein Linsengericht.«

»Seht Ihr's, was ich immer gesagt habe; man muß mehr bedenken, wenn man einen Rock zuschneidet, als die nächste Handbreit; das ganze Stück muß in Rechnung gebracht werden; ich kenne das. Euer Kram ist einmal verschnitten, ein richtig Gewand kommt nicht mehr heraus, ausgenommen, wenn Gott ein Wunder thut, worauf wir hoffen wollen.«

Des Stadtschreibers Sehnen nach dem, was er aufgegeben hatte, wurde immer heißer, dennoch war er liebreicher denn je um sein junges Gemahl besorgt, weil sie leidend war. Oft schaute er ihr fragend in die Augen, ob nicht der Schimmer des Glücks, den er bisher vergeblich darinnen gesucht hatte, endlich aufleuchte, aber es war allzeit nur ernste Ruhe und stille Freundlichkeit dort zu finden. Zu Frau Eva sprach sie oft davon, daß trübe Ahnungen sie befielen, aber sie that das nicht mit der Bangigkeit, die sonst junge Menschen beim Gedanken an das Sterben empfinden. Eva sowohl wie die Muhme Els suchten ihr frohe, gute Zeit vor ihres Geistes Augen zu malen und glaubten selbst, das erhoffte Glück werde ihr kommen, wenn vermehrte Pflichten und Sorgen ihr auferlegt würden. Liebreich half Eva der Freundin bei den kleinen Arbeiten, aber es konnte vorkommen, daß, wenn sie ihr ein Stück Linnen herzeigte, darin sie zierlich etwas gestickt hatte, Kordula sie mit großen Augen ansah und nicht alsobald wußte, was sie meine, bis ihr die Gegenwart plötzlich ins Gedächtnis kam, und sie lächelnd sagte: »Ich war wieder in der Ferne mit meinen Gedanken.« Dann schüttelte die Ratmannenfrau wohl den Kopf und entgegnete mild verweisend: »Mich bedünkt, es wäre allhier Gottesliebe genug für Euch, und Ihr brauchtet sie nicht zu suchen in der weiten Welt.«

»Laßt meine Gedanken wandern,« bat des Stadtschreibers Ehegemahl darauf, »Ihr wißt, daß sie nicht unrechte Wege gehen.«

So kam der September heran. Die Tage waren noch warm, und bis zum Abend verweilte Kordula in dem Gärtchen hinter dem Hofe. Karsten war jeden freien Augenblick bei ihr, und seine Liebe und Geduld rührte sie tief. Oftmals, wenn sie so bei einander auf der Bank saßen, die Karsten sorglich mit Kissen belegt hatte, reichte sie ihm die Hand, und ihre dunklen Augen blickten ihn dankbar an. Aber das Leuchten des Glücks war nicht darin, und mit tiefem Schmerz empfand er das. Ach, er hätte gern sein eigenes Glück für das ihre hingegeben. Er murrte nicht; er hatte sich seiner Wünsche Erfüllung gewaltsam errungen, und nun fühlte er wohl, daß der Mensch wenig weiß, was sein Wohl und Wehe ist und mehr denn je bat er, daß Gott ihm vergebe.

Am Abend des letzten September trat Karsten hastig und freudig erregt über seines Vaters Schwelle. »Vater, der Allmächtige ist uns gnädig gewesen, mein Weib ist eines Töchterleins genesen.«

Da faltete der Altflicker seine Hände und sagte mit stockender Stimme: »Der Herr segne Dein Kindlein und mache es zu seinem Kinde.«

Meister Andreas saß auf seinem Schneidertisch und Karsten brachte auch ihm die frohe Kunde.

»Was?« rief er, »ein Mägdlein geboren?« dabei schnellte er vom Tisch herunter; »das wird einst luthersch werden. Und ist es wohlgestalten? Sieht's dem Ahn ähnlich? Sagt nein, Karsten, denn ein Mägdlein muß schöner sein als er.«

Karsten lächelte; er hatte das Kind noch gar nicht gesehen. Nun verabschiedete er sich schnell, um wieder daheim zu sein, um zu forschen, ob Kordulas Augen in dem ersehnten Glanze leuchteten, wenn sie das Mägdlein in den Armen hielt.

Er trat leise ein. Das Kind schlief; mit Wonne betrachtete er es.

»Ihr schlaft nicht, liebwerte Frau,« fragte er und trat näher herzu.

Sie reichte ihm die Hand und sprach müde: »Ich möchte wohl, aber ich finde nicht Ruhe.« Die schmale Hand brannte im Fieber, und in seltsamer Erregung fuhr sie fort: »Ich habe es immer gesagt, Karsten, aber Ihr wolltet mir nicht glauben, nun wird's Euch hart ankommen, wenn ich gehe.«

Der Stadtschreiber blickte sein heißgeliebtes Weib fast entsetzt an, doch bezwang er sich und, innig ihre Hand drückend, flehte er: »Schont Euer, der Herr wird Euch behüten.« Dann entfernte er sich.

Es lag wie ein Druck auf seiner Seele. Er ging zu Herrn Johann Salige und bat, ihn für den nächsten Tag seiner Pflicht als Stadtschreiber zu entbinden; dieser war freundlich bereit. Frau Eva weilte noch kurze Zeit mit ihm im Gärtchen; sie redete ihm froh und gütig zu und malte ihm die Zukunft hell aus; er seufzte: »Der Allmächtige wolle es geben.«

Ein Tag verging und noch einer, Kordula war am Abend ruhiger und bat Karsten: »Reicht mir das Kind.« Er nahm das Mägdlein behutsam aus den Kissen und legte es der Mutter auf die Decke. Ihr Blick ruhte auf dem kleinen Wesen, welches jetzt gerade die Augen aufschlug; dann sagte sie, indem flüchtig Rot ihr Antlitz bedeckte: »Karsten, ich habe eine Bitte, wollen wir es Benedikta nennen?« Und als sie den Namen aussprach, leuchteten ihre Augen, aber sein Herz bebte in tiefem Weh.

»Wie Ihr wollt, Herzliebste,« antwortete er ernst und ruhig, »es ist ein schöner Name, und wir sind gesegnet durch das Kindlein.«

Als er sich entfernte, sprach sie weich: »Karsten, ich danke Euch; Ihr habt mir allezeit Liebe und Geduld bezeigt. Wollt Ihr das ferner thun?«

Er reichte ihr die Hand und entgegnete: »Ja, Kordula, allezeit, so wahr mir Gott helfe!«

Darauf ging er hinaus und trug seine Thränen in die Einsamkeit. Gegen Morgen klopfte Emerentia an seine Thür. Er öffnete hastig und wurde bleich, als er der Alten verstörtes Gesicht sah. »Es steht nicht wohl,« stieß diese beklommen hervor; »ruft den Arzt.«

Karsten eilte durch die menschenleeren Straßen, Todesangst im Herzen. Endlich war der Gesuchte bereit, ihm zu folgen. Als sie bei Frau Kordula eintraten, lag diese mit hochgeröteten Wangen und glänzenden Augen da. Ihr Bewußtsein war geschwunden, und sie flüsterte: »Nach Jerusalem will ich, aber ich weiß den Weg nicht.«.

Der Medikus schüttelte den Kopf; er verordnete etwas zur Kühlung, aber seine Kunst war bald zu Ende. Es war traurige Zeit in dem kleinen wohnlichen Hause; ein jeder wußte, daß es mit Kordula zum Tode ging. Die Jungfer Elsabe war, so bald es not, zu Kordula gekommen und verblieb auch allda, aber die junge Mutter kannte weder sie noch Karsten noch sonst jemand, der zu ihr trat.

»Morgen ist der siebente Tag!« sagte der Medikus ernst, »er ist verhängnisvoll.« Karsten erschrak kaum darob; er hatte es sich lange nicht mehr verhehlt, daß er sein über alles geliebtes Weib hergeben müsse. Er hatte es in den langen, ruhelosen Nächten durchgerungen und sich gedemütigt vor dem Allmächtigen, dessen Hand nehmen wollte. Und dennoch, unbewußt schlug die Hoffnung immer wieder durch.

Die Abendsonnenstrahlen fielen ins Gemach, da richtete Kordula sich auf; ihre Augen blickten klarer denn zuvor und sie flüsterte: »Mich verlanget nach der heiligen Wegzehrung.« Die Muhme Els nickte Karsten zu, und dieser ging, damit ihr Wunsch erfüllt würde. Andächtig empfing sie die Sterbe-Sakramente, und es kam eine tiefe Ruhe über sie. Zeitweise wanderten ihre Gedanken; dann wieder war sie ganz bei sich.

Es war schon spät, da tönte leise der Klopfer der Hausthür, und als Emerentia öffnete, stand Hinrich Malenbeke vor derselben. Weinend ließ die Alte ihn ein, und schüchtern trat er ins Gemach. Kordula wandte ihm das fieberheiße Antlitz zu und rief: »Vater, Ihr kommt? wo ist Schwester Barbara? bleibt bei mir, bis ich mit Euch gehe.« Der Altflicker wußte nicht, was sie meinte, doch Jungfer Elsabe wies auf den Sessel neben dem Bett und sprach: »Sie mag wohl denken, Ihr seiet ihr Vater, den sie niemals gekannt hat.« Stumm und mit Thränen in den Augen folgte er der Weisung. Kordula richtete sich ein wenig mehr auf und lehnte das Haupt an seine Schulter. Ein stilles, zufriedenes Lächeln breitete sich über ihr Antlitz, und sie schloß die Augen, vor sich hinmurmelnd: »Mein Vater ist gekommen, wartet nur noch eine kleine Weile.« Dann wurde es still im Gemach, Kordula schien zu schlafen. Der Flickschuster rührte sich nicht, um sie nicht zu beunruhigen. Eine Stunde um die andere verrann, und fahles Morgengrauen dämmerte durch die kleinen Scheiben, da hob das junge Weib plötzlich das Haupt und sprach: »Karsten, in Sankt Kathrinen will ich begraben sein; versprecht mir's.« Er reichte ihr die Hand und nickte stumm, sie aber fuhr fort: »Entbietet Eva meinen Gruß, sie soll mein Kindlein in Hut und Pflege nehmen, und wenn Bruder Benedikt heimkommt, sagt ihm, –«

Leise erstarben die Worte in undeutlichem Gemurmel. Karsten seufzte tief, und es war wieder still.

Da begann die Sterbende von neuem: »Karsten, ich danke Euch, Ihr habt es wohl gemeint mit mir; die Heiligen werden es Euch vergelten, und – nun ist's genug. Vater, sagt mir ein gutes Wort.«

Der Altflicker legte die Hände zusammen und betete andächtig: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.« Je weiter er sprach, desto aufmerksamer richteten sich Kordulas Augen auf ihn, dann schlossen sie sich, und ihr Haupt sank an des alten Mannes Schulter. Noch ein Blick traf Karsten, sie versuchte, ihm die Hand entgegenzustrecken, aber es gelang ihr nicht mehr. »Jerusalem!« flüsterten ihre Lippen fast unhörbar, da war die Seele entflohen.

Karsten sank auf die Kniee; ein jeder rang mit seinem Schmerz, ein jeder befahl die Seele der himmlischen Barmherzigkeit. Das leise Wimmern des Kindes unterbrach zuerst die Stille. Jungfer Elsabe nahm es aus den Kissen und legte es Karsten, der sich erhoben hatte, in die Arme; dieser drückte es fest an sich, und lindernde Thränen rannen auf dasselbe. Darauf gab er es der Muhme Els zurück, reichte dem Vater die Hand und ging hinaus. Er setzte sich auf das Bänklein im Garten; die Morgensonne warf ihre goldigen Strahlen über die hohen Mauern, der Tau der Nacht lag schimmernd auf den Blättern und Blumen. Als er zu Boden blickte, gewahrte er die silberne Nadel, die er einst Kordula verehrt hatte, und die ihr hier mochte entfallen sein. Er nahm sie an sich und preßte die Lippen darauf, dann faltete er die Hände und blickte in des Himmels Bläue. Er wußte jetzt wohl, woher seinem Weibe der Ernst und die Kümmernis gekommen war, die ihn so oft betrübt hatte. Er haderte nicht mit ihr; ihr Bild blieb rein und groß in seiner Seele; sie war sein Weib gewesen, er wollte sie lieben bis an das Ende seines Lebens. Und als er schonend und mit ungeminderter Liebe ihrer gedacht hatte, kehrten sich seine Gedanken gegen ihn selbst, und wie er's heimlich ungezählte Male geseufzt hatte, so faßte er es jetzt in Worte: »Vater, ich habe gesündigt in dem Himmel und vor dir.«

Die Tage vergingen, wie so traurige Tage vergehen. Karsten blickte zum letztenmal in Kordulas blasses Antlitz, dann wurde der schlichte Sarg geschlossen und feierlich in St. Kathrinen beigesetzt.

Als Karsten am Abend dieses Tages bei Meister Andreas eintrat, sagte dieser: »Kommt unter die Linde, Stadtschreiber, da wird uns wohler sein.« Als sie sich auf das Bänklein gesetzt, legte er die Hand auf seine Schulter, und indem er sich mit der andern die Thränen aus den Augen wischte, sprach er weich: »Nein, Karsten, so hatte ich's nicht gemeint, ich dachte, Gott solle ein Wunder thun und wartete darauf.«

»Er hat viele Wege, der Menschen Herz auf die rechte Bahn zu leiten,« erwiderte Karsten, »mir hat er das dunkle Thal beschieden.«

»Ich will Euch etwas raten, was gut ist,« hob der Schneider wieder an; »kommt am Sonntag mit nach Oldesloe, der Friemersheim wird Euch das matte Herz erquicken.«

»Nein, Meister, noch nicht; mir scheint, das sei zu hastig zugefahren; einmal noch gehe ich mit Frau Eva und Herrn Johann, dann aber soll nichts mich länger halten, und ich will nachholen, was ich versäumt habe. Ich bin meines Versprechens anjetzo quitt.«

Der Schneider nickte zufrieden. Bei aller Trauer um Karstens Schmerz blieb doch eine Freude; sie würden zu dreien gehen. Danach hatte er ausgeschaut, wie nach guter Zeit.

Karsten hielt Wort. Er wanderte mit nach Oldesloe, ob er gleich wußte, daß er seines Amtes dadurch verlustig gehen würde. Gottes Wort war ihm mehr als Ehre vor Menschen.

Es war vier Wochen nach Kordulas Tode und ein Sonntag. Noch spät am Abend trat der Ratmann bei Jungfer Elsabe ein und sagte fast drohend: »Wo ist der Stadtschreiber?«

»Er wird bald kommen,« entgegnete sie ruhig, »wollt Ihr ihn erwarten?«

»Ja, ich bleibe in seinem Gemach.«

»Geht und fahrt säuberlich mit ihm; vergeßt nicht, daß Kordula sein Gemahl war und zu Eurer Sippe gehört.«

Erschrocken blickte der Ratmann auf die Redende; er wollte eine zornige Frage an sie richten, aber er schwieg und eilte hinaus, vielleicht hatte sie nur mutmaßend gesprochen.

Die Jungfer Els ging nicht zur Ruhe; sie saß bei dem schlafenden Kindlein. Nicht flehte sie, daß der Herr den Sturm abwende, nein, der mußte kommen, nur, daß er es gnädig mache, erbat sie.

Als Karsten seine Stube betrat, erhob sich der Ratmann, stellte sich vor ihn hin und fragte finster: »Ihr kommt von Oldesloe?«

»Ja,« erwiderte Karsten ruhig.

»Das ist gegen die Verabredung,« rief der Ratmann heftig.

»Ich habe versprochen, so lange Kordula lebe, mich fern von der neuen Lehre zu halten; Gott hat sie genommen; ich bin meines Gelöbnisses quitt.«

»Und so ehret Ihr das Andenken an die Frau, die wir Euch gaben, damit –« Er schwieg betroffen über seine eigenen Worte, dann fuhr er nach einer Weile fort: »Wir hofften, Eure Seele würde durch sie der rechten Lehre wieder gewonnen werden.«

»Der rechten Lehre hange ich an; die neue Lehre ist die Wahrheit.«

»Und das sagt Ihr mir?« stieß der Ratmann hervor.

»Ich sage es Euch, weil ich niemanden täuschen will. Thut nun, was Euch recht dünkt.«

»Lehrt Euer Martinus auch, daß man Gutes mit Bösem, Wohlthat mit Undank vergelten solle?«

»Mit nichten,« entgegnete Karsten, »aber er lehrt, man solle sich nicht das Gewissen binden lassen. Ich sage Euch heute klar und bündig, ich habe unrecht gethan, daß ich Euch einstmals das Versprechen gegeben habe; ich muß jetzt gut machen, was ich gefehlt habe, und darum trete ich jetzt vor Euch hin und verhehle Euch nichts. Ich bin ein Lutherscher und will es allezeit bleiben.«

Sprachlos vor Zorn starrte der Ratmann ihn an. Endlich schrie er mit bebender Stimme: »So treffe Euch der Bann, der über die Abtrünnigen verhängt ist! Karsten Malenbeke, Ihr seid nicht mehr Stadtschreiber, morgen schon verlaßt Ihr dieses Haus. Ihr habt nichts hereingebracht, Ihr sollt auch nichts hinausbringen. Das Kind nehmen wir ins Haus, damit es im rechten Glauben erzogen werde, Euch steht die Welt offen, geht! Je weiter, desto besser. Habt Ihr noch etwas zu sagen?«

»Nichts, hochedler Herr,« sprach Karsten fest, wenn auch sehr bleichen Angesichts, »ich gehe, wie Ihr gesagt habt.«

Herr Johann eilte ohne Gruß fort, Karsten aber saß noch lange neben der Muhme Els und blickte auf das schlafende Kind. Er wiederholte ihr die harten Worte des Ratmannen und schloß: »Dennoch ist etwas Bitteres für mich darinnen – Kordula.«

»Sie ist jetzt im ewigen Licht, und der Hochgelobte hat ihr die Augen geöffnet,« entgegnete Jungfer Elsabe milde, »Ihr aber habt recht gehandelt.«

Als am nächsten Tage die Dämmerung hereinbrach, geleitete Karsten die Muhme Els in ihr Stiftshaus, dann verwahrte Emerentia das Kindlein wohl mit warmen Decken, und er ging neben her, als sie es zu Frau Eva brachte. Stumm reichte diese ihm die Hand; ihre Augen standen voll Thränen.

Beim Scheiden sagte sie leise: »Der Hochgelobte geleite Euch, ach, daß alle unsere Freunde scheiden müssen!« Noch einmal küßte er sein schlafend Mägdlein, darauf ging er tiefbetrübt von dannen.

Am andern Morgen wollte er ausreiten, die letzte Nacht blieb er noch in dem Hause im Rosengarten. Bis lange nach Mitternacht saß er in Meister Andreas Stube, sein Vater neben ihm; er erzählte ihnen alles, sprach auch von seiner Freudigkeit, um des Gewissens willen zu leiden.

»Recht so,« stimmte der Schneider zu, »gutmachen, was gut zu machen ist, Ihr habt Euch ehrlich und redlich gehalten, und seid Ihr einst niedergefallen und habt ihn, Ihr wißt, wen ich meine, angebetet, so seid Ihr jetzt wieder aufgestanden. Wohin wollt Ihr Euch wenden, Stadtschreiber?«

»Nennt mich nicht so, Meister, das ist vorbei. Ohne Amt und Würden ziehe ich aus und hoffe, der Herr wird mir weisen, wo und wie ich ihm dienen kann. Fürs erste gehe ich nach Wittenberg.«

»Wohl gesprochen, das thäte ich auch, da könnt Ihr Euch erst einmal erlaben von Grund der Seele und werdet auch Euers Herzeleids eher Herr.«

Noch lange ging Karsten im Oberstübchen auf und ab, nachdem die Alten die Ruhe gesucht. Der Mondschein lag weiß auf der Pforte des St. Johannis-Klosters. Ach, wie oft war Kordula dort herausgetreten, von ihm mit sehnsuchtsvoller Liebe erwartet! Noch einmal zogen an seiner Seele die letzten Zeiten vorüber, viel Freude und Glück war sein Teil gewesen, bis zuletzt das Wehleid so herb hereingebrochen war.

Mit dem Morgengrauen stand er auf; unten war es schon lebendig. Hinrich Malenbeke hatte die Mehlsuppe gekocht, und Meister Andreas saß müßig auf seinem Tisch. Schweigsam nahmen sie mit einander das Mahl ein, dann ging der vormalige Stadtschreiber zur Herberge, wo sein Pferd stand. An der Ecke der Johannis-Gasse blickte er noch einmal zurück; die ersten goldnen Sonnenstrahlen brachen sich Bahn. Meister Andreas legte die Hand über die Augen und winkte mit der Zipfelmütze, und der Altflicker hatte die Hände gefaltet. Er aber wanderte mutigen Herzens durch die stillen Straßen, leise vor sich hinsingend: »Aus tiefer Not schrei' ich zu dir; Herr Gott, erhör' mein Rufen.«


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