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[Erstes Kapitel.]

E Es war im Jahre des Heils 1521 zu Ende des Monats Februar. Hell schien die Sonne über der alten freien Reichsstadt Lübeck und weckte zu neuer Lust und frischem Hoffen die Herzen, die in des Winters Bann gelegen hatten und nun von Bangen und Sehnen nach neuen, großen Dingen erfüllt waren.

An der Straße bei St. Johannis, die man damals Rosengarten hieß, standen zwei niedrige, schmale Giebelhäuser so neben einander, daß nur eine einzige Mauer sie trennte. Dieselben waren sehr unscheinbar. Zur Rechten der einen Hausthür und zur Linken der andern lag ein Stübchen; Küche und Flur waren eins, und im Hintergründe führte eine sehr steile Treppe ins obere Stockwerk. Dieses bestand aus einer kleinen Stube nach der Straße hinaus und einer noch kleineren nach dem engen Hofe zu. Darüber befand sich der Boden, zu dem man auf einer Leiter gelangte.

Diese Giebelhäuser waren früher von zwei Brüdern erbaut und bewohnt worden; beide hatten das ehrsame Schuhmacherhandwerk betrieben, und weil sie allezeit in treuer Liebe zu einander gestanden, so war das Pförtchen in der Mauer, welche die Häuser trennte, niemals verschlossen. Nach ihnen hatte ein anderes Geschlecht Besitz von den Häusern genommen, wie es so in der Welt gehet. Das zur Rechten erbte in der Familie des Erbauers weiter, und es hatte allezeit ein Schuster darin gewohnt, aber das zur Linken war bald in fremde Hände gekommen, hatte oft seine Bewohner gewechselt, und jetzt wohnte der ehrsame Schneider Andreas Schünemann darin, schon seit er sein Meisterstück gemacht. Im Laufe der Zeit war das Mauerpförtchen oft verschlossen gewesen, aber seit Meister Andreas und Hinrich Malenbeke, der Flickschuster, Nachbarn waren, stand es wieder allezeit offen.

Heute, an dem sonnigen Februartage saß Meister Andreas auf seinem Tisch; die Hände ruhten von der Arbeit; er blickte sehnsüchtig auf die helle Straße, wo die Spatzen sich tummelten, und seufzte. »Ja, wer's so haben könnte, immer im Sonnenschein und sich was Neues erzählen! Aber unsereins muß hier sitzen und Junker Raimars Rock flicken. Nun, es ist gut, daß es seiner ist; er ist ein liebreicher, hochherziger Junker, so klein er noch ist; Gott walt's, daß der Vater ihn nicht umwandelt nach seinem eigenen hochmütigen Sinn.« Emsig nahm er die Arbeit wieder auf, und lange war es still im Stübchen, nur von der Gasse her tönte fort und fort das Sperlingsgezänk.

Jetzt knarrte nebenan die Hausthür. Meister Andreas horchte gespannt hin. »Es ist Karsten,« rief er, und mit einem einzigen Satz schwang er sich vom Tisch, zog die weiße Zipfelmütze tiefer über die Ohren, nahm im Laufen das blauwollene Wams vom Nagel und warf es sich über. Dann stolperte er erst die Treppe hinauf und darauf die Leiter. Hastig stieß er die Luke auf, welche von seitwärts auf das andere Dach mündete, und lehnte sich hinaus.

Es währte nicht lange, so öffnete sich auch die Luke gegenüber; ein blasses Gesicht schaute hervor und nickte Meister Andreas freundlich zu. »Schaut, Pate, dort oben; heute ist ein Tag für meine Tauben.«

Der Angeredete folgte dem Fingerzeig des Jünglings, und mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgten beide das Treiben der bunten Tauben in der klaren, frischen Luft. Sie flogen in weiten Kreisen über dem Kloster der Cisterzienserinnen hin, und der Sonnenschein glänzte auf ihrem Gefieder.

»Sieh dort, Karsten, die weiße,« rief Meister Andreas, »das ist die Luther-Taube, sie fliegt auch anjetzo am höchsten, wie sie's immer gethan hat. Sollst sehen, es kommt bei uns eben so; der Papst kann nicht mit, der Flug ist ihm zu hoch. Ah, sieh hin, die weiße ist garnicht mehr zu finden, und der buntschillernde Papst schwebt schwerfällig über St. Johannis.«

Das schmale, bewegliche Gesicht des ehrsamen Meisters leuchtete in heller Erregung, und er verwandte kein Auge von den fliegenden Tauben. »Hab ich's nicht immer gesagt?« redete er dabei weiter; »es muß so kommen. Warum sollte es in der freien Reichsstadt anders sein als an anderen Orten? Der Luther wird siegen. Karsten, sie kommen zurück; nur hinein in den Schlag! – Alle da? Nein, die weiße fehlt noch. Ach, da ist sie, der Luther macht den Beschluß, er wird auch bei uns den Beschluß machen; denk an mich, Junge, wir werden noch viel erleben.« Ein freundliches Winken, dann verschwand die weiße Zipfelmütze hinter der Luke, und Karsten war allein und blickte in den Sonnenschein hinaus.

Meister Andreas stieg indessen wieder ins Erdgeschoß hinab, ging durch das Mauerpförtchen und trat in des Flickschusters Stübchen. Dieser saß auf dem Dreibein und klopfte emsig auf seine Arbeit los. Jetzt ergriff er einen Faden, zog ihn über das Pech, nahm die Ahle zur Hand und begann die Arbeit an einer anderen Stelle des groben, schadhaften Schuhes.

»Hinrich,« sagte Meister Andreas, »was heißt dies? Hantierst da herum, als hinge deine Ehre davon ab, daß Du's heute noch fertig bringst.«

»Thut's auch,« antwortete der Angeredete; »ich habe Bruder Benedikt versprochen, er solle die Schuhe heute abend fertig vorfinden, wenn er kommt, und ein ehrlicher Mann hält sein Wort. So,« fuhr er fort, »den großen Riß werde ich heute nachmittag beflecken; wir müssen jetzt ans Mittagessen denken.« Bei diesen Worten erhob er sich, nahm die Brille ab, legte sie auf den niedrigen Schustertisch und reckte sich zu seiner ganzen Höhe aus. Fast riesenhaft sah er gegen den schmächtigen Meister Andreas aus, sein Haar war leicht ergraut, und die guten Augen hatten einen kindlichen Ausdruck.

»Was giebt's heute mittag?« forschte der Schneider.

»Hafersuppe mit Kräutern und Wurzeln,« entgegnete der Flickschuster.

»Ohne Fleisch?«

»Ja, ohne Fleisch; wir haben schon viermal diese Woche etwas im Topf gehabt, und es ist Freitag.«

»Richtig, richtig, Meister, Ihr seid eine ›kontemplative Natur‹ wie Bruder Benediktus sagt, die meine gleichet mehr den Tauben Euers Karsten. Nun, es muß ja auch solche Leute geben. Also Hafersuppe? Es ist ein edles Gericht. Kocht Ihr heute, Meister?«

Ein Lächeln flog über des Flickschusters Antlitz. Einmal war das die bestehende Erwiderung auf die Anrede »Meister;« er war kein Meister, hatte es aber längst aufgegeben, seinem Gefährten die Anrede abzugewöhnen, denn dieser behauptete, einen neuen Schuh oder Stiefel machen, das könne jeder, der es gelernt hätte, aber einen redlichen und anständigen Flicken auf das alte Zeug setzen, das könne nur ein Meister. Doch nicht allein der Anrede galt das Lächeln, sondern auch der Frage. Als die beiden sich hier zusammengefunden, hatten sie das Abkommen getroffen, Meister Andreas solle seinen Mittagstisch im Nachbarhäuschen haben, und es hatte ihm wohl behagt, so lange Frau Brigitta lebte, welche gesalzen und geschmolzen hatte, wie sich's gehörte. Als diese aber gestorben war – es mochte wohl zehn Jahre her sein – da waren sie wehmütigen Herzens überein gekommen, jeder von ihnen solle eine Woche kochen, und sie wollten weiter mitsammen das bescheidene Mahl einnehmen. Zuerst war es kümmerlich gegangen, denn sie hatten nimmer vorher einen Grapen oder Kessel angerührt, dann aber hatte sich bei Hinrich Malenbeke, wie der Schneider behauptete, ein ungewöhnliches Talent für die edle Kochkunst entwickelt, und er selbst hatte sich unverabredetermaßen davon zurückgezogen. Nur von Zeit zu Zeit that er noch die obenerwähnte Frage, und mit Bestimmtheit konnte er darauf rechnen, daß der Flickschuster ihm lächelnd antworten würde: »Ja, Andreas, wie Ihr wißt.«

Er sagte das auch heute; dann ging er hinaus, um das Feuer unter dem schwarzen, eisernen Grapen von neuem anzufachen; der Schneider aber setzte sich und blickte sinnend auf seine gefalteten Hände, deren Daumen in gewohnter Weise umeinander kreisten. Zuerst gedachte er an Junker Raimars zerrissenes Wams, darauf an dessen Vater, den Ratsherrn Johann Salige; weiter an den ganzen ehrsamen Rat, und wie dieser sich der neuen Lehre gegenüber stellte, und als er dann noch ein wenig nachgrübelte, sprang er plötzlich auf, als stände er einem Feinde gegenüber, zog die Zipfelmütze von dem spärlichen grauen Haar und –

Da öffnete sich die Thür, und der Flickschuster trat ein, hinter ihm Karsten, welcher die hölzerne Schüssel mit der Hafersuppe trug. Meister Andreas langte eilig die zinnernen Löffel aus dem Tischkasten, und alle drei ließen es sich nach einem stillen Benedicite wohlschmecken. –

Mehrere Stunden waren verflossen. Das helle Sonnenlicht verschwand allmählich, und der Flickschuster legte Bruder Benedikts Schuhe zufrieden zur Seite. Da trat dieser, freundlich grüßend, herein.

Er war noch jung, und das grobe, braune Gewand konnte nicht hindern, daß man ihn mit Wohlgefallen betrachtete. Die Tonsur hatte noch genug des starken, braunlockigen Haares verschont, und die dunkelgrauen Augen blickten mit strahlender Frische in die Welt. Seine Züge waren regelmäßig, und fröhlich rief er jetzt: »Ihr werdet die Schuhe noch nicht fertig haben, Hinrich Malenbeke; aber ich mußte früh kommen, denn arg zerrissen ist meine Kutte, und ich will Meister Andreas um Hilfe bitten.«

»Die Schuhe sind fertig,« entgegnete Hinrich, »und zum Meister wollen wir sogleich gehen.«

Dabei stand er auf und öffnete dem Franziskanermönch die Thüren.

»Friede sei mit Euch!« grüßte dieser beim Eintritt in des Schneiders Stübchen; der aber, wie es seine Gewohnheit war, sprang mit einem Satz vom Tisch herunter, zog die Zipfelmütze ab und sagte, da sein Auge blitzschnell den Riß im Gewand des Mönchs entdeckt hatte: »Bruder Benediktus, schon wieder meiner Hilfe benötigt?«

»Ja,« antwortete dieser lachend, »Ihr wißt, ich lerne es nicht mehr; wohl ist es gegen die Ordensregel, und ein jeder soll selbst flicken, was er zerrissen hat, aber ich opfere einige Pfennige für die Übertretung. Ich kann es in Wahrheit nicht.«

»Setzt Euch,« sprach Meister Andreas ernsthaft. Er zog den Holzstuhl heran und betrachtete den Riß mit Kennermiene. »Er ist sehr groß,« sagte er endlich. »Ja, sehr groß,« stimmte der Mönch bei; »wißt, ich habe mit Junker Raimar Ball geschlagen, der Sonnenschein lockte uns in der Mittagsstunde auf den Hof hinaus. O, es war eine Lust. Ich war als Knabe ein Meister im Ballspiel; ach, wie lange ist's her!« Tiefer Ernst beschattete plötzlich das schöne, fröhliche Antlitz.

»Also Ball geschlagen! Freilich, ein schöner und unschuldiger Zeitvertreib, aber zu früh im Jahre; es ist noch nicht Lenz.« Dabei holte Meister Andreas einen braunen Lappen von grobem Wollenzeug und paßte ihn auf den Riß.

»Nicht so,« rief der Mönch, »habt Ihr vergessen, Meister, daß wir Anhänger des heiligen Franziskus nur mit Sackleinwand flicken?«

»Ihr werdet bald gar nicht mehr flicken,« platzte der Schneider ärgerlich heraus; »denn, glaubt mir, Bruder Benedikt, Eure Tage sind gezählt. Die Martiner werden siegen trotz Bürgermeister, Rat und Kapitel.«

Der Mönch seufzte und schwieg.

»Was ist da zu seufzen?« fuhr Meister Andreas fort, »grämt sich auch ein Vogel, wenn er dem Käfig entfleucht?«

»Nicht darum seufze ich,« erwiderte Benedikt, »daß solch ein Umsturz kommen wird. Ich seufze, weil ich in meiner Zelle müßig zuschauen muß. O Meister, ich bin so kampfesmutig, ich denke mir in einsamen Stunden aus, was ich dem hochweisen Rat sagen würde, wenn ich ein Bürger wäre und das Recht hätte, meine Beschwerde vorzubringen. und dann eifere ich, bis mir plötzlich das Bewußtsein kommt, daß ich nicht mehr bin als Simson einst, der im Gefängnis an der Mühle mahlte.«

Er hatte sich erhoben, und dem Meister war die Nadel entfallen. Er ließ sie auf dem Fußboden liegen, schlug die Arme ineinander und sagte, zu dem Mönche aufblickend: »So ist's recht, Bruder, laßt das Feuer nicht erlöschen, das in Euch glimmt, aber – und er legte ihm beide Hände auf den Arm – vorerst setzt Euch, daß ich den Schaden heile.« Benedikt gehorchte lächelnd, dann, auf das wacker fortschreitende Werk des Meisters blickend, rief er erschrocken: »So geht's nicht, Werter und Hochweiser. Ihr stichelt zu kunstgerecht; es darf ja niemand wissen, daß ich's nicht selbst gethan habe.«

»Dann werde ich nähen wie ein Lehrbursche und greislichen Zwirn nehmen; schaut, gefällt's Euch nun besser?«

Der Mönch nickte, und wendete sich dem Flickschuster zu.

»Hinrich Malenbeke, wie denkt Ihr über die Zeitläufte?«

Der Angeredete zuckte die Achseln und entgegnete ernst: »Das Feuer wird nicht mehr zu löschen sein – warum auch?«

»Ihr habt recht,« sprach der Mönch, »anderswo brennt es schon lichterloh; uns hier wird es vorenthalten, weil ein ehrsamer Rat mehr an sich selbst und seine Sippe denkt, als an das Seelenheil des Volkes. Aber es wird nicht immer also in Rates Händen bleiben. Wenn die Wasser den Deich durchbrochen haben, laufen sie über das ganze Land, und ist kein Halten durch Menschenhand. Und so wird's kommen mit dem Wasser des Lebens; es rauscht schon gewaltig allerorten. Ich war heute im Kalandshofe, da lag einer krank, der begehrte Zuspruch; er war aus Wittenberg hergereist und hat mir erzählt von einem Feuer, welches bis hierher leuchtet.«

Meister Andreas ließ wieder die Nadel fallen und starrte den Sprecher an, auch der Flickschuster war herzugetreten und sagte: »Ich bitte Euch, erzählet.«

Der Mönch hub an: »Ihr beide könnt Euch gewiß noch des großen Jubel- und Ablaßjahres erinnern, da man schrieb 1500, und wisset auch noch sehr wohl, was Papst Alexander der Sechste dem versprach, welcher in diesem Jahre Almosen spenden würde, nämlich völligen Erlaß der Strafen im Fegefeuer. Werdet Euch auch entsinnen, wie das Volk herzulief und der Arme seinen letzten Groschen gab. Weiter wisset Ihr und ich, wie der verschwenderische Papst Leo der Zehnte vor drei Jahren wieder einen Ablaß ausschrieb zum Bau St. Peters, wie er sagte, zur Aussteuer seiner Schwester Margarete, wie er meinte und that. Dann haben wir's erlebt, daß der Martinus seine 95 Thesen gegen solchen Unfug an die Schloßkirche zu Wittenberg geschlagen hat, und sie sind ohne seinen Willen durch alle Lande gedrungen mit solcher Eile, wie die Schwalben fliegen. Haben wir nicht manche Stunde mitsammen über diesen Sätzen gesessen und uns schier verwundert, wie ein einziger Mensch und dazu noch ein Mönch solche Weisheit und Macht habe und so hohen Mut, daß er dem Papst und der ganzen Klerisei Trotz biete?«

»Richtig, richtig,« nickte der Schneider eifrig, »das sind alte Geschichten, drei ganze Jahr her, und nun?«

Bruder Benedikt erhob sich im Eifer und sprach leuchtenden Blickes: »Der Papst hat den Martinus in den Bann gethan, dieser aber ist mit seinem Anhang, welcher nicht gering war, vor das Elsterthor gezogen, hat lassen ein groß Feuer anfachen, und wie die roten Flammen gen Himmel loderten, hat er des Papstes Bannbulle, dazu die päpstliche Gesetzsammlung hineingeworfen, wie man ein alt Gewand, das niemandes Blöße mehr decken kann, verbrennet, damit es nicht unnütz vor den Füßen liege. Dazu hat er gesagt: ›Weil du den Heiligen des Herrn betrübet hast, so betrübe und verzehre dich das ewige Feuer!‹ Darnach ist Martinus und mit ihm der große Haufe der Studenten, Magister und Doktoren nach der Stadt zurückgegangen und hat andern Tages nach der Lektion des Psalters, den er seit lange angefangen hatte zu lesen und zu erklären, alle Zuhörer vermahnet, daß sie sich vor den päpstlichen Gesetzen hüten sollten.«

Tiefe Stille herrschte noch eine geraume Zeit, nachdem Bruder Benedikt seine Erzählung beendigt hatte; Meister Andreas jubelte in seinem Herzen »Viktoria!« und der Flickschuster faltete die Hände in Andacht. Der Schneider wurde sich zuerst wieder seiner gegenwärtigen Pflicht bewußt, er suchte die verlorene Nähnadel auf und beendete sein Werk an der Kutte, dann sagte er, tief aufatmend: »Das war eine große Stunde, da Ihr uns das erzählt habt, und hier« – er zog aus der Tasche einen Schilling – »dieses bringt dem im Kalandshause. Ich gäbe ihm gern mehr, aber es ist einmal wieder das Letzte, nicht wahr, Hinrich?« Der Angeredete bejahte es, er wußte, auch ohne nachzusehen, daß die gemeinschaftliche Kasse leer war.

»Da fällt mir etwas ein, was ich beinahe vergessen hätte,« begann Bruder Benedikt jetzt, »die Base des Ratmannen Johann Salige – Ihr wisset wohl, er wohnt dort, wo man die Straße ›by dem Radhuse‹ nennt, nicht weit von der Fleckhouwerstrate – Jungfrau Elsabe lässet Euch, Hinrich Malenbeke, zu sich entbieten; sie wollte gern ein Paar Schuhe von Euch gemacht haben.«

Helles Rot flog über des Flickschusters Antlitz, dann sprach er: »Ich bin kein Meister und darf keine Schuhe machen.«

»Ah,« entgegnete der Mönch gedehnt, »nun, so mag sie wohl Flickarbeit für Euch haben; jedenfalls wünscht sie mit Euch zu sprechen wegen des Karsten, von dem ich ihr erzählt habe.«

Hinrich Malenbeke seufzte tief: »Ihr seid gütig, Bruder Benedikt, und ich vergesse Euch das nimmer, aber, wenn's Euer alter Vorschlag ist,« –

»Ja, es ist der alte,« antwortete der Mönch, »und die Sache ist jetzt nicht mehr so unerreichbar wie vordem, denn was die Base Els anfängt, das führt sie auch hinaus. Es ist ein Jammer, daß der Junge nicht ins rechte Fahrwasser kommt, er ist zwanzig Jahre alt und hat etwas gelernt. Hat er doch nimmer in der äußern Schule des Doms gefehlt, und der Scholastikus selbst hat ihn beim Abgang gelobt. Dazu hat er allezeit anher fleißig dem Studieren obgelegen, und ich muß am besten wissen, was er gelernt hat, sintemal ich ihm mit Unterweisung behilflich gewesen bin. Er hat's längst aufgegeben, in St. Kathrinen oder in Maria Magdalenen als Mönch einzutreten, hört er doch auch mit sehnsuchtsvollem Begehr auf den Ruf des Wächters, daß der Morgen anbricht; aber ein Schulgeselle soll und muß er werden.«

Wieder seufzte der Flickschuster, und dann versetzte er ernst: »Ich fürchte, es ist Hoffart.«

»Hoffart?« Bruder Benedikt lachte laut; »ei wohl, Hoffart, Hinrich Malenbeke, wisset Ihr denn, wie einem Schulgesellen sein mühsam Amt gelohnt wird?« Und als der Angeredete mit dem Kopfe schüttelte, fuhr er fort: »Das Schulgeld ist gering, der Scholastikus bekommt ein Drittel desselben – ich spreche von den Kirchspielschulen und nicht von der am Dom –, die übrigen zwei Drittel teilen die Lehrer unter sich. Nun macht Euch selbst die Rechnung, Hinrich Malenbeke; ist es Hochmut und Streben nach irdischem Gewinn, wenn ein Mensch Schulgeselle wird?«

Der Altflicker schwieg, und Bruder Benedikt fuhr fort: »Denket der Sache nach und entschlaget Euch des Gedankens, daß es Hoffart sei, denn das sage ich Euch, wenn Ihr dem Karsten nicht die Schuhe macht, so wird er barfuß gehen müssen; der Schulgeselle wird's nicht abwerfen.«

»Aber die Ehre!« warf der Flickschuster, seinem Gedankengang folgend, ein.

»Die Ehre? Seid nicht thöricht,« rief der Mönch fast unwillig, »was ist's für eine Ehre, wenn der Scholastikus sich die Unwissendsten zu Schulgesellen nimmt, alldieweil sie am wenigsten fordern? So ist's in seiner, der Domschule, und bei den anderen, – nun, man redet ja nicht mit Freuden davon, aber es kann dennoch mit Recht gesagt werden, er läßt sich Geld geben, und wer ihm heimlich am meisten zusteckt, der bekommt das Amt, mag er kaum des Lesens und Schreibens kundig sein.«

»Da wird mein Karsten keinen Platz finden,« sprach Hinrich Malenbeke langsam, »wir wüßten's nicht anzufangen.«

»O, dafür sorgt die Jungfer Elsabe, die ist dem Bischof Heinrich ein wenig versippt, und der macht es mit dem Scholastikus aus. Überdem, wie ich gesagt habe, ist dieser dem Karsten gewogen und weiß, was er leistet. Ich denke, er wird ihn nach Sankt Jakob bringen, da wird mehr gefordert, und Euer Sohn kann's leisten.«

Der Flickschuster reichte dem Mönch die Hand. »So sei es denn, ich will nicht mehr dawider sein.«

Herzlich drückte der Mönch dieselbe. »Und Ihr kommt morgen zur Jungfer Elsabe?«

»Ich komme,« entgegnete Hinrich Malenbeke und sah zu Boden, »ja, ich komme gewiß.«

Meister Andreas hatte inzwischen unverwandt zum Fenster hinausgesehen. Er war in tiefe Gedanken versunken, so daß er nichts von dem hörte, was die beiden mit einander verhandelt hatten. Als sie jetzt für einen Augenblick schwiegen, wandte er plötzlich den Kopf herum, daß die Quaste an der Zipfelmütze einen Sprung that, und sagte: »Warum, Bruder Benedikt, bekommt man solches jetzt erst zu wissen?«

»Weil ich nicht eher mit der Jungfer Elsabe davon gesprochen habe,« erwiderte der Angeredete lächelnd.

»Elsabe? was Elsabe! Ich spreche vom Luther und dem großen Feuer.« Da wurde das Antlitz des Bruders ernst, und er antwortete: »Ihr wißt, Meister, der Rat und das Kapitel stehen zusammen und halten zum alten Glauben. Der Rat sorgt für seine Sippe, wo soll er mit allen armen Verwandten hin, wenn die Vikarien fallen?«

»Recht, recht, aber es ist 'ne Schande.«

»Ich will ja nicht sagen,« fuhr der Mönch fort, »daß es bei allen so ist; wohl mancher ist, der dem alten Glauben von Herzen anhängt.«

»Haben sie ein Recht, uns vorzuenthalten, was sich da draußen begiebt?« rief der Schneider erregt; »mag jeder thun, was er will, was sie wollen, aber auch wir, was wir wollen. Wir sind keine unmündigen Kinder mehr. Man wird selbständig in solchen Zeiten, Bruder Benedikt,« und dabei reckte er sich gerade, und seine Augen leuchteten.

»Werdet nicht heftig,« begütigte der Mönch; »wir brauchen ruhige Männer, Meister Andreas.«

Die Warnung verschlug nichts, sondern nur noch eifriger fuhr der Schneider fort: »Hinrich Malenbeke, ich muß morgen auf die Herberge, die Sache will doch überlegt und beraten sein.«

»Geht in Gottes Namen,« erwiderte der Flickschuster lächelnd. Er kannte seinen Gefährten, der nichts lieber that, als sein Stündlein dort verschwatzen. Wohl waren es oft nicht unwichtige Dinge, die dort zur Erwägung kamen, nur war es nach seiner Meinung nicht vonnöten, daß Meister Andreas Schunemann sein Wort dazu gab. Doch er wollte den treuen Freund nicht kränken und ließ es bei dem Lächeln bewenden.

Jetzt begann der Kanarienvogel, welcher bis dahin ganz still im Bauer am Fenster gesessen hatte, ein bescheiden Liedlein zu singen, und Meister Andreas nickte ihm zu und lobte: »Recht so, mein Vöglein, du singst, wie dir's gegeben ist, und wann du Lust verspürst, und ich gehe auf die Herberge und rede, so gut ich kann; es sind welche da, die schlechter als ich sprechen,« fügte er selbstgefällig hinzu.

»Glaub's wohl,« stimmte Bruder Benedikt zu, und der Schelm sah ihm aus den gütigen Augen; »Ihr habt recht, Meister, jeder an seinem Teil.« Bei diesen Worten erhob er sich schnell, und reichte den beiden Männern die Hand: »Ich muß gehen, drüben öffnet die Schwester Pförtnerin das Thor von Sankt Johannis, die beiden Jungfräulein kommen von der Äbtissin Adelheid Brömse; die unterweiset sie in feiner Stickerei, darinnen sie ihresgleichen sucht. Es wird dämmerig, und ich habe der Base Els versprochen, die Mägdlein im Auge zu behalten.« Er entfernte sich eilig und hatte bald die beiden Dahinschreitenden eingeholt.

»Bruder Benedikt,« rief die ältere derselben, und helle Freude malte sich auf dem schönen Antlitz; »wie gut, daß Ihr desselben Weges geht! Wir haben uns verspätet, und es ist hier unten bei Sankt Johannis einsam.«

Schweigend gingen die drei dann ihres Weges die Johannisstraße hinauf.

Der Flickschuster war noch ein Weilchen bei Meister Andreas geblieben, und beide hatten eifrig das Gehörte besprochen. Jetzt vernahm man nebenan ein Geräusch, und Hinrich Malenbeke sagte: »Karsten ist heruntergekommen, ich muß Licht anzünden.« Damit ging er hinaus.

Bald brannte drüben die kleine Öllampe. »Karsten,« mahnte er, »Du darfst nicht im Zwielicht studieren; auch Bruder Benedikt hat's verboten.«

»Ich arbeitete schon längst nicht mehr, Vater,« entgegnete Karsten, und jähes Rot stieg ihm in die Wangen, »aber jetzt will ich wieder beginnen.«

Der Flickschuster stellte die kleine Lampe auf den niedrigen Arbeitstisch, und Karsten setzte sich ihm gegenüber auf einen Schemel, so daß das Licht auf das Buch fiel, welches er vor sich auf den Knieen hatte. Seine Augen, hafteten auf den großen Schriftzeichen und Holzschnitten der Bibel, welche vor etwa zwanzig Jahren in der freien Reichsstadt Lübeck von Steffen Arndes gedruckt war. Aber seine Gedanken waren anderswo. Er hatte oben in seinem Stübchen gesessen und ungeduldig auf den Augenblick gewartet, wo die beiden Jungfräulein aus dem Klosterthor treten würden. Lange hatte er geharrt – sie waren sonst eher gekommen –, und da war es ihm klar geworden, warum er so unruhvoll und sehnsüchtig der einen von ihnen, gedachte.

»Kordula!« murmelte er unbewußt vor sich hin.

»Sagtest du etwas, Karsten?«

»Nein, Vater,« antwortete er und blickte verlegen auf das Buch.

»Was hast Du allda aufgeschlagen?«

»Die Geschichte von der Hochzeit zu Cana, wo der Herr Wasser in Wein verwandelt hat.«

Der Flickschuster legte den kleinen Hammer auf den Tisch, zog den dicken Faden über das Stück Pech und bat: »Lies es laut, mich verlanget nach einem guten Wort.«

Karsten las langsam und andächtig; sein Vater ließ die Hände ruhen und nahm die große Hornbrille ab. Als der Sohn schwieg, sagte er warm: »Es wird einem nie alt, das werte Gotteswort, und heute ist's mir sonderlich so, als säßen auch wir zu Tische und warteten, daß der Meister das Wasser in Wein wandle. Bis daher hat es für uns Reichsstädter geheißen: »Meine Stunde ist noch nicht gekommen,« aber sie wird anbrechen. Gottes Werk läßt sich wohl eine Weile hindern, aber nicht wehren.«

»Ihr seid so geduldig, Vater,« versetzte Karsten; »ich habe schon oft gedacht, ob das Alter das so mit sich bringt?«

»Ein wenig wohl,« sprach dieser lächelnd, »aber nicht das Alter allein; das Kreuz, mein Sohn, das Kreuz schafft die wahre Geduld, das heißt, so man es rechter Weise auf sich nimmt.« Karsten seufzte; er schlug die Blätter des Buches herum, sah liebreich zu seinem Vater hinüber und sagte: »Hier ist noch etwas, was Euch sonderlich erfreuen wird. Und Gott wird abwischen alle Thränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerzen wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen.«

»Das ist schön, das ist tröstlich,« rief der Flickschuster in heiliger Rührung aus. »O, wie können wir es Bruder Benedikt genugsam danken, daß er zu allem, was er an uns thut, uns noch diese Bibel anvertrauet hat?«

»Danken können wir es ihm nimmer,« entgegnete Karsten, »aber wir wollen ihn lieben; er will nichts Anderes als der Menschen Liebe. Er hat mir gesagt, die mache ihm das Leben wert.«

Hinrich Malenbeke nickte, dann nahm er die Arbeit wieder auf, und Karsten vertiefte sich in das Buch auf seinem Schoße. Draußen hatte sich der Wind aufgemacht und fegte durch die Straßen; der Flickschuster aber sagte nach langem Schweigen: »Karsten, es wird Lenz.«


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